SHARDS OF ELEMENTS - Entfesselte Macht (Band 3) - Celine I. Rowley - E-Book

SHARDS OF ELEMENTS - Entfesselte Macht (Band 3) E-Book

Celine I. Rowley

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Beschreibung

Nach dem schrecklichen Verrat einer ihrer Freunde ist Scarlett im Landsitz des Ghost Circles gefangen. Die Silberne Maske setzt alles daran, ihr den Teil des Geistes zu entlocken, um endlich die Macht des Sternes zu entfesseln. Doch wie lange kann sie ihn noch hinhalten? Während Lucien an die Colonnade Akademie zurückkehrt, verändert sich dort alles. Die Silberne Maske baut seine Macht weiter aus, sodass der Campus schon bald an einen Schauplatz des Grauens erinnert. Zusammen mit seinen Freunden flüchtet Lucien in die Gilde, wohl wissend, dass ein Krieg gegen den Ghost Circle bevorsteht. Und ausgerechnet in einer aussichtslosen Situation erhalten sie Hilfe von jemandem, der sich eigentlich gegen sie gestellt hatte. Gelingt es Scarlett, Lucien und ihren Freunden, den Ghost Circle in einem alles entscheidenden Kampf aufzuhalten, bevor es zu spät ist? Und welche Opfer sind sie bereit zu bringen?

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Was bisher geschah …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog
Danksagung

Celine I. Rowley

 

SHARDS OF ELEMENTS

Entfesselte Macht

(Band 3)

 

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.

 

 

SHARDS OF ELEMENTS: Entfesselte Macht

 

 

Copyright

© 2024 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

Lektorat und Korrektorat: Désirée Kläschen

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von Motiven von 123rf

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

ISBN: 978-3-98718-143-6

VAJONA Verlag

Für Papa

Was bisher geschah …

Nach Luciens vermeintlichem Tod ist Scarlett niedergeschlagen und steht neben sich. Während ihr Alltag an der Akademie weiterläuft, kämpft Lucien in den Fängen des Ghost Circles um sein Überleben. Die Blutkönigin foltert ihn regelmäßig mit Magie, um ihm Informationen über den Stern zu entlocken.

In Luciens Zimmer stößt Scarlett auf geheimnisvolle Tagebücher, die ihr Aufschluss über die Geheimnisse des Ghost Circles geben. Als sie von der Silbernen Maske mit Illusionen angegriffen wird, wehrt sich Scarlett überraschend mit dem Geist und will diese Magie auch in Zukunft erlernen. Auf Professor Browns Wunsch steht ihr Chloe zur Seite. Scarletts Begeisterung hält sich zunächst in Grenzen, doch dann findet sie heraus, dass das fünfte Element ihre Magieausprägung ist. Außerdem bricht die Kapsel um ihr Herz, sodass ihr nun der volle Umfang der Elementarmagie zur Verfügung steht.

Mit ihrem Jahrgang macht Scarlett einen Ausflug in die Gilde nach London und kommt dort den Geheimnissen des Sternes näher. Durch ein Rätsel von Lucien trifft sie auf Luc Knight, der sich als Luciens Grandpa entpuppt und gleichzeitig als Wächter der Erde. Er offenbart ihr, dass er mit ihrem Vater zusammengearbeitet hat und dass sie die Wächterin des Geistes ist. Außerdem schürt er in ihr die Hoffnung, dass Lucien am Leben ist.

Kurze Zeit später macht sich Scarlett gemeinsam mit ihren Freunden zu einer Versammlung des Circles auf. In dessen Landsitz treffen sie auf Widerstand und es kommt zu Gefechten. Letztendlich gelingt es ihr, Lucien aus seiner Zelle zu befreien. Doch kurz vor dem Ausgang wendet sich Henry gegen sie. Er übergibt sie an seine Mum, die Blutkönigin. Scarlett bleibt im Circle, während ihre Freunde geflüchtet sind.

Kapitel 1

 

Lucien 30. Mai

 

Scarlett!

Die Blutkönigin stand vor Scarlett und verzog ihre roten Lippen zu einem hämischen Lächeln. Ein Ghost Circle-Anhänger packte Scarlett grob am Arm und schleifte sie mit sich. Hinein in den Circle, weg von mir.

Das konnte nicht geschehen sein.

Henry sah zu, tat aber nichts.

Weil er es so gewollt hatte.

Meine Gedanken spielten verrückt. Immer und immer wieder sah ich es vor mir, wie Henry Scarlett verraten hatte, auch wenn ich nicht dabei gewesen war.

»Scarlett ist bei ihm!«, schrie ich mit voller Inbrunst. Sämtliche Dinge, die der Circle mit mir angestellt hatte, Dinge, die mich geschwächt hatten, waren nun unbedeutend.

Scarlett, der Stern, ihr Leben war alles, was zählte.

»Sie ist bei ihnen!«

Chloe und Sula senkten gleichzeitig den Blick. Die Zwillinge, die so gar nichts gemeinsam hatten, waren sich also einig. Schweigen war besser, als seine Gefühle rauszulassen. Doch das konnte ich nicht. Ich tobte. Cameron hatte den Arm um Sula gelegt und zog sie noch ein Stück näher zu sich. Wie sie sich so selbstverständlich an ihn schmiegte, riss ein tiefes Loch in mir auf. Ich überspielte die Gefühle und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie schmerzten. Zu wissen, dass ich Scarlett nicht so berühren konnte, dass sie nicht einmal hier war, ließ die Wut in mir anschwellen. Wir würden niemals das haben können, was die beiden hatten.

Olive verfestigte den Griff um meinen Oberkörper und hielt mich mit ganzer Kraft auf den Beinen. Auf Gliedern, deren Anwesenheit ich kaum spürte. Ich sah sie, zwei lange Beine, die Teil von mir waren, doch sie zu bewegen, stellte eine echte Hürde dar.

»Sie ist bei ihm!«

Kaum war Chloe zu uns gestoßen, hatte sie uns berichtet, wie Henry sie durch die Luft befördert hatte. Wie er sich gegen uns, gegen Scarlett gestellt hatte, weil er Angst hatte, in einer Zelle zu landen. Seine Angst vor dem Ghost Circle war vielleicht nicht unbegründet, doch dass er Scarlett für sein eigenes Wohl ausgeliefert hatte, war unfassbar.

Der Circle hatte das bekommen, was er wollte. Scarlett. Und bald den Teil des Geistes. Wertvolle Informationen über den Teil der Erde. Über Grandpa.

Dieser Tag war eine ständige Erinnerung daran, dass wir alle unbeschadet herausgekommen waren. Dass wir versagt hatten. Dass wir von einem von uns hintergangen worden waren.

Ich wäre lieber gestorben, als dass ich meine Freunde verraten hätte. An den Ghost Circle. Da war der Tod noch einladender.

Dass Scarlett mit Henry hinter diesen Mauern war, wühlte einen Wirbelsturm der Gefühle in mir auf. Henry hatte uns alle benutzt. Er hatte sich unsere Freundschaft erschlichen und uns mit einem unsichtbaren Dolch allen in den Rücken gestochen. Langsam, genussvoll und hinterlistig.

Ich ballte meine Hand zu einer Faust, bis meine Knöchel knackten. Wäre ich bei vollen Kräften gewesen, hätte ich Bäume ausreißen können. So staute sich alles in mir an, jederzeit bereit, entfesselt zu werden.

Und wenn ich ihm noch einmal begegnen sollte, würde ich für rein gar nichts garantieren können. Das, was Henry Scarlett, was er uns allen angetan hatte, war unverzeihlich. Das würde es immer bleiben.

»Es ist in Ordnung, dass du wütend bist, Lucien!«, wisperte Olive in solch einem melancholischen Ton, dass sich mein Magen zusammenzog. »Aber du kannst jetzt nichts mehr tun.«

Hatte Scarlett sich so gefühlt, als sie meinen vermeintlichen Tod zur Jahreswende gesehen hatte? So … hilflos? Leer? Geschlagen?

Wie lange hatte es gedauert, bis sie geglaubt hatte, dass ich lebendig war? Und nun? Nun war ich derjenige, der um sie bangte. An der Colonnade Akademie mitten im Nichts hatte ich sie halbwegs in Sicherheit gewähnt.

Dann war Henry gekommen.

Henry August Raymon.

Der Gedanke an ihn ließ meinen Blutdruck in die Höhe schnellen.

Scarlett und ich waren nicht weniger füreinander bestimmt wie die Silberne Maske und die Blutkönigin. Wir waren zwei der fünf Wächter des Sternes, des mächtigsten Relikts der Elementarmagie. Die Silberne Maske und die Blutkönigin sehnten sich nach dieser Macht. Nach einer Macht, die niemand allein kontrollieren konnte.

»Wir hätten nichts tun können.«

»Natürlich hätten wir etwas tun können!«, brüllte ich, riss mich aus Olives Klammergriff und strauchelte auf dem grünen Gras. Sekunden später kippte ich zur Seite und fiel hin. Der Schmerz, der mich durchzuckte, ließ mich kurz vergessen, was geschehen war.

Den Blick fest auf den Landsitz gerichtet, rappelte ich mich auf. Da lag er. Der Hauptsitz des Ghost Circles. Ein Bund voller Verrückter. Elementarmagier, die mit dem Stern die Macht übernehmen wollten. Elementarmagier, die ihrem Anführer, der Silbernen Maske, ihr Vertrauen und ihre Unterstützung zugesichert hatten. Mehr oder weniger freiwillig.

Und durch Henry hatten sie Scarlett nun in Gewahrsam. Meine Scarlett.

Was würden sie ihr wohl antun? Dinge, die die Blutkönigin mit Vergnügen mit mir gemacht hatte, bahnten sich einen Weg in meine Gedanken. Mit einem Kopfschütteln jagte ich die Foltermethoden, den Schmerz, die Qualen fort. Ohne Erfolg. Zwar hatte ich die Strapazen überstanden, aber wenn Scarlett mich nicht in letzter Minute gerettet hätte, wäre ich ihnen hoffnungslos erlegen. Und das Schlimmste war: Ich hatte die Blutkönigin in mein dunkelstes Geheimnis eingeweiht. Es ihr auf einem Silbertablett angeboten und sie hatte beherzt zugegriffen. An den Feind hatte ich Grandpa verraten. Sein Name und seine Position als Wächter des Teils der Erde lagen nun in den Händen des Circles. Und sie würden kommen. Sie würden ihn und die kleine unscheinbare Teedose holen, die er jahrelang vor ihnen verborgen hatte.

Ich hatte versagt.

Auf ganzer Linie.

Und meine Magie …

»Wir können wiederkommen«, hörte ich Cameron sagen. Er klang unsicher, blickte mich gequält an, weil er wusste, wie fadenscheinig sich seine Worte anhörten. Hoffnung, das war es, was er verstreuen wollte.

Wirkungslos.

Sie würden Scarlett in die Schranken weisen, bis sie brach. Und das würde sie. So wie ich. Eher früher als später.

»Sie ist verloren«, nuschelte ich. Verloren durch Henry.

»Sie ist nicht …«

»Verloren?« Meine Stimme hob sich, weil ich Camerons Optimismus nicht ertragen konnte. »Henry hat uns alle verraten. Wir sind alle verloren, wenn der Circle an den Stern kommt«, machte ich deutlich. »Und das wird er.«

Alle schwiegen. Ein Blick in ihre Gesichter genügte, um festzustellen, dass ihnen dies deutlich bewusst war. Warum also redeten sie sich selbst ein, dass die Hoffnung noch bestand? Sie war gestorben. In dem Augenblick, als Henry sich gegen uns gewandt hatte.

Dachten sie tatsächlich, dass wir das Ruder noch einmal rumreißen konnten? Sula, Chloe, Olive, Cameron und ich. Wir waren es, die in dem löchrigen Ruderboot saßen. Nicht Scarlett und Henry. Unser Holzboot füllte sich mit Wasser, kenterte und entließ uns in die schluckenden Wasserstrudel.

Scarlett war es, die auf der Welle des Circles geradewegs in den Tod schwamm. Und Henry führte sie dorthin. Vorbei an einer Zelle, die für ihn bestimmt gewesen war. Die durch seinen Verrat jedoch leer blieb.

Ich stieß die Luft aus. Mein Herzschlag beschleunigte sich mit jedem Moment, in dem sich der Zorn durch meine Knochen fraß. Schnell und unkontrollierbar. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich bebte. Explodierte wie ein Vulkankrater.

Und holte aus.

Es war nicht Henry. Nicht sein makelloses, mit Sommersprossen bestücktes Gesicht. Nicht sein breites Grinsen.

Nur das grüne Wildgras, das unter meinen Fausthieben auf den Erdboden gedrückt wurde. Die harte Erde reagierte nicht auf meine Berührung, auf meine Gefühle. Der bröcklige Boden fing meinen Fausthieb unbeeindruckt auf.

Eine weitere Erinnerung daran, was ich hinter den Mauern dieses Landsitzes verloren hatte.

Ich holte erneut aus, ignorierte das Pulsieren in meiner Hand und stieß einen erschütterten Laut aus. Einen Schrei, der aus den innersten Schichten meiner Seele stammte. Der etwas in mir aufwühlte, das mich übermannte. Der den Hügel, auf dem wir standen, zum Erzittern bringen würde, wenn ich meine Magie noch hätte. Der meine Freunde vor mir zurückweichen ließ.

»Lucien.« Olive näherte sich mir bedacht, als meine Faust auf den Erdboden traf. Einzelne Bröckchen wirbelten herauf. Es war eine lächerliche Reaktion der Erde, in der normalerweise ein ballgroßes Loch geklafft hätte.

Ich war ihr nächster Wächter, wenn der Circle Grandpa ermordete. Ein Wächter, der keinen Bezug zu seinem Element hatte.

Und erneut schlug ich zu.

»Lucien!«

Mein Oberkörper hob und senkte sich aufgewühlt.

»Ihr hättet es wissen müssen«, warf ich ihnen vor. Die Verzweiflung in meiner Stimme konnte ich nicht überspielen. »Ihr hättet wissen müssen, dass Henry euch nur benutzt. Dass Scarlett ihm nichts bedeutet. Dann wäre nichts von alldem passiert. Und sie …«

Ich war keine Person, die ihre Emotionen vor anderen offen zur Schau stellte. Doch ich konnte nicht anders.

Wann hatte ich meine Gefühle das letzte Mal zugelassen?

Sie mochten mich als jemanden gesehen haben, der stark war. Unantastbar, robust, widerstandsfähig.

Das war einmal.

Nun war nichts mehr davon übrig.

Fragil, verwundet, schwach. Und vieles mehr.

Ich war ein Niemand. Ein Mensch, der nichts ausrichten konnte. Der Scarlett in diesem Machtspiel gehen lassen musste. Und ob ich sie jemals wiedersehen würde, stand in den leuchtenden Sternen geschrieben.

Noch ein Schlag.

»Lucien!« Olive ließ sich neben mir nieder und bekam mein Handgelenk zu fassen, ehe meine Faust erneut den Boden traf.

»Hör auf, dir selbst wehzutun! Das bringt gar nichts.«

Sie hatte recht. Doch der Schmerz war eine wohltuende Abwechslung zu den Qualen, die mein Herz zusammenzogen. Der Druck, der meinen Oberkörper eingequetscht hatte, wollte nicht weichen.

»Ihr hättet es wissen müssen«, wiederholte ich meine Worte. Heiser und unmissverständlich.

Ich vergoss zwar keine Tränen, spürte aber immer mehr von diesen aufsteigen. Ein Strick legte sich um meine Kehle, schnürte sich zu, sodass ich durstig nach Luft schnappte. Nach Luft, die mir die Blutkönigin so oft verweigert hatte.

»Wir hatten keine Ahnung, dass er …« Olive brauchte es nicht auszusprechen. Jeder von uns wusste, worauf sie hinauswollte. Und es gab unzählige Variationen, ihren Satz zu beenden.

»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Lucien.« Sie sprach lauter, um die anderen ebenfalls anzusprechen. »Keiner darf das. Wir konnten nicht wissen, dass Henry ein falsches Spiel spielte. Er hat uns alle getäuscht.«

Sie müssen doch irgendetwas gemerkt haben, sprach mir eine Stimme in Gedanken zu. Irgendetwas.

»Wir müssen zu Harrison. Er kann …«

»… uns auch nicht helfen. Es ist …« Meine Stimme brach.

Es war vorbei. Das Spiel war zu Ende.

Scarlett war fort.

So stark, stur und strapazierbar sie auch sein mochte, der Ghost Circle war noch so vieles mehr. Und insbesondere war er eins: skrupellos.

Sie hatte keine vernünftige Chance, gegen den Circle zu kämpfen. Gegen die Anhänger. Gegen die Blutkönigin. Gegen die Silberne Maske. Gegen Henry.

»Du weißt nicht, was der Circle mit ihr macht.«

Ich schnaubte wie ein wildes Tier. Olive wusste genau, was diese Monster von Elementarmagiern mit ihr machen würden.

»Sieh mich an! Olive! Sieh mich an!« Ich suchte ihren Blick, doch ihre stahlblauen Augen richteten sich weit in die Ferne. Olive betrachtete die idyllische Landschaft anstelle meiner roten Wunden. Meiner aufgeplatzten Hautstellen, meiner gebrochenen Nase, meines geschwollenen Auges.

»Lucien …«

»Du kannst es nicht ertragen, mich so zu sehen, oder?«

Ihre Miene versteinerte sich.

»Weil es dich an sie erinnert, nicht wahr? An deine Brüder?«

Damit hatte ich ihre Aufmerksamkeit.

»Die Blutkönigin hatte sie vor Jahren getötet. Und sie hätte dasselbe mit mir getan.« Genau genommen hatte sie dies. Wie Scarlett mich aus der Dunkelheit gezogen hatte, konnte ich mir nicht erklären. Von solch einem Phänomen hatte ich noch nie gehört. Trotz allem saß ich hier im Gras und war am Leben. Ich atmete Luft, fühlte die Wärme auf meiner geschundenen Haut.

Doch die Leere in meinem Herzen blieb.

»Ich wüsste nicht, was ich gemacht hätte, wenn du gestorben wärst.«

»Du hättest gekämpft«, erinnerte ich sie. »Du hättest das zu Ende geführt, was du begonnen hast.«

»Und was ist mit dir, Lucien?«

Jetzt war ich es, der den Blick abwandte.

»Es war zu spät«, sagte ich leise.

»Sie ist immer noch bei ihnen.«

»Bis sie den Stern haben.«

Olive legte eine Hand auf meinen nackten Oberarm. Auf eine Stelle, die ausnahmsweise nicht von Dreck und Blut befallen war.

»Sie wird versuchen, den Stern zu schützen.«

»Sie wird scheitern.« So viel Vertrauen ich auch in Scarlett haben mochte, sie war dieser Macht nicht gewachsen. Selbst wenn sie die nächste Wächterin des Geistes war, war sie mit dieser Welt – speziell mit der der Wächter – erst vor wenigen Wochen in Berührung gekommen. Es stand so viel auf dem Spiel, das alles in ein vollkommenes Chaos stürzen konnte.

»Ich hätte niemals von euch verlangen sollen, dass ihr mich retten kommt. Ich hätte es verh…«

»Nein!«, schnitt sie mir das Wort bestimmt ab. »Nein! Du bist an nichts schuld, Lucien. Auch wenn du es dir nicht eingestehen willst, ist und bleibt es Henry, der uns verraten hat. Nicht du. Er, nur er. Und ich weiß, dass du diesen Landsitz dahinten«, sie nickte in die Richtung des imposanten Gebäudes aus dem letzten Jahrhundert, »am liebsten stürmen würdest. Aber du bist nicht in der Verfassung dafür. Du musst schnellstmöglich ärztlich behandelt werden, oder was auch immer man mit jemandem macht, der gerade von den Toten wiedererweckt wurde.« Sie umhüllte meinen Blick hypnotisierend intensiv. Ich verlor mich fast in dem Blau, das mich jedes Mal aufs Neue an das Meer erinnerte.

»Du wirst sie wiedersehen! Wir alle werden das!« Ich klammerte mich mit aller Willenskraft an die Überzeugung in ihrer Stimme. Etwas anderes blieb mir ohnehin nicht übrig. »Aber wir müssen jetzt gehen. Harrison wartet am Waldrand auf uns. Und bis dahin ist es noch ein ganzes Stück.«

Wie wir dann letztendlich am Waldrand landeten, konnte ich nicht sagen. Es war eher, als hätte ich eine Gedächtnislücke, die mir die letzten Minuten – oder vielleicht auch Stunden? – Fußmarsch gar nicht zeigte.

Es schien Jahre her gewesen zu sein, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Als wir noch zusammen mit Scarletts Vater Phil im Circle waren. Harrison trat aus dem schützenden Dickicht und den Schatten der Bäume heraus.

»Lucien!«

Sein Blick fuhr über uns. Die Heiterkeit, die seine Mundwinkel weit nach oben getragen hatte, erstarb. Seine Miene wurde hart, ernst und zuletzt spiegelte sich Irritation darin.

Er bemerkte es.

Allgemein sah er älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Der Dreitagebart war nicht mehr so perfekt gestutzt wie sonst. Ein paar zusätzliche Falten hatten sich in seinem Gesicht gebildet. Und ein paar graue Haarsträhnen hatten sich in den braunen Schopf geschmuggelt.

Wir näherten uns ihm. Sein Gemütszustand passte sich unserem an. Jede Faser seines Körpers strahlte diese Wachsamkeit aus, dieses Entsetzen, diese Fassungslosigkeit. Langsam wurde ihm bewusst, dass wir es nicht alle aus dem Landsitz geschafft hatten.

»Was ist passiert? Warum seid ihr so wenige? Wo sind Scarlett und Henry? Sind sie noch drin?«

Ich wechselte einen unmissverständlichen Blick mit Chloe. Keiner von uns wollte es, doch jemand musste etwas auf Harrisons Fragen erwidern. Schließlich war es Chloe, die das Wort an sich riss. Mit zittriger Stimme, den Blick kontinuierlich auf den Grasboden gerichtet. »Sie sind noch drin.«

Ein Satz. Vier Worte, die schwer lasteten. So schwer, dass ich einmal mehr die Hände zu Fäusten ballte.

»Wie?« Harrison verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Wie ›sie sind noch drin‹?« Seine geweiteten Augen forderten eine Erklärung. Eine Erläuterung. Eine Antwort, mit der Harrison zufrieden sein würde. Doch die gab es nicht.

»Hallo? Kann mir mal einer mitteilen, was hier abläuft?« Er blickte jeden einzelnen von uns an. »Wenn das hier ein Scherz sein soll, dann lasst euch gefälligst einen besseren einfallen. Das ist nämlich überhaupt nicht lustig.«

Cameron schüttelte neben mir den Kopf. Harrison versuchte anhand dieser Geste die Wahrheit herauszufinden. Nur wollte er dieser nicht in die Augen sehen.

»Scarlett ist noch im Landsitz.«

Sofort ergriff die Panik Besitz von ihm. Er zeigte sie offen. Die Lippen teilten sich fassungslos, die Augen weiteten sich ungläubig.

Er fuhr herum, strich sich flüchtig durch die Haare und nahm seine Wayfair-Brille ab. Obwohl kein Fleck auf den Gläsern prangte, putzte er sie an seinem faltigen Hemd. Er suchte eine Ablenkung, hier in der Natur gab es keine.

»Sie ist noch bei ihnen?« Seine Stimme war mit derselben Note Bangen versetzt, die meine ebenfalls im Griff hatte. »Sie ist noch im Circle, sie ist bei diesen Monstern!« Er stellte keine Fragen, es waren Feststellungen. »Sie ist die Wächterin des Geistes!«

Sula zuckte zusammen. Harrison setzte seine Brille schnell wieder auf und versuchte seine glasigen Augen zu verstecken. Tränen waren etwas vollkommen Normales. Ich würde heulen wie ein Wasserfall, auch als Mann, denn es war in Ordnung, Gefühle zu zeigen. Nur dass meine Tränenfluten von der unergründlichen Wut auf Henry erstickt wurden.

»Wie konntet ihr sie zurücklassen?«

Hatte bisher noch irgendjemand an der Beziehung zwischen Scarlett und ihm gezweifelt, zeigte seine dünne Stimme in diesem Augenblick alles. Sie legte die Gefühle offen, die Harrison für Scarlett hegte. Er sah in ihr weitaus mehr als jemanden, auf den er aufpassen musste. Er sah sie selbst als seine Familie, als seine Tochter, die er nie gehabt hatte.

»Scarlett ist alles, was …«

… mir geblieben ist.

Ja, mir ging es da ähnlich.

Sein Freund war dem Ghost Circle in die Hände gefallen. Nun war mit Scarlett dasselbe geschehen. Ich konnte seinen Verlust nachvollziehen. Immerhin hatte ich meine eigene Horrorgeschichte mit dem Ghost Circle. Meine Eltern und meine Schwester waren vor Jahren vor meinen Augen durch Seelenwesen getötet worden, Élodie und Jaques waren vor Kurzem umgebracht worden und zuletzt hatten sie mich selbst gefoltert. Nun war Scarlett an der Reihe. Durch Henry, diesen Verräter!

Wie von allein verengten sich meine Augen, wenn ich an ihn dachte.

»Wie konntet ihr sie zurücklassen?«, fragte Harrison und versuchte unser Schweigen zu brechen. »Wie?«

Sula trat aus dem Halbkreis hervor, ging auf den Professor zu und umarmte ihn wie eine alte Freundin. Was sie in diesem Augenblick auch war. Dass er gute fünfundzwanzig Jahre älter war und Lehrer an der Colonnade Akademie, war egal. Es war nicht das Alter, das uns verband, nicht die Akademie, nicht die Magie. Es war der Circle, es war Scarlett.

»Sie haben uns eine Falle gestellt«, antwortete Cameron, als Sula sich wieder von ihm löste.

»Eine Falle? Inwiefern?«

Cameron sah zu Olive, sie fuhr fort: »Ein Trick. Eine List.«

»Was noch? Ein Hinterhalt?«, entgegnete Harrison sichtlich aufgewühlt. »Kann mir mal jemand sagen, was passiert ist? Immerhin hatten wir einen Plan, der vorsah, dass alle es wieder rausschaffen. Und das ist ganz eindeutig nicht der Fall. Also, wo …«

»Henry hat uns verraten«, schnitt Chloe ihm das Wort ab.

Stille.

Dann eine Regung. Seine schmalen Lippen verbanden sich zu einem dünnen Strich, ungläubig schüttelte er den Kopf. »Nein. Nein, das kann nicht sein.«

»Er hat uns verraten, Harrison. Er hat Scarlett ausgeliefert«, erklärte Olive etwas ausführlicher.

Harrison suchte Halt. Er streckte eine Hand nach einem Baum aus, legte sie auf die Rinde und krallte seine Finger hinein. Sein Atem stockte.

»Wir waren fast raus, wir alle, da hat Henry sich gegen uns gewandt. Er hat mich durch die Luft geschleudert«, sagte Chloe patzig und erntete prompt einen drohenden Blick von Olive.

»Wir wussten nicht, dass er zum Circle gehört. Also dass er uns verraten würde«, fügte Olive hinzu.

»Scarlett ist in großer Gefahr, weil sie den Teil des Geistes hat«, schlussfolgerte Harrison.

Sula fand ihre Stimme wieder. »Den hat sie?«

Harrison strich sich über sein stoppeliges Kinn. »Theoretisch. Denke ich zumindest. Aber das wird der Circle wohl bald herausfinden.«

Dank Henry!

Meine Brust schwoll an.

Wie vom Blitz getroffen, öffnete Harrison die Knöpfe an seinem rechten Hemdärmel und krempelte den Stoff hektisch bis zum Ellbogen hinauf.

Da prangte sie.

Die unscheinbare Feder. Ein schwarz-weiß schattiertes Tattoo auf seinem Unterarm, das viel mehr war als ein Kunstwerk.

Der Blutschwur zwischen ihm und Phil Anderson, durch den er Scarlett mit seinem eigenen Leben beschützen sollte. Es war eine seltene Verbindung, die durch den Geist und das Blut geschlossen werden konnte.

»Was ist das?«, flüsterte Sula neben mir zu Chloe.

»Ein Tattoo?«

»Das sehe ich auch.«

»Eine Feder? Irgendwie passt das so gar nicht zu ihm. Ein Lehrbuch oder eine Tafel hätte ich eher erwartet.«

»Ernsthaft? Wer lässt sich denn so etwas tätowieren?«

»Er lebt für seinen Job, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«

»Wie viel ist weg?«, fragte ich, ignorierte das Getuschel von Sula und Chloe und suchte Harrisons Blick. Dieser lag jedoch unberührt auf der Feder. Mit den Fingerkuppen der linken Hand strich er vorsichtig über das Mal.

Als ich zuletzt auf diese Feder geblickt hatte, hatte ein kleiner Teil der Fahnen an der Spule gefehlt. Das war kurz nach Halloween gewesen.

Und nun?

»Harrison?«

Ich näherte mich ihm mit wackligen Schritten.

Dann sah ich es und unterdrückte mein Erschrecken.

Die Feder besaß nur noch die Hälfte ihrer ursprünglichen Fahnen. Eine war komplett verschwunden.

»Hast du nichts gespürt? Keinen Schmerz?«

Er schüttelte entgeistert den Kopf.

»Ich habe versagt«, wisperte er. Die Angst, die mitschwang, prallte mit voller Wucht gegen mich. Sie verwob sich mit meiner.

So sehr mich der Schmerz von Scarletts Verlust traf, so sehr er mich brach, ich tat das, was ich seit Jahren tat: Ich schluckte den Schmerz herunter, sperrte ihn in eine Kiste ein und verschloss diese dreimal. Die Wut, der Groll, die Erschütterung blieben, doch für die anderen musste ich stark sein. Nicht nur ich hatte Scarlett verloren – um Henry trauerte sicherlich niemand. Und trotz allem sahen sie mich als jemanden, der die Qualen des Circles überlebt hatte und lebendig mit ihnen hier war. In Freiheit. Gezeichnet von den Foltermethoden. Gerettet durch Scarlett.

Und an ihrem Leben hing Harrisons.

Sollten alle Fahnen der Feder ausfallen, galt der Schwur mit Phil als gebrochen – wenn auch unbeabsichtigt. Dann trat die einzige Folge ein. Er würde sterben.

»Ich hätte mitkommen sollen. Ich hätte dabei sein …«

»Mach dir keine Vorwürfe.«

Es waren Olives Worte, die ich aufgriff. Die ich selbst nicht glaubte, denn Scarlett war für mich in diesen Landsitz eingebrochen. Und wenn sie sich gegen eine Rettungsmission entschieden hätte, wäre nichts von alldem geschehen.

Hätte, hätte, hätte. Spekulationen, die meinen Kopf zum Dröhnen brachten. Mich in den Wahnsinn trieben.

Aber Harrison zerbrach an seinem eigenen Schmerz. Er war diesen Schwur eingegangen und ihn aufzuhalten war, soweit ich wusste, unmöglich.

»Ich hätte sie nicht alleinlassen sollen«, nuschelte Harrison.

Ich legte eine Hand auf seine Schulter und zwang ihn so, mich anzusehen. »Wir werden nicht zulassen, dass Scarlett in diesem Landsitz«, ich verschluckte mich fast, »stirbt.«

»Niemand kann sich mehr in Sicherheit wähnen, wenn der Ghost Circle an den Teil des Geistes kommt. Er ist der mächtigste von allen.«

Resigniert nickte ich, denn Harrison wusste nichts davon, dass ich meinen Grandpa unbeabsichtigt verraten hatte. Spitze Nadeln bohrten sich in mein Herz und quälten es weiter.

Harrisons Blick glitt an mir vorbei, traf meine Freunde der Reihe nach. »Ihr wisst, was es bedeutet, wenn der Circle Scarlett den letzten Teil entlocken wird?«

»Nein, was denn?« Camerons Stimme war dünn.

»Dann steht ein Krieg bevor.«

 

Kapitel 2

 

Scarlett 6. Juni

 

Ich bin der Sturm.

Eine ganze Woche war vergangen, seit ich meine Freunde das letzte Mal gesehen hatte. Seitdem ich hier im Landsitz des Ghost Circles ausharrte, ging es mir ehrlicherweise ziemlich gut – so gut es jemandem gehen konnte, der unfreiwillig hier war.

Lucien, Chloe, Sula, Cameron und Olive waren rausgekommen. Und das war alles, was zählte.

Ich konnte meine Freunde nicht in Gefahr bringen. Ich konnte ihnen kein bewusstes Leid zufügen, wenn ich es war, die der Circle haben wollte. Es war meine Lebensaufgabe – wie Luc Chevalier es schön formuliert hatte – also sollte es so sein. Genau genommen hatten mich seine Worte sogar ermutigt. Doch es gab eine Sache, die mich zweifeln ließ: Die Blutkönigin wusste, dass Luciens Grandpa den Teil der Erde bewachte. Und das änderte alles.

So töricht und falsch es auch wirken mochte, den Stern konnte ich in Gegenwart des Circles besser schützen, wenn ich unter ihnen wandelte. So hatte ich einen Überblick über ihre Aktivitäten. Jedenfalls redete ich mir das ein. Auch wenn es bedeutete, dass ich Lucien erneut verlor. Seit einer Woche war nichts geschehen. Absolut nichts. Keine Drohung. Keine Folter. Kein Besuch irgendwelcher Circle-Anhänger.

Ich war und blieb allein. Einsam. Isoliert.

Je mehr Zeit verging, desto weniger fühlte ich mich wie ein Wirbelsturm, der den Ghost Circle von innen heraus zerstörte. Im Gegenteil. Ich war eine Gefangene, nicht so, wie Lucien es gewesen war. Anders. Und in Alarmbereitschaft. Dauerhaft. Jedes noch so kleine Knacken, Windheulen oder Rascheln erregte meine Aufmerksamkeit.

Aber nichts. Nur die natürlichen Geräusche eines Landsitzes aus einer Zeit, in der das Leben auch nicht wirklich rosig war. Auf jeden Fall nicht so rosig wie meine Räume, die ein Schlaf- und Wohnzimmer sowie ein separates Badezimmer beherbergten. Es war so geräumig, dass neben einem riesigen Himmelbett mit dunkelroten Vorhängen eine Sitzgarnitur in Smaragdgrün vor den bodentiefen Fenstern strahlte. Einem Ton, der mich an Lucien erinnerte und daran, dass ich ihn aus dieser Hölle befreit hatte.

Manchmal vergaß ich für den Bruchteil einer Sekunde, dass ich in diesem Quartier keinen Urlaub machte, sondern gefangen war. Bei meinen Feinden. Die Dad auf dem Gewissen hatten und mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter dieser braunen Holztür auf den Fluren wandelten.

Doch dieser Raum hatte etwas so Beruhigendes an sich, dass ich mich hier wahrlich … wohl fühlte. Nicht zu Hause, nein, aber ich war nicht abgeneigt. Es gab einen runden Esstisch, an dem locker zehn Personen Platz finden würden, ein paar Kommoden und das Bad hatte die doppelte Größe von dem an der Colonnade Akademie. Zudem hatte der Circle sich nicht einmal die Mühe gemacht, sämtliche scharfen, potenziell gefährlichen Gegenstände zu entfernen. So fand ich nicht nur einen Rasierer vor, ein paar Scheren und Messer, sondern auch ein Schwert mit schützendem Schild an der Wand. Vermutlich waren sie sich einig, dass ich entweder keine Chance gegen sie hatte oder direkt mit den Elementen kämpfen würde. Das mit Abstand Unheimlichste war, dass sich in den Kommoden meine Klamotten befanden. Kleidungsstücke, die eigentlich in meinem Wohnheimzimmer im Eispalast sein sollten. Stattdessen waren sie hier und warteten nur darauf, dass ich sie anzog. Selbst meine Unterwäsche hatte sich einen Weg hierhergezaubert.

Doch der Haufen Kleidung nützte mir rein gar nichts, da ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Die Tür war abgeschlossen und aus dem Fenster nach unten zu springen, wäre tödlich.

Alles, was mir zum Zeitvertreib blieb, waren Kampfübungen mit dem Schwert. Am zweiten Tag hatte ich einen Stapel handgeschriebene Gedichte entdeckt. Über die Liebe, über den Schmerz, über alles Mögliche. Ihre Schönheit war es, die mich etwas ablenkte.

Wenn du Henry nicht vertraut hättest, wärt ihr alle zusammen rausgekommen.

Ich bekam eine Gänsehaut, da die Stimme in meinem Kopf recht hatte. Ständig grübelte ich über den Einbruch in den Landsitz nach.

Die Entschlossenheit, nicht einzuknicken, die ich auf der Brücke verspürt hatte, wankte immer mal wieder. Was sehr wahrscheinlich auch daran lag, dass meine negativen Gedanken sich einen regelrechten Schlagabtausch mit meinem Optimismus lieferten.

Was wäre, wenn …

Doch ich konnte nichts von dem Geschehenen ändern. Und das musste ich irgendwann akzeptieren, ob ich wollte oder nicht.

Nur, so viele Gedankenströme sich auch bildeten, ich wurde aus einer Sache nicht schlau: Henry.

Tausende Fragen fluteten meinen Kopf. Wie konnte er nur? Hatte ihm der Tod solch eine Angst gemacht, dass er sich freiwillig gegen seine Freunde stellte? Fühlte er keine Reue? Hatte er jemals auch nur ein Funken Interesse verspürt, als er mir nähergekommen war? Als er mich geküsst hatte?

Die meisten Fragen blieben unbeantwortet. Allen voran: Wie konnte mir nicht aufgefallen sein, dass er mich nur benutzt hatte? Auch wenn ich das nicht glauben wollte, musste ich der Tatsache ins Auge sehen, dass er mich an die Blutkönigin ausgeliefert hatte.

Da war ich glatt bei dem nächsten Teil der Fragerunde. Wie konnte jemand so Nettes wie Henry Sohn der Blutkönigin sein?

Wie ich es auch drehte und wendete, ich kam auf keinen gemeinsamen Nenner. Das waren zwei verschiedene Persönlichkeiten, die mich unterschiedliche, gegensätzliche Dinge fühlen ließen. Bei Henry hatte ich Liebe und Zuneigung empfunden, bei der Blutkönigin nichts anderes als puren Hass und Abscheu.

Aber wie stand Henry zur Silbernen Maske? Dem Anführer des Ghost Circles. War dieser Mann dann sein Vater? Oder waren er, Schulleiter O’Brien, und die Rabenkönigin gar kein Paar?

Es gab so vieles, das ich wissen wollte.

Dementsprechend lang waren die Nächte. Schlaf fand ich in diesem bequemen Bett nicht viel. Wenn ich gerade weggedöst war, fielen die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster hinein und kitzelten mich unangenehm im Gesicht. Immerhin ließ mich die Sonne halbwegs auf eine Uhrzeit schließen. Und das Essen natürlich. Die Mahlzeiten erschienen auf einem Silbertablett auf dem Esstisch, wenn ich nicht hinsah oder gerade im Bad war. Als ob der Circle wusste, wann ich es nicht mitbekommen würde, wer mir das Essen brachte. Dass ich überhaupt etwas bekam, war schon eine Überraschung für sich. Und dann das Feinste vom Feinsten. Als wäre ich eine Gräfin, die sich in ihren Gemächern von einer Krankheit erholte.

Nur an diesem Morgen kam kein Frühstückstablett. Kein Rührei, keine Baked Beans, kein Tee. Nichts.

War der Ghost Circle zur Vernunft gekommen und hatte eingesehen, dass ich eine Gefangene war, die bisher nicht so behandelt worden war?

Ich kam gerade aus dem Badezimmer, als ich einen Karton auf dem Tisch vorfand. Vorsichtig öffnete ich die Klappen und lugte hinein. Nachdem ich das Füllmaterial entfernt hatte, entdeckte ich etwas leuchtend Rotes. Es war kein Kleidungsstück, wie ich bald feststellte, sondern ein Fetzen durchsichtiger Stoff. Und diesen kannte ich nur zu gut. Es war der Schleier, den die Rabenkönigin aka Blutkönigin am Mitternachtsball getragen hatte. Damals, als sie mich hatte erwürgen wollen.

Ich kramte tiefer. Darunter lag etwas Pechschwarzes. Federn, angebracht auf einem dunklen Stoffstück, das im Licht wie Leder glänzte.

Ich sollte das Kleid doch nicht anziehen, oder?

Eine kleine schwarze Karte, die sich kaum von den dunklen Federn abhob, stahl sich in mein Blickfeld. Ich nahm sie aus dem Karton, drehte sie um und las: Du hast fünf Minuten.

Sollte das ein Scherz sein?

Was geschehen würde, wenn die Zeit um war, wollte ich mir gar nicht vorstellen. Dass es nichts Gutes sein konnte, wusste ich auch so. Also zog ich mich an.

Auf die Sekunde genau war ich fertig, da wurde die Tür aufgerissen und ein Mann stiefelte auf mich zu. Er packte meinen Oberarm so hart, dass mein Blut stockte, und zog mich grob hinter sich her.

Tatsächlich führte er mich aus dem Raum heraus. Der Flur war so, wie er in meiner Gedankenwelt ausgesehen hatte. Knarrende Dielen, dunkle Tapete, einige Büsten und vor einer Biegung gab es sogar eine Ritterrüstung, die mich um gefühlt einen Meter überragte.

Es war einfach, sich den Weg zu merken. Überwiegend gingen wir geradeaus, viele Abzweigungen gab es nicht. Wir blieben auf der oberen Etage, in einem anderen Flügel des Gebäudes kamen wir schließlich zum Stehen. Der Mann stieß eine Tür auf, schubste mich achtlos hindurch und sperrte sie zu.

Eine Frühstückstafel, gedeckt für vier, mit fünf Stühlen rückte in mein Blickfeld. Zufall? Wohl kaum.

Außer mir befand sich niemand in diesem überaus prunkvollen Raum. Der Kronleuchter war so imposant, dass er mit dem im ehemaligen Hauptgebäude an der Akademie mithalten konnte. Generell zierten den Raum einige bodentiefe Fenster, durch die man einen wunderschönen Ausblick auf einen ganzen Park hatte. Ebenso wie auf die Berggruppe, in der sich die Zellen befanden.

Mit Bedacht trat ich näher an die Frühstückstafel und entdeckte ein Schild mit meinem Namen. Es gab einen Stuhl vor Kopf, vor dem ein Gedeck lag, zwei auf der einen Seite und eins – meins – allein neben dem autoritären Platz. Auch ohne die geschwungenen Lettern auf dem Kärtchen konnte ich erahnen, wer mit mir frühstücken würde, obgleich ich den Gedanken zu verdrängen versuchte. Kurzerhand griff ich nach dem für mich bereitgestellten Teller und Besteck und legte es so weit, wie es ging, von den anderen weg. Kaum hatte ich mich auf einen weichen Stuhl niedergelassen, da schwang die Tür auf. Und mein Puls schoss in die Höhe.

War ich vorbereitet auf das, was kommen würde? Wer kommen würde? Zumindest dachte ich das, doch dem war nicht so. Ich hielt mich an dem Sitzkissen fest, als die Blutkönigin höchstpersönlich um die Ecke bog. Und sie war nicht allein. Ein Mann folgte ihr. Die Maske?

Wenngleich eine der verruchtesten Mörderinnen überhaupt zu mir kam, hatte ich nur Augen für einen.

Für ihn.

Für Henry.

Was machte er hier?

Ich rührte mich nicht.

Mir kam es wie Ewigkeiten vor, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Als wäre es ein vergangenes Leben gewesen, in dem wir uns wahrlich nah gekommen waren. Mehr als Freunde gewesen waren. Freunde, die zu Liebenden geworden waren, bevor sie sich als Feinde getrennt hatten.

Und nun war er hier.

Natürlich war er das. Wo sollte er sonst auch hin? Er hatte niemanden mehr.

Mit deutlichem Abstand zu seiner Mum trat er ein. Stets darauf bedacht, den Blick gesenkt zu halten, setzte er sich mir gegenüber.

Ich betrachtete Henry weiter. Dass sein sonst so dauerhaftes Lächeln aus dem Gesicht gewichen war, fiel mir sofort auf. Alles an ihm wirkte passiv, teilnahmslos und schützend. Henry umgab eine Aura, die ihn vor möglichen Gefahren abschirmte. Vor mir.

Womöglich lag es an seiner Körperhaltung, dass ich dies so einschätzte. Die breiten Schultern waren hochgezogen, als würde er in dem schwarzen T-Shirt frieren. Seine Haltung war gekrümmt und er beachtete mich nicht, sah durchgehend herunter. Henrys Haut war ungewöhnlich fahl und die Sommersprossen im Gesicht leuchteten abnorm dunkel. Wie sein Haarschopf, der sich in ein wirres Vogelnest verwandelt hatte. Seine Augen wurden von langen dunklen Wimpern gesäumt, die ich weiterhin wunderschön fand. Nun lenkten die Schatten unter den Augen von ihnen ab. Sie lagen wie Halbmonde unter dem Wimpernkranz und erstrahlten so schwarz wie die Nacht.

Ihm ging es nicht gut.

Er litt?

Du darfst kein Mitleid empfinden!

Ich straffte die Schultern und versuchte auf meine innere Stimme zu hören. Sie sprach in einem Befehlston mit mir, der keinerlei Ausrutscher duldete. Wie beim Militär. Nur dass ich kein Soldat war, der die Geisel retten musste. Ich war die Geisel, befand mich inmitten der Schusslinie und war gleichzeitig der letzte Schlüssel für den Weltuntergang.

Es vergingen mehrere Herzschläge, während niemand etwas sagte. Während meine Aufmerksamkeit uneingeschränkt auf meinem … Ja, was war Henry eigentlich? Er mochte einiges gewesen sein.

Ich wollte Henry verstehen, wirklich, doch ich konnte es nicht. So sehr ich es auch versuchte. In mir wallte ein Gefühl auf, das meine vorherige Anspannung unterdrückte. Es war Zorn.

Vorsichtig hob Henry das Kinn an, tastete sich mit den Augen langsam über den gedeckten Tisch vor, bis er auf meine braungrünen traf. Das dunkle Braun traf mich mit solch einer Wucht, dass mein Inneres aufgewühlt wurde. Es war ein Schlag in die Magengrube, ein Zerquetschen meines Herzens und ein Zermalmen meiner Luftröhre. Die Empfindung war mir nicht neu. Damals, als ich den Geist das erste Mal allein praktiziert hatte, hatte ich mich genauso gefühlt. Henrys Augen erstrahlten in einer so intensiven Farbe, dass mich diese allein in die Schranken wies. Ich war in dem dichten Netz aus Herbsttönen gefangen und konnte mich nicht aus eigener Kraft befreien. Er hielt mich in Schach. Selbst wenn ich mir das in Anbetracht der Dinge, die geschehen waren, nicht eingestehen wollte, strahlte dieser einzigartige Braunton eine ungemeine Ruhe auf mich aus.

War das Wehmut, die dort aufblitzte?

So schnell dieses Gefühl auch da gewesen sein mochte, keinen Atemzug später war es verschwunden. Mit einem unscheinbaren Räuspern wandte Henry den Blick von mir ab und richtete ihn auf seinen noch leeren Teller.

Die unverwechselbare Stimme der Blutkönigin riss mich aus den Gedanken. »Scarlett! Es ist wirklich eine Freude, dich an unserem Frühstückstisch zu begrüßen. Ich habe gedacht, dass es eine wohltuende Abwechslung wäre. Immerhin hast du dein Zimmer nicht verlassen.«

Mit Mühe verkniff ich mir ein ungläubiges Auflachen. Ihre plötzliche Freundlichkeit ließ mich wachsamer werden. Das war nicht die Blutkönigin, die ich kannte. Die mich mehr als einmal bedroht hatte und töten wollte. Ihre Worte waren nichts als Lügen, die ihr so leichtfüßig über die Lippen glitten, dass es erschreckend war.

Ich löste den Blick von Henry, was ihn deutlich entspannte, und wandte mich ihr zu. Dass ich am äußersten Ende des Tisches saß, fast schon auf der Kante, entging ihr nicht. Jedoch war es mir gleichgültig, wie sie das fand.

»Hat dich mein Geschenk nicht erreicht?«

In ihrem Gesicht versuchte ich einen Anhaltspunkt zu finden, was sie von mir wollte. Doch ich fand keinen, der mich zufriedenstellte. Was womöglich auch daran lag, dass mich ihr Auftreten irritierte. Statt einen der bekannten Ghost Circle-Umhänge trug sie eine schlichte schwarze Tunika, die nicht ansatzweise zu ihr passte. Die langen weißen Haare hatte sie zu einem hohen Zopf zusammengebunden. So traten ihr Gesicht und der blasse Teint noch intensiver hervor. Und was am erschreckendsten war: Ihre schwarzen Tätowierungen im Gesicht waren fort. Zurück blieben dunkel betonte Lider, die wie Rabenfedern aussahen. Die roten Augen und Lippen glänzten in demselben grässlichen Ton wie immer. Und als ich sie so uneingeschränkt ansah, wirkte sie ungewöhnlich jung. Zu jung, als dass sie mit Dad und Professor Brown auf der Akademie gewesen sein konnte.

»Ich hatte dir so etwas Schönes rausgelegt.«

Auf der beigelegten Karte hatte gestanden, dass ich fünf Minuten Zeit hätte, nicht, was ich tragen sollte. Folglich hatte ich mich für die deplatzierteste Kombination überhaupt entschieden. Meinen kuscheligen Wolkenschlafanzug und weiße Wollsocken. Im Nachhinein bereute ich es wahrlich, dass ich in der Dusche gewesen war. Sonst hätte ich zusätzlich mit fettigen Haaren kommen können.

»Na ja, dein Schlafanzug sieht auch«, sie betrachtete mein Oberteil und leckte sich einmal über die Lippen, »originell aus.«

Ich antwortete nicht, stierte sie mit verengten Augen an.

»Wie dem auch sei, greif zu, Scarlett.«

Das Frühstücksbuffet vor mir war so ausladend, dass ich mich zurückhalten musste, um nicht alles auf meinen Teller zu schaufeln. Wenn sie mir so anbot, etwas zu essen zu nehmen, bestand die Chance, dass …

»Wir werden dich schon nicht vergiften.«

Der Mann vor Kopf lachte kurz auf.

»Ignoriere Theodor einfach. Er hat einen komischen Humor.«

Die Art und Weise, wie sie mit mir sprach, gefiel mir nicht. Die Blutkönigin war nicht höflich, sie war alles andere als das. Und wer war dieser Theodor? Er sah nicht aus wie die Silberne Maske. Woran ich das festmachte, konnte ich nicht ausmachen. Es war einfach so. Auch wenn sich die Maske bisher noch nie ohne gezeigt hatte. Selbst als sie mich persönlich angegriffen hatte, war die Maske zu jeder Zeit auf dem Gesicht geblieben.

Ich wartete, bis die drei sich bedient und den ersten Bissen gegessen hatten. Theodor langte als Erstes zu und aß nicht gerade vorbildlich. Immer wieder warf ich ihm kleine Seitenblicke zu. Es war eine Empfindung, die mir sagte, dass ich diesen Mann zuvor gesehen hatte. Vielleicht war es Einbildung, doch er kam mir mit seiner Halbglatze so unfassbar bekannt vor.

Und da wusste ich es.

Damals, während des Magieangriffes am Mitternachtsball, war er es gewesen, der gegen Sula und mich gekämpft hatte. Kurz bevor die Silberne Maske höchstpersönlich aufgetaucht war und grauenvolle Bilder von Dad in meinen Kopf projiziert hatte.

Ausdruckslos starrte ich ihn an. So lange, bis er in seiner Kaubewegung innehielt und meinen Blick erwiderte. Ja, er war es gewesen. Hundertprozentig.

»T’schuldigung, ist irgendwas?«, richtete er seine Frage an mich.

Ich suchte in seinem knolligen Gesicht weiter nach Anhaltspunkten. Da er an diesem Tisch saß, musste dieser Mann zu den engsten Vertrauten der Blutkönigin zählen. Ob er doch die Silberne Maske war? Oder ob es doch Schulleiter O’Brien war – so viel sprach noch immer für ihn, aber ich musste einfach sichergehen. Und ich wusste auch schon, wie. Durch das fünfte Element. Durch meine Magieausprägung. Durch den Geist.

Ich kehrte in mich, kontrollierte meine Atmung und fand schließlich meine innere Ruhe. Den Ursprung der verbotenen Kraft, mit der der Ghost Circle Grausames vollbrachte. Obwohl ich den Geist noch nicht sehr oft angewandt hatte, hatte ich zunehmend weniger Probleme dabei. Und ich übte oft, wenn ich allein war. Es war die einzige Waffe, die Waffe einer Wächterin, die mir gegen den Circle geblieben war. Dann sah ich die violetten Fäden vor mir. Sie brachen aus einem klaffenden Loch nahe meinem Herzen hervor. Direkt aus meiner Seele, aus den Tiefen meiner Existenz schlängelten sie sich vorwärts und nahmen mich ein. Sie verbanden sich mit meinem Willen, durch den ich sie auf den Mann losließ. Ihre Macht putschte mich auf, sie überwältigte mich, ließ mich schweben. Und so fremd sie auch vor Kurzem gewesen sein mochte, sie war ein Teil von mir, den ich akzeptieren musste.

Eine Welle der Übelkeit brach über mich herein. Sie war aushaltbar, sie musste es sein, sonst würde ich gnadenlos auffliegen. Fest presste ich die Lippen aufeinander, um meinen aufsteigenden Mageninhalt in mir zu behalten. Das Organ rebellierte, drehte sich um, sodass ich einen echten Würgereiz bekam.

Dann kam die Kälte. Sie breitete sich von dem Spalt zu meiner Seele durch jede einzelne Pore meines Körpers aus. Alles wurde unter ihr begraben, bis ich leicht erzitterte.

Da! Da waren rote Stränge. Fäden, die wie Flammen glühten. Gefährlich und warnend.

Feuer!

Das war seine Magieausprägung. Die Fäden der Silbernen Maske waren giftgrün – er war es nicht.

Seine Stränge bemerkten das Eindringen meiner violetten in sein Bewusstsein. Sie rebellierten wie ein Wirbelsturm und stellten sich meinen entgegen. Doch so schnell gab ich nicht auf. Schon lange nicht mehr. Ich legte meine Stärke in den Geist hinein, schickte sie zu den Fäden, die immer dunkler glitzerten. Es war ein dunkler Violettton. Er symbolisierte die unerreichbaren Tiefen, die Komplexität und die dominante Art der Macht, mit der ich die Stränge des Mannes in die Schranken wies. Mit der ich ihn besiegte.

Nun wollte ich mehr. Mehr von ihm. Mehr von seiner Macht spüren. Mehr von seinem Inneren sehen.

Anders als bei den vier Elementen musste ich meinen Verstand nicht einsetzen, um die Magie zu verändern. Ihr zu sagen, was ich wollte. Nein, der Geist spürte meinen Willen. Er wurde eins mit ihm. Wurde zu ihm. Wurde zu mir.

Der Mann ächzte auf, verschluckte sich fast an seinem Tee. Mit einer Hand stellte er die volle Tasse wieder auf dem Tisch ab, die andere legte er auf sein Herz und krümmte sich leicht nach vorne. Nicht auffällig, aber so, dass die Blutkönigin definitiv wusste, was geschah.

Meine Fäden erkämpften sich einen Weg durch seine roten. Sie tanzten mit ihnen, tricksten sie aus, bis sie sich verknoteten und keine Chance mehr hatten.

Ich war ihm überlegen!

Und das ließ ich ihn fühlen. Mit meiner Geistmagie bahnte ich mir einen Weg in sein Bewusstsein, direkt vor seine Gedankenblockade. Vor die Mauer, durch die die Gedankenwelt von jemandem abgeschirmt wurde. Bei mir bestand dieses Hindernis aus edlem blauem Azurstein. So eintönig meine Mauer auch war, Luciens war umso spektakulärer. Seine war von einer bunten Blumenpracht und unzähligen Pflanzenranken eingehüllt, sie wirkte wie ein echtes Blumenbeet im Garten. Auch die Mauer dieses Mannes lebte. Sie pulsierte, bebte wie ein Vulkan. In unregelmäßigen Abständen gab es Krater, mal kleinere, mal größere, die dampfend blubberten. Immer neue Lavaströme brachen daraus empor und flossen über den grauen Stein. Sie machten es mir unmöglich, die Mauer zu überwinden. Also fokussierten sich meine violetten Fäden auf kleine Spalten im Stein. Sobald sie sich in die Felsspalten bohren wollten, wuchsen Stalagmiten aus glühender Lava empor. Der Mann kämpfte, er verteidigte seine Gedanken. Trotzdem stach ich immer wieder aufs Neue hinein. Vergeblich. Die Kraft meiner Geistmagie schwand zunehmend. Meine Fäden verloren an Licht.

Und als die Blutkönigin dann einen kurzen, aber intensiven Blick mit mir wechselte, schwand meine Konzentration völlig. Die Fäden zogen sich in ihr Nest zurück. Das aufputschende Gefühl klang ab, ein Pochen in meinem Kopf gewann an Stärke. Doch ich tat weiterhin so, als beachtete ich die Kopfschmerzen nicht.

Tatsächlich wurden sie durch die Reaktion des Mannes wettgemacht. Er stöhnte auf, schnappte nach Luft und sah mich an. Lange, abschätzend und – ängstlich?

Ein zufriedenes Schmunzeln legte sich auf meine Lippen. Es wurde breiter, als der Mann sich kurzerhand entschuldigte, vom Frühstückstisch aufstand und den Raum verließ. Sein Verschwinden gab mir Aufschwung. Es verlieh mir ein Gefühl der Unbesiegbarkeit.

»Das war beeindruckend, Scarlett.«

Ich war mir nicht bewusst, dass die Blutkönigin in der Lage war, ein Kompliment zu machen. Die Anerkennung sollte mir nicht zu Kopf steigen, doch sie machte mich stolz.

»Du könntest mit deiner Magie so viel Großes vollführen.« Für den Circle. »Es ist wirklich schade, dass ich dich erst jetzt kennenlerne. Du hast ein Talent, Scarlett, das mich an mich selbst erinnert.«

Mein Schmunzeln erstarb.

Ihre Worte machten mich nachdenklich. Ich wollte, sollte es nicht zulassen, dass ihre Worte mir nahegingen, weil sie die Blutkönigin war, doch ich konnte die folgenden Gedankenströme nicht aufhalten.

Eben hatte ich wissen wollen, ob der Mann die Silberne Maske war. Ich hatte meine Geistmagie eingesetzt und … Rückblickend wollte ich es mir nicht eingestehen, aber ich musste: Ich hatte den Mann mit meinen Fäden gequält. Ihm Schmerzen zugefügt. Die Macht hatte mich überwältigt und ich hatte es genossen. Wie eine Droge, von der ich nicht genug bekommen hatte. Eine Ausrede, die ich als Entschuldigung nicht akzeptieren konnte. War ich in diesem Moment besser als die Blutkönigin gewesen?

Henrys missbilligender Ausdruck sprach für sich.

Plötzlich schämte ich mich. Für meine Magie. Für meinen Wunsch, die Geheimnisse des Mannes aufzudecken.

»Du musst es nur zulassen.«

So sehr ich es versuchte, ich konnte den Schmerz, den diese Erkenntnis verursacht hatte, nicht überspielen.

»Du musst dich dem Geist hingeben.«

Der Geist verdunkelt deine Seele. Du wirst nicht mehr dieselbe unschuldige Person sein, denn der Geist hat seinen eigenen Willen.

Die Worte von Professorin Hadley, meiner Mathelehrerin.

Innig glaubte ich, dass der Geist meine einzige Chance war, gegen den Circle zu kämpfen. Ich war die Wächterin des Geistes und diese Magie musste ich mir zunutze machen. Aber war ich auch bereit, anderen Schaden zuzufügen?

»Du musst dich uns …«

»Nein!« Mit einem einzelnen Wort schnitt ich ihr den Satz ab. Ich würde mich dem Circle niemals anschließen.

Der kräftige Rotton, in dem ihre Pupillen leuchteten, glitzerte auf. Ihr passte es nicht, wenn ich ihr widersprach, gar das Wort abschnitt. Kontrolliert fasste sie sich rasch. Zu schnell, als dass es natürlich war.

»Scarlett, du hast bestimmt viele Fragen und ich möchte, dass du weißt, dass du mir alle stellen kannst. Ganz egal welche.«

Das verwirrte mich. Was wollte sie von mir hören? Wollte die Blutkönigin, dass ich sie mit Fragen zum Circle bombardierte? Und dann in den Circle eintrat, um mich auf ihre Seite zu schlagen? Das Brandzeichen hatte ich immerhin schon auf meinem Unterarm. Meine Skepsis stand mir mit aller Deutlichkeit ins Gesicht geschrieben. Sie wollte den Stern, nicht meine Freundin werden.

»Du musst dich nicht fürchten. Wir haben nicht vor, dich in irgendeiner Weise einzusperren.« Nicht wie Lucien. »Ich hoffe, du hast dich schon ein bisschen eingelebt. Es ist eigentlich Henrys Zimmer, wenn er denn mal hier ist.«

Ihr anschließendes Lächeln war kurz, aber echt. Einmal mehr durfte ich mich nicht blenden lassen.

Henrys Zimmer? Ich schlief in seinem Bett, aß in seinen Räumen und benutzte sein Bad?

»Aber es hat ihm nichts ausgemacht, in ein kleineres Gästezimmer zu ziehen.«

Und er hat es für mich verlassen? Sollte dieser Fakt die Tatsache beschönigen, dass ich eine Woche eingesperrt gewesen war?

»Dabei hat Henrys Zimmer mit Abstand den schönsten Ausblick von allen. Der Landsitz ist aus dem letzten Jahrhundert und manche Räume sehen auch ganz danach aus. Aber der Ausblick auf die Gartenanlage«, sie verdrehte die blutroten Augen, die mir nach wie vor unheimlich waren, »ist ein Traum. Wie heißt es, für die Kinder nur das Beste.«

Ein Hochschnellen meiner Augenbrauen konnte ich nicht mehr zurückhalten.

Sonst bin ich es, der in dieser Zelle landet. Sie tötet mich, wenn ich dich nicht ausliefere.

Sie verstand eindeutig etwas von Erziehung.

Henry war das perfekte Mittel, dich zu uns zu führen. Ganz unscheinbar, ohne großen Aufwand.

»Und wenn du schon bei uns bist, solltest du unser Haus auch kennenlernen.« Das kam jetzt? Nach einer Woche in Gefangenschaft? »Du darfst dich jederzeit frei bewegen.« Als ich direkt nach meiner Ankunft an der Klinke gerüttelt habe, sprang die Tür nicht auf. Hielt mich die Blutkönigin zum Narren?

»Wie wäre es denn später mit einem Spaziergang, Scarlett? Henry kann dir den Landsitz zeigen.«

»Bitte«, meldete er sich das erste Mal zu Wort, seit er mit uns an diesem Tisch saß. Seine Stimme war nicht besonders kraftvoll, eher bebend.

Sie schienen fast wie eine normale Familie. Es war fast wie eine normale Mutter-Sohn-Beziehung. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Blutkönigin die Blutkönigin war. Und Henry ein Verräter, der seine eigene Haut über die seiner Freunde stellte.

»Komm schon«, die Blutkönigin sah zu Henry, der immer tiefer in seinem Sitz versank, »es muss dir nicht peinlich sein. Es ist sehr nett von dir, dass du dich um unseren Gast bemühst. Dass du ihr dreimal am Tag etwas zu Essen bringst. Das sollte sie ruhig wissen. Auch wenn nur wenig Wertschätzung ihrerseits kommt.«

Was definitiv daran lag, dass mein Essen immer gekommen war, wenn ich es nicht mitbekommen hatte. Jetzt wusste ich, warum. Henry wollte mir nicht begegnen. Und das war wahrscheinlich besser gewesen. Meine letzten Worte, die ich ihm an den Kopf geworfen hatte, bevor mich ein paar Circle-Anhänger abgeführt hatten, waren nicht die nettesten gewesen.

Ich schwöre dir, ich werde dich zerstören. Ich werde dich leiden lassen, so, wie du es dir in deinen dunkelsten Stunden nicht vorstellen kannst.

»Also, Scarlett, was möchtest du gerne wissen? Frag mich etwas.«

Still stocherte ich in meinem Rührei herum und rief mir vor Augen, was ich bereits alles über sie wusste. Abgesehen davon, dass sie skrupellos war. Und der Silbernen Maske diente, die wiederum Dad getötet hatte.

Die Blutkönigin, die Rabenkönigin, wie sie auch hieß, war mit Dad und Professor Brown etwa zur selben Zeit zur Colonnade Akademie gegangen. Die Raben waren ihre ganz eigenen Beschützer. Als sie in den Circle eingetreten war, hatte sie ihren Namen geändert. Er war durch ihre Taten geformt und über die Anhängerschaft hinausgetragen worden. Sie wurde gefürchtet. Professor Brown hatte gemeint, dass die Blutkönigin schon immer reserviert, eigenartig und angriffslustig gewesen war. Das konnte ich aus erster Hand bestätigen. Sie tat alles für die Macht. Für den Stern.

»Gar nichts?« Sie spitzte ihre Lippen und sah mich einschätzend an. »Hm, das glaube ich nicht. Es muss doch irgendetwas geben, das du wissen möchtest.«

Gemächlich kaute sie auf einem Stück Apfel herum und wartete. Und wartete.

Ich hätte vieles sagen können, doch ich traute dieser Frau nicht. Die Blutkönigin wollte den Teil des Geistes von mir, nichts weiter. Und sie würde mich quälen, wenn sie Lust dazu hatte. So nett Henry auch sein konnte, das Relikt war alles, was entscheidend war. Und wenn es darauf ankommen würde, würde sich die Blutkönigin ohne Zweifel für den Stern entscheiden. Irgendwie traurig.

Nach einer für meinen Geschmack viel zu kurzen Zeit begann sie ihren Monolog, von dem jedes Wort eins zu viel war. »Wie du vielleicht schon herausgefunden hast, habe ich viele Namen. Die Blutkönigin, die Rabenkönigin, ja, so fing alles an.« Sie schwelgte für einen kurzen Augenblick in Erinnerungen. Ein paar Raben flogen wie aufs Stichwort vor dem Fenster herum und krähten unangenehm. »Jetzt, wo du weißt, wer ich bin«, Henrys Mum, »kannst du mich aber gerne Lilith nennen.« Ihre Mundwinkel hoben sich, meine senkten sich. »Oder Blutkönigin natürlich. Rabenkönigin wird mir allerdings nicht gerecht, also bitte vermeide diesen Namen, wenn es geht.«

Ein trockenes Auflachen blieb mir in meiner Kehle stecken. Sie war unglaublich.

Lilith. Ihr Name passte zu ihr. Sie war eine Dämonin, die der Dunkelheit entflohen war und Chaos stiftete. Auf Kosten lebender Seelen.

Sie konnte mir noch so viel erzählen, es interessierte mich nicht. Ich war hier gefangen und solange sich meine Situation nicht änderte, würde ich kein Wort mit ihr wechseln. So sehr sie auch versuchte, freundlich zu sein. Es war eine Fassade, an der nichts echt war.

»Es ist nur fair, denn ich weiß viel über dich.« Sie gluckste, darunter mischte sich diese einzigartige Note Verrücktheit. »Hast du vielleicht eine Frage, die dir auf dem Herzen liegt?«

Sie war komisch. Eindeutig. Das Bedürfnis, mich mit ihr zu unterhalten und diese Situation unnötig in die Länge zu ziehen, hatte ich nicht. Trotzdem fragte ich: »Warum sperrt ihr mich nicht ein? Warum darf ich hier mit euch essen? Warum foltert ihr mich nicht wie Lucien?« Henry zuckte zusammen. »Warum bin ich nicht in Ketten gelegt?«

»Weil das nicht notwendig ist«, antwortete sie mir ruhig, fast schon unbeteiligt und unschuldig.

Okay, das hätte ich mir denken müssen.

Schließlich konnte ich nicht fliehen. Und der Circle sah mich eindeutig nicht als Bedrohung an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit endete das Frühstück. Im Nachhinein war es mir um einiges lieber, allein zu essen. Die Schwere, die auf meinen Schultern lastete, war nicht einen Augenblick abgeklungen. Diese Steifheit war kein Vergleich zu der Unbeschwertheit, die ich bei meinen Freunden verspürte. Die ich bei Henry verspürt hatte. Nur war er nun nichts weiter als ein Geist, der unter uns wandelte. Tatsächlich anwesend war er körperlich, geistig schien er kilometerweit weg zu sein.

»Kann ich jetzt gehen?«

Die liebenswürdige Miene der Blutkönigin wankte kurz. Ihr Kiefer mahlte, bevor sie die roten Lippen öffnete. »Wie ich schon gesagt habe: Du kannst dich jederzeit frei bewegen.«

Ich nickte, erhob mich und entfernte mich von den beiden. Mit jedem Schritt strömte mehr Luft in meine Lunge. Die Anspannung, von der ich nicht gewusst hatte, dass sie mich eingehüllt hatte, fiel von mir ab.

Kaum war ich bei der Tür angekommen, rief Lilith mir hinterher: »Das wir dir nichts tun, Scarlett, heißt nicht, dass diese Güte von Dauer ist.«

Da war sie wieder.

Die alte Blutkönigin.

Das Monster.

 

Kapitel 3

 

Scarlett

 

Du kannst dich jederzeit frei bewegen.

Ich wollte es nicht glauben, mich dagegen sträuben und als Gefangene sehen, weil das deutlich einleuchtender war. Doch die Blutkönigin, Lilith, behielt recht.

Nachdem ich sie mit Henry an der Frühstückstafel zurückgelassen hatte, war ich allein zu meinem Zimmer zurückgelaufen. Der Weg war nicht sonderlich kompliziert gewesen. Kein Anhänger war mir gefolgt oder hatte mich begleitet. Es war fremd, im Quartier des Ghost Circles, der für so viele grausame Taten verantwortlich war, zu wohnen.

Anschläge, Morde, Folter. Monster von Elementarmagiern wandelten in diesem Landsitz. In dieser überaus schönen Anlage samt Grünfläche aus vergangenen Epochen. Die Einrichtung wirkte so unantastbar, dass es suspekt war, im angrenzenden Berg Folterkammern vorzufinden. Der Gedanke genügte, um mir eine Gänsehaut zu bereiten.

Einerseits wollte ich dem Circle entkommen, andererseits war es ein befremdliches Gefühl, wenn ich mir die Flure und Zimmer genauer ansah. Genau genommen war ich ein Eindringling, der nur willkommen war, wenn ich dem Circle den Stern lieferte. Und da ich das nicht konnte, würde ich bald eine andere Seite dieses Bundes kennenlernen. Die, die Lucien auch gesehen hatte.

Ob die Blutkönigin mich auch in Zukunft als Gast sah, darüber konnte ich nur spekulieren. Jedenfalls sprach alles dafür, dass es nicht so sein würde. Ich würde die Silberne Maske enttäuschen. Was mir irgendwie Freude bereitete, aber auch Kummer. Meine Freunde waren zwar in Sicherheit – zumindest nahm ich das an –, doch der Circle würde sie, ohne mit der Wimper zu zucken, entführen, um mich mit ihren Leben zu erpressen. Sie foltern.

Denk an etwas anderes!

Ich würde so gerne wissen, wer sich hinter der Maske verbarg. Wobei ich mich fragte, wo sich diese Person aufhielt. War die Maske sich zu schade, sich mit seiner Vertreterin abzugeben? Immerhin hatte die Blutkönigin ihre Identität selbst gelüftet. Sie hatte kein Geheimnis daraus gemacht, wer sie war. Und obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte, bewunderte ich sie dafür. Mit ihrem einschüchternden Decknamen war sie unter den Elementarmagiern landesweit bekannt. Dass sie dieses Selbstvertrauen hatte, sich ihren Feinden gegenüber auch als Lilith Raymon zu behaupten, war auf eine eigenartige Art und Weise beeindruckend. Hatte sie überhaupt Familie außer Henry? Kaum vorstellbar.

Und warum interessierte mich das eigentlich?

Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass so jemand Empfindungen verspürte.

Auf jeden Fall war ich so in meine Gedanken verflossen, dass ich die Umgebung um mich herum nicht mal mehr wahrgenommen hatte. So schrecklich es auch war, bei dem Circle festzusitzen, die Aussicht aus Henrys Zimmer war atemberaubend. So sehr, dass ich das aktuelle Gedicht in dem Notizbuch vor mir glatt vergaß. Und selbst das Klopfen an der Tür bemerkte ich nicht.

Zumindest nicht sofort. Erst beim wiederholten Mal lehnte ich mich in dem Sessel vor und blickte über die Lehne zur Tür.

Ein Herein erschien mir unnötig. Als würde sich irgendein Anhänger an Manieren halten. Sicherlich nicht.

Fast schon rechnete ich damit, die Blutkönigin selbst würde mich besuchen kommen, doch es kam besser. Zögerlich öffnete Henry die Tür und steckte seinen braunen Lockenschopf durch den Spalt. Wir hatten einander nichts zu sagen, weshalb ich mich wieder in meinen Sessel fallen ließ. Die Stille des Raumes lastete schwerer denn je auf meinen Schultern. Ich bemerkte jeden von Henrys Schritten auf dem dicken Teppich. Er versuchte so langsam und behutsam wie möglich zu mir zu kommen. Mit aller Willensstärke stierte ich durch das Fensterglas und blickte auf die Weiten der Grünanlage hinunter. Obwohl ich es mir nicht erklären konnte, begannen meine Hände zu schwitzen. Unweigerlich überlegte ich, wie ich mich in Henrys Gegenwart verhalten sollte.

Ein Räuspern erklang.