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Deutschland, Ende der sechziger Jahre: Der fünfzehnjährige Simon lebt mit Eltern und jüngerem Bruder in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. Alltagssorgen und die Enge des Milieus lassen nur wenig Raum für das Glück, um das hier jeder auf seine Weise kämpft. Die Mutter näht sich jede Woche ein neues Kleid und vergißt samstags beim Tanz die Tristesse ihrer Ehe. Simons Freund Pavel, ein melancholischer Rebell, durchstreift die Gegend auf seiner Zündapp, immer auf der Suche nach Mädchen und Abenteuern. Simon selbst ist mit dem Erwachsenwerden beschäftigt und versucht nebenbei, seinen halb verwilderten Bruder zu bändigen. Als eines Tages zwei italienische Gastarbeiter auftauchen, fällt ein Hoffnungsschimmer in das Dunkel - ein Erlebnis, das die mürbe gewordenen Beziehungen auf eine harte Probe stellt.
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2016
Milch und Kohle beschreibt ein Ruhrgebietsleben in den 60er Jahren, das geprägt ist von körperlichen Gewalttätigkeiten, geistiger Enge und dem stetigen Wunsch, mit den Verhältnissen zurechtzukommen. Simon, der Ich-Erzähler, findet sich nach dem Tod der Mutter in der Wohnung seiner Jugendjahre wieder, und Erinnerungen an das fragile Zusammenleben von damals steigen in ihm auf. Der Vater tauschte den Melkschemel in Schleswig gegen die aufzehrende Arbeit unter Tage, die vergnügungssüchtige Mutter hat eine Affäre mit dem Italiener Gino, einem Kollegen ihres Mannes. Der 15jährige Simon ist viel zu sehr mit seiner Pubertät beschäftigt, um sich ernsthaft um seine Eltern zu sorgen, doch sein psychisch labiler Bruder reagiert ganz anders auf das Scheitern der elterlichen Beziehung …
»Mit Milch und Kohle ist Ralf Rothmann ein großer Wurf gelungen: deutsche Literatur, die ihr Thema nicht zerredet, sondern – klug, lebensprall und elegant – keinen Vergleich mit ihren angelsächsischen Vorbildern zu scheuen braucht.«
Hartmut Wilmes, Kölnische Rundschau
Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt seit 1976 in Berlin. Zuletzt sind von ihm erschienen: Im Frühling sterben (2015), Shakespeares Hühner (st 4434) und Sterne tief unten (IB 1382).
Ralf Rothmann
Milch und Kohle
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 9. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3309.
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000
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Umschlagfoto: Heike Steinweg
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74553-3
www.suhrkamp.de
Seit Tausenden von Jahren
versuche ich zurückzukehren.
Doch unaufhörlich wächst wildes Gras
vor dem Tor des Tempels.
Shitaku Chôrei
Der Anzug war nicht schwarz. Nicht wirklich. Das hätte sie kaum gemocht. Anthrazit, so hieß auch eine Kohleart, die teuerste damals, und wer kann das Wort hören, ohne an die Haufen zu denken, die an manchen Nachmittagen vor den Kellerfenstern der verschneiten Siedlung lagen. Dann war die Enttäuschung groß, und man verstand plötzlich, warum man so wenig Schulaufgaben bekommen hatte. Dann gab es nur Butterbrote oder Linsensuppe, und anschließend wurden Eimer geschleppt bis in die Dunkelheit hinein. Knochenarbeit. Also ließ man sich Zeit mit dem Weg und hoffte, daß zu Hause wenigstens eine leichtere Sorte wartete, Eierkohlen oder Koks.
Um die Haufen herum lag stets feiner Staub, eine hellschwarze, leicht schimmernde Aura, in der es hier und da gestochen scharfe Aussparungen gab: Wo die Hydraulikstempel des Kipplasters oder die Stiefelspitzen des Fahrers gestanden, wo ein Schaufelstiel, eine leere Schachtel Collie oder ein paar Kronkorken gelegen hatten. Und wir schrieben unsere Namen in den Staub, wer doof ist, und wer wen liebt.
Der Anzug war billig gewesen, ebenso Hemd und Krawatte, und als ich aus dem Textilgeschäft trat, drehte ich die unbedruckten Seiten der Tüten nach außen. Immer noch blühte Flieder, überall, doch die Dolden wurden schon braun. Der Himmel war unbewölkt, und zwischen den Reflexen und Spiegelungen auf den Scheiben der Busse, die vor dem Bahnhof hielten, glaubte ich einen Lidschlag lang ihr Lächeln zu sehen, jenes breite, strahlende aus der Zeit, die sie wohl gemeint hatte, wenn sie sagte: »Wir hatten ja auch gute Jahre!«
Es war die Stationsschwester, die mir zunickte, während sie ihrem kleinen, noch etwas wackelig gehenden Sohn auf den Bürgersteig half. Sie trug lindgrüne Hosen, ein orangefarbenes Shirt und war geschminkt, und als wären inzwischen nicht Tage vergangen, als hätte sie mir erst gerade, nach einer flüchtigen Entschuldigung, das Päckchen ausgehändigt, sagte sie mit einem beiläufigen Blick auf meine Plastiktaschen: »Und grüßen Sie Ihren Bruder!«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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