Shadowscent - Die Blume der Finsternis - P. M. Freestone - E-Book
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Shadowscent - Die Blume der Finsternis E-Book

P. M. Freestone

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Beschreibung

Im Kaiserreich Aramtesch haben Düfte Macht – und diejenigen, die sie beherrschen! Ausgerechnet am Blütenmond passiert in den geheimen Gärten der Hüterin der Düfte die Katastrophe: Der Kronprinz, der gerade erst angereist war, liegt vergiftet am Boden. Rakel, der armen Dienerin mit einem besonderen Talent für Düfte, und Ash, dem Leibwächter des Prinzen, fällt die eigentlich unlösbare Aufgabe zu, das rettende Gegenmittel zu finden. Dafür müssen die beiden kryptische Geheimnisse aus uralten Zeiten entschlüsseln und ihre eigenen verborgenen Wahrheiten erkennen … Die Welt von Aramtesch bietet alles von flirrender Wüstenhitze bis zu kalten Hofintrigen.

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Seitenzahl: 587

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HarperCollins®

Copyright © 2020 DRAGONFLY in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten © 2019 by P. M. Freestone Originaltitel: »Shadowscent: The Darkest Bloom« Erschienen bei: Scholastic Children’s Books, London Published by arrangement with Scholastic Ltd, London

Covergestaltung: Formlabor, Hamburg Coverabbildung: FRACTAL, nrey, Brainstorm331 / shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783748850113

www.dragonfly-verlag.de Facebook: facebook.de/dragonflyverlag Instagram: @dragonflyverlag

Widmung

Für Roscoe, Lauren und Amie – ohne euch gäbe es nur den leisesten Hauch dieser Worte

1. Kapitel

RAKEL

Zuhause roch für mich immer nach Herdfeuer und nach Wüstenrosen, die ihren Duft erst nach Sonnenuntergang entfalten.

Zuhause roch für mich immer nach dem einzigen Wasser weit und breit.

Ich beuge mich aus meinem Zimmerfenster und atme den Geruch der Nacht tief ein. Wenn man fürchtet, etwas zu verlieren, nutzt man jede Gelegenheit, es auszukosten.

Dies ist der Ort, den mein Vater nach dem Tod meiner Mutter für uns ausgesucht hat. Eine Oase auf dem Weg ins Nirgendwo, geformt wie zwei hohle Hände, die eine Wasserstelle vor dem gierigen Sand beschützen. Im Wasser schwimmen Fische und Schildkröten. Das Ufer wird von Felsenfeigenbäumen gesäumt, die uns so viele frische Früchte liefern, wie wir während der Erntezeit essen können, außerdem genug zum Trocknen für die Zeit bis zur nächsten Ernte. Es bleibt nichts übrig, es gibt keinen Luxus. Aber als ich noch klein war, hat Vater die Armee der Provinz Aphorai und die Stadt verlassen, um mir eine sorgenfreie Kindheit zu bieten. Das einfache Leben an der frischen Luft, das ich geliebt habe.

Bis zur Fäulnis.

Jetzt riecht Zuhause für mich nach meinem sterbenden Vater.

Mit einem Seufzer schließe ich die Fensterläden und schleiche ins Nebenzimmer.

Dort hängt noch immer das bronzene Offiziersschwert an der Wand. Ein Symbol für den Respekt, der Vater früher entgegengebracht wurde. Aber ganz egal, ob man geliebt oder verachtet wird, sobald sich die Fäulnis einmal in den Körper eingenistet hat, sind die Monde gezählt. Es gibt Möglichkeiten, die Lebenszeit zu verlängern, aber dafür braucht man Zigs. Goldzigs. Viel mehr, als ich je mit dem Mischen von Parfum und von Salben zur Linderung der Sandstecherbisse für die Dorfbewohner verdienen werde. Sogar noch mehr, als meine besten Blütenöle auf dem Schwarzmarkt in Aphorai-Stadt einbringen können.

Aber mit der einen Gabe, über die ich verfüge, habe ich eine Möglichkeit.

Zumindest sage ich mir das, als ich vorsichtig den Deckel der Truhe am Fußende von Vaters Bett anhebe. Meine Beute – sein Siegel – schiebe ich in mein Kleid.

»Rakel?«

Mein Herz macht einen Satz. Ganz ruhig. Er ist draußen vor dem Haus.

Ich schließe den Truhendeckel wieder und vergewissere mich, dass das Schloss einrastet, so als hätte ich mich ihm nie genähert, dann husche ich hinaus.

Alle Dorfbewohner schlafen, nur Vater ist wach. Er sitzt auf einem hohen Hocker vor unserem Lehmziegelhaus, bei dessen Bau er die Methoden des Militärs leicht abgewandelt hat, damit es auch die schwersten Erdbeben übersteht. Seine Experimente haben dafür gesorgt, dass unser Haus noch steht, während andere bereits eingestürzt sind.

Die hölzerne Krücke lehnt in Reichweite, sein Gesicht wird von den letzten Kohlen in der Feuerschale angestrahlt. Um ihn herum kräuselt sich mit Bergamotte aromatisierter Rauch. Die Insekten der Abenddämmerung, die der Rauch vertreiben soll, haben sich längst zerstreut, aber Vater mag den frischen Geruch. Unter normalen Umständen wäre das Verschwendung. Aber ich selbst würde auch wahnsinnig werden, wenn ich mit dem Gestank meines verfaulenden Fleisches leben müsste.

»Kannst du nicht schlafen?« Ich versuche, unbefangen zu klingen, obwohl ich Schuldgefühle habe, weil ich so flach wie möglich atme.

Vater umarmt mich kurz, wobei er darauf achtet, dass ich nur mit seiner unversehrten Seite in Berührung komme. »Mir ist die Weidenrinde ausgegangen.«

»Ich dachte, wir hätten noch genug für einen Mond.«

Er zuckt die Achseln.

Das ist schlimm. Wirklich schlimm. Aber es bestärkt mich nur in meinem Entschluss und macht es leichter, meinen Plan vor mir zu rechtfertigen und vor ihm zu verbergen.

»Ich reite nach Aphorai, um Nachschub zu holen.« Wenigstens der erste Teil stimmt.

Er schüttelt den Kopf. »Ist schon in Ordnung. Mach dir keine Mühe.«

»Zur sechsten Hölle, von wegen in Ordnung!«

»Hüte deine Zunge!«

Mit gespieltem Entsetzen schlage ich mir die Hände vor den Mund.

Vater schmunzelt. »Es würde mir sowieso nicht gelingen, dich davon abzubringen, oder?«

»Unwahrscheinlich. Außerdem habe ich Barden schon versprochen, ihn mitzunehmen. Sein Urlaub ist zu Ende.« Ich hänge mir die Tasche über die Schulter und gebe Vater einen Kuss auf die stoppelige Wange. »Ruh dich aus, ja?«

Er nickt.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Hinter mir nähern sich schlurfende Schritte im Sand. Genau im richtigen Moment.

Bardens Schwertgürtel und Schurz sind so neu, dass ihnen noch der Thymianduft anhaftet, der den Gestank von Taubenpisse aus dem Gerberbottich überdecken soll. Darunter nehme ich seinen vertrauten Schweißgeruch wahr, fast verdrängt vom Bernsteinöl, das die Mitglieder der aphorainischen Palastwachen tragen müssen, damit ihr Geruch keine adlige Nase beleidigt. Und ich wette, die adligen Augen haben zudem rein gar nichts daran auszusetzen, wie das Öl auf den Muskeln der Wachleute glänzt. In den wenigen Monden, seit Barden dort aufgenommen wurde, haben die täglichen Übungen seine Brust verbreitert, obwohl sie auch vorher schon so breit war, dass die Hälfte der Leute aus dem Dorf, mit denen wir aufgewachsen sind, ihm hinterhersahen, als stammte er von Ashradinoran ab.

Und er ist sich dessen durchaus bewusst.

»Barden«, begrüßt Vater meinen ältesten Freund und steht mühsam auf. »Na, zurück zur Arbeit im Dienste unseres glanzvollen Provinzgouverneurs?« Seine Frage hat einen leicht bitteren Unterton – er selbst stand bereits im Dienst des aphorainischen Eraz, als Barden noch gar nicht geboren war.

Barden tritt vor, um Vater seinen Arm anzubieten. »Wenn man vorankommen will, darf man nicht zögerlich sein.« Er sieht mich an. »Aber zu Hause ist es immer noch am schönsten.«

Ich weiche seinem Blick aus und streiche einen Riemen meiner Tasche glatt, der gar nicht verdreht war.

Vater stützt sich schwer auf seine Krücke. Das, was von seinem linken Bein übrig ist – es reicht kaum noch weiter als bis zum Knie –, baumelt nutzlos herum. Ich kneife im Mondlicht die Augen zusammen. Sind seine Verbände heute höher gewickelt als gestern?

Er humpelt auf die Tür zu. »Dann bist du bald zurück, nicht wahr?«

Ich nicke bloß, da ich fürchte, meine Stimme könne mich verraten.

Als Vater ins Haus gegangen ist, wende ich mich an Barden. »Brechen wir auf?«

»Wann immer du willst.«

Er folgt mir hinters Haus. Dort stehen eine Stute und ein Wallach mit hängenden Köpfen hinter einem Zaun und haben beide je ein Hinterbein angewinkelt und mit der Spitze der Hufe aufgesetzt.

Lil ist das größte Pferd, das Vater je gezüchtet hat. Sie ist sogar größer als ihr älterer Bruder neben ihr. Vater hat sie mir vor fünf Umläufen zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt, und seitdem gehört sie mir. Ich habe sie nach den Lilarien aus den Märchen der Geschichtenerzähler unseres Dorfes benannt, weil sie schwärzer ist als die Schattendämonen aus den alten Legenden, doppelt so schnell und mit einem entsprechenden Temperament. Vater sagte, der Name bringe Unglück. Aber zu diesem Zeitpunkt gab ich nicht viel auf das Glück oder seine Verwandte, die Fügung – beide hatten sich von mir abgewandt. Lil war ein Dämon, und wir würden gut zusammenpassen.

Jetzt erwacht der Dämon. Mit angelegten Ohren kommt Lil auf uns zu.

Barden verlangsamt seine Schritte und mustert mein Pferd skeptisch. »Wird sie sich je an mich gewöhnen?«

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du das nicht persönlich nehmen darfst? Sie mag niemanden.« Genau in diesem Moment streckt Lil den Kopf über den Zaun und schmiegt sich an meine Schulter.

»Ja, sicher.« Barden reicht mir seine bis zum Bersten gefüllte Tasche.

»Stänkernder Stunk, was hast du denn da drin?«

Er zuckt bloß mit den Schultern. »Und du bleibst bei deinem Entschluss?«

Ich nicke, wage nicht zu sprechen, während ich unser Gepäck an Lils Sattel schnalle.

Mit seiner großen Hand hält er meine fest. »Es ist noch nicht zu spät, einen Räuchermittelstand zu eröffnen. Davon würden die Monde nicht untergehen. Möglicherweise würdest du mit der Zeit sogar Gefallen daran finden.«

Die alte Leier. Barden glaubt, dass die Dinge aus einem bestimmten Grund sind, wie sie sind. Dass jeder seinen vorherbestimmten Platz hat. Dass alles schon im Sternenrad festgelegt ist, noch bevor wir alt genug sind, um überhaupt zu wissen, was das stinkende Sternenrad eigentlich ist. Das ist eins der wenigen Dinge, über die wir uns nicht einig sind. Ich entziehe mich seinem Griff und vergrabe meine Finger in Lils Mähne. Ich drücke meine Wange an ihren Hals und atme warmen Pferdegeruch ein, wie um mich unter einer Decke zu verstecken.

»Der miserable Lohn, den man damit verdienen könnte, reicht ja kaum für einen allein.« Ich sehe zum Haus hinüber. »Für einen Gesunden. Jetzt heißt es Parfümeurin oder Ruin. Und es muss jetzt sein. Vater kann nicht noch einen Umlauf warten.«

Barden, der weiß, dass ich recht habe, zuckt zusammen, dann fasst er mich an den Schultern. »Es gibt andere Möglichkeiten, Rakel. Ich werde befördert. Schon jetzt schicke ich meiner Schwester die Hälfte meines Solds. Bald könnte ich auch dich und deinen Vater unterstützen.« Er tritt näher und nimmt mich in den Arm.

Ich genieße den Trost seiner vertrauten Statur, auch wenn ich es nicht ihm überlassen kann, meine Probleme zu lösen. Wenn sein Ehrgeiz Früchte trägt, könnte es bereits zu spät sein.

»Und dann«, murmelt er in mein Haar, »müsstest du nicht ein solches Risiko eingehen.«

Ich erstarre. Mein Dorf bedeutet mir viel, aber wenn man hier draußen etwas anders macht, heißt es gleich, man wäre vom rechten Pfad abgekommen. Die Parfümeurinnen und Parfümeure des Eraz dagegen werden für neue Schöpfungen belohnt. Reich belohnt. Wäre ich eine von ihnen, müsste ich mir keine Sorgen mehr wegen der Kosten für die besten Medikamente machen, die Vaters Fäulnis aufhalten und ihm mehr Zeit verschaffen könnten. Vielleicht könnte ich sogar neue Behandlungsmethoden entdecken. Und ich wäre in der Lage, auf eigenen Füßen zu stehen und selbst über meine Zukunft zu entscheiden; ich müsste nicht aus Dank für Bardens Almosen vor ihm im Staub kriechen.

Er richtet sich auf. »Wenn du dich nicht darauf einlassen willst, versprichst du mir dann etwas anderes?«

Mit Wagemut könnte ich ihn jetzt nicht täuschen, selbst wenn ich die Stärke hätte, ihn aufzubringen. Ich wende Barden das Gesicht zu, aber nur sein Umriss zeichnet sich vor den Monden und Sternen ab, seine Miene ist nicht zu entschlüsseln.

»Pass auf dich auf«, sagt er mit rauer Stimme. Er senkt das Kinn und beugt sich fast unmerklich vor.

Ich entwinde mich ihm. »Es ist schon spät, Bar. Wir sollten uns auf den Weg machen.« Ich packe Lils Zügel und stelle einen Fuß in den Steigbügel.

Seufzend sitzt Barden hinter mir auf. »Komm.« Seine Stimme klingt sanft. »Lehn dich an mich.«

Trotz der wachsenden Spannungen zwischen uns ist er weiterhin mein bester Freund. Mein einziger Freund. Und er hat schon immer meine Geheimnisse bewahrt. Ich lasse mich an seine Brust sinken. Wir müssen die ganze Nacht und beinah den ganzen Tag reiten, bis wir in der Stadt sind. Da kann ich ein Nickerchen gut gebrauchen.

»Lil«, murmele ich und schließe die Augen, »wirf Barden nicht ab, ja?«

*

In Augenblicken wie diesen wünschte ich, so eine Nase zu haben wie alle anderen auch.

Aphorai ist noch nicht zu sehen, als ein Windhauch durch die Dünen weht und bereits das Aroma der Stadt herbeiträgt. Eben noch ist die Wüste ruhig – da sind nur Barden, mein Pferd und der anhaltende Geruch des Alhagistrauchs, den Lil vorhin unter ihren Hufen zertreten hat. Dann plötzlich schlägt mir ein Schwall von Gerüchen entgegen: Trockenfrüchte, säuerliche Achselhöhlen und alles Reife und Ranzige dazwischen.

Barden drückt mir beruhigend die Schulter.

Ich unterdrücke den Brechreiz, der in mir aufsteigt, und stupse Lil mit meinen Stiefelabsätzen in die Flanke. Schließlich habe ich einen Termin einzuhalten.

Das erste Gebäude, das über den Dünen sichtbar wird, ist der Tempel. Die Stufenpyramide kauert über Aphorai wie ein geducktes Tier. Da es eins der wenigen Bauwerke ist, die über die Jahrhunderte alle Erdbeben, die im Untergrund der Provinz ruckeln und wackeln, überstanden haben, sagen die Gläubigen, die Götter selbst hätten den Tempel errichtet. Diese Theorie hat aber nur dann einen Hauch Wahrheit an sich, wenn Leibeigenschaft und eine unerschöpfliche Geldbörse deine Götter sind.

Erst als Lil schnaubt und den Kopf zurückwirft, fällt mir auf, dass ich von den Schultern bis zur Hüfte ganz angespannt bin und meine Hand nach dem silbernen Medaillon unter meinem Leinenkleid tastet. Ich beuge mich vor und streichele Lils Hals. »Entschuldige, mein Mädchen.«

Aus dieser Entfernung sehen die Priesterinnen wirklich aus wie die Wesen, deren Namen sie tragen – kleine Feuervögel, die in Röcken aus karminroten Federn die Haupttreppe hinaufsteigen. Als sie den Kopf der Treppe erreichen, schlängelt sich eine blaue Rauchsäule vom großen Altar aus in den Himmel, gefolgt von einer weiteren, so weiß und selten wie eine Sommerwolke. Anschließend eine orangefarbene Schwade, dann eine in mattem Grün. Barden knufft mich in die Seite, als die letzte Wolke aufsteigt. Kaiserlicher Purpur.

»Was hat das zu bedeuten?«, frage ich über die Schulter hinweg.

Er schnaubt. »Keine Ahnung. Nur die Offiziere sind in die kaiserlichen Angelegenheiten eingeweiht.«

»Ach. Und ich dachte, der Garnisonsfeldwebel ist in dich verliebt.«

»So verliebt dann auch wieder nicht.«

»Bist du also doch nicht sein Typ?«

Darauf rammt Barden mir den Ellbogen in die Rippen. »Er geht davon aus, dass ich ein nettes Mädchen heirate.«

»Du bist schließlich nicht der Älteste«, sage ich spöttisch. Barden hat das Glück, der jüngere Bruder zu sein. Deshalb ist er nicht dafür verantwortlich, dass die Familie fortbesteht. »Du kannst heiraten, wen du willst.«

»Wirklich?«

Ich seufze. Das habe ich mir selbst eingebrockt.

Angestrengt überlege ich, womit ich das Thema wechseln könnte, als mir der rituelle Rauch in die Nase steigt und seit Langem unterdrückte Wut in mir schürt.

Der Tempel kontrolliert das Leben der Gläubigen durch Regeln und Riten. Das beginnt schon mit dem ersten Atemzug. Die kostbaren Zutaten, die in einer Kerze und einer Kohlenpfanne verbrannt werden, verkünden dem Himmel die Speichen des Sternenrads, zwischen denen du geboren wurdest – damit die Götter lebenslang deine Gebete erhören.

Aber bei meiner Geburt wurden keine heiligen Duftstoffe verbrannt. Kein geschätztes Räucherwerk, das ich für das Gebet verwende.

Minze, Leder, Rosmarin, Schweiß. Das waren meine ersten Duftstoffe.

Minzseife, die abgewetzte Lederrüstung und Bartöl, gewonnen aus den Rosmarinpflanzen, die immer noch in Tontöpfen vor unserer Haustür wachsen. Vaters unverkennbarer Geruch. Vermischt mit dem Schweiß nach einem anstrengenden Tag auf dem Kampfplatz der Garnison. Diese vier Düfte umgaben mich, als er mich bei unserem Besuch in Aphorai-Stadt auf den Schultern über die Märkte trug. Trotz meines geringen Alters fiel es mir leicht, sie auszumachen. Sie waren meine ganz persönliche Festung gegen einen Ansturm von Gerbereien und Kamelen, Sandflughuhneintopf und die billigen Räuchermittel aus einem Hinterhofladen.

Aber das war noch, bevor die winzige Blase unter seinem Fuß auftauchte. Vor dem Schorf, der täglich aufplatzte und eine etwas größere Wunde darunter enthüllte. Bevor er so große Schmerzen hatte, dass er kaum noch sein eigenes Gewicht tragen konnte, geschweige denn meins.

Ein Schwarm Schwalben kreist über uns. Mit ihrem Gezwitscher reißen die Vögel mich aus meinen Grübeleien, als sie herabstoßen, um in den Schießscharten in Aphorais Stadtmauer zu rasten. Die einzige Stadtbefestigung im gesamten Kaiserreich, die während der Schattenkriege standgehalten hat, sagte Vater früher immer. Offenbar haben die Erdbeben unserer Provinz geholfen, sich auch auf eine andere Art der Gewalt vorzubereiten.

Heute verteidigt die Mauer die Stadt gegen die Sonne, die so heiß herabbrennt wie ein Schmiedeofen, wenn sie eins wird mit dem Horizont und die Wüste wie geschmolzenes Metall zum Leuchten bringt. Als wir das fünfzehnte Tor erreichen, lässt sich Barden von Lils Rücken gleiten. Augenblicklich taucht eine Gruppe zerlumpter Kinder aus dem Schatten auf und umringt uns. Barden lacht fröhlich, öffnet seine Tasche und verteilt Felsenfeigen. Deshalb war sie also so vollgestopft.

Er drückt kurz mein Knie, das fast auf derselben Höhe ist wie seine Hand. »Dann sehen wir uns also bei der Prüfung?«

Ich nicke.

»Und, Rakel?«, ruft er mir noch über das aufgeregte Geschnatter der Kinder hinweg zu.

»Ja?«

»Mögen die Sterne dich beschützen.«

Ich nicke wieder – Barden weiß, dass ich noch nie im Leben ein Gebet gesprochen habe – und reite weiter.

Ich lasse Lil am Brunnen auf einem kleinen Platz zurück. Sie würde weniger auffallen, wenn ich sie zu einer der Karawansereien außerhalb der Stadtmauer gebracht hätte, aber dafür braucht man Zigs. Egal. In diesem reichen Viertel, in dem Wasser allgemein zugänglich ist, wird sich keiner die Mühe machen, ein Pferd zu stehlen. Vor allem, wenn die meisten Leute es in gebratener Form für wertvoller halten als lebendig. Und sollte doch jemand Hand an Lil legen, wäre er die wahrscheinlich schnell los.

Lil schnaubt entrüstet darüber, angebunden und verlassen zu werden.

»Was denn?«, frage ich und reibe ihre Flanke. »Du hasst den Nachtmarkt.«

Sie würdigt mich keines Blickes.

Ich krame in meinen Taschen nach einem dienstbotengelben Schal und wickele ihn um mein staubiges, zerzaustes Haar. Niemand, der innerhalb dieser schattigen Mauern lebt, kleidet sich passend für die Wüste, daher krempele ich die Ärmel meines Kleides bis zu den Schultern hoch, wie es in der Stadt üblich ist. Mein Medaillon dient mir als Spiegel, als ich mich vergewissere, dass mein Gesicht nicht schmutzig ist. Dann streiche ich mir ein wenig von dem Inhalt des Medaillons auf die Schläfen, hinter die Ohren, an die Handgelenke: Bienenwachs, aromatisiert mit Hyazinthe, Lilie sowie einem Hauch Nelke. Es ist ein betäubend blumiger Duft, aber er wird mir genau wie die kurzen Ärmel und die Farbe der Dienstboten helfen, nicht aufzufallen.

Zum Abschied kraule ich Lil hinterm Ohr, dann hänge ich mir die Tasche über die Schulter – vorsichtig, um den Inhalt nicht durcheinanderzuschütteln. Die gähnend leere Geldbörse sicher darin verwahrt, gehe ich los.

Mein Weg führt mich zunächst über breite, von Palmen gesäumte Alleen. Diener in safrangelben Kleidern schenken mir keine Beachtung bei ihren späten Botengängen. Eine kleine Katze beobachtet mich von einer Mauer aus, hinter der der Duft reifer Persimonen aus einem Garten aufsteigt. Ich gehe zielstrebig und versuche, wachsam zu bleiben, ohne heimlichtuerisch zu wirken. Der mondlangen Arbeit, die in den wenigen kostbaren Fläschchen in meiner Tasche steckt, bin ich mir nur zu bewusst. Über mir dämmert es langsam, die letzten Schwaden des Tempelrauchs haben sich aufgelöst und verzogen.

Ich vermisse sie kein Stück.

Je näher ich dem Markt komme, desto schmaler werden die Straßen. Gewürzdüfte mischen sich vertraut wie alte Freunde in die Luft, darunter steigen leichte Abwassergerüche auf. Flach atmend bahne ich mir einen Weg durch die Markthalle, weiche Hühnerhändlern aus und dränge mich zwischen Tischen hindurch, auf denen Dünen aus Sumach und Konstellationen aus Sternanis aufgehäuft sind.

Dann bin ich wieder unter freiem Himmel. Auch auf dem Platz sind Marktstände aufgebaut, die Waren hier sind eher dekorativ denn nützlich, die Luft erfüllt von Drachenblutrauch. Ich atme den offiziellen Duft von Aphorai – der nur in der Parfümerie des Eraz hergestellt wird – tief ein. In diesem Teil der Stadt riecht er eher ehrgeizig als edel.

Und hinter alldem nehme ich etwas entsetzlich Vertrautes wahr.

Ein Mann lehnt sich gegen eine Mauer, einen kleinen Holzkarren neben sich. Ich kneife im schwächer werdenden Licht die Augen zusammen. Kniet er? Nein. Seine Beine enden dort, wo die Knie sein sollten. An den Beinstümpfen hängen dreckige Verbände, die feucht sind von den Geschwüren darunter. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.

Alle Passanten weichen seinem suchenden Blick aus. Dienstboten mustern die Pflastersteine. Händler bedecken ihre Nasen mit Tüchern aus parfümierter Seide und schlagen einen großen Bogen um ihn. Zehn Schritte entfernt segelt das Tuch zu Boden. Marktdiener beeilen sich, die Stoffstücke mit langen Greifzangen aufzuheben.

Abergläubische Narren. Man kann sich nicht durch Einatmen des Gestanks mit der Fäulnis anstecken. Dafür bin ich das beste Beispiel.

Der Mann versucht mühsam, in den Karren zu klettern, strauchelt jedoch, als ein Marktdiener ihn mit der Zange anstößt und droht, die Stadtwachen zu rufen.

Ich balle die Fäuste und öffne sie wieder. Dann gehe ich hinüber, dränge mich an dem Diener vorbei und gehe neben dem Mann in die Knie. »Nehmen Sie meinen Arm.«

Er schneidet eine Grimasse, während es ihm mit meiner Hilfe mühsam gelingt, in den Karren zu klettern.

Ich krame in meiner Tasche nach dem fast leeren Töpfchen mit Weidenrinde. Es ist der letzte Rest meines persönlichen Vorrats, aber bald werde ich Nachschub besorgen. »Hier. Das lindert die Schmerzen. Am besten in Kormak einnehmen. Aber nicht zu viel«, warne ich ihn mit einem Blick auf seine Verbände, »sonst verhindert es die Gerinnung und Sie bluten.«

»Danke«, sagt er mit belegter Stimme.

»Haben Sie einen Ort, wo Sie hinkönnen? Kann ich Sie dorthin bringen?«

»Ich komme schon zurecht.« Wir wissen beide, dass das eine Lüge ist.

»Sind Sie sicher?«

Er wirft einen Blick über den Marktplatz. Der Tumult weiter hinten bestätigt, dass der Diener eine Patrouille aufgetrieben hat. »Sie sollten weitergehen.«

Das ist allerdings wahr. Einen Zusammenstoß mit einem Wachhauptmann, der seinen freien Abend genießen will, kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen.

»Mögen die Sterne Sie beschützen, Schwester«, sagt der Mann mit fester Stimme.

»Sie auch.«

Am anderen Ende des Platzes erhellen kupferne Kohlenpfannen mein Ziel. Eine Reihe junger Dienerinnen mit glatten, zarten Gesichtszügen und geschmeidigen Körpern in durchsichtigen Seidenkleidern steht auf der Schwelle. Alle haben einen Fächer aus geflochtenen Palmblättern in der Hand, mit dem sie süßen, rot gefärbten Rauch auf die Straße wedeln, um Käufer anzulocken. Der Trupp Wachleute hinter ihnen besagt jedoch, dass man die richtige Art Käufer sein muss, um willkommen zu sein.

Ich gehöre nicht dazu.

Aber ich habe auch nicht vor, den Haupteingang zu benutzen.

Auf der Rückseite des Hauses führt eine steinerne Stiege zum Keller hinab.

Der Wachmann an der Tür, der nicht ganz so auffällig gekleidet ist wie die vorne, nickt mir kurz zu. Ich gehe durch den Flur und stolpere beinahe über die ausgestreckten Gliedmaßen eines schlafenden Paares. Die Reste ihres eleganten Parfums überdeckt der Geruch von leeren Geldbörsen und noch leereren Köpfen. Traumrauch.

In der Mitte des Saals hat sich eine Zuschauermenge um einen hüfthohen Marmortisch versammelt. Vier Männer und eine Frau treten an die Platte, und eine Dienerin bringt ihnen kleine Gläser, die auf einem Silbertablett an den fünf Spitzen des darauf abgebildeten Sternenrads aufgestellt sind. Die Gläser könnten aus dem Ende eines Regenbogens befüllt worden sein, alle fünf Flüssigkeiten funkeln im flackernden Kerzenschein in einer anderen Farbe.

Was für ein Spiel: Tod im Paradies! Die Gläser beinhalten einen Cocktail aus Mohnsaft und starkem Schnaps – wer davon trinkt, egal in welcher Geschmacksrichtung, wird eine Nacht lang voller Liebe für die ganze Welt und jeden, dem er begegnet, sein. Das Risiko? Eins der Gläser ist möglicherweise mit Nachtjasmin versetzt, der in dem honigsüßen Schnaps so gut wie nicht nachweisbar ist und innerhalb von Sekunden zum Tod führt. Ein Test für einen guten Geruchssinn. Und wenn man den nicht hat, ein Test für die Nerven.

»Zum Wohl!« Der erste Spieler – ein junger Lockenkopf, dessen Gewand dem kaiserlichen Purpur gefährlich nahe kommt – hebt sein Glas und leert es in einem Zug. Seine Begleiter keuchen mit gespannten Mienen auf. Aber nach einer Minute stellt er das Glas grinsend mit großer Geste kopfüber zurück auf das Tablett. »Ich werde noch eine weitere Nacht das Parfum der Götter wittern.«

Die Zuschauer jubeln und klopfen ihm auf den Rücken. Ich gebe mir keine Mühe, auf dem Weg zum Tresen meinen Spott zu verbergen. Sollten sie in meine Richtung schauen, wird ihr Blick sowieso über mich hinweggleiten. Niemand nimmt die Dienerschaft wahr.

Die Bardame und ich haben nie so getan, als wären wir Freundinnen, und sie versucht nicht, nett zu sein, als sie meine Tasche beäugt. »Gib das im Lager ab. Dort wartet ein Beutel Zigs auf dich. Die nächste Bestellung ist in einem halben Mond fällig.«

»Ich will diesmal mit Zakkurus sprechen.«

»Keine Chance.«

Ich klopfe auf meine Tasche. »Soll ich das dann lieber zu Rokad bringen?« Das ist nur zum Teil ein Bluff. Rokad zahlt besser, aber ihm wird nachgesagt, dass er seine Lieferanten an die Kontrolleure verrät.

Sie seufzt und greift hinter die Theke. Eine halbe Minute verräterischen Klirrens später stellt sie fünf Gläser vor mich hin. »Entscheide dich für eins.«

»Ich bin kein aufgeblasener Schnösel, der im düsteren Teil der Stadt auf Nervenkitzel aus ist.«

»Und Zakkurus ist kein großzügiger Wohltäter, der seine Zeit mit jeder dahergelaufenen Vogelscheuche verschwendet. Du willst mit ihm sprechen? Dann entscheide dich.«

Stinkender Stock! Damit habe ich nicht gerechnet. Aber was habe ich für eine Wahl? Wenn ich es jetzt nicht mache, verpasse ich die Aufnahmeprüfung. Man mag sie ganz offiziell Heimsuchung nennen, aber die Fäulnis wartet auf niemanden. Auch nicht auf mich.

Und bei allen Göttern und Sternen und dem Mangel an, na ja, Respekt, die mein Leben ihnen entgegengebracht hat, gibt es keinen anderen Weg. Ich muss wissen, welches Parfum Sireth, die Tochter des Eraz, im nächsten Umlauf des Sternenrads bevorzugen wird – nach welchem Duft jeder, der jemand ist oder sein will, verlangen wird, um sich damit zu umgeben. Ich muss wissen, welcher Duft die letzte Aufgabe bei der Prüfung sein wird.

Ich zwinge meine Hand, ruhig zu bleiben, während ich ein Glas nach dem anderen unter meiner Nase schwenke und das Aroma auf meine Sinne wirken lasse. Beim dritten halte ich inne. Es ist das einzige mit einer Spur Bitterkeit, die zweifellos etwas überdecken soll. Es ist außerdem das einzige Glas ohne diese übertriebene Süße – das einzige unverfälschte. Ich würde mein Leben darauf verwetten. Ich werde gleich mein Leben darauf verwetten.

»Gleich vier vergiftete Gläser?« Ich hebe eine Augenbraue. »Um die Chancen für das Haus zu erhöhen, was?«

Die Bardame zuckt nur mit den Schultern.

Ohne den Blick abzuwenden, hebe ich die bittere Flüssigkeit an die Lippen. Ich lege den Kopf in den Nacken und trinke.

Einen Augenblick lang oder zwei geht es mir gut.

Dann rauscht der Boden auf mich zu.

2. Kapitel

ASH

Palastwachen sind darauf trainiert, körperliche Anstrengungen zu ertragen. Die Harnische der kaiserlichen Familie stehen vor größeren Herausforderungen: Sie müssen die messerscharfen Feinheiten der höfischen Etikette durchschauen, aber gleichzeitig den Eindruck erwecken, nichts mitzubekommen. Ich kann zwar den widerwärtigen Geruch der Heimsuchung, der das kaiserliche Schlafzimmer verpestet, nicht ignorieren, aber meine Miene wird diesen Umstand nicht verraten, der göttlichen Mutter Esiku sei Dank.

Die Diener haben ihr Bestes gegeben. Die Seidenvorhänge wurden zurückgebunden, um eine frische Brise einzulassen. Überall glimmen Kohlenpfannen, deren Glut sich glänzend in der glatten Oberfläche der schwarzen Granitwände spiegelt. Lorbeerzweige liegen auf dem Mosaikboden verstreut, während Räucherstäbchen ihren duftenden Qualm verströmen. Aber nichts davon überdeckt die üblen Ausdünstungen, die die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Götter markieren.

Jeder, der diesen Raum betritt, weiß sofort – so sicher er sich seiner eigenen Nase sein kann –, dass der Kaiser von Aramtesch im Sterben liegt.

Eigentlich liegt Kaiser Kaddasch schon seit zehn Umläufen des Sternenrads im Sterben. Er liegt schon länger im Sterben, als ich mich rasiere. Aber genau wie alles andere, was er während seiner Herrschaft verpfuscht hat, bringt er keinen würdigen Abschied zustande, jetzt, wo es darum geht, sein Leben zu lassen.

Kaddasch lehnt an einem ganzen Stapel Kissen. Er hat kaum den Abend von fünfzig Umläufen erreicht und wirkt doch wie siebzig oder sogar noch älter. Die Haut pergamentdünn, die Augen unter der einst stolzen Braue eingesunken. Und dann ist da dieser untrügliche infernalische Gestank.

Nisai, der Erste Prinz, sitzt auf einem niedrigen, kunstvoll geschnitzten Stuhl am Krankenbett seines Vaters, die schlanke Gestalt zusammengesunken. Wie in fast jedem Augenblick an fast jedem Tag bin ich an seiner Seite.

Na ja, nicht wirklich an seiner Seite. Das wäre der Situation unangemessen. Ich halte drei Schritte Abstand und habe einen freien Blick auf Fenster und Tür. Die beiden Schwerter auf meinem Rücken berühren nicht die Wand, deren polierte Steine sich kühl unter meinen Handflächen anfühlen.

Auf Nisais Gesicht spiegeln sich abwechselnd Hoffnung und Trauer. Mich schmerzt der Anblick wie das dumpfe Pochen einer Narbe vor dem Regen. Mit der einstudierten Leichtigkeit, die lange Übung mit sich bringt, schiebe ich das Gefühl weg, schließe es tief in mir ein.

»Vater«, fleht Nisai mit gesenktem Blick.

Ich wünschte, er würde es nicht tun. Ein Erster Prinz sollte niemals, unter keinen Umständen, flehen.

Er atmet zitternd ein und hebt den Blick, um den Kaiser anzusehen.

»Bitte, Vater. Ernenne eine Dufthüterin. Ich habe Hinweise in den alten Texten gefunden – mehrere Hinweise –, die nahelegen, dass ihre Aufzeichnungen weiter zurückreichen als unsere. Vielleicht kennen sie etwas, das deinen Zustand verbessern könnte.«

Bei den letzten Worten sieht er auf der Suche nach Unterstützung zu mir, obwohl er genau weiß, dass ich verpflichtet bin zu schweigen.

Kaddasch runzelt die Stirn. »Hast du den Verstand verloren? Das sind Scharlatane. Hexen. Ich werde sie in die entlegensten Ecken des Kaiserreichs treiben. Mal sehen, wie es ihnen im losianischen Ödland ergeht. Oder in diesem Sumpf von Lautus! Solange ich atme, wird es keine Dufthüterin in Ekasya geben.« In seinen Mundwinkeln sammelt sich Spucke. »Lieber diniere ich mit Doskai.« Der letzte Satz ist fast ein Fauchen, und der gezischte Name des Verlorenen Gottes hallt unheimlich in dem ansonsten stillen Zimmer wider.

Ich fahre mir mit der Handfläche über die Stoppeln auf meinem Schädel und sehe mich im Raum um. Er gaukelt recht erfolgreich eine vertrauliche Privatsphäre vor. Aber selbst ich kann nichts dagegen ausrichten, dass die Wände Augen und Ohren haben. Es sorgt bereits für Aufsehen, dass in der kaiserlichen Hauptstadt noch keine neue Dufthüterin benannt wurde, seit die letzte in den Himmel aufgestiegen ist. Wenn die Provinzen jedoch Wind davon bekämen, wie weit Kaddasch sich wirklich von dem gemeinsamen Abkommen entfernt hat … Nun.

Nisai seufzt resigniert. »Beruhige dich doch. Es schadet nur, wenn du dich so aufregst.«

Die Schultern des Kaisers haben sich während seiner Tirade gehoben wie seine Nackenhaare, aber jetzt sinken sie in die parfümierten Kissen zurück. »Beruhigen. Ja. Das ist das erste Sinnvolle, das du heute gesagt hast. Ein wenig Traumrauch würde mir helfen. Empfohlen von der Zunft als medizinische Maßnahme. Ja, ja. Ruf den Arzt.«

Leise wie eine in den Fluss gleitende Hafenmaus erscheint ein junger Page. Er zieht an einem Seil, das hinter den Vorhängen verborgen ist. Die Glocke klingelt, dröhnt durch die Palastmauern, sodass ich sie nicht nur höre, sondern auch spüre.

Die Tür geht auf, und der Page flüstert dem Wachmann davor etwas zu.

Ich sehe Nisai an. Zwischen seinen Augenbrauen erscheint eine schmale Furche, die zeigt, dass er skeptisch ist, aber zu taktvoll, um es laut auszusprechen. Die Ärztezunft gewinnt immer mehr Einfluss. Obwohl sie so sehr auf ihren neuen »wissenschaftlich erprobten« Methoden und Behandlungsverfahren beharrt, habe ich nur von wenigen Fällen gehört, in denen ein Patient geheilt wurde, ohne etwas einzubüßen – einen Sinn, irgendwelche Gliedmaßen oder zumindest einen bedeutenden Teil seines Vermögens oder Anwesens. Und was die Heimgesuchten angeht, können die Ärzte ihr Leben zwar möglicherweise verlängern, retten können es jedoch nur die Götter.

Der Arzt kommt schnell.

Immer auf der Lauer.

Die Zunftkleidung in nüchternem Schwarz wirkt wie eine direkte Kritik an den glänzenden Federkleidern des Tempels. Dunkle, grob gesponnene Wolle ist an einem Morgen wie diesem sicher nicht angenehm. Die Brise, die gegen den Krankenbrodem im Zimmer ankämpft, ist äußerst warm, der letzte Schnee dieses Umlaufs auf dem Ekasyaberg schon vor Monden geschmolzen.

Der Page räuspert sich. »Zostar Alak, Ärztezunft.«

Der Schwarzkittel rührt sich nicht.

Der Blick des Pagen wandert zu Nisai und zurück zu dem Neuankömmling. Dann wird er rot, als ihm bewusst wird, dass der Arzt mehr erwartet. »Persönlich ernannt von Kaiser Kaddasch dem Vierten!«

Schwarzkittel nickt zufrieden. Er rauscht durch das Zimmer, wie kleine Männer es oft tun – als versuchten sie, den Eindruck zu erwecken, mehr Raum einzunehmen. Ich bin kein Meisterparfümeur, aber selbst ich rieche die Wolke aus Essigdampf, die hinter ihm herweht.

Ich verlagere mein Gewicht, woraufhin das verstärkte Lederwams unter meiner seidenen Palastkleidung knarzt.

Der Arzt sieht zu mir herüber.

Ich setze eine vollkommen ausdruckslose, begriffsstutzige Miene auf.

Schwarzkittel zieht misstrauisch die Stirn kraus, geht aber weiter auf Kaddasch zu und stellt seine Tasche klirrend auf dem Nachttisch ab. Dann drückt er einen honigfarbenen Würfel in ein kleines Schälchen und setzt ihn mit einer dünnen Kerze in Brand, die er an einer Kohlenpfanne entzündet hat.

Nisai lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und wedelt sich hustend den Rauch aus dem Gesicht.

»Haltet Abstand, mein Prinz«, weist der Arzt ihn an.

Ich ziehe eins der Messer aus der Scheide an meinem Handgelenk und schiebe mir die Spitze unter einen Fingernagel, um ihn von nicht existierendem Dreck zu befreien. Die Klinge steht genau im richtigen Winkel, um die frühe Morgensonne einzufangen und Lichttupfer auf das Gesicht des Arztes zu werfen.

Er funkelt mich an.

Ich gebe vor, es nicht zu bemerken.

Nisai wirft mir einen seiner »War das wirklich nötig?«-Blicke zu. Ja. Doch, das war es. Der alte Schwarzkittel ist in den letzten Monden deutlich zu groß für seine Sandalen geworden. Ich habe einige seiner Bemerkungen über »wahre Medizin« gehört. Es ist offensichtlich, woher der Kaiser seine gotteslästerlichen Vorstellungen hat.

Nach weiterem Kramen und Klirren holt Schwarzkittel eine Phiole mit einer trüben Flüssigkeit hervor. Er lässt mehrere Tropfen in einen Kelch fallen. Ein Diener huscht herbei und füllt den Kelch mit dampfendem Wasser aus einem Kessel auf. Lächelnd beugt sich der Kaiser darüber und atmet gierig den Dampf ein.

Besänftigt tätschelt Kaddasch gleich darauf Nisais Hand. »Mein guter Junge, du gehst jetzt besser. Papa muss sich ausruhen.« Seinem Singsang zufolge glaubt er offenbar, er könne das Sternenrad zurückdrehen und mit dem kleinen Jungen sprechen, den er so viele Umläufe lang vernachlässigt hat.

»Erster Prinz, wenn Ihr uns bitte entschuldigen würdet. Der Kaiser ist jetzt bereit für die therapeutische, beruhigungsfördernde Insufflation.« Schwarzkittel betont jedes Wort, als hätte es einen eigenen Satz verdient.

Therapeutisch. Mit diesem Begriff versehen, verwandelt sich jede beliebige Idee, die bloß geruchloser Rauch ist, in eine allgemein anerkannte Behandlungsmethode.

Beruhigungsfördernd. Oh, das bezweifle ich nicht. Genauso wenig wie die ehrwürdigen Händler und Adligen, die den Traumrauchhöhlen im gesamten Kaiserreich glänzende Geschäfte garantieren.

Insufflation. Man mag es nennen, wie man will, aber es ist, was es ist. Dem Kaiser wird Rauch in den Arsch gepustet. Buchstäblich.

Ich bin dankbar, als Nisai sich verabschiedet und zur Tür geht. Ohne einen Blick zurück folge ich ihm hinaus.

Schweigend machen wir uns auf den Weg zu den Gemächern des Ersten Prinzen. In der Kaiserhalle kann ich nicht umhin, mich zu fragen, was die Männer auf den fein gestickten Gobelinporträts von Aramteschs gegenwärtigem Herrscher gehalten hätten.

Sawkos der Große auf seinem Wagen ist zu konzentriert darauf, Löwen zu jagen, um einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Aber ich könnte schwören, dass Emoran der Gesetzgeber missbilligend die Stirn runzelt. Und Awulsheg II., der, gerahmt vom Säulengang der kaiserlichen Universität, mit der Feder eine Schriftrolle beschreibt, scheint leise Enttäuschung auszustrahlen.

Als wir an dem Gelehrten und seinen Nachfolgern vorbeigehen, den Regenten, die während der Großen Blütezeit vier- bis fünfhundert Umläufe vor dem Abkommen herrschten, fährt Nisai mit den Fingern über die polierten Zedernholzstäbe unter jedem Porträt. Sie sollen verhindern, dass sich die Gobelins einrollen, aber für den Prinzen scheinen sie noch eine andere Bedeutung zu haben. Sie sind Talismane oder Prüfsteine.

Vor dem letzten Wandteppich bleibt Nisai stehen. Darauf sitzt Kaddasch auf einem der vielen glänzend schwarzen Steinbalkone des Palasts von Ekasya mit Blick auf die Flussebene darunter, vor sich eine Laute, deren Saiten er zupft. Ihn umgeben schöne junge Höflinge, von denen einige mit vollen Gläsern in der Hand lachen und andere schläfrig mit Traumrauchpfeifen an Kissen gelehnt sitzen. Das Porträt hat keinen Titel, aber es könnte sehr gut heißen: Kaddasch – das Leben ein Fest.

»Wodurch zeichnet sich ein guter Kaiser aus?«, fragt Nisai.

Ich antworte, ohne zu zögern: »Diese Entscheidung liegt bei dir.«

»Ja?«

Er schnippt ein unsichtbares Staubkorn vom Porträt seines Vaters und geht weiter den Flur entlang.

Issinon, Nisais Kammerdiener, wartet vor den Prinzengemächern. Er verbeugt sich tief und umklammert dabei die purpurfarbene Seidenschärpe, die seine Stellung bekundet. Als er sich wieder aufrichtet, reicht er Nisai eine kleine Schriftrolle. »Erster Prinz.«

Nisai schüttelt die Last des Morgens ab und lächelt seinen Kammerdiener offen an. Erst als wir allein sind, entrollt er die Nachricht.

Ich hebe eine Augenbraue.

Nisai hält mir das Pergament unter die Nase.

»Ist es das, wonach es riecht?«

Er schneidet eine Grimasse und fährt sich in einer theatralischen Geste mit dem Finger über die Kehle.

Man hat uns einbestellt.

*

Über dem Ratssaal schwebt der Geruch der Macht.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich diese Mischung aus Nektar und Gewürzen zum ersten Mal gerochen habe. Es war vor langer Zeit, am Fuß des Ekasyabergs, zwischen den Mauern der kaiserlichen Hauptstadt und dem Fluss. Dort, wo die Elendsviertel sich wie Ansammlungen von Süßwassermuscheln an die Hänge schmiegen. In diesem Niemandsland, in dem keiner einer Provinz angehört, hatte nie zuvor irgendetwas so süß gerochen wie in dem Moment, als Nisai mich – den schmuddeligen Straßenbengel, der erbärmlich nach weiß Raikur was stank – zu seiner Mutter brachte: eine majestätische Gestalt, gekleidet in kaiserlichem Purpur, ein Diadem aus funkelnden Amethysten und Rubinen auf der Stirn.

Ich stand da, und es kam mir vor wie eine Ewigkeit, mit trockenem Hals und meinem Kinderherz, das mich zu verhöhnen schien. Es klopfte so laut, dass ich sicher war, sie müsse es hören, es würde ihr mit jedem Schlag meine Schuld, meine Scham und meine Angst übermitteln, so deutlich, wie die Tempeltrommeln den Umlauf des Sternenrads verkünden. Aber ihr Parfum umfing mich, während ihr prüfender und doch gütiger Blick mich gefangen hielt, als hätte ihr Sohn eine streunende Katze mitgebracht, die er als Haustier behalten wollte.

Dann bedachte sie mich mit ihrem breiten, weißzähnigen Lächeln, erhob sich und erklärte: »Wenn mein Sohn ihn mit in den Palast nehmen möchte, kommt er mit in den Palast.«

Und so war es entschieden.

Ob sie mich durchschaute, ob sie wusste, was ich wirklich getan hatte, um ihren Sohn zu retten, werde ich nie erfahren und nie fragen. Darüber waren Nisai und ich uns von Anfang an einig. Zu gefährlich. Was an jenem Tag geschehen ist, muss für immer unter uns bleiben.

Jetzt betrachtet uns Shari von der anderen Seite des runden Tisches aus, der den Raum beherrscht. Aus graublauem Vulkanglas geformt, das aus den Tiefen des Ekasyabergs gewonnen wurde, sind auf seiner polierten Oberfläche Edelsteine eingelassen, die eine stilisierte Karte des Sternenrads in der Nacht des Gründungsabkommens darstellen, die Zwillingsmonde aus glänzendem Perlmutt.

Die übrigen vier Ratsmitglieder – Kaddaschs andere Ehefrauen – sitzen vor den Konstellationen ihrer jeweiligen Provinz: der zum Angriff bereiten losianischen Kobra, dem Auerochsen von Trell, dem goldenen Adler, der hoch über Edurshai kreist, dem Eisfuchs von Hagmir, dessen Silhouette von der Schnauze bis zur Schwanzspitze mit Sternen gesäumt ist. Ich bezweifle, dass Sharis Platz vor dem geflügelten Löwen ihrer Herkunftsprovinz nur zufällig genau gegenüber der Tür liegt. Die Mitglieder des Fünferrats mögen auf dem Papier gleichberechtigt sein. Aber zurzeit gilt hier das Wort der kaiserlichen Ehefrau aus Aphorai.

Shari verschwendet keine Zeit und kommt gleich in formellem Ton zur Sache. Schließlich hat der Rat den kaiserlichen Thronfolger einbestellt und nicht einfach ihren Sohn. »Aphorai hat den Tag des Blütenmonds verkündet.«

Sie stellt das Offensichtliche fest: Gestern hat der Tempel von Ekasya einen Regenbogen aus Rauch in den Himmel geschickt – ein Glied in der Kette, seit Aphorai Hunderte von Meilen entfernt das Signalfeuer entzündet hat. Inzwischen brennen diese in ganz Aramtesch.

»Der Eraz von Aphorai spricht zu diesem feierlichen Anlass seine herzliche Einladung aus. Es ist unerlässlich, dass wir eine kaiserliche Gesandtschaft dorthin schicken.«

Galen, die kaiserliche Ehefrau aus Trell, mustert ihre manikürten Fingernägel. »Feierlich?«

»Freudig. Glücklich. Einmalig für eine ganze Generation«, fährt Shari sie an. Galen und sie haben ihre Pflicht, dem Kaiser Söhne zu schenken, schon vor langer Zeit erfüllt, daher spricht nichts dagegen, dass sie mehr als nur freundschaftliche Zuneigung füreinander empfinden. Aber Shari hat offenbar das Gefühl, das vor Nisai immer besonders offensiv ausgleichen zu müssen, damit niemand ihr vorwerfen kann, sie bevorzuge eine rivalisierende Provinz. Denn dann könnte Aphorai, ihre Heimatprovinz, Strafmaßnahmen verhängen. Sie sogar im Rat ersetzen.

»Oh! Allerdings!« Galen nickt eifrig, wobei sich ihre kunstvoll hochgesteckten Zöpfe – so golden wie trellianische Weizenfelder – nicht im Geringsten bewegen. Ich wünschte, Shari wäre in der Öffentlichkeit nicht so barsch zu ihr.

Nisai verschränkt die Hände. »Unser Großonkel ist sehr großzügig. Und es freut mich, dass der Rat die kaiserliche Verpflichtung unserer Provinz gegenüber ehrt. Ich stehe gerne zur Verfügung, um bei den Vorbereitungen für die Delegation zu helfen, da ich die Bedürfnisse meines Vaters kenne. Die Reise wird ihm nicht leichtfallen, aber es gibt einiges, was wir tun können, damit er es so bequem wie möglich hat.«

Shari klopft mit einer Schriftrolle auf den Tisch. »Der Rat möchte, dass Ihr auf andere Art helft, Erster Prinz.«

»Natürlich, verehrte Rätin«, spricht Nisai seine Mutter mit der offiziellen Bezeichnung an.

Shari sieht sich am Tisch um und sucht den Blickkontakt mit ihren vier Amtskolleginnen, bevor sie sich wieder an ihren Sohn wendet. »Wir wollen offen sein. Es wird Zeit, dass Ihr einige der Pflichten Eures Vaters übernehmt.«

»Verehrte Rätin, der Kaiser ist noch sehr lebendig.« Nisais locker verschränkte Finger verkrampfen sich.

»Wir wissen beide, dass Kaddasch den Palast erst wieder verlassen wird, wenn man seinen Leichnam hinauf in den Tempel bringt.«

Niemand hat es bisher ausgesprochen, aber ich würde mein Schwert darauf verwetten, dass alle in diesem Raum es schon gedacht haben – je länger Kaddaschs Siechtum dauert, desto schlechter für das Kaiserreich. Aber es war der Rat, der ihn zum Herrscher ernannt hat – ihn für würdiger hielt als seine Brüder –, genau wie seinen Vater und den Vater seines Vaters sowie jeden Kaiser, soweit die Erinnerung reicht.

Seit Hunderten von Umläufen erfüllt das Gründungsabkommen seinen Zweck. Darin ist festgelegt, dass die mächtigste Stellung im Kaiserreich in jeder Generation vom Abkömmling einer anderen Provinz besetzt wird. So können einzelne Dynastien ihre Schranken nicht übertreten. Grenzkonflikte werden im Keim erstickt, bevor sie sich entzünden, damit die Position des Kaisers und damit auch die kaiserliche Armee beim nächsten Mal nicht an den gekränkten Nachbarn gehen.

Das Abkommen hat für eine relative Stabilität im gesamten Kaiserreich gesorgt und Menschen mit Verstand und den nötigen Mitteln die Möglichkeit gegeben, zu Wohlstand zu kommen. Was allerdings diejenigen angeht, die zwar die nötigen Mittel, aber keinen Verstand oder durchaus Verstand, jedoch keine nötigen Mittel haben – nun, das ist eine andere Geschichte. Eine, mit der ich mich lieber nicht mehr befasse.

Shari durchschneidet die Stille mit einer Handbewegung. »Aramtesch wartet auf niemanden. Das gilt auch für Euren Vater.« Die Worte sind sorgfältig gewählt, Wahrheit und Verrat darin liegen dicht beieinander.

»In der Tat, Mutter. Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, was der Rat von mir verlangt.«

»Wir heben Euren Hausarrest auf.«

Ich fand Sharis Entschlossenheit immer beruhigend. Bis jetzt. Den Arrest aufheben? Was denkt sie sich eigentlich dabei?

»Verzeihung, Mutter, aber dürfen Sie das?«

Shari schiebt die Schriftrolle, die sie in der Hand hält, über den Tisch. »Mit einer einstimmigen Entscheidung kann der Fünferrat ein kaiserliches Dekret für ungültig erklären, wenn die Unterlassung eine Gefahr für die Grundsätze des Gründungsabkommens darstellen würde. Seit Ihr an den Palast gebunden seid, hat sich viel verändert. Ich wünschte, es wäre anders, aber es geht inzwischen nicht mehr nur um Eure Sicherheit. Es steht mehr auf dem Spiel.«

Nisai ist entsetzt. »Sie haben sich über Vater hinweggesetzt?«

Zwei Plätze neben Shari beugt Esmez sich vor. Die kaiserliche Ehefrau aus Hagmir ist das Sinnbild matronenhafter Mütterlichkeit und das Gegenteil von Sharis majestätischer Haltung. »Es war gar nicht nötig, dieses legale Schlupfloch zu nutzen«, sagt sie mit sanfter Stimme, als wollte sie ein scheues Tier beruhigen. »Der Kaiser hat das Dokument unterzeichnet. Sein Arzt hat ihm verboten, in seinem Zustand zu reisen. Also macht Euch keine Gedanken. Zumindest nicht um Euren Vater.«

»Außerdem wurde Euer Bruder zurückbeordert«, fügt Shari hinzu. »Er sollte bald wieder hier sein. Die Kaiserliche Garde wird nicht länger als drei Tage brauchen, um sich mit neuen Vorräten zu versorgen. Dann brecht Ihr gemeinsam auf.«

Galen strahlt geradezu vor Stolz, als Shari ihren Sohn erwähnt. Prinz Iddo ist der einzige kaiserliche Sohn, der auf keinen Fall die Thronfolge übernehmen kann, da seine Mutter und der Kaiser aus derselben Provinz stammen. In dieser Lage hätte er es deutlich schlechter treffen können, als bis zum Gardehauptmann aufzusteigen. Oder vielleicht freut sich Galen auch nur, ihr einziges Kind wiederzusehen – seit der Hausarrest verhängt wurde, können die Ehefrauen mit Ausnahme von Shari ihre Kinder nur außerhalb der Hauptstadt sehen.

»Es würde Misstrauen zum Ausdruck bringen, die ekasyanischen Palastwachen mitzuschicken«, erklärt Shari. »Sie sind zu voreingenommen. Aber die Angehörigen der Kaiserlichen Garde stammen aus allen Provinzen Aramteschs, um dem gesamten Kaiserreich zu dienen. Ihr werdet Euren persönlichen Stab haben. Und natürlich Ashradinoran.«

Beim Klang meines vollen Namens zucke ich zusammen, auch wenn Shari ihn nur dem Schreiber zuliebe nennt, der in der Ecke sitzt. Dies sind offizielle Abläufe. Und offiziell bin ich der Harnisch des Thronfolgers von Aramtesch. Sein engster Leibwächter. Durch einen alten Eid gebunden und wie alle Harnische vor mir fürs Leben gezeichnet mit dem Siegel der Familie meines Schützlings. Der stilisierte geflügelte Löwe, der auf meine Haut tätowiert ist – von den Reißzähnen im Maul über die geflügelten Vorderbeine und klauenbewehrten Füße –, verpflichtet mich, den Prinzen um jeden Preis zu verteidigen.

Inoffiziell würde ich liebend gern in den Himmel aufsteigen, wenn es irgendwann hieße, er oder ich. Selbst wenn ich es ihm schon mehrmals vergolten habe, war es Nisai, der durch sein Schweigen zuerst mir das Leben gerettet hat. Und seine Freundschaft rettet mich mit jedem Tag, der verstreicht, von Neuem.

Jetzt wippt der Prinz geradezu auf den Ballen. Ich kann es ihm nicht verdenken, dass er aufgeregt ist. Seit Kaddasch vor vielen Umläufen bereits an die Tür des Todes klopfte und der Rat etwas bisher Einmaliges in der Geschichte tat, indem er vorzeitig den kaiserlichen Thronfolger bestimmte und im Zusammenhang damit den Hausarrest verhängte, hat Nisai zum ersten Mal die Erlaubnis erhalten, die Palastanlage von Ekasya zu verlassen.

Einen Augenblick rechne ich damit, dass Aramteschs nächster Herrscher gleich einmal um den Tisch rennen und nacheinander alle Ratsmitglieder umarmen wird. Dann reißt er sich zusammen. »Ich danke dem Rat für sein Vertrauen in mich.«

Ich kann nur blinzelnd dastehen und den Mund auf- und zuklappen wie ein ins Netz geratener Flussdorsch. In zwölf Tagen wird der Erste Prinz zum ersten Mal seit fast so vielen Umläufen den Palast verlassen.

Also habe ich elf Tage Zeit, um ihn davon abzubringen.

3. Kapitel

RAKEL

Minze, Leder, Rosmarin, Schweiß.

Ich halte mich an Vaters Schultern fest, als er mich durch die Straßen trägt und uns immer tiefer nach Aphorai-Stadt hineinbringt. Alle Soldaten, an denen wir vorbeikommen, nicken ihrem ehemaligen Hauptmann mit auf die Brust gelegter Faust zu, ihr Respekt vor ihm deutlich in ihre Gesichtszüge eingegraben. Der Schwall aus Aroma und Gestank, der uns umweht, kümmert sie ganz offensichtlich nicht. Für sie ist es nichts weiter als ein sanft plätscherndes Bächlein im Hintergrund. Aber für mich verwandelt die Geruchswoge Aphorais breiteste Allee in einen mächtigen Strom – der auf mich zu und über mich hinwegrauscht wie ein reißender Gebirgsbach zur Zeit der Schneeschmelze.

Wenn ich mich nicht freistrampele, frische Luft bekomme, werde ich verschlungen. Die unsichtbare Hand der Panik legt sich um meinen Hals. Meine Atemzüge kommen kurz und keuchend. Fühlt es sich so an, wenn man vor dem Ertrinken steht? Ich kann nicht …

Bring es unter Kontrolle, sage ich mir, kneife die Augen zusammen und halte mir die Nase zu. Jetzt, ein Geruch nach dem anderen. Isolier sie voneinander. Einen gefunden? Halt ihn fest. Zähl. Einatmen … Minze. Ausatmen … Leder. Das ist es. Atmen. Einfach atmen.

Als wir die Mauern der Tempelanlage erreichen, bin ich wieder halbwegs zur Ruhe gekommen. Vater hebt mich von seinen Schultern. Da fällt mir auf, dass er nur einen Kopf größer ist als ich. Stehen wir auf einer Treppe? Nein, auf einem ebenen Weg. Seltsam.

»Von hier aus wirst du allein weitergehen müssen, meine Kleine.«

»Aber ich will bei dir bleiben.« Tränen steigen mir in die Augen. »Bitte.«

Statt einer Entgegnung hängt er mir eine silberne Kette mit einem Medaillon um den Hals. Beim Anblick der filigranen Gravuren darauf bekomme ich große Augen – winzige Sterne sind über das Metall verstreut, als stammte es von einem Stück Nachthimmel. Ich schlinge die Arme um Vater. »Danke.«

»Klapp es auf.«

Das tue ich. Auf einer Seite ist ein leeres Balsamgefäß. Ich halte es mir unter die Nase. Nichts.

»Wenn du alt genug bist, kannst du deinen eigenen wählen.« Dann zeigt er auf die andere Seite, auf den Deckel, der mit dem winzigen Porträt einer Frau ausgekleidet ist. »Deine Mutter.«

Ich kann mich nicht an ihren Geruch erinnern, daher ist es mir unmöglich, mir ihr Gesicht vor Augen zu rufen. Aber wenn sie so aussah wie auf dem Bild, war sie umwerfend. Edle Stirn, gerade Nase, hohe Wangenknochen. Ein gerecktes Kinn, das von einem eisernen Willen hinter dem Lächeln kündet.

»Du siehst ihr mit jedem Tag ähnlicher.«

Ich betrachte das Bild genauer und denke, dass Vater nur das sieht, was er sehen will. Obwohl sich nicht leugnen lässt, dass meine Augen ebenfalls etwas weiter auseinanderstehen, als mir lieb wäre, und dass es fast unmöglich ist, mein feines Haar aus dem Gesicht fernzuhalten oder es in einem Zopf zu bändigen. Sogar jetzt kitzeln mich die krausen Strähnen an der Nase. Stirnrunzelnd streiche ich sie weg.

Vater lacht leise. »Du hast auch ihr Temperament.«

Wenigstens das klingt wie die Wahrheit.

»Was für einen Duft trug sie?«, frage ich und halte ihm das Medaillon mit dem Balsambehälter hin.

Sein wettergegerbtes Gesicht nimmt einen melancholischen Ausdruck an. »Wüstenrose.«

Wie unzählige Male zuvor schließe ich die Augen und versuche, mich zu erinnern. Wüstenrose. Mit einem Hauch Kardamom zur Intensivierung? Vielleicht eine Spur schwarzer Pfeffer für die persönliche Note? Das könnte sein. War es das? Ich weiß es nicht. Und wenn es das war, warum kann ich dann bloß Lavendel riechen? Der Geruch kriecht mir in die Nase, die Nebenhöhlen, die Kehle. Lavendel, der Verletzte beruhigen soll. Babys in den Schlaf wiegen. Aber dieser Lavendel hier brennt wie alle fünf Höllen.

Nach Luft schnappend wache ich plötzlich auf. Das Mädchen, das sich über mich beugt, zuckt zurück. Sie ist gelb gekleidet, aber der Stoff, der über meinen Arm gleitet, ist so weich wie Wasser.

Seide? Für eine Dienerin?

Zufrieden, dass ich zu mir gekommen bin, richtet sich das Mädchen auf und verkorkt ein glasiertes Töpfchen.

Riechsalz.

Etwas kratzt an den Rändern meines benebelten Verstands, als mir bewusst wird, dass ich rücklings auf dem kalten Marmorboden liege. Ich lasse den Blick über das kunstvollste Strohdach schweifen, das ich je gesehen habe. Ein fünfzackiges Kerzenrad unter der Decke wirft einen Lichtkegel. Das einzige Möbelstück, das ich sehen kann, ist eine niedrige Steinbank, auf der sich Kissen in den verschiedensten Blautönen türmen – Indigo, Kobalt, Azur und diverse andere.

Nach einigen weiteren Atemzügen wird der Ammoniakangriff auf meine Nase von der warmen Intensität des kostbaren Räuchermittels aus Aphorai verdrängt. Es ist die reine Variante, nicht die derbe gestreckte Version, die in den Straßen verbrannt wird.

Drachenblut.

Es hat funktioniert. Ich bin hier.

Mit dröhnendem Kopf, als schlüge jemand Becken zwischen meinen Ohren zusammen, setze ich mich auf und presse mir die Handballen an die Schläfen. Als das Dröhnen nachlässt, ist das Dienstmädchen im Schatten verschwunden. Die beiden Wachen, die dort aufragen, hätte ich vermutlich nicht bemerkt, wäre nicht die penetrante Wolke aus muffigem Knoblauch und dem Bier von gestern, die sie ausdünsten. Ob es am Gedanken liegt, dass sie vermutlich noch schlimmere Kopfschmerzen haben als ich, oder an den Nachwirkungen des Gebräus, das ich geschluckt habe, auf jeden Fall muss ich lachen. Es klingt eher hysterisch als heiter, und von der Bewegung fährt mir der Schmerz in den Nacken. Ich zucke zusammen und lege mir die Hand an die Stelle. Vermutlich habe ich mir eine Zerrung geholt, als ich das Bewusstsein verlor.

Erst da fällt mir das lastende Schweigen im Raum auf, das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Taxiert.

Gut. Bis hierher habe ich mitgespielt, dann ist jetzt auch nicht der Augenblick gekommen, um auszusteigen.

»Alraune«, sage ich zu wem auch immer hinter dem flackernden Kerzenlicht. Aber meine Stimme ist heiser und kaum zu hören. Ich räuspere mich und versuche es erneut. »Es war Alraune, was Sie mir untergeschoben haben, nicht wahr? Überdeckt von Bittermelone.«

Nichts. Dann ertönt aus dem Schatten betont langsamer Applaus.

»Bravo.«

Ich schnaube.

»Na, kommen Sie. Sie müssen doch zugeben, dass das keine andere Nase in der ganzen Stadt hätte wittern können.«

Der große geschmeidige Mann, der Zakkurus sein muss, tritt ins Licht. Auf der dunklen Seide seines Gewands blühen winzige, mit Silberfaden aufgestickte Seerosen. Sein tiefschwarzes Haar ist mit einem silbernen Band zurückgebunden, die feinen Gesichtszüge darunter haben den hellen Teint eines vor der Wüste geschützten Lebens. Mit graziler Anmut kommt er auf mich zu, die Lippen zu einem Lächeln verzogen. Man sieht es kaum, aber ich frage mich, ob er sie mit Granatapfel färbt. Angesichts der kunstvollen Kringel aus Rurtinte um seine ultramarinblauen Augen – die im Kerzenschein kalt wirken – würde mich das nicht überraschen.

Die Gerüchte sind also wahr. Aphorais Meisterparfümeur ist wirklich genauso schön wie einsiedlerisch. Außerdem jünger als vermutet. Ich hätte nie gedacht, dass jemand so schnell aufsteigen kann. Aber als er sich vor mir auf der Bank mit den Kissen niederlässt, zweifele ich kaum noch. Er dürfte nur wenige Umläufe älter sein als ich.

Zakkurus schlägt die Beine übereinander und betrachtet mich schweigend. Ich widerstehe dem Drang zurückzuzucken, als er die Hand nach meinem Kinn ausstreckt. Seine Haut ist unglaublich zart, genau wie sein Duft. Die fließende Frische von Veilchenwasser hüllt mich ein. Sie trägt meine Fantasie fort aus diesem eigenartigen dunklen Zimmer, fort aus dieser Situation, und ich spaziere in der Morgenfrische durch einen Garten, während die Dämmerung Farben in den Brunnen tanzen lässt und seltene Blumen in allen terrassierten Beeten darauf warten, sich im Sonnenlicht zu entfalten. Ich seufze, und der Geruch verfliegt, nur meine Sehnsucht und mein Neid bleiben als Echo zurück.

Zakkurus dreht meinen Kopf und mustert mich wie ein eingesperrtes Lasttier bei einer Auktion. »Haben sie dir wehgetan, Herzblatt?« Der Blick des Parfümeurs huscht zu den verkaterten Wachen. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen dir nicht wehtun. Aber in meiner Position kann man bei unangemeldeten Gästen nicht vorsichtig genug sein.«

»Ich bin ja nicht gerade eine …«

»Empfindliche Blume?«

Ich zucke mit den Achseln.

»Nein.« Zakkurus lehnt sich an die Kissen, während er den Blick träge von meinen staubverkrusteten Stiefeln bis hin zu den Haarsträhnen wandern lässt, die sich unter dem Leinentuch hervorstehlen. »Sonst wärst du nicht so weit gekommen.« Und mit diesen Worten hebt er ein Bündel auf seinen Schoß und macht sich daran, den Inhalt zu durchwühlen.

Meine Tasche.

Irgendwo in meinem Hinterkopf höre ich Bardens Stimme. Pass auf dich auf. Ich schüttele den Kopf, versuche, den Rest meiner Benommenheit zu vertreiben.

»Nun denn, meine unempfindliche Blume, wärst du so freundlich, mir zu sagen, wie du an diesen Vorrat von Wüstenrosenöl gelangt bist, der ein kleines Vermögen wert ist?«

Mein Blick begegnet seinem. Jetzt bloß nicht zucken, Rakel. »Ich habe es gemacht.«

Und ich bin verdammt stolz darauf! Die ganze Saison lang bin ich durch Schluchten gekrochen und habe die Blüten mit eigenen Händen geerntet. Ein reineres Öl habe ich noch nie extrahiert, es ist viel besser als der trübe Bodensatz, den man auf den Märkten findet, nachdem die beste Qualität direkt in die kaiserliche Hauptstadt geliefert wird. Das Geheimnis? Öl statt Wasser. Wenn man es nicht direkt in den Himmel schicken will, hat es keinen Zweck, Rosenblätter zu destillieren, ihnen die Essenz durch Kochen und Dämpfen zu entziehen. Das ist zu aggressiv, geradezu gewalttätig. Es funktioniert viel besser, wenn man den Duft hervorlockt. Ganz sanft. Sie müssen ihr Aroma hergeben wollen. Das tun sie, wenn man sie mehrere Tage – nicht nur Stunden – zwischen festen Fettschichten presst.

Nicht dass ich vorhabe, diese Information preiszugeben.

Zakkurus lächelt noch immer, aber seine Augen haben sich zu Saphiren verhärtet. »Na, komm. Geschäftspartner schulden einander Respekt. Ganz besonders jene, die die Vision haben, die kaiserlichen Vorschriften zu umgehen.«

Respekt. Leicht einzufordern, schwierig zu zollen. Ich nicke widerwillig.

»Schön zu wissen, dass wir dieselbe Kerze abbrennen. Und jetzt noch mal: Woher hast du das?«

»Ich habe es gemacht. Sie haben noch nicht mal das Herstellerzeichen überprüft. Was hat das bitte mit Respekt zu tun?«

Blaue Augen durchbohren mich.

Ich hoffe, er bemerkt nicht, wie sich der Pulsschlag an meinem Hals beschleunigt.

Zakkurus wedelt mit der Hand, als würde er eine Sandmücke vertreiben. »Lasst uns allein.« Mehrere Paar Füße schlurfen in der Dunkelheit davon.

Ich grinse zufrieden, als er das Fläschchen entkorkt und hineinsieht, wie um im Bodensatz einer Tasse Kormak die Sterne zu lesen. Dann lässt er es unter der Nase kreisen. Er runzelt die Stirn und kreist das Fläschchen erneut, wobei er die Augen schließt und einatmet.

»Lassen Sie sich unbedingt Zeit.« Nichts hält mich davon ab aufzustehen. Abgesehen von der Tatsache, dass mir die Beine eingeschlafen sind. Ich beiße die Zähne zusammen und rappele mich auf, gehe unter kribbelnden Schmerzen ein paar Schritte, ohne dass ich es wage, den Lichtkegel zu verlassen.

Zakkurus holt einen Probenhalm aus seinem Gewand. Mit ruhiger Hand taucht er ihn in das Glas und hält ihn anschließend über eine der Kerzen. Die Flamme verschlingt den Halm blitzschnell, und die verkohlten Überreste landen in einer Kupferschale. Zakkurus zerreibt die Asche zwischen Daumen und Zeigefinger, wovon diese ganz grau werden, und riecht ein letztes Mal daran.

Als er seine Untersuchung beendet hat, hat mein Blut seinen Weg zurück in meine Zehen gefunden.

»Zufrieden? Wo das herkommt, gibt es noch mehr. Die Frage ist, ob Sie interessiert sind.«

»Warum bist du wirklich hier, Herzblatt?«

Mond um Mond habe ich das einstudiert. Bloß war mein Mund dabei nie so trocken, meine Zunge nie so geschwollen. Ich kann meine Nervosität kaum verbergen. »Morgen ist die Aufnahmeprüfung für die neuen Lehrlinge. Ich …«

»Selbst wenn deine Fähigkeiten so gut sind, wie es den Anschein hat, werden bei der Prüfung die Blagen der fünf Familien bevorzugt.«

Darauf hatte ich gehofft: dass er nicht vergessen hat, wer er war, woher er kommt. Ich erlaube mir ein schmales Lächeln angesichts seiner Verachtung.

»Bei Esikus Bart, du glaubst wirklich, du hättest eine Chance.« Er wirft lachend den Kopf zurück.

Eine Hitzewelle lässt mich erröten. Das Einzige, was mich davon abhält, auf dem Absatz kehrtzumachen und zur Tür hinauszustürmen, ist meine Unsicherheit darüber, wo die Tür ist.

Ich versuche, mein Temperament zu zügeln. »Habe ich je eine Bestellung verpfuscht? Sie verdienen gutes Geld mit mir, Zakkurus. Hören Sie mich an, dann könnten Sie noch mehr verdienen. Viel mehr.«

Er hebt eine perfekt gezupfte Augenbraue. »Na, dann schieß los.«

»Sagen Sie mir, welcher Duft bei der letzten Aufgabe kreiert werden muss.«

»Ich soll dir helfen, bei meiner eigenen Aufnahmeprüfung zu betrügen? Hat dir diese entsetzlich heiße Sonne da draußen den Verstand verdorren lassen?«

»Ich würde es eher ›für Chancengleichheit sorgen‹ nennen. Wenn ich gewinne, können Sie so sicher sein, wie Scheiße stinkt, dass Sie den besten aller besten neuen Lehrlinge ausgewählt haben und nicht nur den, der sich die komplette Ausstattung leisten konnte. Stellen Sie sich vor, welche Reputation ich Ihnen verschaffen könnte. Die Aufmerksamkeit der Hauptstadt erregen. Aphorai zurück auf die Landkarte bringen.«

Seine Augen weiten sich fast unmerklich. Ich habe sein Interesse geweckt.

»Und wenn du verlierst?«

Ich halte ein Glas mit Wüstenrosenöl hoch. »Es gibt nicht nur das hier. Ich habe die Methode auch bereits an Schmetterlingslilienblüten getestet. Und an Jasmin.« Ich zeige auf sein Gewand. »Es würde bestimmt sogar mit Seerosen funktionieren.« Ich trete an ihm vorbei, aus dem Lichtkegel hinaus. Es dauert einen Moment, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ein gemusterter Teppich hängt an der Wand – ganz weich unter meiner Hand und mehr wert als das, was die meisten Leute aus meinem Dorf mit der harten Arbeit eines ganzen Lebens verdienen. Auf meiner Zunge breitet sich die Bitternis einer ungeliebten Erkenntnis aus. Es gibt keine andere Möglichkeit.