Die Vermessung der Frau - Regula Stämpfli - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Vermessung der Frau E-Book

Regula Stämpfli

4,6
18,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tatort Körper: Warum wir alles für die Schönheit tun ― und trotzdem nicht glücklicher werden

Botox, Turbo-Diäten, Schönheitsoperationen oder Schamlippen-Bleaching. Was bringt immer mehr Frauen dazu, sich willig zur Schlachtbank der Körperindustrie führen zu lassen? Scharfzüngig und faktenreich geht Regula Stämpfli der Frage nach, warum sich gerade Frauen seit Jahrhunderten vermessen, wiegen und durchbuchstabieren lassen. Ist der Schönheitswahn unserer heutigen Zeit nur eine medial angefeuerte Marketingstrategie oder schon eine neue Religion?

Mit einem philosophischen Blick auf Kunst, Literatur und Geschichte lotet Stämpfli die Untiefen einer Welt aus, in der nur noch ein optimales Kilo- und Zentimeterverhältnis zählt – und natürlich das richtige Geburtsjahr. In einer plakatierten Welt voller vom Hungertod bedrohter Size-Zero-Models geht die Autorin der Frage nach, wie wir wieder lernen können, unser eigenes Begehren und unsere eigene Schönheit zu finden.



  • Botox, Turbo-Diäten, Body-Mass – oder was macht Frauen wertvoll?
  • Eine freche und faktenreiche Abrechnung mit dem Diktat fragwürdiger Schönheits- und Gesundheitsideale

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 251

Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
12
5
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2013 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Coverfoto: © beaubelle – Fotolia.com
ISBN 978-3-641-10524-2V002
www.gtvh.dewww.penguinrandomhouse.de

Für Michael Gebendorfer

Inhaltsverzeichnis

WidmungVORWORTKÜSSEN MÄNNER ANDERS? - Von Menschen mit Verfallsdatum und einer Religion der Zahlen
WAS HAT DAS DENN ALLES ZU BEDEUTEN?
ADLERS LEBENSLÜGE ALS WELLNESS-PROGRAMM - Trug Aschenputtel wirklich Prada-Schuhe?UNSER TÄGLICHES WIEGEN GIB UNS HEUTE – 500 JAHRE PHILOSOPHIEGESCHICHTE IM SCHNELLTEMPO - Warum die Sonne nicht im Meer versinkt, sondern im Taschenrechner verschwindet
DIE WELT ALS SCHEIBE
UNITED STATES OF CALORIES - Mein Horrorjahr zwischen Barbies und BurgernDIE BÖSE KÖNIGIN UND IHR SPIEGEL - Warum wir unseren Verstand im OP-Saal der Schönheitschirurgen abgeben
WAS PASSIERT DA EIGENTLICH?
DIE FRAU: EIN JAHRGANGS-, KILO- UND ZENTIMETERVERHÄLTNIS - Von (Alb-) Traummassen und einem Leben als Kreditkarte
90-60-90WAS BEDEUTET DAS FÜR UNSEREN KÖRPER?
ROSA BABIES, BARBIE UND NUTTENWIRTSCHAFT - Vom rosa Plüsch zum Straßenstrich: Wie wir unsere Zukunft im Reagenzglas erzeugenDIE NEUEN »DAS GOTT«-MÄDCHEN - Sterilisiert, homogenisiert und pasteurisiert: die neue WeiblichkeitNULLNUMMERN - Size Zero: die Strafkolonie der modernen Frauen. Warum uns Wattepads plötzlich so gut schmeckenMEIN KÖRPER — MEINE RELIGION - Schöne neue Welt? Unser Irrweg in die BiodiktaturTRAGEN MEINE HITZWALLUNGEN ZUR KLIMAERWÄRMUNG BEI? - Von Hormontheologen, Chromosomenverehrung und Schimpansinnen ohne MenopauseFRAUEN VON DER STANGE - Warum Pole Dancerinnen keine Feministinnen sind. Von der Pornografisierung des AlltagsKAMASUTRA RELOADED - Wie das Schamhaar aus dem Porno verschwandDIE VERMESSENE VAGINA - Der Wunsch nach der perfekten Einheitsmöse. Von Synapsensex und SanitärinstallationenPOLITIK IM DEKOLLETÉ UND TITTEN AUS ZEMENT - Gute Unterhaltung: In der Mediendemeokratie wird der Mensch zum StatistenNACHWORTUNVERMESSENE GEDANKEN ANMERKUNGEN
VORWORTKÜSSEN MÄNNER ANDERS?ADLERS LEBENSLÜGE ALS WELLNESS-PROGRAMM»UNSER TÄGLICHES WIEGEN GIB UNS HEUTE« – 500 JAHRE PHILOSOPHIEGESCHICHTEUNITED STATES OF CALORIESDIE BÖSE KÖNIGIN UND IHR SPIEGELDIE FRAU: EIN JAHRGANGS-, KILO- UND ZENTIMETERVERHÄLTNISROSA BABIES, BARBIE UND NUTTENWIRTSCHAFTDIE NEUEN »DAS GOTT«-MÄDCHENNULLNUMMERNMEIN KÖRPER – MEINE RELIGIONTRAGEN MEINE HITZEWALLUNGEN ZUR KLIMAERWÄRMUNG BEI?FRAUEN VON DER STANGEKAMASUTRA RELOADEDDIE VERMESSENE VAGINAPOLITIK IM DEKOLLETÉ UND TITTEN AUS ZEMENT
LITERATURDANKCopyright

Was machen Sie eigentlich mit einem Joghurt in Ihrem Kühlschrank, wenn dessen Verfallsdatum überschritten ist?

Richtig.

Sie werfen ihn in den Müll.

Ginge es nach den Vorstellungen von Evolutionsbiologen wie Karl Grammer oder Richard Dawkins, und Sie sind über 25 Jahre alt, dann gehörten auch Sie in den Müll. Sie haben Ihr Verfallsdatum erreicht.

Sie haben Ihren körperlichen Zenit überschritten.

Also bitte: Entsorgen Sie sich selbst!

Sie finden das kalt, zynisch und abgeschmackt? Gar unmenschlich? Dann ist vielleicht noch nicht alle Hoffnung verloren, dass Sie ein Menschenleben in Würde und Selbstbestimmung führen können.

Spüren Sie allerdings großes Verständnis für die Theorien von Grammer, Dawkins und Co. – das sind die, welche vom Menschenaffen vor allem den Affen vermessen –, dann legen Sie dieses Buch am besten sofort wieder weg. Schließlich wollen Sie Ihr Weltbild, von Figuren wie Dieter Bohlen, Heidi Klum oder Stefan Raab geprägt, nicht unbedingt durch neue Fakten gefährden!

Wenn Sie aber schon seit einiger Zeit Zweifel hegen an dem alltäglichen Medienwahnsinn, der uns als sogenannte »Wissenschaft« aus allen Blättern, Magazinen und vom Bildschirm entgegenschreit, dann lesen Sie unbesorgt weiter. Denn Sie haben erkannt, dass vieles in punkto Frauen wie Alter, Gewicht, Körper, Kinder, Gesundheit, Alltag und Lebensweisheit so ziemlich schiefläuft.

Wir leben heutzutage in einer Welt, in der alles vermessen wird. In einer Welt, die aus Ranglisten, Hits und »Best of« besteht. In einer Welt, die auch die allermenschlichsten Belange in Zahlen und Verhältnisse presst.

In einer Welt, die selbst die Liebe mit den Mitteln der Mathematik erklären möchte.

In einer Welt, in der die Gene und Hormone lauter zu uns reden als unsere Mitmenschen.

In einer Welt, in der die Priester des neuen Zahlengottes Laborkittel tragen.

Diese Welt ist nicht meine Welt! Ihre hoffentlich auch nicht!

So lade ich Sie hiermit ein, sich mit mir auf eine Reise zu begeben. Eine Reise, die zunächst kritisch auf die Welt schaut, um dann den Blick für eine wunderbare, vielfältige und unvermessene Welt zu öffnen!

Dr. Regula Stämpfli

München, im Frühjahr 2013

Ob es sich um das Paarungsverhalten der Galapagos-Finken, die Kussfrequenz schwuler Männer, die durchschnittliche Größe eines Hagelkornes, den Slipeinlagentausch deutscher Frauen, die Wärmeabstrahlung einer Nacktmulle oder um die Mathematik der Liebe zwischen Menschen handelt, der Vermessungswahn nimmt immer absurdere Formen an.

»Bei IQ 116 hört die Liebe auf« titelte eine große Schweizer Zeitung schon im Juli 2005: »Kluge Frauen haben’s schwer. Männer heiraten auch heute lieber die Sekretärin als die Chefin.« Abgesehen davon, dass Sekretärinnen ja durchaus kluge Frauen sein können, wurde aus dem Artikel selbstredend nicht klar, wen denn eigentlich die klugen Frauen heiraten möchten. Vermutlich die dummen Männer – faute de mieux. Dass der ganze Artikel Schrott war, ist das eine. Dass die dem Artikel zugrunde liegenden Studien auch Schrott sind, das andere. Denn solch wissenschaftliches Konstruieren einer Liebe in Zeiten der Grausamkeit ist tatsächlich ernst gemeint. Spiegel Online meint: »Eine Krankheit namens Mann« – jöh, das schwache Geschlecht braucht ein Schmerzmittel! Vielleicht reicht auch ein Spritzer Oxytocin. Das ist der Liebeswundersaft der Gegenwart – ein Hormon! An Präriewühlmäusen entwickelt, stimmt bei diesen monogamen Säugetieren die Chemie. Und was Mäuschen lernt, kann Franz wohl auch. Verschreiben wir doch bindungs- und liebesgestörten Menschen am liebsten eine Nase voll Oxytocin.

Die Nase als Liebes- und Treuenirvana!

Statt zur Flasche also lieber sofort zum Spray greifen, falls die Ehefrau kuscheln will. Und Steinbecks »Von Mäusen und Menschen« ist dank Präriewühlmäusen ein Liebesroman. Dafür wird »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« von Milan Kundera in der Abteilung »Gesundheit und Diät« entsorgt.

Wen kluge Frauen nun heiraten sollen, ist damit aber immer noch nicht klar. Meinen Liebsten geb ich sicher nicht mehr her. Was will ich damit sagen? Seit einigen Jahren schon versuchen uns Populärwissenschaftler eine Welt zu verkaufen, in der wir uns oft nicht mehr wirklich zurechtfinden, geschweige denn wiederfinden. Die Werte, an denen wir uns bis vor kurzem orientierten, scheinen sich in Windeseile zu verflüchtigen.

So verkündet Bestsellerautorin Nancy Etcoff frohgemut, dass es ganz normal sei, wenn jüdische Menschen ihre Nase operieren wollen und sie dies eigentlich auch tun sollten. Mit »Nur die Schönsten überleben« rechtfertigt die Harvard-Psychologin ihre populäre Schönheitsreligion. Ihr Ex-Mann Steven Pinker haut in dieselbe Kerbe, nur geht es bei ihm nicht um Schönheit, sondern um Kriege. In seinem Bestseller rechnet der in den deutschen Medien hochangesehene Psychologe aus, dass die Welt und die Menschen in den letzten Jahrzehnten immer friedlicher geworden seien. Der Hirnforscher Gerhard Roth kümmert sich weder um Schönheit noch um Kriege, benutzt aber dieselben Methoden wie Etcoff und Pinker, um zum absurden Schluss zu gelangen, dass Verbrecher nie ihre eigenen Taten verantworten sollten. Denn aufgrund seiner Berechnungen gibt es so etwas wie den freien Willen des Menschen nicht. Deshalb plädiert Roth für die Abschaffung des Strafrechts und die Einweisung von Gesetzesübertretern in Umerziehungsanstalten.

Wie begründen Etcoff, Pinker und Roth ihre Theorien? Richtig! Mit Statistiken, mit mathematischen Modellen, mit Durchschnitten und Korrelationen. Sie vermessen die Wirklichkeit anhand ihrer Theorien! Sie tun das übrigens so geschickt, dass sich die Wirklichkeit mit der Zeit dann auch ihren Theorien anpasst, statt umgekehrt. Sie sollten sich das so vorstellen: Ein Mann wedelt alle drei Minuten mit seinen Armen. Auf die Frage, weshalb er dies tut, kommt: »Ich verscheuche die Elefanten«. Auf die Entgegnung: »Da sind doch keine Elefanten!« meint der Mann:«Eben. Das Wedeln hilft.«

Je absurder sich Hirnforscher, Evolutionsbiologen, Attraktivitätsforscher, Gesundheitsmanager und vor allem auch Finanzanalysten gebärden, umso weniger wagt es irgendjemand, ihnen zu widersprechen. Denn sie tun alle so, als hätten sie die Wahrheit nicht nur mit Löffeln gefressen, sondern sie tatsächlich und objektiv auch vermessen.

Und wir gläubige Konsumentinnen der neuen Vermessungsreligion hängen an ihren Lippen wie einst die langhaarigen Hippies an denen ihrer Gurus in Goa.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete über »Die Wissenschaft vom Küssen« und stellte fest: Männer tun es anders als Frauen und meistens nur, weil dahinter eine klare Absicht steckt, nämlich: Sex. Bisher meinte ich immer, jeder Kuss schmeckt anders – dies auch ohne Absicht.

In der US-Studie wird Küssen aber nicht als intimer Austausch zweier sich liebender Menschen erfasst, sondern nur noch in Relation eines möglichen Geschlechtsverkehrs interpretiert. Das wäre ja alles nicht so schlimm, nur: Weshalb belästigt uns mit solchem Pseudointellektuellenmüll auch die Süddeutsche? Dass Amerikaner prüde sind, aber gerne den gröbsten Porno produzieren und konsumieren, ist hinlänglich bekannt. Dass sie keine »bisous« wie die Franzosen geben, auch. Alles Gründe genug, US-amerikanischen Gesellschaftsstudien von Evolutionsbiologen nicht zu trauen und trotzdem tun wir genau das, mehr noch, wir finanzieren mit unseren Steuergeldern solchen Ballast noch zusätzlich!

Die Wortwahl in der Studienfragestellung sagte schon alles über das Resultat der Studie aus: »Wie lässt sich aus dem Küssen erotisch motivierte Lust ableiten?« Manchmal küssen Menschen auch, weil sie nicht einfach geradewegs Sex wollen, sondern Lust zum Küssen haben.

Küssen ist Ausdruck menschlicher Kommunikation – in all ihren Formen. Doch in der Wissenschaftssprache erscheint Küssen ohne Sex als ziemlich abstruse Verhaltensweise. Fast ist es so, als wollten die Naturwissenschaften uns das Küssen abgewöhnen.

Weshalb können viele Populärwissenschaftler nicht mit einem Menschenbild leben, das sich nicht auszählen, messen und kategorisieren lässt? Welche Motivation steckt dahinter? Könnte es sein, dass das Küssen (und damit menschliche Kommunikation) statistisch erfasst und auf reine Fortpflanzung reduziert werden soll? Cui bono? Ah, vielleicht weil Küssen von der Arbeit ablenkt. Oder beim Pornogucken, wer weiß. Küssen ersetzt auch jene Medikamente, die Endorphine stimulieren – also schlecht fürs Pharmageschäft.

So oder so: Solche Studien sind reine Ideologie. Sie sind Teil eines neuen Katechismus, der alle Menschen in ihrer »Ich-AG« in ein Gefängnis von Glücksuche, Konsum und Vollrausch einsperren soll. Studien, die im Körper jeden Lebenssinn verorten, haben die Wirkung, menschliche Regungen wie Mitgefühl, Humor, Leidenschaft und Leidensfähigkeit wegzurationalisieren.

Das Erstaunliche daran ist, dass selbst Qualitätsblätter jeden biologistischen Verortungszwang kritiklos abdrucken. Wertvolle Zeilen werden für eine neue Scheinreligion »Erkenne Deinen Körper« ausgegeben. Ich empfinde das als ungehörig. Es geht nicht an, dass diese reine Ideologie des Körpers, der Menschlichkeit, uns richtiggehend kannibalisieren soll und auch von klugen Leuten völlig unkritisch weiterverbreitet wird. Schließlich druckt die SZ ja auch keine Rede des nordkoreanischen Führers ab! Wer beispielsweise küsst, weil er sich davon Sex verspricht, wird erotische Erfüllung kaum erleben. Wer Sex ohne Küssen treibt, übrigens auch nicht.

Glücklicherweise sind seit der Finanzkrise diese Studien nicht mehr so flächendeckend akzeptiert wie in den zehn Jahren zuvor  – mit Ausnahme der meisten Universitäten. Denn normale, lebendige Menschen stören sich immer mehr am starren, messbaren Menschenbild, das vor allem durch Chemie, griffige Coachingstrategien und die Verfeinerung des Ichs regelrecht konstruiert werden soll. Wir brauchen keine menschlichen Bilanzen! Weshalb Zahlen suchen, wo sie nicht vorhanden sein sollen? Liebe, Gefühle, Träume lassen sich nicht berechnen.

Menschliches Verhalten in Häufigkeiten zu fassen, bedeutet im Kern, den Menschen aus der Kategorie Mensch heraus zu definieren. Denn was ist der Mensch? Unter vielen anderen Eigenschaften sind dabei Sprache und die damit verbundene Fähigkeit zur Imagination entscheidend. Menschen können immer mehr als die Summe ihrer Körperteile. Nun, die meisten jedenfalls. Doch derartige Studien wollen das Gegenteil beweisen. Sie stellen die Singularität der Menschen in Abrede. Wer Menschen statistisch vermisst, schafft sie im Endeffekt ab. Berechenbar sind nur Uniformen. Dass deshalb Küssen irritiert, ist nicht erstaunlich. Denn es gibt so viele Kussformen wie Menschen. Wenn immer mehr die Hormone, Gene, das Blut als »besonderer Saft« zu sprechen beginnen, verstummen die Menschen. Mögliche Gegenstrategien? Weiterküssen, sinnlich, voller Lebenslust, viel und vor allem: ohne nachzudenken, warum und wohin.

Apropos Küssen: Kürzlich sah ich in Karlsruhe ein schönes Paar Anfang 40. Sie verabschiedeten sich hingebungsvoll. Sie hörten nicht auf, sich zu küssen, sich zu umarmen und sich anzulächeln. Sie verzauberten mit ihrer Sinnlichkeit den ganzen Bahnsteig.

Dann traf es mich wie ein Blitz. Wie lange ist es her, dass Sie Menschen gesehen haben, die sich in aller Öffentlichkeit küssten, sich zart über die Gesichter strichen, sich umarmten? Wann haben Sie sich zuletzt von Ihrem Liebsten ausgiebig verabschiedet? Die Bahnhöfe meiner Kindheit waren voll von küssenden, streitenden, lachenden Menschen. Italienische Großfamilien tummelten sich in gefühlvoller Dramatik. Babys wurden herumgereicht und geknuddelt. Da roch es auf den Bahnhöfen nach Leben, Liebe, Freude oder Trauer. Heute riechen unsere Bahnhöfe nach Putzmittel und sind – zumindest in Zürich – oft mit menschenfeindlichen Anti-Ausländer-Plakaten gepflastert.

Die Menschen küssen sich nicht mehr sehr häufig. Wer lächelt, wird wie eine Außerirdische angestarrt. Kinder sind in Luxuskarossen verpackt; zwar noch sicht-, aber sicher nicht mehr berührbar. Gelebt, umarmt, laut gelacht, getanzt wird mehr und mehr privat, wenn überhaupt. Auf öffentlichen Plätzen gibt es kaum mehr Bänke zum Schmusen, zum Verweilen, zum Rumstaunen. Ziemlich grau ist unsere öffentliche Welt geworden. Das zärtliche Paar in Karlsruhe machte mir klar: Echte Küsse kann man nicht kaufen oder verkaufen. Deshalb gibt es sie immer weniger. Denn Geld regiert mittlerweile alles. Und ja, klar: Geld stinkt nicht nur nicht. Geld küsst eben auch nicht. Geld ist nicht sinnlich, und hier liegt der springende Punkt. Die Ent-Sinnlichung der Welt fällt mit der Hochstilisierung des Körpers zusammen und führt dazu, dass wir als Menschen ziemlich schnell unsere Urteilskraft und unseren Realitätssinn verlieren.

Erkennen Sie, wie Zahlen Sexismen, Lustfeindlichkeit und Menschenbilder regelrecht konstruieren? Und zwar so eindrücklich, dass auch ich mich einigen Theorien nicht entziehen kann?

Die alltägliche Überdosis einer Weltsicht, die die Menschen nach Männlein und Weiblein, nach Jung und Alt, nach erwerbs- und nicht erwerbsfähig, nach schön und nicht schön etc. unterteilt, hinterlässt überall ihre Spuren, vor allem in uns selbst. Ein Beispiel: Bis 2007 besaß ich nicht ein einziges Paar High Heels. Da ich eh schon 1,80 m messe, fiel dies auch niemandem besonders auf. Doch selbst das kritische Lesen von Studien über Schönheit, Körper und Gesundheit hinterließ bei mir Bilder, und Sie werden es nicht glauben: Mittlerweile ist auch mein Schrank voller hochhackiger Schuhe, die ich vor zehn Jahren höchstens an Models in einer Helmut Newton-Ausstellung vermutet hätte!

Die großen Mächte, die die Frauen vermessen, sitzen nicht einfach in den Chefetagen der einflussreichen Medienhäuser, in den Bildungsinstitutionen, in der Politik, in den DAX-Vorständen, in den Kulturbetrieben, sondern sie sitzen leider schon längst im eigenen Kopf. Dies ist das Rezept, nach welchem der Wahnsinn, den Menschen zu vermessen, perfekt funktioniert. Man nehme die mächtigsten Akteure einer Gesellschaft und kombiniere ihren ganz eigennützigen Machtanspruch mit einer einigermaßen schlüssigen Ideologie. Alles, was darüber hinaus dann noch gebraucht wird, sind die willigen Vollstrecker – die in den Köpfen der Individuen perfekt und unwidersprochen agieren. Wir leben in einer Welt, die alle menschlichen Belange in Zahlen und in Verhältnissen ausdrückt, die aber, wenn es der Sicherung der Macht nicht mehr dient, sich einer ganz speziellen Arithmetik bedient.

Warum stellt die Blondine ihren Computer auf den Boden? Damit der Computer nicht abstürzt. Ungefähr so lesen sich die diversen Schönheitsbücher, die ich zur Vorbereitung dieses Buches gelesen habe und die nun allesamt in meinem Büchergestell vergammeln.

Kennen Sie die acht Gesetze des Evolutionsbiologen Karl Grammer? Er ist führend darin, Zugehörigkeit zwischen den Menschen, eine erfüllende Tätigkeit sowie sinnliches Erleben, das über die materiellen Genüsse hinausgeht, aus der Welt definieren zu wollen. Sein Jugendkult, besonders im Hinblick auf die jungen Frauen, spricht Bände über Grammer und über dessen Vorlieben. Urteilen Sie selbst:

Erstens: Jugend! Jugend! Jugend! Grammer dazu: »Je jünger eine Frau ist, desto höher ist ihr reproduktives Potenzial.« Die über 60-jährigen Iris Berben und Susan Sarandon mit ihren deutlich jüngeren Partnern würden dem alten Grantler Grammer wohl nur spitzbübisch ins Gesicht lachen.

Zweitens: Hormone. »Schön sind nur Menschen, die Fruchtbarkeit ausstrahlen, vor allem aber die Frauen.« Hallo? Wie steht es mit Männern, deren Testosterongehalt klein, deren Brieftasche dafür umso dicker ist?

Drittens: »Mathematischer Durchschnitt und klassische Proportionen sind entscheidend!« Guckguck! Picassos Bilder dürfen wir also nie mehr als »schön« werten.

Viertens: »Symmetrie macht glücklich.« Karl Grammer wiederholt hier seinen dritten Punkt, wohl, weil ihm nichts mehr Gescheiteres einfällt und er wohl keine Menschen kennt, die immer wieder auf den gleichen asymetrischen Typen reinfallen.

Fünftens: »Rosige Wangen und glänzende Locken, da diese zeigen »wie gut das Immunsystem funktioniert«. Das spräche nun wieder für Frauen in der Menopause, den n vor lauter Schwitzen sind die Wangen immer rosig und die Locken glänzend ...

Sechstens: »Bewegung.« Nun ja, hier lassen wir Grammer gelten, denn Menschen bewegen sich selbst in einem Rollstuhl in einer Vielfalt, die wunderbar anzuschauen ist.

Siebtens: Körpergeruch. »Attraktive Frauen riechen besser«. Aha. Sehr interessant. Auch dazu hätten wir nicht wirklich einen Attraktivitätsforscher gebraucht. Denn eine Frau, die sich pflegt, riecht auch gut.

Achtens: »Stimme. Angenehme Stimmen können nur schöne Menschen produzieren«, Auch da ist festzustellen: Grammer war noch nie in einem Radiostudio, welches meist gefüllt ist mit Menschen, die das perfekte Radiogesicht haben, wenn Sie wissen, was ich meine...

In einem Weltwoche-Interview (41/2006) definierte Karl Grammer das »perfekte Wesen«: »Es (sic! Anm. R.S.) verfügt über eine angenehme Stimme. Es hat außerdem eine reine Haut, glänzende Haare, duftet wunderbar und wippt mit den Hüften. Es ist natürlich weiblich, und es ist jung, was mit dem Reproduktionsstatus zu tun hat.« Zudem, so Grammer weiter, wollen Männer »von Natur aus« beeindrucken und Frauen »von Natur aus« gefallen. Grammer ist ein klassischer Vertreter der Biologisten im gegenwärtigen Jäger- und Sammlerzeitalter, die behaupten, Frauen hätten schon damals nichts anderes gemacht, als Mammuteintopf zu kochen.

Stellen Sie sich, falls Sie Gelegenheit dazu haben, einmal an irgendeinen Touristenstrand. Stellen Sie sich so hin, dass sie die Menschen nur sehen, aber nicht wirklich hören können. Nun werden Sie feststellen, dass Sie innerhalb weniger Minuten die Menschen nach ihrer Nationalität ziemlich gut einordnen können. Selbst wenn alle Badehose, Badeanzug oder Bikini tragen, verraten die Körperformen, die Gestik sowie die Haltung der Leute deren nationale Herkunft. Menschen aus unterschiedlichen Kulturen haben biologisch zwar dieselbe körperliche Zusammensetzung, bewegen sich jedoch unterschiedlich, gestikulieren anders und drücken sich verschieden aus. Menschen sind nicht nur Körper, sondern eben auch Kommunikation. Allein diese Beobachtung sollte eigentlich genügen, um Forscher, die uns Menschen via Naturgesetze biologisch homogenisieren und gleichmachen wollen, höflich auf die Relativität ihrer Aussagen hinzuweisen. Doch die Kraft zur Unterscheidung ist schrecklich unmodern geworden.

Karl Grammer ist im deutschsprachigen Raum der Star unter den Evolutionsbiologen, multimedial gefeiert. Er ist zudem völlig in Mode. In Princeton, Harvard und Yale werden laufend Studien produziert, die sich vor allem dem animalischen Teil aller menschlichen Beziehungen widmen. Interessanterweise belegen die Studien mehrheitlich sämtliche Vorurteile, die einem durchwegs negativen Menschenbild entsprechen. Statt Sprache, Verhandeln und Kommunikation erfüllen die Menschen in einem solchen Weltbild nur diverse seit Jahrhunderten angelegte biologische Programme.

Die Menschenwelt teilt sich in dieser Logik besonders gerne in eine »Männchen«- und eine »Weibchenwelt«. Diese Männchen- und Weibchenwelt ist durchweg auf Selbsterhaltung und Fortpflanzung ausgerichtet. So schauen Männer laut Evolutionsbiologen bei ihrer Partnerinnenwahl stets ausschließlich auf deren Fertilität (naturwissenschaftlich dann als die Schönheitsnorm übersetzt, die zufällig dem Schönheitsideal der forschenden Männer entspricht), während sich Frauen an Männer halten, die höheren Status und ökonomische Sicherheit versprechen.

Diese Aussagen belegen die Forscher gerne mit Studien aus dem weitgehend imaginären Jäger- und Sammlerzeitalter. Völlig ausgeklammert bleibt der historische, politische, ökonomische, sprachliche und gesellschaftliche Kontext. Nicht bedacht wird, dass in Ländern, in denen Frauen über wenig ökonomische und politische Macht verfügen, diese verständlicherweise bei der Wahl ihres Partners auf männlichen Status setzen. Deshalb investieren – auch wenn das sehr pauschal klingt – Russinnen lieber in ihre Oberweite als in ein Universitätsdiplom  – ersteres ist eine Lebensversicherung, während das zweite weniger wert ist als Toilettenpapier. Ebenso logisch ist, dass heutige Mädchen zwischen 12 und 20 Jahren »Model« als ihren Lieblingsberuf angeben. Das wohl nicht in erster Linie, weil sich Mädchen »von Natur aus« ausschließlich als Körper zeigen, um ihrer »natürlichen« Exhibitionslust nachkommen, sondern weil »Model« einer der wenigen Frauen-«berufe« ist, in dem Frauen mit viel Glück Kohle machen. Zudem ist »Model« in einer dominanten Look-at-me-Kultur eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, überhaupt einmal wahrgenommen zu werden.

Setzen sich diese Forschungen auch in den nächsten Jahren so erfolgreich wie in den letzten fünf Jahren fort, dann werden wir in zehn, 20 Jahren diese Ideologie der Geschlechterdichotomie, die Frauen und Männer nicht als Menschen, sondern ausschließlich als Geschlechtswesen definiert, nicht nur glauben, sondern sie so weit verinnerlicht haben, dass wir sie dann als »natürliches« Bild lieben, essen, leben und zeigen. Das Sprechen und Denken jenseits der Geschlechter- und Menschenfixation werden wir dann mit Bestimmtheit verlernt haben.

Mehr und mehr wird jede menschliche Qualität, die jenseits der Geschlechterdichotomie liegt, verneint. Das Geschlecht begleitet schon vor der Geburt jeden neuen Menschen. Die Geschlechterbeziehungen verkommen von archetypisch menschlichen Beziehungen, die während Jahrhunderten mit Kommunikation und mit Status zusammenhingen, zu unabänderlichen Naturgesetzen. So bestätigen sich Ideologie, frauenfeindliche Vorannahmen sowie sexistische Herrschaft unter dem Deckmantel »Wissenschaft« wie von selbst. Darin ähneln die Naturwissenschaften einmal mehr den fundamentalistischen Religionen, die weibliche Menschen von Geburt an auf eine Sonderrolle fixieren. Wenn Attraktivitätsstudien über irgendetwas Auskunft geben, dann sicher wenig über die menschliche Natur, dafür viel über die herrschende Machtverteilung.

Die Evolutionsbiologen sind so willige Vollstrecker des Prozesses, alle menschlichen Zusammenhänge auf materielle Kombinationen so geschickt zu reduzieren, dass sie früher oder später auch verkauft werden können.

»Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten« meinte Jean-Jacques Rousseau – viele Frauen fühlen sich erst mit Ketten von Tiffany wirklich frei.

Der Befund ist einfach: Wir leben heutzutage in einer wahnsinnigen, die Philosophen würden sagen, entfremdeten Welt. Zählen statt Denken ist in, besonders in der Gesundheits- und Finanzindustrie. Zählen statt Denken formt nun auch unsere Körper – oder Experimente, die das menschliche Wesen erfassen wollen.

Der Neuropsychologe Craig Bennett von der University of California hat kürzlich eine Studie ganz nach meinem Geschmack publiziert. Er legte in einem hochwissenschaftlichen Experiment einen Probanden in den Kernspin-Tomographen, ließ ihn kognitive Aufgaben lösen und durchleuchtete währenddessen das Gehirn. Ein ganz normaler Vorgang also und ein üblicher naturwissenschaftlicher Ansatz. Das Experiment dauerte fünf Minuten, ergab wunderbare Bilder – offensichtlich hatte der Proband seine Aufgabe verstanden. Der Neuropsychologe Bennett zeigte die Bilder, und alle waren von den Erkenntnissen des Probanden tief beeindruckt.

Einziges Problem der Geschichte: Der Proband war ein toter Fisch.

Nun ja. Wenn in der »Biss«-Trilogie von Stephenie Meyer mittlerweile auch Vampire wie unsere besten Freunde die Nachbarschaft bevölkern, darf wohl auch ein toter Fisch Geistesblitze haben! Schließlich reden die Tierschützer schon lange davon, dass Fische fühlen können. Sie meinen aber nur die lebendigen. Denn der wirkliche Befund dieses großartigen Experimentes könnte ja sein, dass man es bei gleichem Resultat mit vielen Leuten wiederholen könnte. Sicher jedoch mit vielen Evolutionsbiologen.

Was beim toten Fisch zum Lachen ist, bei Attraktivitätsforschern noch ziemlich unschuldig dahertrippelt, wird im Zusammenhang mit der Finanzwirtschaft sehr ernst. Denn die Populärwissenschaftler korrespondieren in ihrem Wahnsinn eins zu eins mit der globalen Finanzindustrie. Spätestens da bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Es wird dann wirklich eiskalt. Christina von Braun nennt dann die Umwertung aller Werte – das was ich die Verschiebung des Menschen zum Körper, zur Materie nenne, »die lebende Münze«, womit die Professorin für Kulturgeschichte vor allem auch die Frauen meint, die gegen Geld ihre Körper im bestflorierenden Markt, dem der Prostitution, feilhalten müssen. Sie werden in einem späteren Kapitel dazu mehr erfahren.

Diese kritischen Töne fehlen bei Attraktivitätsstudien und wissenschaftlicher Populärliteratur meistens. Ausgeblendet wird jeder politische Kontext. Niemand fragt: Wer bezahlt eigentlich diesen Schrott? Seit der Einführung von Bologna 1999 an unseren Universitäten und Fachhochschulen, eine der größten Bildungsreformen, die Europa seit der Aufklärung gesehen hat (und über welche weder abgestimmt wurde noch, dass dazu Wahlen stattfanden ...), haben die entpolitisierten Studien à l’americaine zugenommen. Das ist kein Zufall, sondern dahinter steckt die klare Erkenntnis, dass man ungebildeten Konsumenten weit mehr verkaufen kann als informierten.

Hier ist die Kritik an den Populärstudien auch anzusetzen, doch weit gefehlt: Die Leitmedien, TV-Stationen, Talkshows, Biologielehrer, Ratgeberliteratur machen weiter wie bisher, nach dem Motto: Je häufiger wiederholt, desto wahrer. Deshalb kommen all die differenzierten Studien, die zeigen, dass nicht die Biologie, sondern beispielsweise der ökonomische Status darüber entscheidet, wie attraktiv Menschen eingeschätzt werden, nicht zum Zug. Ebenso fehlen alle Hinweise auf die großen wissenschaftlichen Fehler in allen Bestsellern, die nach dem Motto: »Männer vom Mars, Frauen von der Venus« gestrickt sind.

Diese simplen Menschenbilder werden nun mit großer Wucht auch meinen Kindern in der Schule eingetrichtert. Fast scheint es, als ob Biologie mittlerweile auch die sprach- und geisteswissenschaftlichen Fächer ziemlich totalitär erobert hat. Die katholische Kirche hat den Katechismus, der Islam den Koran, die Juden haben die Thora, die Neo-Materialisten und Evolutionsanthropologen die Schulbücher. Und wir Frauen jeden Alters dienen den neuen Herren mit inniger, schon fast religiöser Kosmetikhingabe!

Die Vermesser-Wissenschaften sind in den letzten Jahren zu eigentlichen Religionen herangewachsen. Das haben auch die traditionellen Kirchen erkannt und reagieren in den USA mit esoterisch-unwirklichen Entwürfen des »Intelligent Design«. Dies macht es uns urteilskräftigen Menschen im Gegenzug wieder unheimlich schwer, gegen doofe Studien anzutreten, weil wir damit in Gefahr geraten, mit den religiösen Irren in einen Topf geworfen zu werden.

Dass alle traditionellen Religionen durch die Vernunft in ihre Schranken gewiesen werden, ist wirklich großartig. Dieser Prozess ist die Grundlage für Freiheit. Wenn indessen nicht nur die Religionen versachlicht werden, sondern die Menschen, beginnt es, ungemütlich zu werden. Trotzdem reden, handeln und forschen alle so, um den Menschen möglichst rasch zur austauschbaren Ware zu verklären. Es gibt eine weitere Kritik an den überbordenden Rationalisten. Sie haben in all ihren Betrachtungen nie Sie oder mich gefragt, was wir von einem Menschenbild halten sollen, das nur noch kategorisiert wahrgenommen wird. »Was kosten unsere Alten?« ist eines der vielen schrecklichen Beispiele.

Sie sehen: Viele Phänomene hängen mit einem Weltbild und uniformen Denkmustern zusammen, die selten kritisch diskutiert werden. Die Kritik an so banalen Schuhkaufmetaphern in Geschlechterstudien konzentriert sich meist auf offensichtlichen Sexismus, ohne zu merken, dass es um viel mehr geht, nämlich um Macht. Seit 20 Jahren sind wir mitten in einem philosophischen Wandel, der außerhalb der Universitäten kaum diskutiert wird. So bevölkern Populärstudien die Wissensseiten und Dokumentation der Print- und Bildmedien schlicht und einfach deshalb, weil sie leichter zu verstehen sind als tiefgründige philosophische Abhandlungen. Kein Wunder, beschränken sich die meisten Menschen angesichts dieser Komplexität lieber auf ein geruhsames Privatleben. Und die Frauen kaufen Schuhe. Leider ändern sich dadurch weder das Bewusstsein noch der realitätsfremde Medien-, Wirtschafts- und Politik-Alltag.

Angesichts der Flut unreflektierter ideologischer Berieselung haben die Frauen das Korsett ihrer Urgroßmütter schon im Stammhirn gespeichert. Sie nehmen, statt sich und ihr Leben sowie den Sinn desselben, ihren Körper unendlich ernst. Sie sehen in einer körperlichen »Vervollkommnungs-Strategie« ihr ganz persönliches Heilsversprechen. Die Logik Frau gleich Körper, Mann gleich Geist wandelt sich dann vom Klischee in gelebtes Leben. Dabei vergessen viele, dass ein Klischee noch belächelt wird, dessen Wiederholung aber mehr und mehr Beachtung erfährt und ab Tausend dann in eine Wissenschaft verkehrt wird.

WAS HAT DAS DENN ALLES ZU BEDEUTEN?

Wer Menschen wie Dinge behandelt, endet selbst als Ding. Aber Sie sind kein Joghurt! Vielleicht haben dies auch einige Populärwissenschafter gemerkt. Denn was sie in ihrem Jugendwahn vor 40 Jahren verkündeten, nämlich dass der Zenit von Menschen nach 25 Jahren vorbei sei, wird in jüngster Zeit revidiert. Hört, hört! Plötzlich sollen ältere Menschen ihre geistigen Höchstleistungen erst ab 60 Jahren (Männer) und ab 65 Jahren (Frauen) erreicht haben. Fantastische Neuigkeiten! Leider habe ich den leisen Verdacht, dass diese Studien nur damit zusammenhängen, dass nun auch die Forscher, die vor 40 Jahren mit derselben Verve auftraten, heute einfach selbst älter geworden sind und ihre Haut zu retten versuchen.

Meine Überzeugung ist es übrigens, dass die Frage nach dem biologischen Zenit bei Menschen eh ein völlig falscher Ansatz ist. Dahinter steckt ein hierarchisches Leistungsdenken, das beim Menschen nichts zu suchen hat. Ständig diese Ranglisten! Ständig diese Obsession an Output, an messbaren Zielen und Ergebnissen! Dabei sind oft die Prozesse entscheidend, nicht das von Anfang an fest definierte Ziel!

Ich bin manchmal fassungslos, wie selbstverständlich solches Denken geworden ist. So wurde ich in meiner Funktion als Intendantin des Internationalen Forums für Gestaltung in Ulm ernsthaft gefragt, für wen ich denn all die Gratisvorlesungen, die Diskussionen und Veröffentlichungen organisiere. Auf meine Antwort: »Für alle Menschen, die sich interessieren! Dies ist meine Interpretation des Stiftungszwecks, die politische Verantwortung von Gestaltern überall auf der Welt zu fördern«, erntete ich nur Kopfschütteln. Die Idee, etwas zu tun, ohne sofort einen Output zu erwarten, ohne die Zielgruppe exakt zu definieren, ohne einen möglichen Folgeauftrag im Kopf zu haben, ohne die Presse einzuladen, ohne meine eigene Karriere zu pushen, sondern einfach um den Raum zu geben zu denken, zu reden, zu lachen und anschließend ein Glas Wein trinken zu dürfen, macht einige Menschen regelrecht aggressiv. Sie fühlen sich angegriffen, weil ihr Weltbild ausschließlich aus Ratings, Quoten und Ranglisten besteht.

Nun fragt sich die aufmerksame Zeitgenossin schon, weshalb sich denn die Studien trotz ihres Nullgehalts so großer Popularität erfreuen. Nun ja: Die Rückführung all meiner Probleme auf meinen Körper bringt durchaus ein gerütteltes Maß an Psychohygiene.

Ich habe keinen Job? Klar doch, mit dem Aussehen auch kein Wunder.

Ich bin eine Schulversagerin? Tja, mit den Eltern!

Ich bin ungewollt Vater geworden? Das war nur mein Fortpflanzungsprogramm!

Ich bin unausstehlich zu Mann und Kindern? Sorry, PMS!