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Marie ist nun als Kapitän der Heart of Gold im Auftrag von Lord Conquer unterwegs. Ihre Erfolge als Pirat sind vor allem deshalb nur mittelmäßig, da sie mit ihren Opfern und sogar mit konkurrierenden Piraten Mitleid empfindet und lieber zurücksteckt, als mit Aggressivität vorzugehen. Sie wird Mitglied in Sir Falcons neugegründeter Piratengruppe Drachenfalke.
Marie freundet sich mit Duke Varun und mit David an, obwohl diese mit Drachenfalke verfeindet sind, und ahnt nicht, wie konfliktträchtig dies noch sein wird.
Als Piratenkapitän erlebt sie weitere Episoden, die vor allem geprägt sind von ihrer Schwäche, Entscheidungen zu treffen, aber auch von ihrem Willen, das Richtige zu tun und dies auch durchzustehen, selbst wenn es schwer fällt.
Zudem erweisen sich Gier, Willkür und Egoismus der Personen in Maries Umfeld (manchmal sogar auch ihrer eigenen Freunde und Verbündeten) für Marie als wesentlich größere Schwierigkeiten und Prüfsteine, als Überfälle, Kämpfe und Plünderungen es sind.
Obwohl Marie sich bemüht, kann sie sich nie als große Piratin durchsetzen.
Erst als es darum geht, Frieden zwischen den rivalisierenden Piratengruppen herzustellen, kann Marie ihre Vorzüge zur Geltung bringen.
Unvermutet trifft Marie Käpt'n Lessnya wieder und erlebt gemeinsam mit ihr weitere Abenteuer, die stellenweise ins Phantastische abgleiten.
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"Halt! Kommando zurück! Leinen nicht los" rief ich, und der Matrose, der sie gerade vom Poller losmachen hatte wollen, ließ sie wieder fallen.
"Laufplanke wieder ausfahren", befahl ich, und die Männer gehorchten und stellten die Verbindung zur Pier wieder her.
Ich ging hinüber und nahm nun die Karten und das Handbuch von Lord Conquer entgegen. Dabei bemühte ich mich, nicht allzu verlegen dreinzuschauen. Ich hatte sie ganz einfach vergessen, vor lauter Aufregung. Ich war mit den besten Karten bestückt worden, und mit Lord Conquers Handbuch, in dem alle Verhaltensvorschriften und Anweisungen detailliert aufgezeichnet waren. Die Navigationsinstrumente hatte ich selbst getragen, die hatte ich auch mit an Bord genommen.
Aber erst als Lord Conquer mir freundlich lächelnd mit den Karten zugewinkt hatte, war mir aufgefallen, dass er alles, was er netterweise mir auf dem Weg zur Heart of Gold getragen hatte, noch bei sich hatte, und dass ich an Bord der Heart of Gold gegangen war, ohne es von ihm zu übernehmen.
Mit Karten und Handbuch in den Händen verneigte ich mich noch einmal rasch vor Lord Conquer und ging zurück auf mein Schiff.
Die Probefahrten waren sehr gut verlaufen, zu meiner vollen Zufriedenheit. Die Heart of Gold war ein gutes Schiff. Sie kam bereits bei leichter Brise in Fahrt, sie hielt ihren Kurs, war schnell und man konnte sie hart am Wind halten, ohne dass sie ausbrach oder stark driftete, was die Chance vergrößerte, einem stärkeren Gegner zu entkommen. Nur ihr genaues Verhalten bei schwerem Sturm oder Orkan hatten wir in Ermangelung des entsprechenden Wetters nicht ergründen können.
Und nun war die erste - ich will es nicht Feindfahrt nennen - gekommen, aber so etwas in dieser Richtung war es. Die erste Fahrt, die nicht der Erprobung der Fahreigenschaften der Heart of Gold diente, sondern die wirklich Beute einbringen sollte.
Ich hatte mit Lord Conquer einige Diskussionen gehabt, weil ich sehr deutlich durchblicken hatte lassen, dass ich Mitleid mit den Opfern haben würde, was bedeutete, dass ich weniger auf Überfälle mit Kämpfen, sondern mehr auf unblutige Einnahmen der Ziele und Prisen setzen würde. Allerdings hatte die Sache den Haken, dass schwach oder gar nicht bewaffnete Schiffe erfahrungsgemäß auch keine wertvolle Ladung transportierten. Doch schließlich hatte er nachgegeben und mir erlaubt, meine Taktik frei zu wählen und mich nicht unter Zwang an seine Vorgaben halten zu müssen. Er hatte seufzend, aber doch lächelnd gemeint, dass meine Fahrten mit der Heart of Gold ihm wohl weniger Beute einbringen würden, als seinerzeit er mit seinen Fahrten auf der Nathir gemacht hatte. Aber solange ich ein Mindestmaß an Beute bringen würde, würde er mir freie Hand lassen.
Was mich natürlich unter Druck setzte. Ganz ohne Kampf würde es nicht abgehen, und ganz ohne Beute durfte ich nicht heimkommen. Aber die Mannschaft, die Lord Conquer zusammengestellt hatte, bestand aus kampferprobten Piraten, die er weiß Gott wo aufgetrieben hatte, und die bereit waren, wirklich zu kämpfen, falls es notwendig sein würde. Im Großen und Ganzen ähnelte die Situation so sehr meinen Fahrten auf der Pearl unter Käpt'n Lessnya, dass ich oft den Eindruck hatte, meine Vergangenheit hat mich wieder mal eingeholt. Nur mit dem Unterschied, dass eben keine Käpt'n Lessnya da war, die Entscheidungen fällte, wenn es darauf ankam, und dass ich nun diejenige war, die die ganze Verantwortung trug.
Verantwortung bedeutete für mich nicht, so wie so manche andere Menschen es darunter verstehen, dass man Befehle gibt und Aufgaben an andere delegiert, sondern dass man seinen Kopf hinhält und Konsequenzen auf sich nimmt, wenn man eine falsche Entscheidung getroffen hat. Verantwortung zu übernehmen heißt nicht zu befehlen sondern Verantwortung heißt, für seine Handlungen geradezustehen.
Und so ging ich auf meine erste Fahrt. Mit dabei waren Kasia und Lexy.
Lexy war ein wenig enttäuscht, dass sie nicht Erster Maat war, aber ich kannte Lexy zu gut von früher, als wir beide unter Käpt'n Lessnya gedient hatten. Sie genoss ihre Arbeit, machte sie korrekt, aber sie nahm sie nie ganz ernst. Sie tat, was sie tat, beziehungsweise was ihre Aufgaben waren, sehr gut und gerne, solange es ihr Spaß machte und Vergnügen bereitete, ließ aber nach, wenn ihre Arbeit aufhörte, ihr Spaß zu machen. So war sie in meinen Augen nicht so sehr als Erster Maat geeignet. Aber ich hatte es nicht über das Herz gebracht, Lexy persönlich abzusagen, sondern hatte Lord Conquer darum gebeten. Das war übrigens gleich das erste Mal als Kapitän gewesen, dass ich eine unangenehme Sache auf wen anderen abgeschoben hatte, es sollte nicht die letzte sein. Zu meinem Glück war Lord Conquer der gleichen Meinung wie ich gewesen und hatte gemeint, dass er es gar nicht zugelassen hätte, falls ich Lexy als Ersten Maat einsetzen hätte wollen, und er übernahm es, Lexy zu erklären, warum sie nicht Erster Maat wurde. Und ich genierte mich wieder mal für meine Charakterschwäche.
Kasia wollte von Anfang an keine andere Position in der Mannschaft haben, als sie noch seinerzeit bei Käpt'n Lessnya gehabt hatte, und ich fand, dass sie dafür geeignet war.
Diese erste Fahrt war von mäßigem Erfolg gekrönt, ich brachte ein einziges kleines Handelsschiff auf, das ohne einen einzigen Schuss abgefangen werden konnte. Die Beute war auch entsprechend gering, aber das war mir egal, Hauptsache ich konnte Lord Conquer überhaupt einen Erfolg vorweisen.
So nach und nach gelang es mir, mich zu etablieren. Begegnungen mit anderen Piraten verliefen relativ glimpflich. Die Heart of Gold war stärker als jedes schnellere und schneller als jedes stärkere Schiff. Eine gut ausgewogene Mischung. In den folgenden Monaten machte ich mir einen gewissen Namen unter den Piraten. Und natürlich auch unter der zivilen Seefahrt. Ich galt dort als "besonders netter" Pirat. Vielleicht nicht das Günstigste für einen Piraten, aber ich gefiel mir in dieser Rolle. Auch wenn es bedeutete, dass ich nie die große Beute machte, so kam ich doch auch nie ohne Ergebnisse zu Lord Conquer zurück.
Es bedeutete aber auch, dass ich mehr Selbstvertrauen gewann und in einschlägigen Kneipen oder Wirtshäusern anderen Piratenkapitänen gegenüber ganz anders auftrat, als ich es früher getan hatte. Ich kam mit mehreren Anführern von Piratengruppen ins Gespräch, die ich früher nicht einmal anzuschauen gewagt hätte, und ich konnte, wenn schon nicht Freunde gewinnen, so doch wenigstens ein paar Absprachen machen.
So lernte ich auch David kennen. Kennenlernen mag etwas übertrieben sein. Er fiel mir in einem Wirtshaus auf, und ein paar andere Piraten erzählten mir über ihn. Ich wechselte mit ihm kein Wort, aber beobachtete ihn genau. David war ein für meine Begriffe mächtiger Pirat, er war Franzose und Anführer einer Gruppe, die er Ohé nannte. Mir war nicht ganz wohl dabei, denn David sah blutrünstig aus, war großsprecherisch und erweckte den Eindruck, dass er gefährlich war. Zudem hatte er eine Gruppe von etwa acht bis zehn Piraten hinter sich. Ich hatte auch seine Schiffe gesehen, er hatte drei, und die gehörten ihm. Und seine Mitglieder hatten selbstverständlich auch noch ihre Schiffe. Ohé war daher ziemlich mächtig, und David war jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte.
Ohé war aber nicht die mächtigste Gruppe, und es gab noch andere Gruppen, doch mehr dazu später.
Lady Sūrya zeigte sich von meinem Aufstieg zum Kapitän leicht beeindruckt. Und leicht beeindruckt bedeutete bei ihr, dass es etwas Besonderes war, denn normalerweise konnte nichts sie beeindrucken. Sie behandelte mich allerdings deshalb um keinen Deut respektvoller, z.B. so wie sie mit Master Dibujo geredet hatte. Apropos Master Dibujo: Der war übrigens schon lange nicht mehr im Rosa Frosch gewesen. Seit ich ihm kurz im Rosa Frosch begegnet war, wenige Tage nach seinem Besuch bei Sir Estorial, der kurz vor der Schließung des Übungszentrums stattgefunden hatte, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Vom Hörensagen wusste ich, dass er noch in der Stadt war, aber ich hatte den Eindruck, dass Lady Sūryas Beziehung mit ihm langsam auseinanderging. Ich wagte es jedoch nicht, diesbezüglich bei Lady Sūrya nachzufragen.
Lord Conquer wiederum meinte, ich solle keine Angst vor anderen Piraten haben, ich solle meine Fahrten machen, Beute sammeln, die anderen einfach meiden aber mit aller Härte kämpfen, wenn es unvermeidlich war. So habe er es als Salendara seinerzeit stets gehalten, und er war damit immer gut durchgekommen.
Beute machen war eine hervorragende Idee, die uns sicherlich sehr reich gemacht hätte, wenn es da nicht auch noch die anderen Piraten sowie ein paar Kriegsschiffe des Gouverneurs gegeben hätte, die mit aller Macht versuchten, uns die Beute streitig zu machen oder gar zu verhindern, dass wir überhaupt welche machten. Rodrigo war leider tot, und mit ihm hatte ich jemanden verloren, der vom Gouverneurspalast aus mich heimlich unterstützt hätte. Ich atmete einmal tief durch. Er war seit mehr als fünf Jahren tot, und ich dachte immer noch an ihn.
Doch Rodrigo hin oder her, es gab mannigfaltige Bedrohungen auf See für uns. So hielt ich es für wichtig, unsere Beute entweder möglichst rasch zu Lord Conquer zu bringen, oder, wenn dies nicht möglich war, sie auf einer unbewohnten Insel zu verstecken. Ich musste grinsen beim Gedanken daran, dass nun auch ich ein Pirat war, der seinen Schatz irgendwo vergrub. Genauso wie man sich Piraten vorstellte.
Was einem dabei nicht so deutlich erzählt wurde, war, dass es gar nicht so einfach war, eine geeignete Insel zu finden. Die Karibik ist zwar voll mit Inseln, aber sie sollte nicht zu nahe bei Cartagena liegen, denn dann hätte ich die Beute gleich zu Lord Conquer bringen und mir das Verstecken ersparen können. Weiters musste man die Insel leicht wiederfinden, aber Fremde sollten sie nicht so leicht entdecken können. Ebenso sollte man dann auf der Insel wieder an den Schatz ohne viel Aufwand gelangen, wogegen wer anderer das keinesfalls sollte. Dieser Widerspruch bereitete mir das meiste Kopfzerbrechen.
Schließlich hatte ich endlich eine Insel gefunden, die meinen Vorstellungen zusagte. Käpt'n Lessnya hätte dazu wahrscheinlich gesagt, dass ich mir viel zu viele Gedanken machte, aber ich wollte es möglichst perfekt haben.
Damit war meine weitere Vorgehensweise klar: Beute machen, Beute verstecken, mehr Beute machen und wieder verstecken, und schließlich, wenn genug beisammen war, alles auf die Heart of Gold packen und zu Lord Conquer bringen. Um das sicher und verlustfrei durchführen zu können, war es notwendig, viele Kontakte zu anderen Piraten zu haben und stets darüber informiert zu sein, wo die anderen gerade waren, um eine Begegnung mit ihnen meiden zu können.
Fast immer gelang mir dieses Bravourstück, ich wurde nur zweimal auf all meinen Fahrten zu Lord Conquer, um ihm die Beute zu übergeben, von anderen Piraten aufgebracht und beraubt. Dagegen recht oft überfallen wurde ich auf meinen einzelnen Beutezügen, wenn ich ein Schiff gekapert oder ein Wrack geplündert hatte und die Beute in mein Versteck auf meiner Insel bringen wollte. Aber hier waren die Verluste nie groß, weil ich eben auch nur wenig Beute an Bord hatte.
Lord Conquer war letztlich doch voll des Lobes über mich; ich brachte ihm mehr Gewinn, als er nach unseren ersten Gesprächen sich ausgerechnet und erwartet hatte.
Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass das Piratenleben keinesfalls so lustig oder abenteuerlich war, wie so manche auf dem Festland es sich vorstellten. Diese Erfahrung hatte ich bereits vor mehreren Jahrzehnten als Erster Maat bei Käpt'n Lessnya gemacht. Es war eher eine zermürbende, harte Arbeit, oftmals sehr langweilig, und dazu mit dem Risiko behaftet, doch irgendwann einmal erwischt zu werden und Beute, Ehre oder Leben zu verlieren (diese Aufzählung ist eine Steigerung - Leben ist immer das Wichtigste und kommt daher erst nach der Ehre, wenn auch bereits unmittelbar danach).
Eine weitere Taktik, die Beute unbeschadet zu Lord Conquer zu bringen, war, sich dafür kurzfristig mit einem anderen Piraten zu verbünden, Geleitschutz von ihm zu bekommen und so bessere Deckung vor Angriffen zu haben. Gegen Bezahlung natürlich, also gegen Abgabe eines Teils der Beute.
Dazu wiederum musste man vorsichtig in den Wirtshäusern Kontakte knüpfen und sorgfältig abwägen, wem man vertrauen konnte und wem nicht.
Aber so lernte ich Duke Varun kennen. Er war ebenso wie David Anführer einer Piratengruppe, wenn auch einer, die aus nur vier Piraten bestand. Es waren allesamt Franzosen, und er hatte die Gruppe Les Gauloises genannt.
Duke Varun war jemand, dem man voll vertrauen konnte. Er war aufrichtig, ehrlich und vorwiegend nur dann kriegerisch, wenn es darum ging, seine Gruppe zu schützen. Ein bisschen war er so wie ich, auch er hatte Mitleid mit seinen Opfern und war somit überhaupt nicht blutrünstig. Gerade als ich anfing, ihn gerne zu haben, sagte er, dass er eine Allianz mit David hatte. Eine Allianz zwischen Les Gauloises und Ohé!
"Und, das kommt noch dazu", erklärte Duke Varun, "unsere Allianz hat auch noch einen Nichtangriffspakt mit Bloody Murderers".
Ich zuckte etwas zusammen. Von Bloody Murderers hatte ich bislang nur den Namen gehört und dass es eine Gruppe sei, die so wie ihr Name war: blutige Mörder.
"Die sind allerdings nicht so freundlich gegenüber anderen Piraten", fuhr Duke Varun unbekümmert fort, "egal ob sie schon längere Zeit hier sind oder neu sind, wie zum Beispiel Falcon oder Sūrya. Wobei Les Gauloises, wie du weißt, noch eine der am wenigsten kriegerischen Gruppen ist. Aber Ohé und Bloody Murderers machen da keine Kompromisse". –
"Verzeih, wenn ich dich unterbreche", sagte ich. "Falcon und Sūrya – meinst du die aus Cartagena?" – "Ja." – "Die kenne ich doch, alle beide" erklärte ich. –
"Die beiden sind gerade neu eingestiegen und müssen sich ihre Position unter Piraten erst erkämpfen – du bist übrigens ja auch neu, das sollte man nicht vergessen", meinte Duke Varun mit einem Lächeln. –
"Ich gebe zu bedenken, dass ich im Auftrag von Lord Conquer unterwegs bin, und der ist ein mächtiger Herr. Hinter mir steht einiges an Macht. Ich stehe nicht alleine da" warf ich ein. Leider durfte ich nicht sagen, dass Lord Conquer früher als die gefürchtete Piratin Salendara unterwegs gewesen war und den meisten bekannt, beziehungsweise noch in Erinnerung sein dürfte. Wenn die alle wüssten, dass Salendara nicht spurlos verschwunden, sondern nur zu ihrem eigentlichen Ich zurückgekehrt war…
"Das ist einer der Gründe, weshalb du von den meisten hier anerkannt wirst. Und da auch hinter Sūrya und Falcon eine Menge Geld steckt, werden die beiden wahrscheinlich ebenfalls sehr rasch akzeptiert werden. Man wird sehen, wie die Situation sich entwickeln wird", sagte Duke Varun.
Ich bedankte mich für die Informationen die er mir soeben gegeben hatte und suchte umgehend Lady Sūrya auf.
"Ja, Marie, wenn du mich ein bisschen öfters in der letzten Zeit besucht hättest, anstatt bei Conquer rumzuhängen, wüsstest du davon bereits" sagte Lady Sūrya und sah mich ein wenig vorwurfsvoll an. "Falcon und ich steigen ebenfalls in das Piratengeschäft ein. Falcon bringt seine Erfahrung mit, und ich finanziere es. Ich erwarte natürlich, dass der Gewinn größer als die Ausgaben sein wird." –
"Ihr habt Euch doch von ihm getrennt" wandte ich ein. –
"Das bedeutet aber nicht, dass ich mit ihm keine Geschäfte machen würde. Auch wenn ich ihn nach wie vor menschlich ablehne und er mir zwar ins Haus aber nicht mehr in mein Bett kommt, so kooperiere ich doch mit ihm. In der Adams-Werft habe ich ein Schiff bauen lassen, vorige Woche ist es getauft worden. Auf den Namen wiZard." –
Sie nahm ein Blatt Papier und eine Feder und schrieb den Namen darauf, wobei das Z größer war, als alle anderen Buchstaben. Lady Sūrya wies auch extra darauf hin, und ich bewunderte die Idee, einen großen Buchstaben in die Wortmitte zu setzen.
"Das könnte man mit zauBerer übersetzen", meinte ich lächelnd. "Und womit fährt Sir Falcon, wenn ich fragen darf?" –
"Er hat irgendwo ein Schiff aufgetrieben, ich habe ihn nicht danach gefragt, wo und wie. Es ist nicht neu aber gut in Schuss und sehr gut für unser Vorhaben geeignet. Er hat es Esperanza genannt." Sie lachte. "Mal sehen, ob er die Esperanza ebenso wie seinerzeit die Desmañada verliert, oder ob er zu alter Größe anwächst." –
Ich musste daran denken, dass Sir Falcon den Erzählungen nach, die es darüber gab, die Desmañada eigenhändig gegen eine Klippe gesteuert haben sollte. Was an diesen Erzählungen nun stimmte, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, aber es wollte eigentlich nie jemand Sir Falcon als Lotsen einsetzen, obwohl er mit seinem Fachwissen ansonsten viel beitragen konnte. Auch Käpt'n Lessnya hatte Sir Falcon öfters als Berater mitgenommen, aber als er durch einen versehentlich ausgelösten Kanonenschuss ein Schiff versenkt hatte, das wir bereits gekapert hatten und gerade plündern wollten, hatte sie ihn danach weniger oft mitgenommen.
"Er hat übrigens eine Gruppe gegründet" fuhr Lady Sūrya fort, mich aus meinen Gedanken reißend. "Er nennt sie Drachenfalke. Bis jetzt besteht diese Gruppe aus ihm und mir. Wenn du willst, kannst du bei uns beitreten." –
Mein Herz hüpfte vor Freude über dieses Angebot.
Lord Conquer hatte mir ja freie Hand für unser Unternehmen gegeben. Ich könnte Lady Sūrya wieder nahe sein, es würde rein beruflich sein (jedenfalls von ihrer Seite her) und sie würde meine Nähe daher nicht ablehnen können. Und Mitglied in einer Gruppe zu sein, war immer besser, als alleine zu sein.
Einen Moment wog ich ab, ob es vorteilhafter wäre, David um Aufnahme zu bitten, denn Ohé war um vieles mächtiger als Drachenfalke, aber David war mir fremd, Lady Sūrya dagegen liebte ich. Von David konnte ich nicht sagen, wie er reagieren würde. Vielleicht wurde er durch meinen Antrag nur auf mich aufmerksam und würde mich ablehnen, stattdessen als Beute betrachten und mich sogleich überfallen. Bei Lady Sūrya dagegen konnte ich sicher sein, dass ich in Sir Falcons Gruppe Mitglied werden konnte, wenn sie es mir offerierte.
Ich bedankte mich für dieses Angebot und sagte sofort zu.
"Jetzt fehlt eigentlich nur noch Käpt'n Lessnya, dann wären wir alle wieder beisammen", sagte ich, nachdem der Bund besiegelt war. –
"Die kommt mir keinesfalls dazu, selbst wenn sie auf den Knien bittet", sagte Lady Sūrya trocken. –
"Schade" sagte ich. Wobei mir klar war, dass Käpt'n Lessnya niemals Lady Sūrya auf Knien um etwas bitten würde.
Damit war Drachenfalke aber trotzdem eine ernstzunehmende Gruppe. Lady Sūrya, Sir Falcon und Lord Conquer, vertreten durch mich.
Mal sehen wie wir uns gegenüber den anderen behaupten würden.
Meine Vorstellungen wanderten weiter: Selbst wenn ich nun Mitglied bei Drachenfalke war, vielleicht würde es mir gelingen, mit David und Duke Varun in Kontakt zu bleiben, ja vielleicht sogar Freundschaft zwischen unseren Gruppen herstellen zu können. Aber seriös betrachtet blieb eine Freundschaft zwischen Drachenfalke und Ohé vorerst eine Zukunftsvision.
Mit David kam ich ohnehin nicht ins Gespräch, außerdem muss ich zugeben, dass mir wohler war, wenn ich ihn nicht sah. Aber dafür begegnete ich umso lieber Duke Varun. Vielleicht war wenigstens mit ihm etwas anzufangen.
Anfangs hatte ich so ziemlich vor jedem Respekt gehabt, und hatte alle gemieden, sei es auf dem Meer mit dem Schiff oder als Person in einem Wirtshaus. Erst die häufigen Begegnungen hatten mir die menschlichen Seiten dieser Piraten näher gebracht. Und hier war es eindeutig für mich, dass ich Duke Varun viel lieber begegnete als David.
Wen ich immer noch mied wie den Teufel, waren Bloody Murderers. Deren Schiffe waren mächtig (jedenfalls war ich davon überzeugt, nach allem, was man aus der Entfernung sehen und auch von Erzählungen her in Erfahrung bringen konnte), und ich wollte mit ihnen nichts zu tun haben, ich hatte einfach Angst vor ihnen. Wenn ein Schiff, das als zu Bloody Murderers gehörig gekennzeichnet war, gerade ein Wrack plünderte, dann machte ich ihnen niemals die Beute streitig. Ich sah auch bis auf eine einzige Ausnahme niemals jemanden anderen einem Bloody Murderers-Pirat die Beute streitig machen oder ihn angreifen. Und ein paarmal ließ ich sogar alles liegen und stehen und zog schleunigst ab, wenn ein Schiff von Bloody Murderers auf ein Wrack zuhielt, das ich gerade plünderte.
(Diese eine genannte Ausnahme war, als eine Allianz mit dem eigenartigen Namen Adam, die von irgendwoher gekommen war, einen kurzen aber heftigen Krieg mit Bloody Murderers führte. Die Anführerin von Adam, namens Savvy Regina, kam aus Italien, aber sie hatten gegen Bloody Murderers nur mäßigen Erfolg, um nicht zu sagen kaum eine Chance, und nach kurzer Zeit waren sie weitergezogen. Mir war das ganz recht, denn in der Zeit, in der Bloody Murderers und Adam sich in den Haaren lagen, hatten Lady Sūrya und ich Ruhe).
Es war mir klar, dass eine Konfrontation mit Bloody Murderers unausweichlich war, aber ich wollte sie trotzdem so lange wie möglich aufschieben.
Bloody Murderers waren eine derart große Gruppe, dass sie zwei Anführer hatten: einen Pirat namens King Blood, was nicht gerade mein Vertrauen stärkte, und eine Piratin, namens Jennifer. Beide kamen aus dem Anglo-Amerikanischen Raum, aus den englischen Kolonien in Nordamerika; aus der gleichen Gegend also, aus der auch der Vater von Avenger, Lady Sūryas Sohn, gekommen war. (Ich wusste immer noch nicht, wer Avengers Vater war, und so wie es aussah, würde Lady Sūrya es mir auch nie sagen).
Fast die Hälfte aller Piraten, so sagte man mir, seien Mitglieder von Bloody Murderers. Und durch den Nichtangriffspakt zwischen Bloody Murderers, Ohé und Les Gauloises beherrschten diese drei Gruppen einen großen Teil der Karibik. Andere Gruppen oder Allianzen wurden von ihnen zwar oft geduldet, aber manchmal auch als Beute betrachtet, je nach Lust und Laune.
Von diesen drei Allianzen machten Les Gauloises noch die wenigsten Schwierigkeiten, doch das glichen Bloody Murderers durch ihre Aggressivität beinahe wieder aus. Ich mied King Blood und Jennifer so gut ich konnte. Auf See machte ich einen großen Bogen um ihre Schiffe, und wenn ich in einem Wirtshaus war und einer der beiden oder beide es betraten, so zog ich meinen Hut ins Gesicht und senkte den Kopf (und nicht nur ich tat das). Nur ja nicht auffallen, war die Devise. Ich dachte gar nicht viel darüber nach, ob ich überhaupt eine lohnende Beute für Bloody Murderers war oder nicht, ich wollte ganz einfach nichts mit ihnen zu tun haben.
Leider war dies nicht so einfach, wie ich es gerne gehabt hätte. Lady Sūrya war immer schon ein Kämpfertyp gewesen, aber nun zeigte sie mit der wiZard echte Kampfqualitäten. Sie legte sich so ziemlich mit jedem an, mit dem sie nur konnte. Ihr Motto schien zu sein: Wer nicht wagt, gewinnt nicht. Und wenn dabei die wiZard in einem Kampf beschädigt wurde, selbst wenn es schwer war, so zog sie sich halt nur für einige Zeit zurück, bis die wiZard repariert und wieder flott war, danach stürzte sich Lady Sūrya erneut ins Getümmel.
Und da ich sehr oft mit ihr zusammen unterwegs war, musste ich wohl oder übel ebenfalls die Kämpfe, auf die sie sich einließ, mitmachen. Und da sie auch schwächere Piraten von Bloody Murderers angriff, war es nur eine Frage der Zeit, bis die gesamte Sippschaft von Bloody Murderers auf uns, beziehungsweise auf unsere Allianz Drachenfalke, aufmerksam werden sollte.
Sir Falcon dagegen schien mehr seine eigenen Wege zu gehen. Er hatte irgendwo Geld aufgetrieben (nicht von Lady Sūrya, wie sie mir versicherte) und steckte es in die Esperanza, die er so zu einem mächtigen Schiff ausbaute und größere Erfolge erzielte als Lady Sūrya (und größere als ich sowieso). Nichtsdestotrotz wurden King Blood und Jennifer vor allem durch Lady Sūryas Angriffe auf schwächere Piraten von Bloody Murderers oder Ohé auch auf ihn aufmerksam.
Ich verkroch mich immer so rasch wie möglich, wenn jemand von Bloody Murderers in Sicht war; sehr gerne in die Nähe von Duke Varun, oder jemandem andern von Les Gauloises, wenn dies möglich war, weil ich wusste, dass diese friedlich waren (zu Ohé hatte ich dieses Vertrauen nicht), und ich hoffte, dass die Piraten von Bloody Murderers diese Nähe als Freundschaft zwischen Drachenfalke und Les Gauloises interpretieren und mich nicht angreifen würden. Tatsächlich wurde ich nur selten angegriffen.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass die Kämpfe zwischen Piraten nie auf Zerstörung des gegnerischen Schiffes ausgerichtet waren, sondern stets auf Beute machen. So wurden unsere Schiffe zwar beschädigt, jedoch wurde niemals eines versenkt. Wirklich gefährlich waren lediglich die Schiffe des Gouverneurs, doch hatte der nicht so viele, zudem waren sie plump und langsam, und man konnte ihnen stets entkommen, wenn man wachsam war.
Lady Sūrya und Sir Falcon hatten ebenso wie ich ihre Inseln, auf denen sie Beute versteckten, die sie nicht sofort nach Cartagena mitnehmen konnten.
Unsere Inseln sollten uns später noch etliche Kopfzerbrechen bereiten, aber vorerst erwiesen sie sich als gut geeignete Niederlassung.
Allerdings stieg mit unserer Macht und unserem Vermögen auch das Risiko, von anderen Gruppen überfallen zu werden.
Da schien sich ja noch einiges zusammenzubrauen…
Logbucheintrag, vierundzwanzigster Mai, Anno Domini 1708, Kapitän der Heart of Gold, Maria Amante:
Position 73° 45' West, 17° 41' Nord.
Gestrandetes Schiff bei Sonnenaufgang gesichtet, keine Bergungsflotte vorhanden, keine Flagge auf dem Wrack. Nur zwei Seeleute an Bord. Sie gaben an, als Wache zurückgelassen worden zu sein, der Kapitän samt übriger Mannschaft sei mit einem Beiboot Richtung Hispaniola aufgebrochen, um Hilfe zu holen. Das Schiff ist nach Angaben der beiden Seeleute ein britisches, aber das war nicht überprüfbar, der Kapitän hat alle Dokumente mitgenommen. Der Name des Schiffes sei Margaret, der Heimathafen Bullen. Den Namen ihres Kapitäns wollten sie nicht preisgeben.
Bei der Durchsuchung des Schiffes wurden mehrere Flaggen von verschiedenen Nationen gefunden: Spanien, England, Frankreich, Portugal und Niederlande. Und eine Flagge der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Die Ladung besteht aus etwa 50 Ballen Seide, die beiden Seeleute gaben an, nichts Genaues zu wissen. Sie sagten lediglich, dass das Ziel der Margaret Charles Town in Carolina gewesen sei. Angesichts der verschiedenen im Schiff gefunden Flaggen erscheinen mir die Angaben der beiden Seeleute sehr suspekt.
(Ich war mir nicht sicher, ob Bullen nun in England oder Holland lag, aber ich wollte mir keine Blöße vor der Mannschaft geben und nahm mir vor, nach meiner Ankunft in Cartagena in Lord Conquers Bibliothek nachzuschlagen.)
Lord Conquer würde sich freuen. Wir begannen mit der Plünderung. Die beiden an Bord verbliebenen Seeleute leisteten keinen Widerstand. Sie setzten sich an die Reling und sahen uns zu, wie wir die Ladung von der Margaret auf die Heart of Gold brachten. Lexy und Kasia waren inzwischen zu einem Teil unserer Mannschaft geworden, auf den ich nur noch ungerne verzichten wollte. Sie hatten das Umladen der Seideballen gut organisiert. Es ging beachtlich schnell voran.
Wir hatten etwa die Hälfte der Ladung an Bord gebracht, als ein Schiff von Ohé am Horizont erschien und rasch näher kam. Ich hatte nun die Wahl, sofort Anker zu lichten und raschest von hier zu verschwinden, das hätte aber bedeutet, die gesamte restliche Beute kampflos Ohé zu überlassen. Die Alternative war, abzuwarten und zu versuchen zu verhandeln. Das könnte mich allerdings die gesamte Beute kosten. Alles, was noch im gestrandeten Schiff war und alles, was ich bereits geladen hatte.
Ich entschloss mich, es zu wagen. Irgendwann musste ich mich ja doch einmal mit Ohé auseinandersetzen, und hier war eine Gelegenheit, es ausnahmsweise nicht mit einer Übermacht zu tun zu haben, sondern mit einem einzelnen Piraten von Ohé. Vielleicht ließ er sich davon beeindrucken, dass ich losen Kontakt zu Duke Varun hatte. Schließlich hatten Ohé und Les Gauloises ein Bündnis.
Ich befahl, die Entladung der Margaret abzubrechen und hieß alle meine Männer zurück an Bord der Heart of Gold zu kommen. Nur die beiden Seeleute blieben auf der Margaret zurück.
Mit Herzklopfen sah ich, wie das Schiff näher kam. Es war eindeutig stärker als die Heart of Gold, wenn auch nicht so schnell. Aber den Moment, in dem ich entkommen hätte können, hatte ich nun verpasst.
Sie ankerten in unserer Nähe und setzten zwei Boote aus. Mir wurde flau im Magen. Das eine Boot, in dem vermutlich der Kommandant war, hielt auf uns zu, das andere Boot steuerte das Wrack an.
Ihre Kanonen zielten auf uns, und ich hoffte, dass dies nur eine Drohung war, dass wir den Insassen des Bootes, das zu uns herkam, nichts zuleide tun sollten. Ich ließ das Fallreep und mehrere Leinen auswerfen. Das Boot legte an, ein gutaussehender Pirat kam als Erster an Bord und schien über die Ehrenwache, die ich zusammengestellt hatte, erfreut zu sein. Mehrere Männer folgten ihm. In seinem Boot blieben zwei Mann.
"Ich bin Scallywag Shane, von der Allianz Ohé. Mit wem habe ich es zu tun?" sagte er. –
Ich nahm allen Mut zusammen und so gelang es mir, nicht unsicher zu klingen.
"Ich bin Maria Amante, Allianz Drachenfalke. Unterwegs im Auftrag von Lord Conquer. Willkommen an Bord der Heart of Gold" antwortete ich.
Scallywag Shane schien beeindruckt zu sein; ein Kampf unserer beider Schiffe hätte zudem sein Schiff in jedem Fall sehr in Mitleidenschaft gezogen, und das würde er sicher ebensowenig wollen. Ich war nun überzeugt, dass er nicht ohne Grund angreifen würde, doch ich wollte den Bogen nicht überspannen.
"Womit kann ich Euch dienen" fragte ich. –
"Sag Scally zu mir" antwortete er, nun etwas freundlicher. – "Gerne, nenn mich Marie" sagte ich daraufhin, "so nennt mich Duke Varun ebenfalls". –
Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, aber ich hatte den Eindruck, dass Scallywag sich leicht anspannte, als der Name Duke Varun fiel.
"Nun, Marie, ich glaube, ich brauche nicht darauf hinzuweisen, dass mein Schiff, die Black Parrot, stärker als deines ist. Und dass Ohé mehr Mitglieder als Drachenfalke hat", meinte er. "Aber ich werde euch alle am Leben lassen, wenn du mir einen Teil der Beute überlässt." –
"Darüber müssen wir verhandeln", antwortete ich, "darf ich dich einladen, in meine Kajüte zu kommen?"
Es war nun von seiner Seite her ein gewisses Vertrauen gefragt, denn in der Kapitänskajüte war er persönlich deutlich angreifbarer als am offenen Deck, in Sichtweite seiner Mannschaft, die auf der Black Parrot war.
Nach einer ganz kurzen Nachdenkpause willigte Scallywag ein. Es freute mich, dass er an meiner Ehre nicht zweifelte. Ich wusste, dass ich ihm nichts antun würde, aber er konnte das ja nicht mit Sicherheit voraussehen.
Nur ein Mann folgte ihm, als wir unter Deck gingen, ein riesiger muskelbepackter schwarzhäutiger Pirat. "Das ist Brambo, mein Leibwächter", erklärte Scallywag. Ich verzichtete auf eine persönliche Begleitung in meine Kajüte, denn ich wusste, dass, sobald wir mal drin waren, auch ohne jeden Befehl zwei bis drei Mann vor meiner Tür stehen würden, die niemanden mehr lebend herauslassen würden, falls unsere Gäste mir etwas antun sollten.
Ich bot Scallywag von meinem besten Rum an, dem er gerne zusprach, nachdem ich vor seinen Augen ein Gläschen geleert hatte.
Als ich noch ein paar kleine Leckerbissen aus der Kombüse kommen ließ, war die Lage zwischen uns völlig entspannt. Kurz darauf trat ein Pirat von Ohé ein, der Scallywag eine Bestandsaufnahme der Ladung des Wracks überbrachte, die noch dort war.
"Gut, im Wrack sind 24 Ballen Seide. Wenn du mir noch sechs Ballen gibst, von denen, die du bereits auf die Heart of Gold geschafft hast, dann sind wir quitt." –
Ich atmete erleichtert auf. Er beanspruchte nicht die gesamte Beute. "Einverstanden", sagte ich, hoffentlich nicht zu schnell.
Scallywag verzog seinen Mund zu einem leichten Lächeln. "Das verdankst du weniger deiner Freundschaft mit Duke Varun, sondern mehr der Gastfreundschaft, mit der du mich empfangen hast." –
"Ich bin zu allen Gästen freundlich", antwortete ich, "solange sie sich meiner Gastfreundschaft würdig erweisen".
Scallywag zog seine Augenbrauen hoch und lächelte mich offen an, sagte aber darauf nichts.
Er verließ die Heart of Gold und kehrte zur Black Parrot zurück, um ein paar Boote zu schicken, die die ausgemachten sechs Ballen Seide aufluden und zur Black Parrot brachten. Weitere seiner Boote setzten die Plünderung der Margaret fort, die wir abgebrochen hatten.
"Wir werden uns wieder sehen", rief Scallywag zu uns herüber, als wir Segel setzten. Ich zog meinen Hut als Antwort.
Erst als wir außer Sichtweite waren, atmete ich endgültig auf. Zwanzig Ballen Seide waren eine akzeptable Beute für mich. Es war sogar etwas mehr als das, was ich Lord Conquer ansonsten meist einbrachte. Hätte ich sofort die Flucht ergriffen, sobald ich die Flagge von Ohé erkannt hatte, hätte ich noch um sechs Ballen mehr. Aber ich hoffte, dass mein Kontakt mit Scallywag Shane langfristig mehr bringen würde. Wenn nicht Beute, so wenigstens die Chance, weniger oft von Ohé angegriffen zu werden. Ich fuhr auf kürzestem Weg nach Cartagena.
Dort wurde ich von ein paar Männern mit Lastfuhrwerken in Empfang genommen, die Lord Conquer losgeschickt hatte, als die Heart of Gold in Sicht gekommen war; wir löschten die Ladung und brachten alles zu ihm.
"Schau einer an, gerade recht" lächelte Lord Conquer. "Du bist eine gute Piratin, Marie". – "Es ist mir eine Freude, Euch zufriedenzustellen, mein Herr" sagte ich.
Ehrlich, wie ich war, erzählte ich, dass ich Bekanntschaft mit Scallywag Shane gemacht hatte, und dass er mir etwas mehr als die Hälfte der Beute abgenommen hatte.
"Das ist zwar ein gewisses Missgeschick, aber ich kann das verschmerzen, Marie", meinte mein Herr dazu und lächelte mich an. "Mir gefällt es, dass du nicht sofort abgehauen bist, sondern verhandelt hast. Es hat uns zwar ein paar Ballen Seide gekostet, aber ich denke, dieser Scallywag Shane wird dir in Zukunft freundlich gesonnen sein. Jedenfalls hast du die Wahrscheinlichkeit deutlich verringert, dass du in der nächsten Zeit in einen Kampf mit ihm geraten wirst. Und wenn er bei Ohé davon erzählt, dann wirst du auch von weiteren Piraten von Ohé weniger belästigt werden, da du bei ihnen nun als mit ihm befreundet angesehen wirst. Rechne aber damit, dass sie über kurz oder lang weitere Tributzahlungen fordern werden. Doch im Großen und Ganzen wird deine Handlungsweise mehr einbringen als kosten, da die Verluste durch Kämpfe wegfallen werden."
Lord Conquer blickte zufrieden drein. "Außerdem empfehle ich dir, zu Sūrya zu gehen. Es gibt für dich wichtige Nachrichten, Drachenfalke betreffend", ergänzte er. –
"Danke, mein Herr, das werde ich dann machen, sobald Ihr mich nicht mehr braucht." –
"Das geht in Ordnung, Marie, du kannst sofort zu ihr gehen. Wir reden später miteinander weiter, wenn du von ihr zurückkommst." –
Ich machte mich auf den Weg zu Lady Sūrya.
"Ich habe mich von Falcon getrennt", sagte Lady Sūrya. –
"Wie getrennt?", fragte ich, "Ihr wart doch gar nicht mit ihm zusammen". –
"Von Drachenfalke habe ich mich getrennt", erklärte Lady Sūrya, "und daraufhin ist er beleidigt abgezogen und hat gemeint, er schmeißt jetzt alles hin". –
"Drachenfalke? Wie? Wird Drachenfalke jetzt aufgelöst?" fragte ich. –
"Drachenfalke ist bereits aufgelöst, Marie. Du stehst ohne Allianz da", sagte Lady Sūrya. –
Verflixter Mist.
"Und was jetzt? Was soll ich denn jetzt machen?" meinte ich. –
Lady Sūrya schaute mich ernst an. "Ich habe natürlich sofort eine neue Gruppe gegründet. Blue Marlin. Und ich sorge dafür, dass Blue Marlin aus mehr als drei Personen bestehen wird. Ich habe schon meine Mädchen ausgeschickt, Mitglieder zu werben." –
"Aber so schlecht war Sir Flacon doch gar nicht, Lady Sūrya", warf ich ein. "Er hatte doch einige größere Erfolge, er war sogar der erfolgreichste von uns dreien." –
"Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb er nun seine Piratenkarriere so schnell und bedenkenlos wieder aufgibt", meinte Lady Sūrya, "bevor sie noch richtig begonnen hat. Jetzt hat er genug Schätze gesammelt, um mehrere Jahre bequem leben zu können und braucht sich nicht weiter anzustrengen. Die Mädchen, die er seinerzeit aus dem Schwarzen Einhorn mitgenommen hat, sind zum Großteil noch bei ihm und machen ihm sein Leben sehr angenehm." –
"Wenn er meint, dass sein Leben vor Gründung von Drachenfalke interessanter war …", sagte ich resignierend. –
"Du wirst zugeben, es ist für uns besser, wenn er sich zurückzieht", sagte Lady Sūrya. –
Ich verzog meinen Mund. "Ja, es ist schon so, dass seine Führungsqualitäten nicht so besonders waren." –
"Nicht besonders?" brauste Lady Sūrya auf. "Sollte man nicht eher sagen: gar keine?" –
"Nun ja, so könnte man es auch sagen, wenn man es boshaft formuliert", lenkte ich ein. –
"Dann formuliere ich es so boshaft, Marie. Er taugt vielleicht für seine Mädchen, aber nicht für mich" sagte Lady Sūrya energisch. –
"Und was soll ich jetzt machen?" fragte ich noch einmal. –
"Du kannst ja zu Blue Marlin kommen, aber ich sage dir gleich, wir werden härter kämpfen, als wir es unter Falcon getan haben", sagte Lady Sūrya in einem fast gleichgültigen Ton. –
Der Gedanke daran, Lady Sūrya weiterhin nahe sein zu können, wog stärker als alle Ankündigungen von bevorstehenden Kämpfen. Irgendwie würde ich mich da vielleicht raushalten oder durchschummeln können, jetzt wo ich über Scallywag Shane mit Ohé befreundet war. Und vielleicht würde ich sogar weitere neue Freunde gewinnen, wenn weitere Piraten Blue Marlin beitraten. Lord Conquer war es mit Sicherheit egal, bei welcher Gruppe ich Mitglied war, solange ich nur ausreichend Beute heimbrachte.
"Ja, ich freue mich über Euer Angebot und nehme es sehr gerne an, Lady Sūrya", sagte ich. Das schwach unangenehme Gefühl in meinem Bauch konnte ich leicht unterdrücken.
Entgegen meiner Erwartungen zeigten sich die zu Blue Marlin neu hinzugekommenen Piraten sehr wortkarg. Ich hatte den Eindruck, dass sie weniger Freundschaften suchten, als Schutz vor Angreifern und zudem hofften, dass sie mithilfe von Blue Marlin mehr Beute machen würden, als wenn sie in keiner Gruppe wären.
Zwei von ihnen, namens Nono und Priscilla, waren die einzigen, die wenigstens ein paar Worte mit mir wechselten und ein paarmal mit mir etwas trinken gingen, doch blieben die Kontakte zu anderen Mitgliedern von Blue Marlin dagegen rar. Lady Sūrya stellte die Gebiete zusammen, in denen wir operieren sollten und teilte sie uns zu, was aber als Folge hatte, dass es keine diesbezüglichen Besprechungen zwischen uns Mitgliedern untereinander gab. Keine Besprechungen hieß keinen Kontakt zu haben, und kein Kontakt bedeutete keine Möglichkeit, Freundschaft zu schließen. Meist grüßten wir einander nur kurz, wenn wir uns begegneten.
Etwa zu diesem Zeitpunkt war die Sache mit Savvy Regina, die die Gruppe Adam anführte.
Ich bekam anfangs so gar nicht richtig mit, was sich da abspielte. In verschiedenen Wirtshäusern gab es immer wieder Streitereien, und auf See war öfters Kanonendonner zu hören. Öfters als üblich.
Bei einer Auseinandersetzung in einer Spelunke raunte mir mal ein mir unbekannter Pirat zu: "Puh, das sind Jennifer und Savvy Regina". Zwei Piratinnen standen einander gegenüber, beschimpften und verhöhnten einander. Jennifer kannte ich vom Sehen aus der Entfernung, dann war die andere wohl diese Savvy Regina. Sie hatte einen italienischen Akzent, tat sehr großsprecherisch und lachte meist über alles, was Jennifer sagte. Jeweils hinter den beiden standen weitere Piraten, die offensichtlich zu der entsprechenden Mannschaft gehörten. Ich vermutete, dass es über kurz oder lang zu einer handfesten Wirtshausrauferei kommen würde und verdrückte mich rasch.
Erst in den nächsten Tagen fiel mir auf, dass Bloody Murderers irgendwie etwas ungefährlicher schienen. Sie ließen uns links liegen, wenn sie in unsere Nähe kamen, sie rauschten an unseren Inseln und Schiffen vorbei, ohne sie zu beachten. Bis auf diese eine Begegnung im Wirtshaus sah ich nie einen Piraten von Adam, aber die Gerüchte in den Wirtshäusern waren bereits aufschlussreich genug. Savvy Regina war mit ihrer Gruppe in unsere Gegend gekommen und begann Inseln und Schiffe anderer Piraten zu plündern, wobei sie auch einem harten Kampf nicht abgeneigt waren. Wir von Blue Marlin hatten Glück gehabt, dass wir nicht angegriffen worden waren. Die Hauptmacht von Adam richtete sich gegen Bloody Murderers. Lady Sūrya hielt Blue Marlin aus den Streitigkeiten komplett heraus, und wir alle konnten mit einer gewissen Erleichterung beobachten, dass es bei einem reinen Schlagabtausch zwischen Adam und Bloody Murderers blieb, denn auch keine der anderen Piratengruppen wagte es offensichtlich, nennenswert in den Kampf einzugreifen. Ein paar Gefechte zwischen Adam und Ohé soll es gerüchteweise gegeben haben, aber ansonsten hielten sich alle anderen aus dem Kampf heraus und überließen Bloody Murderers die Drecksarbeit.
Im Grunde konnte das für Adam nicht lange gutgehen. Bloody Murderers war eine viel zu starke Gruppe, um auf längere Zeit gegen sie bestehen zu können. Die Piraten von Adam erzielten eine Reihe von Erfolgen, zogen aber den Kürzeren, sobald die Kriegsmaschinerie von Bloody Murderers einmal angelaufen war. Savvy Regina zog daraufhin mit ihrer Piratengruppe ab, und Gerüchten zufolge hatten sie Bloody Murderers um einige Schätze und wertvolle Güter erleichtert. Zu unser aller Glück, beschlossen Jennifer und King Blood, sich nicht an anderen Piratengruppen schadlos zu halten, sondern betrachteten den Kampf gegen Adam als Erfolg, denn sie hatten einen Störenfried und Eindringling erfolgreich bekämpft und wieder vertrieben.
Nach dem Verschwinden von Adam ging unser aller Leben wieder in den gewohnten Bahnen weiter.
Nach einiger Zeit ging mir auf, dass ich so etwas bereits einmal erlebt hatte: Die Piratengruppe, die Rodrigo seinerzeit bekämpft hatte, und deren Zerschlagung ihn das Leben gekostet hatte. Auch die waren aus dem Nichts aufgetaucht, hatten einige Zeit alle terrorisiert, bis sie niedergerungen werden konnten.
Doch bevor ich wieder begann, zu schwermütigen Gedanken an Rodrigo nachzuhängen, machte ich lieber die Flucht nach vorne und konzentrierte mich besonders auf meine Aufgaben bei Blue Marlin.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass nicht ich mein Leben lebe, sondern dass mein Leben mich lebt. Ich kam mir ständig vorwärtsgetrieben vor, von meinen Verpflichtungen, oder, wenn es da mal keine gab, dann von meiner eigenen Moral, von dem, was ich für gut und richtig hielt, was ebenfalls getan werden musste. Aber vielleicht war es sogar gut, kaum Ruhe und Zeit für sich selbst zu haben, denn so dachte ich nicht viel über mein Leben nach und hatte kaum Gelegenheiten für trübe Gedanken.
Mein nächstes Zusammentreffen mit Scallywag Shane sollte nicht lange auf sich warten lassen.
Ich hatte ein lohnendes Schiffswrack ausfindig gemacht, aber es gab eine Bergungsflotte, die etwas dagegen hatte, dass ich es plünderte. Gerade wollte ich mich zurückziehen, weil diese Bergungsflotte mir überlegen war, da tauchte am Horizont ein Schiff auf, das rasch näherkam. Mit Freude erkannte ich die Black Parrot. Ein paar Kanonensalven vertrieben die Bergungsflotte, und das Wrack war unser. Scallywag und ich trafen uns auf dem Wrack.
"Teilen wir wieder?" fragte ich. – "Nein", antwortete er, "das gehört alles dir alleine." –
Ich muss ihn sehr erstaunt angeschaut haben, denn er lächelte und meinte: "Nimm es als Geschenk. Ich schicke dir noch ein paar Mann, die dir die Wertsachen verladen helfen, inzwischen bist du zu einem kleinen Imbiss bei mir auf der Black Parrot eingeladen. Nimm noch ein paar deiner Leute mit, denen du ein gutes Essen gönnst, die sind ebenfalls eingeladen." –
So kamen Lexy und Kasia zu einem feudalen Essen, denn mit dem "kleinen Imbiss" hatte Scallywag stark untertrieben. Sie aßen mit seinen Führungsoffizieren in deren Raum, Scallywag dagegen speiste mit mir alleine in seiner Kabine bei Kerzenlicht.
Im Laufe der nächsten Wochen wurde mein Verhältnis zu Scallywag noch enger. Wir trafen uns öfters, sowohl auf See, auf unseren Inseln oder auch auf Inseln anderer Piraten von Ohé.
Er half mir beim Plündern von Wracks, bei Angriffen auf feindliche Flotten oder Inseln, wobei er mir stets die Hälfte der Beute überließ, oftmals auch etwas mehr, und er machte mir immer wieder sonstige kleinere Geschenke.
Bei Ohé wurde ich dadurch bekannt und lernte einen Teil der Mitglieder von Ohé kennen, nur David traf ich nie persönlich. Ich sah ihn zwar ein paarmal in Wirtshäusern, wir wechselten aber nie ein Wort miteinander. Zu meinen Kontakten zu Ohé kam noch erleichternd, dass Lady Sūrya ihren aggressiven Kampfstil etwas einschränkte. Zwar nicht mir zuliebe, sondern weil es ihr zu kostspielig wurde, die wiZard fast ständig reparieren zu müssen, daher bevorzugte sie nunmehr schwächer bewaffnete Ziele, was zwar bedeutete, dass die Höhe ihrer Beute geringer wurde, es aber insgesamt das Verhältnis der Piratengruppen zueinander besserte. Die Angriffe auf die Schiffe von Blue Marlin durch Ohé hörten weitgehend auf (nicht allerdings die Angriffe durch Piraten von Bloody Murderers).
Und wenn ich mal nicht mit Scally unterwegs war, dann versuchte ich Duke Varun zu treffen. Leider war er häufig irgendwo unterwegs und niemand aus seiner Gruppe Les Gauloises konnte mir genau sagen, wo er sich herumtrieb. Doch beanspruchte ohnehin Scally den größten Teil meiner Zeit.
Ich nehme an, ich muss nicht extra erwähnen, dass mein Verhältnis zu Scally nicht rein geschäftlicher oder freundschaftlicher Natur war; wir verbrachten eine angenehme gemeinsame Zeit und mehrere schöne Nächte miteinander.
Nichtsdestotrotz dauerte unsere Romanze nur zwei knappe Monate, denn er verschwand von einem Tag auf den anderen spurlos. Die Black Parrot lag mannschaftslos an seiner Insel, die gesamte Besatzung war auf der Insel anwesend, aber niemand von ihnen und auch sonst niemand von Ohé wusste, wo Scally hinverschwunden war. Da es keinen Schiffbruch gab – die Black Parrot lag ja da – und Scally bislang niemals alleine unterwegs gewesen war, mussten wir annehmen, dass er sich abgesetzt hatte. Erst Tage später stellte sich heraus, dass mit Scally auch Brambo, sein Leibwächter, ein großer Teil der Beute, die er gemacht hatte, und ein kleines Transportschiff verschwunden waren. David teilte die Black Parrot samt ihrer Mannschaft einem anderen Piraten von Ohé zu, und Scallywag wurde Geschichte. Ich hatte den Eindruck, dass er nur ausgiebig mit meinen Gefühlen gespielt und die Situation für eine angenehme Zeit ausgenützt hatte. Soviel zur Treue von Piraten.
Die Häufigkeit meiner Kontakte zu Piraten von Ohé nahm wieder ab, trotzdem blieben Angriffe auf Blue Marlin und mich auf ein absolut niedriges Maß beschränkt.
Kurz darauf lernte ich Nix Tempestas kennen, einen Pirat aus der Gruppe Bloody Murderers. Es war mein erster Kontakt zu einem Piraten von Bloody Murderers überhaupt, und ich war entsprechend aufgeregt. Ich lernte ihn fast genauso kennen, wie ich Scallywag kennengelernt hatte: im Kampf mit einer Bergungsflotte, beim Versuch, ein auf eine Sandbank aufgelaufenes Schiff zu plündern, wobei ich mich zurückziehen musste und ausgerechnet Nix Tempestas in die Arme lief, der auf das Wrack zuhielt, weil er es ebenfalls plündern wollte. Doch Nix Tempestas erwies sich als genauso zuvorkommend und hilfreich wie Scallywag Shane es gewesen war. Er bot mir seine Hilfe an, wir vertrieben zu zweit die Bergungsflotte und teilten uns die Beute.
Nix Tempestas war ein netter Kerl, und ich kam gut mit ihm zurecht. Im Gegensatz zu Scallywag, bei dem ich stets den unterschwelligen Eindruck gehabt hatte, er fasse das ganze Leben als Spiel auf und handle dementsprechend impulsiv und sorglos, konnte ich bei Nix Tempestas erkennen, dass er ein ernsthafter Mann war. Er verlangte viel von seiner Umgebung, doch gab er auch viel. Den Leuten auf seinem Schiff verlangte er vollen Einsatz und Gehorsam ab, aber er achtete stets auf sie und tat auch viel für sie, um ihnen ihre Lebensbedingungen zu erleichtern. Im Grunde achtete er seine Mannschaft ebenso wie ich meine, und das wurde ihm, ebenso wie mir, mit Loyalität gedankt. In diesem Punkt glichen wir uns.
Auch Nix Tempestas machte mir eine Reihe von Geschenken, und wir waren auch öfters gemeinsam unterwegs, um Schiffe zu überfallen oder Wracks zu plündern. Andere Piraten von Bloody Murderers bemerkten, dass ich mit Nix Tempestas gemeinsame Unternehmungen machte und respektierten mich in der Folge, so wurden auch die Angriffe von Bloody Murderers auf mich (und auch jene auf Blue Marlin) auf ein Minimum beschränkt. Doch blieb ich allen Annäherungsversuchen von Nix Tempestas standhaft und blieb auf Distanz, weil ich eine weitere Enttäuschung fürchtete. Ich wollte keinesfalls wiederholen, was ich mit Scallywag erlebt hatte. Nix Tempestas und ich waren befreundet, wir unternahmen vieles gemeinsam, wir waren so gut wie Geschäftspartner, aber nicht mehr.
Trotzdem bewirkte bereits das alleine, wie gesagt, eine Verbesserung der Verhältnisse zwischen Blue Marlin und Bloody Murderers. Auch, wenn das Lady Sūrya nicht so ganz in den Kram passte, weil auch sie dadurch moralisch gezwungen war, sich gegenüber Bloody Murderers etwas zurückzuhalten, aber sie erkannte die Vorteile, die ihr dadurch entstanden und akzeptierte die Situation, die ich herbeigeführt hatte.
Als ich wieder mal in Cartagena war, meine Beute an Lord Conquer abliefern, meinte er bei einem gemeinsamen Abendessen, dass er Lexy und Kasia gerne zu seiner persönlichen Begleitung in seiner Villa behalten würde. Er war etwas einsam, und er war gewöhnt, Dienerinnen, die er mochte, um sich zu haben. Das war ihm erst bewusst geworden, als wir drei für ihn auf Beutezüge gefahren waren und er keine einzige Dienerin finden konnte, die er so mochte, dass sie uns ersetzen konnte. Ich sollte weiterhin unterwegs sein, aber Kasia und Lexy sollten wieder bei ihm bleiben. Da beide, abgesehen von ihrer Freundschaft zu mir, keine wichtigen Funktionen an Bord der Heart of Gold ausübten, war es verschmerzbar, dass die beiden von der Heart of Gold abkommandiert wurden. Sie hatten gutes Organisationstalent gezeigt, wenn es um das Plündern von gestrandeten Schiffen ging, doch das war etwas, was auch andere aus meiner Mannschaft übernehmen konnten.
Meine weiteren Fahrten machte ich daher ohne die beiden.
Ein Pirat von Ohé, namens Florent, bat mich um Hilfe bei der Plünderung eines Wracks. Zum ersten mal war ich in der Position des Mächtigeren, und das keinem unbekannten Piraten gegenüber, sondern einem von Ohé; und ich nützte diese Gelegenheit, um Florent die gesamte Beute zu überlassen, inklusive einer Schachtel, in der sich 15 Diamanten befanden. Ich bat ihn lediglich, mir drei von diesen Diamanten zu überlassen, damit ich nicht ganz ohne Beute blieb, was er natürlich gerne tat.
Das Plündern von Wracks wurde zu einem lukrativeren Geschäft als das Überfallen von Handelsschiffen. So wie es aussah, waren die Kapitäne der Handelsschiffe keine besonders guten Kapitäne, denn es kam relativ häufig vor, dass wir ein Wrack fanden. Es war nur eine Sache der Schnelligkeit, der Bergungsflotte, die mit Sicherheit geschickt wurde und meist bereits unterwegs war, noch zuvor zu kommen. Das gelang zwar nicht sehr häufig, aber die Bergungsflotten waren in der Regel nur so schwach bewaffnet, dass man sie bereits zu zweit oder zu dritt vertreiben konnte. Duke Varun erwies sich diesbezüglich als sehr gut geeigneter Partner. Er war immer korrekt bei der Teilung der Beute, und Les Gauloises arbeiteten dafür nicht nur mit Bloody Murderers und Ohé, sondern auch mit Blue Marlin zusammen.
Generell bewirkte diese Zusammenarbeit, dass es fast keine Überfälle von anderen Piraten mehr gab, und dass ich in immer größer werden Abständen meine Beute zu Lord Conquer bringen konnte, weil ich es wagte, mehr, beziehungsweise größere Mengen auf meiner Insel zu lagern.
Leider gibt es ein Sprichwort, das sich auch in diesem Fall wieder mal bewahrheitete:
Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
David, obwohl allen Berichten und Erzählungen über ihn ansonsten ein netter Kerl, betrog Duke Varun um Beute, und die beiden zerstritten sich. Die genauen Hintergründe sind mir nicht bekannt, ich erfuhr es von Duke Varun, und der zeigte sich in diesem Punkt nicht sehr gesprächig.
Ich stand zwischen diesen beiden Fronten und wusste anfangs nicht, zu wem ich halten sollte, oder ob es nicht vielleicht noch besser war, sich komplett rauszuhalten.
Aber nach einigen Tagen wurde mir klar, dass ich mit Duke Varun immer gut ausgekommen war, während ich mit David immer noch nicht persönlich zusammengetroffen war. Wir kannten uns aus der Entfernung, aber ich war nicht sicher, ob David mich auch aus der Nähe erkennen würde, etwa wenn wir in einem Wirtshaus zufällig am gleichen Tisch gesessen wären.
David weitete den bestehenden Nichtangriffspakt zwischen Ohé und Bloody Murderers zu einer Allianz aus, und irgendwie gelang es ihm, anstelle der zerbrochenen Allianz zwischen Ohé und Les Gauloises einen Nichtangriffspakt einzurichten. Duke Varun ließ sich da, meiner Auffassung nach, sehr viel gefallen.
Nix Tempestas blieb mir gegenüber liebenswürdig, was mir einen guten Draht zu Bloody Murderers sicherte, und er zeigte sich auch an meinem Halsband interessiert, das mich als Eigentum von Lord Conquer auswies, und das ich stets trug. Aber er respektierte, dass ich keine engere Beziehung mit ihm haben wollte und ging ebenfalls auf etwas mehr Distanz mir gegenüber.
Lady Sūrya wiederum erkannte, dass es einen Sprung in der Beziehung der Piratengruppen untereinander gab, und begann wieder, aggressivere Weisungen an ihre Mitglieder auszugeben. Meiner Einschätzung nach würde es demnach in ein paar Wochen wieder einen Kleinkrieg zwischen den Piratengruppen geben, und ich versuchte, die mir verbleibende friedliche Zeit für den Aufbau und Erhalt von guten Beziehungen zu nutzen, doch David und mit ihm ganz Ohé ließen sich auf keine Freundschaftsbeweise mehr ein.
So blieb Duke Varun, der auch der freundlichste und liebenswürdigste von allen war, als einziger, der noch größere Bedeutung für mich erlangt hatte. Er war zu jemandem, an dem mein Herz hing, geworden, ohne, dass ich es sogleich bemerkt hatte. Leider war es mir nicht möglich, ihn so häufig zu treffen, wie ich es gerne getan hätte, da er viel unterwegs war. Ihn zu treffen war eine Ausnahme und nicht die Regel.
Trotz der wieder aggressiver werdenden Situation zwischen Blue Marlin und Bloody Murderers brachte Nix Tempestas King Blood und Jennifer, die beiden Anführer von Bloody Murderers mit mir zusammen. Und mir fiel dabei auf, dass Nix Tempestas offen mit Jennifer flirtete. Und sie flirtete zurück, und niemand sagte etwas dagegen, auch King Blood schien es egal zu sein. Es wurden mehrere Besuche daraus. Ich wurde trotz der Gegnerschaft unser Gruppen stets in allen Ehren empfangen und jedes Mal zu einem Festmahl eingeladen.
Das konnte natürlich nicht ohne Gegeneinladung bleiben und King Blood und Jennifer waren auch bei mir zu Gast, auf meiner Insel. Vor allem Jennifer besuchte mich danach noch öfters, was mir große Freude bereitete, denn ich begann sie zu mögen, sie war ein netter Mensch, eigentlich viel zu nett für eine Piratin.
In einem persönlichen Gespräch mit ihr erfuhr ich, dass Jennifer jahrelang Sklavin war, ehe sie Piratenanführerin wurde. Das kam mir sehr bekannt vor, war es mir doch fast genauso ergangen. King Blood dagegen gab sich sehr wortkarg. Mir war nie klar, ob King Blood nun Jennifers früherer Herr war, oder ob jemand anderer es gewesen war. Wie für mich üblich, fragte ich diesbezüglich nicht nach, denn ich wollte niemandem mit meiner Neugierde zu nahe treten. Außerdem ließ Jennifer trotz aller momentan guten Beziehungen durchblicken, dass es nicht mehr lange Frieden zwischen uns geben würde, wenn Lady Sūrya so weitermachte. Da Lady Sūrya auf niemanden hörte, war es mehr oder minder ein Glücksspiel, wann die offenen Feindseligkeiten wieder ausbrechen würden. Wie lange es mit der derzeit halb friedlichen Situation noch gutgehen sollte, davon wollte ich mich überraschen lassen.
Die größte Überraschung erwartete mich jedoch, als ich im Spätsommer die Beute an Lord Conquer abliefern wollte. Ich wurde von niemandem am Kai empfangen und seine Villa stand leer. Er war spurlos verschwunden, und niemand, den ich fragte, wusste etwas über seinen Verbleib. Auch Kasia und Lexy waren fort. Zu den Behörden konnte ich als Piratin schlecht gehen, und so musste ich es als gegeben hinnehmen, dass ich ohne Herrn dastand.
Da Lord Conquer bereits einmal, als er als Käpt'n Salendara unterwegs gewesen war, spurlos verschwunden war, weil ihm alles zu viel geworden war, nahm ich an, dass dies auch nun wieder der Fall war und hoffte, dass seine Abwesenheit diesmal nicht so lange dauern würde, wie letztes mal.
Ich bat Lady Sūrya, meine Schätze, die ja trotz Lord Conquers Abwesenheit ihm gehörten, in Verwahrung zu nehmen. Sie stellte mir dafür das Übungszentrum zur Verfügung, das seit seiner Schließung leerstand. Ich nahm keine von außen sichtbare Änderung am Gebäude vor, doch ich ließ unter anderem die von außen mit Holzbrettern vernagelten Fenster auf der Innenseite mit Eisen vergittern, außerdem waren stets schwer bewaffnete Wachen dort, die den Auftrag hatten, im Gebäude zu bleiben und sich nicht sehen zu lassen, denn die beste Tarnung war, dass man dem Gebäude nicht ansah, was für Schätze darin aufbewahrt wurden.
Vielleicht war es verrückt von mir, doch ich lagerte die wertvollsten Dinge ausgerechnet in jenem Kellerabteil, in dem Pelandra seinerzeit ihre Mädchen zerstückelt und auch mich zu ermorden versucht hatte, was sie jedoch im daraus entstehenden Kampf das Leben gekostet hatte. Möglicherweise wollte ich diesem Raum auf diese Weise wieder eine etwas freundlichere Bedeutung geben, doch ich traf diese Entscheidung, ohne viel darüber nachzudenken.
Lord Conquers Halsband trug ich weiterhin. Auch wenn er abwesend war, so gehörte meine Loyalität ihm, und wenn er wiederkam, so würde er sehen, dass ich ihm treugeblieben war und seinen Auftrag, für ihn Beute zu machen, weiterhin gewissenhaft ausgeführt hatte. Es war mir wichtig, dass er stolz auf mich sein konnte.
Schon von weitem sah ich Rauchwolken aufsteigen.
Meine Insel war wohl überfallen worden. Wieder mal. Ich erinnerte mich an meinen Traum, den ich vor langer Zeit gehabt hatte. In meinem Traum hatten die Angreifer nur geplündert, aber nicht gemordet. Hier in der Realität schon.
Allerdings hatte ich – wie in meinem Traum – der auf der Insel verbliebenen Ersatzmannschaft angeordnet, sich im Urwald zu verstecken, falls es Angriffe geben sollte.
Sie hatten gehorcht und es gab nur zwei Tote. Die waren vor allem gleich zu Anfang durch das Geschützfeuer der Angreifer umgekommen, noch während sich meine Inselbesatzung verteidigt hatte, bevor sie geflohen waren. Trotzdem zwei Tote zu viel. Mist, verflixter!
Diese Angriffe wurden mittlerweile untragbar. Und die Ursache war, so ungerne ich es auch sage, Lady Sūrya.
Sie hatte sich mit Bloody Murderers angelegt, und die ließen sich natürlich nichts gefallen. Und da ich Mitglied von Blue Marlin war, bekam ich ebenso wie alle anderen Mitglieder von Blue Marlin die volle Härte zu spüren. Es ging Bloody Murderers nur in zweiter Linie darum, von unseren Inseln Schätze zu erbeuten, in erster Linie wollten sie uns vor allem schaden, unsere Unterkünfte zusammenschießen, unsere Leute töten, kurz: alles tun, um uns zum Aufgeben zu zwingen oder uns komplett zu vertreiben. Und da Bloody Murderers immer noch mit Ohé verbündet waren, hatten wir eine Übermacht gegen uns, der wir praktisch nicht gewachsen waren.
Lady Sūrya erzielte mit der wiZard einige Achtungserfolge gegen schwächere Mitglieder von Ohé und sogar gegen zwei oder drei von Bloody Murderers, doch die Vergeltung bekam ganz Blue Marlin zu spüren, mich eingeschlossen.
Ich hatte sogar Duke Varun gebeten, ob er, wenn er schon nicht auf unserer Seite eingreifen konnte, so doch wenigstens ein wenig King Blood, Jennifer oder David besänftigen konnte, und er erreichte immerhin einen Teilerfolg; sie griffen unsere Schiffe nur selten an, sie beschränkten sich hauptsächlich darauf, unsere Inseln zusammenzuschießen, nahmen uns aber auch Beute ab, wenn wir ein Handelsschiff überfielen oder ein Wrack plünderten. Zu mehr war Duke Varun nicht bereit, denn Lady Sūrya überfiel zwar selten aber doch, auch seine Schiffe und Inseln. Lady Sūrya war überhaupt sehr aggressiv, sie überfiel sämtliche Inseln oder Schiffe, derer sie habhaft werden konnte, egal wem sie gehörten. Und ich kreuzte mit der Heart of Gold um Lady Sūryas Insel, um dort Angriffe zu unterbinden. Das war eine Anordnung von ihr: Ich sollte ihre Insel schützen, und sie wollte dafür meine Insel bewachen. Lady Sūrya hatte ein Schiff erbeutet, das sie Pelikan nannte und das sie zu meiner Insel schickte, um dort aufzupassen. Aber die Pelikan war leider nicht verlässlich, da sie zu schwach war, und einige male war sie überhaupt nicht dort. Zu oft wurde meine Insel überfallen während ich abwesend war.
"Lady Sūrya, so kann es nicht weitergehen. Ich werde ständig von Bloody Murderers oder Ohé überfallen, ich habe Verluste an Menschenleben, ich verliere fast die Hälfte, von dem, was ich erbeute, an sie, aber ich muss es auf der Insel lagern, weil ich nicht immer ständig sofort alles nach Cartagena bringen kann", klagte ich ihr mein Leid im Rosa Frosch. –
"Tut mir leid, Marie. Ich habe dir ohnehin die Pelikan geschickt, du musst eben deine Insel besser ausbauen, damit ihr euch besser verteidigen könnt. Ich weiß es zu schätzen, dass du meine Insel deckst, aber eigentlich bin ich nicht darauf angewiesen. Du kannst ja dein Schiff abziehen und anderen von Blue Marlin die Verteidigung meiner Insel überlassen."
Dabei machte sie ein Gesicht und sagte es in einem Tonfall, der mich erkennen ließ, dass sie es eindeutig nicht so meinte. Sie würde ohne Verteidigung dastehen, wenn ich mit der Heart of Gold nicht weiterhin um ihre Insel kreuzte, denn die Heart of Gold und die wiZard