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In einer der neuen Erzählungen Ralf Rothmanns denkt Fritzi, eine junge Gitarristin, über William Shakespeare nach und findet: »Verglichen mit den Sorgen und Nöten seiner finsteren Gestalten sind wir eigentlich nur Hühner oder? Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram – Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld –, und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.« Dramatische oder auch beglückende Wendepunkte im Leben schildert dieses Buch, dessen Sprache durch eine magische Genauigkeit besticht, und ob wir nun vom Selbstbetrug eines sterbenden Stasi-Beamten, von einer missratenen Orgie an der Ostsee, vom Wiedererwachen einer Liebe in einem japanischen Kloster oder vom Gedächtnis des Schnees hören: »Es ist ja nicht dieser oder jener Zustand, der das Leben ausmacht«, sagt Fritzi. »Es sind die Übergänge, wie in der Musik. Manchmal denke ich, sogar der Tod ist nur ein Akkordwechsel.« Ralf Rothmann, der unangefochtene Meister der langen wie der kurzen Prosa, hat Erzählungen geschrieben, deren Realismus von der Sehnsucht nach dem Unvermuteten befeuert wird, voller Humor und Empathie. Und deren Nachhall verändert.
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Seitenzahl: 224
In Paris spricht eine deutsche Geschäftsfrau am letzten Tag ihres Aufenthalts einen Unbekannten an. In einem japanischen Kloster erwacht die Liebe neu zwischen einem Religionswissenschaftler und seiner Frau. An der Ostsee missrät eine Orgie. Im Schultheater findet sich eine junge Frau, die die Desdemona spielt, in den Armen ihrer Mitschülerin, die den leidenschaftlichen Othello gibt: der Beginn einer Liebe, die auf einer Reise nach Südfrankreich zu Ende geht. »Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram – und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.«
»Shakespeares Hühner – das sind acht komplexe, dicht und präzise erzählte Geschichten. Sie öffnen den Blick für die Menschen und Schicksale, die ganz nah bei uns sind, aber den Umweg über die Literatur benötigen, damit wir sie erkennen und verstehen können.« Isa Schikorsky
Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt in Berlin. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Heinrich-Böll-Preis 2005, dem Max-Frisch-Preis 2006 und dem Walter-Hasenclever-Preis 2010. Zuletzt erschienen von ihm Junges Licht. Roman (2004), Rehe am Meer. Erzählungen (2006) und Feuer brennt nicht. Roman (2009).
Ralf Rothmann
Shakespeares Hühner
Erzählungen
Suhrkamp
Umschlagfoto: Peter Dine Photographie
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-76410-7
www.suhrkamp.de
Abschied von Montparnasse
Othello für Anfänger
Traber-Sonate
Alte Zwinger
Tempelschlaf
Sterne tief unten
Der Hunger der Vergesslichkeit
Frischer Schnee
für Anja
Die Zeit war um, und sie wusste nicht recht, ob sie froh oder ängstlich sein sollte. Ein knappes Jahr voller nervenaufreibender Arbeit, ein Hörsturz und zwei Kilo Übergewicht für einen Halbsatz auf dem Papier ... Immerhin hatte sie ihn selbst formuliert, und es mochte für die Zukunft nicht unbedeutend sein, dass neben den üblichen Begriffen wie Top-Down-Ansatz und Allokation auch das Wort Paris darin vorkam. Das war die Biographie, man würde sie danach fragen. Und das Leben?
Sie hatte den Nachmittag frei bekommen und wollte noch ein paar Geschenke kaufen. Doch während sie an den Schaufenstern der rue de Rennes vorüberging, achtete sie mehr auf ihr Spiegelbild als auf die Auslagen. Eine junge Frau mit selbstbewusster Haltung, der man in einem entsprechenden Kostüm den Beruf wohl angesehen hätte. Aber sie bevorzugte Jeans und Twinsets, möglichst schwarz; das reichte für die Arbeit hinterm Bildschirm völlig aus, auch in Paris. Auf die Schuhe kam es an. Und auf den richtigen Nagellack.
Sie wohnte in der rue Delambre, in einer Hinterhofwohnung mit Drei-Faden-Dusche und knisternden Lichtschaltern, und weil ihr plötzlich graute vor den dunklen Räumen und den beiden zu packenden Koffern, beschloss sie, auf einen Kaffee ins »Dome« zu gehen, auch wenn sie es nicht besonders mochte. Aber seit dem Morgen wehte ein kühler Wind, und es hatte eine verglaste Terrasse.
In der Tür lehnte wie immer der unvermeidliche Pierre – Pierre Camembert, wie sie ihn heimlich nannte –, in dessen Augen sie keine Gnade gefunden hatte in all den Monaten, jedenfalls nicht in Jeans und Twinset, da konnte das Trinkgeld noch so großzügig gewesen sein. Und dass sie im Nachbarhaus wohnte, galt ihm nichts. Nur ihr fuchsrotes Haar rettete sie gelegentlich, und an Tagen wie diesem, Vollmondtagen, schimmerte er durch, der Hauch von Geilheit hinter seinem hochmütigen Desinteresse. Er nickte knapp und trat zur Seite – gerade so viel, dass sich ihre Kleider nicht berührten. »Bonjour Mademoiselle. Schulfrei?«
Dann hielt er ihr den Windfang auf, einen Vorhang aus dunkelgrünem Filz, und sie stieß etwas Luft durch die Nase und bestellte einen Grande Crème. Die Terrasse war fast leer an diesem frühen Nachmittag, nur ein älterer Mann in einem dunkelblauen Anzug saß an dem Tisch in der äußersten Ecke, trank ein kleines Glas Wein und schaute auf den Boulevard. Aus seiner Jackentasche ragte ein Buch, in dem ein paar Federn steckten, und auf dem freien Rohrsessel neben ihm lag ein Hut, oder besser: er stand dort, wie eine Schale. Ein rehbrauner Hut, randvoll mit Pilzen.
Sie setzte sich in einigem Abstand und schlug die Beine übereinander. Die Zeit war um, und was kam jetzt? An Berlin dachte sie, an die Maisonette-Wohnung im Grünen, die Bertram für sie ausgesucht hatte, unsinnig viele Zimmer, an den vergrößerten Firmensitz und das neue Büro, das sie nach der Hochzeit beziehen würde, und plötzlich fühlte sie eine leise Verzagtheit. Doch als der Kellner ihr den Milchkaffee brachte, hob sie das Kinn. Eine Quittung musste ausgestellt werden.
Sie wusste, wie ihr Lächeln wirkte; fast täglich, kaum zu sagen, gebrauchte sie es. Es konnte Unterschriften ersetzen, und auch in Pierres Miene löste sich etwas. Natürlich keimten jetzt Hoffnungen in dem kleinen Camembert, und sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und sagte: »Danke, Monsieur. Sehr freundlich. Ich wollte zwar einen großen Kaffee, aber egal ... Wissen Sie übrigens, dass Sie ganz außergewöhnliche Beine haben?« Da ging es auf, das Staunen in seinen Jägeraugen, und er legte den Kopf schräg, runzelte die Brauen; eigentlich war sein Mund recht hübsch. Sie drückte die Fingerspitzen gegeneinander. »Doch, doch. Ein fast vollkommenes O.«
Dass einer wie er die Fassung verlieren würde, war natürlich nicht zu erwarten; dass ihm diese Fassung momentlang die Kehle beengte, schon. Er öffnete den Topf mit den Zuckerbriefchen, riss den Bon ein und nahm den Geldschein vom Tisch. »Oui, Madame«, sagte er heiser, und es klang fast ein wenig bekümmert. Dabei zählte er ihr das Wechselgeld hin. »Aber was soll man machen. Das kommt vom Schweine-Reiten.«
Dann ließ er sie allein, und durchatmend sank sie zurück und sah auf die Kreuzung hinaus, auf den Strom der Passanten vor dem »Rotonde«. Einige fotografierten das grün angelaufene Denkmal des Dichters, wie hieß er noch ... Jedenfalls war es von Rodin, jedenfalls stand es in Paris, mein Gott, Paris ... Diese verbrauchte Schönheit. Dieser Glanz von gestern. Nicht einen Menschen hatte sie kennen gelernt in dem Jahr, von irgendwelchen Juristen oder Geschäftsleuten abgesehen. Nicht ein einziges Mal war sie eingeladen worden von den französischen Kollegen, die junge, zunächst wohl etwas hilflose Deutsche; mit kaum einem hatte sie gesprochen außerhalb der Bürozeiten, zumindest mit keinem, der sie neugierig gemacht hätte. Und die Männer, die sich beim Feierabendbier an der Theke des »Select« neben sie gestellt hatten, waren in ihren Absichten so unverhohlen gewesen, dass sie es kaum glauben mochte. Manger et coucher, so einfach konnte das Leben sein, so zum Schreien.
Sie winkte Pierre, bestellte sich einen »Martell« zu dem Kaffee und warf bei der Gelegenheit einen genaueren Blick auf den Hut jenes Mannes, der außer ihr auf der Terrasse saß. Kein Zweifel, es waren Pilze, Waldpilze, wie auch ihr Vater sie oft gesammelt hatte, meistens am Schlachtensee. Sie konnte Ritterlinge, Schirnlinge und Rotkappen erkennen, und plötzlich roch sie das erdige Aroma und fragte sich, wie man hier, mitten in der Stadt, wo man die Metro unter den Füßen fühlte und die an- und abfahrenden Busse auf dem Boulevard du Montparnasse, Ecke Raspail, die mageren Straßenbäumchen erzittern ließen, an einen Hut voller Waldpilze kam.
Sie tippte mit dem Löffel gegen ihre Schneidezähne und drehte sich etwas auf dem Stuhl, um den Mann näher zu betrachten. Knöchelhohe Stiefel trug er, gut zum Wandern, und vermutlich war er nur wenig größer als sie: ein Brillenträger mit kleinem Oberlippenbart, sehr edel gebogener Nase und einer ungewöhnlich hohen, etwas einschüchternden Stirn. Ein Mann, der dem zerfurchten Gesicht zufolge durch manchen Schmerz gegangen war in seinem Leben, viel gedacht und wohl auch gelesen hatte und an dem doch nichts von einem Intellektuellen war, im Gegenteil. Wind- und wettergegerbt sah er aus; in seinen halblangen Haaren, am Hinterkopf eine beeindruckende Menge und trotz des Alters nur vereinzelt grau, hing eine welke Kiefernnadel. Das Kinn hielt er stets ein wenig erhoben, die Hände ruhten gelassen auf den Armlehnen des Stuhls; groß, stark und doch sensibel, mit deutlich sichtbaren Monden auf den Nägeln, waren sie die eines Einfühlsamen, eines Liebhabers gar. Woher sie das wusste? Alle Pilzsammler haben zärtliche Hände.
Der Ledersaum des Windfangs schleifte über den Boden. Pierre, im Vorübergehen, stellte den Cognac vor sie hin, trat an den Tisch des Mannes und fragte nach einer knappen Verbeugung, ob er noch etwas wünsche. Der schüttelte den Kopf, schob ihm das leere Weinglas und das Tellerchen mit den Münzen entgegen und stand auf, knöpfte sich die Jacke zu. Etwas klickerte in den Taschen, es klang nach Kieseln, und vorsichtig fasste er unter den Hut und hob ihn vom Stuhl.
Wie wesentlich er aussah neben diesem Camembert, der sich vermutlich für Gottes größtes Geschenk an die Frauen hielt, wie uneitel und doch selbstgewiss, und dazu passte auch seine Stimme. Er sagte etwas über das Wetter, und so wie der Blick auf die Straße vorhin kein Beobachten, sondern ein Schauen gewesen war, ohne jede Anmaßung, kam diese Stimme ohne besonderen Nachdruck aus, war überraschend weich und scheinbar defensiv und dabei doch kraftvoller als die verklemmten Brusttöne des Kellners. Weil sie die Stille hinter sich wusste, dachte sie unwillkürlich, und zum ersten Mal in dem ganzen Jahr hatte sie das Gefühl, einen wirklich interessanten Mann zu sehen – umso mehr, als er von ihr und ihren Blicken immer noch nichts zu bemerken schien. Auch nicht, als sie sich räusperte.
Mit deutlichem Sammlerstolz die Pilze betrachtend, schritt er durch das Lokal. Eine der Federn, die aus seinem Buch ragten, war von einem Eichelhäher, und sie nippte an dem Cognac und setzte sich etwas aufrechter hin. Ein offenbar teurer Nadelstreifenanzug – das Markenetikett hing noch am Ärmel –, ein verwaschenes T-Shirt und alte Wanderstiefel: irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor. Aber vielleicht irrte sie sich, vielleicht war das mehr Wunsch als Wahrheit, zumal sie in seinem Französisch einen Hauch von Akzent gehört hatte, österreichisch oder deutsch.
Trotz der schweren Sohlen ging er leichtfüßig, und schon war er an ihrem Tisch vorüber und griff nach dem grünen Filz, da nahm sie allen Mut zusammen – mein Gott, es war ihr letzter Tag –, holte Atem und sagte: »Entschuldigung? Ich kenne Sie!«
Überrascht blieb er stehen, blickte sich um. Auf den Gläsern der randlosen Brille gab es Fingerabdrücke, und angesichts seiner Augen, der Güte und der Helligkeit darin, obwohl sie dunkel waren, wusste sie momentlang nicht, wohin sie schauen sollte vor Scham, und rettete sich in ihr Lächeln. Das jedoch gleich wieder verblasste. »Aus einem Traum ...«, fügte sie gedämpfter hinzu und konnte es selbst kaum glauben; das Schlucken schmerzte im Hals.
Was, zum Teufel, war in sie gefahren? War sie noch bei Trost? Hatte sie es wirklich so nötig? An die vielen einsamen Frauen in der Stunde des Aperitifs musste sie denken, traurige Gestalten, die keiner mehr nach ihrer Biografie fragte und denen man ansah, dass die einzige Zärtlichkeit des Tages die Berührung mit dem Puderpinsel war. Und welche Antwort, wenn überhaupt eine, würde sie einem Kerl geben, der sie derart angemeiert hätte? Zum Glück hatte sie deutsch gesprochen, so dass sie wenigstens nicht den Spott des Kellners fürchten musste, seinen eisblauen Blick. Ich kenne Sie aus einem Traum. Du lieber Himmel!
Doch der Mann, der sie aufmerksam betrachtet hatte, schien nicht verärgert zu sein. Er lockerte die Pilze im Hut, zupfte einen Grashalm aus den Lamellen. »Ja!«, sagte er endlich und lächelte ernst. »Ich erinnere mich ...«
Dann schloss er kurz die Augen, ein sanfter Gruß, schob den Vorhang mit dem Handrücken beiseite und ging hinaus. Die Scheibe, vibrierend von den Bussen, die gerade anfuhren, war staubig, sein Bild verschwamm, und ob er noch einmal gewinkt hatte am Straßenrand – sie konnte es durch ihre Tränen nicht sehen.
»Ich ließ meine Haare in Avignon ...« Vielleicht wird das mal ein Lied. Der Salon war voller Chrom, und der Lüster unter der Decke funkelte in der Morgensonne, während die Schere um meine Ohren zwitscherte. Immer mehr Strähnen fielen auf das Parkett mit dieser gespenstischen Lautlosigkeit, und Dinah wendete sich ab, als sie mein Lächeln im Spiegel bemerkte, trank etwas Kaffee. Der neue, von einer leisen Trauer unterlegte Ernst in ihren Augen machte sie deutlich älter, und ihr Gesicht war zum Erbarmen blass, wie oft nach dem Aufstehen. Doch an dem Morgen lag das sicher nicht nur an den Tabletten. Es lag auch an mir.
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