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Als junger, abenteuerlustiger Business-School-Absolvent auf der Suche nach einer Herausforderung lieh Phil Knight sich von seinem Vater 50 Dollar und gründete eine Firma mit einer klaren Mission: qualitativ hochwertige, aber preiswerte Laufschuhe aus Japan importieren. In jenem ersten Jahr, 1963, verkaufte Knight Laufschuhe aus dem Kofferraum seines Plymouth Valiant heraus und erzielte einen Umsatz von 8000 Dollar. Heute liegen die Jahresumsätze von Nike bei über 30 Milliarden Dollar. In unserem Zeitalter der Start-ups hat sich Knights Firma Nike als Maßstab aller Dinge etabliert und sein "Swoosh" ist längst mehr als nur ein Logo. Es ist ein Symbol von Geschmeidigkeit und Größe, eines der wenigen Icons, die in jedem Winkel unseres Erdballs sofort wiedererkannt werden. Aber Knight selbst, der Mann hinter dem Swoosh, ist immer ein Geheimnis geblieben. Jetzt erzählt er endlich seine Geschichte. Seine Memoiren sind überraschend, bescheiden, ungeschönt, humorvoll und handwerklich meisterhaft. Den Anfang markiert eine klassische Situation am Scheideweg. Der 24-jährige Knight bereist als Rucksacktourist Asien, Europa und Afrika, ihn bewegen die ganz großen philosophischen Fragen des Lebens. Und er entscheidet sich für einen unkonventionellen Lebensweg. Anstatt für ein großes etabliertes Unternehmen zu arbeiten, beschließt er, etwas ganz Eigenes zu schaffen – etwas, das neu, dynamisch und anders ist. En détail beschreibt Knight die vielen unberechenbaren Risiken, mit denen er sich auf seinem Weg konfrontiert sah, die niederschmetternden Rückschläge, die skrupellosen Konkurrenten, die zahllosen Zweifler und Widersacher, die abweisenden Banker, die etlichen Male, wo er knapp einer Katastrophe entging, ebenso wie seine vielen triumphalen Erfolge. Vor allem aber ruft er Erinnerungen wach an die prägenden Freundschaften, die Nikes Wesen ausmachen, wie etwa das Verhältnis zu seinem ehemaligen Lauftrainer, dem aufbrausenden und charismatischen Bill Bowerman, oder zu seinen ersten Angestellten, einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Aussteigern und Inselbegabten, aus denen sich innerhalb kürzester Zeit eine unerschütterliche, dem Swoosh verschworene Bruderschaft formierte. Gemeinsam bündelten sie ihre Kraft, angetrieben von einer mutigen Vision und dem gemeinsamen Glauben an die erlösende, Grenzen überschreitende Macht des Sports, und schufen eine Marke und eine Kultur, die vollkommen neue Maßstäbe setzte.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar.
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12. Auflage 2023
© 2016 by FinanzBuch Verlag,
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89 80799 München Tel.: 089 651285-0
Copyright © 2016 by Phil Knight
DieOriginalausgabeerschien2016beiSCRIBNERNewYork,London,Toronto,Sydney,NewDelhi,einemImprintvonSimon&Schuster,Inc.unterdemTitel»ShoeDog«. Manche Namen wurden geändert.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Lizzie & Thomas Gilbert
Redaktion: Werner Wahls, Judith Engst
Korrektorat: Sonja Rose
Umschlaggestaltung: Simon & Schuster, Inc./Isabella Dorsch, München; »Swoosh« mit freundlicher Genehmigung von NIKE
Satz: inpunkt[w]o, Haiger
ISBN Print 978-3-89879-992-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86248-927-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86248-928-2
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.deBitte beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.deInhalt
Morgendämmerung
TEIL EINS
1962
1963
1964
1965
1966
1967
1968
1969
1970
1971
1972
1973
1974
1975
TEIL ZWEI
1975
1976
1977
1978
1979
1980
Nacht
Danksagung
For my grandchildren,
so they will know
In the beginner’s mind there are many possibilities, but in the expert’s mind there are few.
—Sunryu Suzuki, Zen Mind, Beginner’s Mind
Ich war schon vor den anderen auf, vor den Vögeln, vor der Sonne. Ich trank einen Kaffee, schlang ein Stück Toast herunter, zog meine Shorts und mein Sweatshirt an, und schnürte mir meine grünen Laufschuhe. Dann schlüpfte ich leise durch die Hintertür.
Ich dehnte meine Beine, meine Oberschenkel, meinen Rücken, und ich stöhnte, als ich widerwillig die ersten Schritte machte, auf der kalten Straße in den Nebel hinein. Warum ist es immer so schwer, in die Gänge zu kommen?
Es fuhren keine Autos, kein Mensch war zu sehen, auch sonst gab es kein Lebenszeichen. Ich war ganz allein, hatte die Welt ganz für mich – obwohl die Bäume mich kurioserweise wahrzunehmen schienen. Gewiss, dies hier war Oregon. Die Bäume schienen hier immer alles zu wissen. Die Bäume hielten einem immer den Rücken frei.
Aus welch einem wunderschönen Ort ich doch stammte, dachte ich bei mir, als ich mich umschaute. Ruhig, grün, beschaulich – ich war stolz darauf, dass Oregon meine Heimat war, stolz auch auf das kleine Portland als meine Geburtsstadt. Aber etwas bekümmerte mich: Oregon mochte schön sein, aber nicht wenigen Menschen schien dies ein Ort, an dem nie etwas Außergewöhnliches passiert war, geschweige denn passieren würde. Wenn wir Menschen aus Oregon für irgendetwas berühmt waren, dann für einen uralten Trail, auf dem die ersten Siedler hierher gefunden hatten. Seitdem war Ruhe eingekehrt.
Der beste Lehrer, den ich je hatte, einer der prächtigsten Menschen, dem ich jemals begegnet war, sprach oft von diesem Trail. »Das ist unser Geburtsrecht«, brummte er, »unser Charakter, unser Schicksal – unsere DNA. Wer sich nicht traute, brach erst gar nicht auf. Die Schwachen starben unterwegs – und wir blieben übrig.«
Wir. Irgendeine seltene Form von Pioniergeist war auf diesem Trail entstanden, glaubte mein Lehrer, ein übergroßes Gespür für all das, was möglich war, gepaart mit einer gewissen Unfähigkeit, Pessimismus zu entwickeln – es sei unsere Aufgabe als Einheimische, diesen Geist aufrechtzuhalten.
Ich nickte, zollte ihm so meine Hochachtung, denn ich liebte diesen Kerl. Aber als ich fortging, dachte ich bei mir: Gott, das ist doch nur ein Feldweg.
An jenem nebligen Morgen, einem folgenschweren Morgen im Jahr 1962, hatte ich gerade meinen eigenen Trail freigeschlagen – zurück nach Hause, nach sieben langen Jahren der Abwesenheit. Es war komisch, wieder zu Hause zu sein, komisch, wieder dem täglichen Regen ausgesetzt zu sein. Noch merkwürdiger war es, wieder bei den Eltern und mit den Zwillingsschwestern zu leben und wieder in dem Bett meiner Kindheit zu schlafen. Spät nachts lag ich wach auf dem Rücken, starrte auf meine College-Lehrbücher, auf die Highschool-Trophäen und blauen Siegerschleifen. Bin ich das? Immernoch?
Ich lief jetzt schneller die Straße runter. Mein Atem formte rundliche, frostige Wölkchen, die sich im Nebel verflüchtigten. Ich genoss dieses erste körperliche Erwachen, diesen wunderbaren Moment, in dem der Verstand noch nicht ganz klar ist, wenn die Muskeln und Sehnen langsam locker werden und der Körper geschmeidig wird. Alles kam in Fluss.
Schneller, sagte ich mir. Schneller.
Theoretisch, so überlegte ich mir, bin ich ein Erwachsener. Mit einem Abschluss an einem guten College – der Universität von Oregon. Mit einem Master in Wirtschaftswissenschaften an einer der besten Hochschulen – Stanford. Mit einem Jahr in der US-Armee hinter mir – Fort Lewis und Fort Eustis. In meinem Lebenslauf hieß es, ich sei ein gut ausgebildeter, versierter Soldat, ein 24-jähriger gestandener Mann ... Warum in aller Welt fühlte ich mich noch immer wie ein Kind?
Schlimmer noch: als wäre ich immer noch derselbe scheue, blasse, spindeldürre Junge von damals.
Vielleicht, weil ich noch immer nichts Besonderes im Leben erlebt hatte – nichts Aufregendes, nichts Verführerisches. Ich hatte noch keine Zigarette geraucht, keine Drogen ausprobiert. Ich hatte keine Regel gebrochen, geschweige denn ein Gesetz. Die 1960er waren im vollen Gang, das Zeitalter der Rebellion. Und ich war die einzige Person in Amerika, die noch immer nicht rebelliert hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals aus der Reihe getanzt zu sein oder etwas Unerwartetes gemacht zu haben.
Ich war noch nicht einmal mit einem Mädchen zusammen gewesen.
Warum mir nur in den Sinn kam, was ich alles nicht war, lag auf der Hand. Damit kannte ich mich nun mal aus. Dagegen fand ich es schwierig zu sagen, wer oder was ich genau war oder sein wollte. Wie alle meine Freunde wollte ich erfolgreich sein. Aber im Gegensatz zu meinen Freunden wusste ich nicht so recht, was das bedeuten sollte. Geld? Vielleicht. Eine Frau? Kinder? Ein Haus? Sicherlich, wenn ich Glück hatte. Das waren Ziele, so hatte man mich gelehrt, die man anstreben sollte, und instinktiv strebte ein Teil von mir danach. Aber tief in mir suchte ich nach etwas anderem, nach etwas Bedeutenderem. Ich hatte dieses schmerzhafte Gefühl, dass unsere Zeit hienieden nur von kurzer Dauer ist, viel kürzer, als man annahm, so kurz wie ein Dauerlauf am Morgen, und ich wollte, dass meine Zeit sinnvoll wäre. Zielbewusst. Kreativ. Bedeutsam. Und vor allem ... anders.
Ich wollte auf dieser Welt Spuren hinterlassen.
Ich wollte gewinnen.
Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich wollte einfach nicht verlieren.
Und dann passierte es. Während mein junges Herz pochte, sich meine Lungen öffneten wie die Flügel eines Vogels und die Bäume sich in ein grünes Meer verwandelten, sah ich genau vor mir, was ich in meinem Leben machen wollte. Spielen.
Ja, dachte ich, das ist es. Das ist genau das richtige Wort. Der Schlüssel zum Glück. Ich hatte immer vermutet, dass die Essenz von Schönheit oder Wahrheit respektive alles, was wir von beidem wissen müssen, irgendwo in dem Moment verborgen ist, in dem der Ball mitten in der Luft schwebt, in dem beide Boxer das Ende der Runde spüren oder in dem sich die Läufer der Ziellinie nähern und alle Zuschauer sich erheben. Es gibt diese Art von Klarheit, wenn im Bruchteil einer Sekunde über Sieg oder Niederlage entschieden wird. Das – was auch immer das war – wollte ich zu meinem Lebensinhalt machen, Tag für Tag.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte ich mir vorgestellt, ein bedeutender Schriftsteller, Journalist oder Politiker zu werden. Aber der größte Traum war immer geblieben, ein großer Sportler zu werden. Leider hatte mich das Schicksal zwar gut werden lassen, aber eben nicht gut genug. Mit 24 Jahren hatte ich mich damit abgefunden. Ich war an der Universität von Oregon Langstrecke gelaufen und hatte mich gut geschlagen, immerhin war ich in drei von vier Jahren im Auswahlteam. Aber das war es dann auch. Während ich nun alle sechs Minuten eine Meile abhakte und die Sonnenstrahlen durch die Kiefern brachen, fragte ich mich: Gibt es nicht einen Weg, sich so zu fühlen wie ein Spitzensportler, ohne einer zu sein? Die ganze Zeit zu spielen statt zu arbeiten? Sozusagen das Arbeiten so zu genießen, dass es im Grunde dasselbe wäre?
Die Welt litt unter Krieg, Schmerz und Armut, die tägliche Plackerei war strapaziös und nicht selten ungerecht, vielleicht war die einzige mögliche Antwort darauf, so dachte ich, einen großen Traum zu finden, der all das wert ist, der Spaß macht, der richtig gut zu mir passt, den ich mit der bedingungslosen Hingabe eines Sportlers verfolgen konnte. Wie man es dreht und wendet: Das Leben ist ein Spiel. Wer das nicht einsieht, wer einfach nicht an dem Spiel teilnehmen will, wird an den Rand gedrängt. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte auf keinen Fall am Rand stehen müssen.
Womit wir, wie immer, bei meiner »Verrückten Idee« angelangt waren. Vielleicht, dachte ich, vielleicht sollte ich meine Verrückte Idee doch noch einmal in Betracht ziehen. Vielleicht würde meine Verrückte Idee ja ... funktionieren?
Vielleicht.
Nein, nein, dachte ich, und rannte immer schneller und schneller, als ob ich jemanden verfolgen und gleichzeitig verfolgt würde. Es wird funktionieren. Bei Gott, dafür werde ich schon sorgen. Ohne Wenn und Aber.
Plötzlich musste ich lächeln. Beinahe laut auflachen. Schweißgebadet wie ich war, lief ich doch leichtfüßig und mühelos wie immer und sah meine Verrückte Idee förmlich vor mir, wie sie leuchtete, mich lockte und gar nicht mehr so verrückt schien. Sie schien noch nicht einmal mehr eine Idee zu sein, sondern sah eher nach einem Ort aus, nach einer Person, nach etwas Lebendigem, das schon vor mir existiert hatte, unabhängig von mir, aber zugleich Teil war meiner selbst. Das mag ein wenig abgedreht klingen, ein wenig verrückt. Aber genau so empfand ich es damals.
Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht macht meine Erinnerung dieses Aha-Erlebnis größer als es war oder verdichtet verschiedene solcher Momente zu einem. Vielleicht war dieser Moment auch nur ein Runner’s High. Ich weiß es nicht und kann es nicht mehr sagen. Vieles aus jenen Tagen und Monaten, aus denen langsam Jahre wurden, ist ebenso verschwunden wie die frostigen Atemwölkchen. Gesichter, Zahlen und Entscheidungen, von denen man meinte, sie auf ewig und unabänderlich parat zu haben, sind ebenfalls fort.
Was übrig bleibt, ist dieses tröstliche Stück Gewissheit, diese tief verwurzelte Wahrheit, die nie verschwindet. Mit 24 hatte ich diese Verrückte Idee, und unabhängig von Selbstzweifeln, der Existenz- und Zukunftsangst, die jede Frau und jeden Mann in seinen Mittzwanzigern beschleicht, beschloss ich, dass die Welt aus verrückten Ideen besteht. Die Geschichte ist eine endlose Folge von verrückten Ideen. Die Dinge, die ich am meisten liebte – Bücher, Sport, freie Marktwirtschaft –, begannen als verrückte Ideen.
Allerdings gibt es wenige Ideen, die so verrückt sind wie meine Lieblingsbeschäftigung: das Laufen. Es ist hart. Es ist schmerzhaft. Es ist riskant. Der Lohn ist gering und noch nicht einmal garantiert. Wenn du Bahnen läufst oder nur die Straße runter, hast du kein richtiges Ziel. Zumindest keines, das den Aufwand wirklich rechtfertigt. Das Laufen als solches wird zum Ziel. Es gibt nicht nur keine richtige Ziellinie, sondern du selbst legst sie fest. Welchen Genuss oder Gewinn du auch immer aus dem Laufen ziehst, musst du für dich selbst herausfinden. Es hängt davon ab, wie du es selbst gestaltest, wie du es dir am besten verkaufst.
Jeder Läufer weiß das. Du läufst und läufst, Meile um Meile, und du weißt nie wirklich warum. Du sagst dir selbst, du läufst auf ein Ziel zu, jagst dem Kick hinterher, aber in Wirklichkeit läufst du, weil die Alternative, das Stehenbleiben, dir Angst bereitet.
An jenem Morgen im Jahre 1962 sagte ich mir also: Sollen doch alle anderen die Idee für verrückt halten ... ich mache einfach weiter. Ich höre nicht auf. Ich denke noch nicht einmal daran aufzuhören, bis ich ankomme, und verschwende keinen Gedanken darauf, wo das Ziel ist. Was immer kommen mag, ich höre nicht auf.
Das war der frühreife, vorausahnende und dringende Ratschlag, den ich mir aus heiterem Himmel gegeben habe und den ich irgendwie anzunehmen verstand. Ein halbes Jahrhundert später glaubte ich, dass es der beste Ratschlag ist – vielleicht der einzige Ratschlag –, den man überhaupt jemals geben sollte.
Now, here, you see, it takes all the running you can do,
to keep in the same place. If you want to get somewhere
else, you must run at least twice as fast as that.
—Lewis Carroll, Through the Looking-Glass
Als ich endlich den Mut fand, meinen Vater auf meine Idee anzusprechen, stellte ich sicher, dass es früher Abend war. Das war bei meinem Dad immer die beste Zeit. Da saß er meist entspannt, gesättigt und zufrieden auf seinem Kunstledersessel in der Fernsehecke. Ich kann noch heute, wenn ich die Augen schließe, das Publikum lachen hören und die blechernen Titelsongs seiner Lieblingsserien Wagon Train und Tausend Meilen Staub.
Seine liebste Show war die von Red Buttons. Jede Folge begann mit dem singenden Red: Ho ho,hee hee ... strange things are happening.
Ich stellte einen Stuhl neben seinen Sessel, lächelte matt und wartete die nächste Werbeunterbrechung ab. In meinem Kopf hatte ich die Partie immer wieder durchgespielt, besonders den ersten Zug. Also, Dad,erinnerst du dich an die Verrückte Idee, die ich inStanford hatte ...?
Es war einer meiner letzten Kurse, ein Seminar über Unternehmertum. Ich hatte für ein Referat Nachforschungen über Schuhe angestellt und das Referat hatte sich von einer Allerweltsaufgabe zu einer wahren Obsession ausgewachsen. Als Läufer wusste ich einiges über Laufschuhe. Von meinem Interesse für die Wirtschaft wusste ich, dass es japanischen Kameraherstellern gelungen war, große Teile eines Markts zu erobern, der zuvor von Deutschen beherrscht worden war. Das, so argumentierte ich in meinem Referat, könnte mit japanischen Laufschuhen ebenfalls gelingen. Die Idee fand ich zunächst interessant, sie inspirierte mich zunehmend und schließlich war ich von ihr besessen. Das schien doch so einleuchtend, so simpel und von enormem Potenzial.
Ich arbeitete wochenlang an dem Referat, zog quasi in die Bibliothek ein und verschlang alles, was ich über Import und Export sowie über Geschäftsgründungen finden konnte. Schließlich hielt ich, wie dies erforderlich war, mein Referat vor meinen Kommilitonen, die mit ungespielter Langeweile reagierten. Nicht ein Einziger stellte eine Frage. Auf meine Leidenschaft und Hingabe antworteten sie mit schwerfälligem Stöhnen und leeren Blicken.
Der Professor fand meine Verrückte Idee ausgezeichnet und gab mir die Bestnote. Aber damit hörte es schon auf. Zumindest hätte es an diesem Punkt aufhören sollen. Doch ich dachte immer weiter über mein Referat nach. Während meiner restlichen Zeit in Stanford, bei jedem Lauf am frühen Morgen bis genau zu jenem Moment in der Fernsehecke sinnierte ich darüber, nach Japan zu gehen, dort eine Schuhfabrik zu finden und ihnen meine Verrückte Idee zu verkaufen. Ich hoffte, dass sie größeren Enthusiasmus zeigen würden als meine Kameraden, und dass sie mit dem schüchternen, blassen, spindeldürren Jungen aus dem verschlafenen Oregon eine Partnerschaft eingehen würden.
Ich hatte auch mit dem Gedanken gespielt, während meiner Reise nach Japan ein paar exotische Abstecher zu machen. Wie sollte ich auf dieser Welt Spuren hinterlassen, dachte ich, wenn ich mich nicht in sie hineinbegeben und sie gesehen hätte? Bevor man ein großes Rennen startet, will man doch die Strecke abgegangen sein. Eine Reise mit dem Rucksack rund um die Welt schien mir genau das Richtige, überlegte ich. Niemand sprach damals über Wunschlisten für Lebensträume, aber genau das schwebte mir in etwa vor. Bevor ich sterben würde oder zu alt und zu sehr mit Alltagsdingen beschäftigt sein würde, wollte ich die schönsten und wundersamsten Orte dieses Planeten besuchen.
Und seine heiligsten. Natürlich wollte ich auch anderes Essen probieren, andere Sprachen hören und in andere Kulturen eintauchen, aber wonach ich mich wirklich sehnte, war eine Verbindung von tieferer Bedeutung. Ich wollte meine Erfahrungen machen mit dem, was die Chinesen Tao nennen, die Griechen Logos, die Hindus Jnana, die Buddhisten Dharma. Was für die Christen der Heilige Geist ist. Bevor ich zu meiner eigenen persönlichen Lebensreise aufbreche, so dachte ich, will ich zunächst die größere Reise der Menschheit verstehen. Lass mich die beeindruckendsten Tempel, Kirchen und Schreine entdecken, die heiligsten Flüsse und Berggipfel. Lass sie mich spüren, die Anwesenheit von ... Gott?
Ja, sagte ich mir, ja. Es gibt wohl kein besseres Wort.
Aber zunächst brauchte ich die Zustimmung meines Vaters.
Mehr noch, ich brauchte sein Geld.
Ich hatte im Jahr zuvor schon einmal eine große Reise erwähnt und mein Vater schien dafür ganz offen zu sein. Aber wahrscheinlich hatte er es vergessen. Und nun trieb ich es sicherlich zu weit, als ich zu meinem ursprünglichen Vorhaben nun noch die Verrückte Idee hinzufügte, diesen unverschämten Abstecher nach – Japan? Um eine Firma zu gründen? Lass uns doch gleich das Geld zum Fenster hinauswerfen.
Dies ging ihm bestimmt einen Schritt zu weit.
Einen verdammt teuren Schritt. Ich hatte noch Ersparnisse von der Armee und diversen Gelegenheitsjobs aus den vergangenen Sommern. Zudem plante ich, mein Auto zu verkaufen, einen kirschroten 1960er MG Twin Cam mit Rennreifen (dasselbe Auto, das Elvis in BlauesHawaii fährt). Alles zusammengerechnet kam ich auf 1500 Dollar, ein Tausender zu wenig, wie ich nun meinem Vater beichtete. Er nickte, brummte und schaute kurz vom Fernseher zu mir auf und wieder zurück, während ich alles vor ihm ausbreitete.
»Erinnerst du dich an unsere Unterhaltung, Dad? Als ich dir erzählt habe, dass ich um die Welt reisen will? Der Himalaja? Die Pyramiden? Das Tote Meer, Dad? Das Tote Meer? Nun, ich habe mir überlegt, auch einen Abstecher nach Japan zu machen, Dad. Erinnerst du dich an meine Verrückte Idee? Japanische Laufschuhe? Das könnte richtig groß werden, Dad. Richtig groß.«
Ich trug nun richtig dick auf und versuchte, geschickt und überzeugend zu argumentieren, obwohl ich das Verkaufen immer gehasst hatte und dieser Verkauf nicht die geringste Chance hatte. Mein Vater hatte erst kürzlich Hunderte von Dollar für die Universität von Oregon hingeblättert und dazu noch Tausende für Stanford. Er war der Verleger des OregonJournal, ein solider Beruf, der ihm alle Grundbedürfnisse finanzierte, inklusive unseres geräumigen weißen Hauses in der Claybourne Street in Portlands ruhigstem Vorort, Eastmoreland. Aber der Mann bestand nicht nur aus Geld.
Außerdem schrieben wir das Jahr 1962. Die Erde erschien uns damals noch größer, auch wenn Menschen begonnen hatten, den Orbit der Erde in Raumkapseln zu umkreisen. 90 Prozent der Amerikaner hatten noch nie ein Flugzeug bestiegen. Die meisten Männer und Frauen waren nie viel weiter als hundert Meilen von zu Hause weg gekommen, sodass die bloße Erwähnung einer Weltreise mit dem Flugzeug wohl jeden Vater nervös machen würde, besonders meinen, dessen Vorgänger bei der Zeitung bei einem Flugzeugabsturz umgekommen war.
Abgesehen von Geld und Sicherheitsbedenken war die ganze Sache auch unrealistisch. Mir war bewusst, dass 26 von 27 neu gegründeten Firmen scheiterten, und meinem Vater war das auch klar, und die Vorstellung, ein so kolossales Risiko einzugehen, widersprach all seinen Überzeugungen. In vielerlei Hinsicht war er ein konservativer Anglikaner, ein gläubiger Christ. Aber er verehrte heimlich noch eine andere Gottheit – Seriosität. Ein Haus im Kolonialstil, eine schöne Frau, gehorsame Kinder, all das genoss mein Vater sehr. Aber was er noch mehr genoss, war, dass seine Freunde und Nachbarn wussten, dass er all das besaß. Er liebte es, bewundert zu werden. Es verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht von seiner besten Seite zeigte. Daher würde er wohl wenig Sinn darin sehen, nur aus Spaß um die Welt zu reisen. So etwas machte man einfach nicht. Sicherlich nicht als seriöser Sohn eines seriösen Vaters. Das konnten die Kinder von anderen Leuten machen. Beatniks und Hipster machten so etwas.
Der eigentliche Grund für seine Fixierung auf Seriosität war vielleicht seine Angst vor dem eigenen inneren Chaos. Ich fühlte dies instinktiv, denn ab und zu brach dieses Chaos aus. Ohne Vorwarnung klingelte dann nachts das Telefon in der Vorhalle, und wenn ich dran ging, war dort immer dieselbe raue Stimme in der Leitung: »Hol ma’ deinen alten Herrn ab.«
Ich zog meine Regenjacke an – es schien in diesen Nächten immer zu nieseln – und fuhr in die Stadt zum Club meines Vaters. So deutlich wie ich mich an mein Zimmer erinnere, erinnere ich mich auch an den Club. Ein Jahrhundert alt, mit bis zu den Decken reichenden Bücherschränken aus Eiche und mit Ohrensesseln, sah er aus wie das Herrenzimmer eines englischen Landhauses. Mit anderen Worten: äußerst seriös.
Ich fand meinen Vater immer am selben Tisch, im selben Stuhl. Ich half ihm stets sanft auf die Füße. »Geht es dir gut, Dad?« »Natürlich geht es mir gut.« Ich führte ihn nach draußen zum Auto, und auf dem Weg nach Hause taten wir immer so, als wäre nichts. Er saß ganz gerade, fast majestätisch, und wir redeten über Sport, denn über Sport zu reden, lenkte mich ab und beruhigte mich, wenn ich gestresst war.
Mein Vater liebte Sport ebenfalls, Sport war für ihn etwas Seriöses.
Aus diesem und einem Dutzend anderer Gründe erwartete ich, dass mein Vater in seiner Fernsehecke meinem Ansinnen mit hochgezogenen Brauen und einer schnellen Abfuhr begegnen würde. »Ha, Verrückte Idee. Du sagst es, Buck.« (Mein eigentlicher Name war Philip, aber mein Vater nannte mich Buck. Er nannte mich sogar schon vor meiner Geburt Buck. Meine Mutter hat mir erzählt, wie er oftmals ihren Bauch getätschelt und gefragt habe, wie es denn dem kleinen Buck gehe.) Als ich jedoch nichts mehr sagte und nicht weiter insistierte, richtete mein Vater sich aus seinem Sessel auf und warf mir einen verschmitzten Blick zu. Er sagte, er habe es stets bereut, dass er in jungen Jahren nicht mehr gereist sei. Er sagte, so eine Reise wäre vielleicht der perfekte letzte Schliff für meine Ausbildung. Er sagte viele solcher Dinge, wobei sie sich alle mehr auf die Reise als auf die Verrückte Idee bezogen, aber ich wollte ihm nicht ins Wort fallen. Es gab keinen Grund, mich zu beschweren, denn unterm Strich gab er mir seinen Segen. Und sein Geld.
»Okay«, sagte er. »Okay, Buck. Okay.«
Ich dankte meinem Vater und verschwand, bevor er es sich anders überlegen konnte. Erst später wurde mir mit einem leichten Schuldgefühl bewusst, dass die fehlenden Reiseerfahrungen meines Vaters ein unbewusster Grund, vielleicht sogar der eigentliche Grund waren, warum ich weg wollte. Diese Reise, diese verrückte Idee würde es mir ermöglichen, anders zu werden als er. Etwas unseriöser.
Oder vielleicht nicht weniger seriös, weniger von Seriosität besessen.
Der Rest meiner Familie unterstützte mich weniger. Als meine Großmutter von meinen Reiseplänen erfuhr, war sie vor allem von einer Sache entsetzt. »Japan!«, rief sie. »Warum nur, Buck, vor ein paar Jahren wollten die Japsen uns noch umbringen. Erinnerst du dich denn gar nicht mehr? Pearl Harbor! Die Japsen wollten die Welt erobern! Einige wissen noch immer nicht, dass sie verloren haben! Sie warten nur auf eine Gelegenheit! Sie werden dich noch ins Gefängnis werfen, Buck. Sie werden dir die Augäpfel rausreißen. Dafür sind sie bekannt – deine Augäpfel.«
Ich liebte die Mutter meiner Mutter, die wir alle Mom Hatfield nannten. Und ich verstand ihre Angst. Japan war denkbar weit weg von Roseburg, Oregon, dem Dorf, in dem sie geboren worden war und ihr ganzes Leben verbracht hatte. Ich hatte dort etliche Sommer mit ihr und Pop Hatfield verlebt. Fast jeden Abend saßen wir auf der Veranda, hörten zu, wie die Ochsenfrösche mit dem Radio um die Wette quakten, das in den frühen 1940er-Jahren stets Kriegsnachrichten brachte.
Und die waren meistens schlecht.
Die Japaner, so wurde immer wieder erzählt, hatten seit 2600 Jahren keinen Krieg mehr verloren, und es sah nicht danach aus, als würden sie diesen verlieren. Schlacht um Schlacht erlitten wir eine Niederlage nach der anderen. Schließlich, es war 1942, begann Gabriel Heatter vom Mutual Broadcasting System seine abendliche Radioreportage mit einer schrillen Ansage. »Good evening, everyone – there’s goodnews tonight!« Die Amerikaner hatten endlich eine entscheidende Schlacht gewonnen. Kritiker spießten ihn für diese beispiellose Stimmungsmache auf, weil er jegliche journalistische Objektivität hatte missen lassen. Aber der Hass auf Japan war so weit verbreitet, dass er in der Öffentlichkeit wie ein Volksheld gefeiert wurde. Danach begann er alle seine Sendungen mit denselben Worten: »Goodnews tonight!«
In einer meiner frühesten Erinnerungen sitze ich mit Mom und Pop Hatfield auf der Veranda, Pop schält mit seinem Taschenmesser einen Gravenstein-Apfel, reicht mir ein Stück, nimmt dann selbst eins, dann gibt er mir wieder ein Stück und so weiter, bis sich plötzlich das Tempo des Apfelschneidens dramatisch verlangsamt: Heatter kommt. Pst!Seidmalallestill! Ich sehe uns noch alle Apfel kauend und in den Nachthimmel starrend, so sehr von Japan besessen, als könnten jeden Moment japanische Zeros über das Sternenbild von Sirius donnern. Kein Wunder, dass ich wenig später bei meinem ersten Flug fragte: »Dad, werden uns die Japaner abschießen?«
Auch wenn Mom Hatfield dafür sorgte, dass sich mir die Nackenhaare hochstellten, sagte ich ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, alles werde gut. Ich würde ihr sogar einen Kimono mitbringen.
Meine Zwillingsschwestern Jeanne und Joanne, die vier Jahre jünger waren, schien das nicht zu kümmern, wohin ich reiste und was ich tat.
Soweit ich mich erinnere, sagte meine Mutter gar nichts. Sie sagte selten etwas. Aber absolutes Schweigen bedeutete meistens Einverständnis – oder sogar Stolz.
Ich verbrachte Wochen damit, zu lesen, zu planen und meine Reise vorzubereiten. Ich ging immer wieder ausgiebig joggen und grübelte dabei über jedes Detail, während ich den über mir fliegenden Wildgänsen hinterherjagte. Ich hatte irgendwo gelesen, dass die in den V-Formationen hinten fliegenden Gänse den Windschatten nutzen und nur 80 Prozent der Energie brauchen, die Leitvögel benötigen. Jeder Läufer versteht das. Wer vorneweg läuft, muss am härtesten arbeiten und riskiert am meisten.
Lange vor dem Gespräch mit meinem Vater hatte ich bereits beschlossen, dass es gut sein würde, auf meiner Reise einen Begleiter zu haben, und dieser Begleiter sollte Carter sein, mein Kommilitone von der Stanford. Carter war zwar ein Basketballstar am William Jewell College gewesen, war aber keine typische Sportskanone. Er trug eine starke Brille und las viel. Gute Bücher. Es war leicht, sich mit ihm zu unterhalten, und nicht minder leicht, es zu lassen – beides gleich wichtige Eigenschaften für einen Freund. Geradezu essenziell für einen Reisebegleiter.
Aber Carter lachte mir ins Gesicht. Als ich vor ihm die Liste all der Orte ausbreitete, die ich sehen wollte – Hawaii, Tokio, Hongkong, Rangun, Kalkutta, Bombay, Saigon, Kathmandu, Kairo, Istanbul, Athen, Jordanien, Jerusalem, Nairobi, Rom, Paris, Wien, West- und Ost-Berlin, München, London –, legte er den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Betreten schaute ich auf den Boden und wollte mich entschuldigen. Da sagte Carter, der noch immer lachte: »Was für eine famose Idee, Buck!«
Ich blickte auf. Er lachte nicht über mich. Er lachte vor Freude und Entzücken. Er war richtig beeindruckt. Für eine solche Reiseroute braucht man richtig Mumm, sagte er. Er sei auf jeden Fall dabei.
Ein paar Tage später bekam er das Okay seiner Eltern und ein Darlehen von seinem Vater. Carter fackelte nie lange. Bot sich ihm eine Gelegenheit, packte er zu – so war er nun mal. Ich sagte mir, dass ich von so einem Burschen noch viel lernen könnte, während wir die Welt umrundeten.
Wir packten jeder einen Koffer und einen Rucksack. Nur das Nötigste, hatten wir uns gegenseitig versprochen. Ein paar Jeans, ein paar T-Shirts, Laufschuhe, wetterfeste Boots, Sonnenbrillen und ein Paar »suntans« – so nannte man in den 1960ern Khakihosen.
Ich packte auch einen guten Anzug ein. Einen grünen Two-Button von Brooks Brothers. Nur für den Fall, dass meine Verrückte Idee Früchte tragen sollte.
7. September 1962. Carter und ich stiegen in seinen alten zerbeulten Chevy und fuhren in Höchstgeschwindigkeit die I-5 runter, durch das Willamette-Tal, durch die bewaldeten Niederungen von Oregon, was sich anfühlte, als arbeite man sich durch das Wurzelwerk eines Baums. Wir düsten bis zur nach Pinien duftenden Spitze von Kalifornien, über riesige grüne Bergpässe und dann immer weiter runter, bis wir weit nach Mitternacht im nebelverhangenen San Francisco eintrudelten. Wir blieben ein paar Tage bei diversen Freunden, schliefen bei ihnen auf dem Boden und machten uns dann nach Stanford auf, um dort noch einige eingelagerte Sachen von Carter abzuholen. Am Ende hielten wir noch kurz an einem Spirituosenladen und kauften zwei Billigtickets von Standard Airlines nach Honolulu. One-Way für 80 Dollar.
Wir hatten beide das Gefühl, dass wir nur Minuten später die sandige Rollbahn des Flughafens von O‘ahu betraten. Wir drehten uns langsam um, blickten in den Himmel und dachten: Das ist definitiv ein anderer Himmel als daheim.
Eine Reihe wunderschöner Mädchen kam auf uns zu. Sie waren ebenfalls nicht mit den Mädchen daheim zu vergleichen. Mit ihren sanften Augen und der olivfarbenen Haut tänzelten sie barfuß mit ihren beweglichen Hüften und ihren Grasröckchen vor unseren Gesichtern herum. Carter und ich schauten uns gegenseitig an und mussten grinsen.
Wir nahmen ein Taxi nach Waikiki Beach und checkten in einem Motel direkt gegenüber der Straße am Meer ein. In einer einzigen Bewegung ließen wir unsere Taschen fallen und zogen unsere Badehosen an. Nichts wie ins Wasser!
Als meine Füße den Sand berührten, jauchzte ich laut auf und pfefferte meine Sneakers weg. Dann sprintete ich direkt in die Wellen. Ich machte erst Halt, als ich bis zum Hals in der Brandung stand. Dann tauchte ich auf den Grund, kam lachend und prustend wieder hoch und drehte mich auf den Rücken. Am Ende taumelte ich zum Strand zurück und ließ mich in den Sand plumpsen. Dabei lächelte ich die Vögel und die Wolken an – ich muss ausgesehen haben, als wäre ich gerade einer Irrenanstalt entflohen. Carter, der nun neben mir saß, zeigte den gleichen leicht debilen Gesichtsausdruck.
»Wir sollten hier bleiben«, sagte ich. »Wir haben doch keine Eile.«
»Und was ist mit dem Plan, die Welt zu bereisen?«, fragte Carter.
»Pläne ändern sich.«
Carter grinste. »Famose Idee, Buck.«
Also besorgten wir uns einen Job und verkauften Lexika von Haus zu Haus. Nichts Weltbewegendes, aber zum Teufel damit. Wir begannen mit der Arbeit nie vor sieben Uhr abends, was uns reichlich Zeit zum Surfen gab. Plötzlich war nichts wichtiger, als surfen zu lernen. Nach nur ein paar Versuchen konnte ich schon aufrecht auf dem Brett stehen und nach ein paar Wochen war ich gut. Richtig gut.
Jetzt, da wir erwerbstätig waren, gaben wir das Motel auf und mieteten ein Apartment, ein möbliertes Studio mit zwei Betten, einem echten und einem falschen – eine Art aus der Wand zu klappendes Bügelbrett. Carter, der größer und schwerer war, bekam das richtige Bett und ich das Bügelbrett. Mich störte das aber nicht. Tagsüber surften wir und verkauften Lexika, die Nächte verbrachten wir in nahegelegenen Bars – ich hätte auch an einer Luau-Feuerstelle schlafen können. Die Miete betrug 100 Dollar, die wir redlich teilten.
Das Leben war großartig. Das Leben war himmlisch. Mit einer kleinen Ausnahme: Ich konnte keine Lexika verkaufen.
Selbst um mein Leben zu retten, hätte ich keine Lexika verkaufen können. Je älter ich wurde, desto schüchterner war ich, so schien es mir, und mein enormes Unbehagen übertrug sich nicht selten auf Fremde. Daher war es schon grundsätzlich eine Herausforderung, irgendetwas zu verkaufen, aber Lexika, die auf Hawaii so beliebt waren wie Moskitos oder Amerikaner vom Festland, waren die reinste Qual. Ganz gleich, wie geschickt oder nachdrücklich ich die Slogans an den Mann brachte, die man uns bei der kurzen Einweisung eingetrichtert hatte (»Jungs, erzählt den Leuten, dass ihr keine Lexika verkauft, sondern unermessliche Kompendien des menschlichen Wissens ... die Antworten auf die Fragen des Lebens!«), ich bekam immer dieselbe Antwort.
Zisch ab, Junge.
Nicht nur fiel es mir wegen meiner Schüchternheit schwer, Lexika zu verkaufen, aus meinem tiefsten Inneren verachtete ich es geradezu. Ich konnte mit strikter Ablehnung nicht umgehen. Das wusste ich schon von meinem ersten Jahr an der Highschool, als ich aus dem Baseballteam ausgeschlossen worden war. Ein kleiner Rückschlag, wenn man es im Ganzen betrachtet, aber es traf mich schwer. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass nicht jeder auf dieser Welt einen mag oder akzeptiert, dass wir häufig genau in dem Moment abgelehnt werden, wenn wir dazugehören wollen.
Ich werde diesen Tag niemals vergessen. Wie ich meinen Schläger den ganzen Heimweg hinter mir her schleifte und mich dann in meinem Zimmer einigelte. Dort blies ich Trübsal und war zwei Wochen lang stinksauer, bis meine Mutter sich an meine Bettkante setzte und sagte: »Schluss jetzt.«
Sie drängte mich, es mit etwas anderem zu versuchen. »Was denn?«, seufzte ich in mein Kissen.
»Wie wär’s mit Leichtathletik?«, sagte sie.
»Leichtathletik?«
»Du kannst doch schnell rennen, Buck.«
»Meinst du?«, fragte ich und setzte mich auf.
Also versuchte ich es mit Leichtathletik und fand heraus, dass ich ein wirklich guter Läufer war. Und niemand konnte mir das streitig machen.
Jedenfalls gab ich das Verkaufen von Lexika mit all der damit verbundenen und mir vertrauten Ablehnung auf und ging die Stellenanzeigen durch. Schneller als gedacht, wurde ich fündig und sah eine kleine, schwarz umrandete Anzeige. Gesucht:Wertpapierverkäufer. Ich rechnete mir aus, dass ich mit dem Verkauf von Wertpapieren sicherlich mehr Glück haben würde. Schließlich hatte ich einen MBA. Und kurz bevor ich von zu Hause wegging, hatte ich noch ein sehr erfolgversprechendes Vorstellungsgespräch bei Dean Witter gehabt.
Ich stellte einige Nachforschungen an und fand heraus, dass dieser Job zwei Vorteile bot. Erstens handelte es sich um Investors Overseas Services, eine Firma, die von Bernard »Bernie« Cornfeld geleitet wurde, einem der bekanntesten Geschäftsmänner der 1960er. Zweitens befand sich das Büro in der obersten Etage eines wunderschön an der Strandpromenade gelegenen Hochhauses. Sechs Meter breite Fenster mit Blick auf das türkisfarbene Meer. Beide Prämissen sprachen mich an und ließen mich beim Vorstellungsgespräch mein Bestes geben. Nachdem es mir monatelang nicht gelungen war, irgendjemanden zum Kauf eines Lexikons zu überreden, überzeugte ich zumindest das Cornfeld Team, es mit mir zu versuchen.
* * *
Cornfelds außergewöhnlicher Erfolg und der atemberaubende Blick aufs Meer ließen an den meisten Tagen den Umstand vergessen, dass das Büro eigentlich der reinste Hexenkessel war. Cornfeld war berüchtigt dafür, seine Angestellten zu fragen, ob sie wirklich richtig reich werden wollten. Jeden Tag bewiesen ein Dutzend wolfshungriger junger Männer, dass sie dies wirklich wollten. Mit Freude und Hingabe stürzten sie sich bei der Telefonakquise auf die Apparate und kämpften verbissen darum, einen persönlichen Termin zu vereinbaren.
Ich war nicht gerade ein gewandter Redner. Eigentlich gar kein Redner. Aber ich hatte ein paar Telefonnummern und kannte das Produkt, die Dreyfus Fonds. Außerdem sagte ich stets die Wahrheit. Die Leute wussten das zu schätzen. Schnell gelang es mir, ein paar Termine zu vereinbaren und ein paar Verkäufe abzuschließen. Innerhalb einer Woche hatte ich an Kommissionen so viel verdient, dass ich meinen Teil der Miete für ein halbes Jahr im Voraus zahlen konnte und noch genügend Geld für Surfbrettwachs übrig hatte.
Das Gros meines mir frei zur Verfügung stehenden Einkommens floss in die Strandbars. Touristen neigten eher dazu, in den luxuriösen Hotelkomplexen mit zauberhaft klingenden Namen wie Moana oder Halekulani abzuhängen, aber Carter und ich bevorzugten kleine Clubs. Wir trafen uns dort mit den anderen Sonnenanbetern und Surfern, mit Herumtreibern und Aussteigern, und wir alle fühlten uns den anderen überlegen. Vor allem geografisch. Die armen Schweine zu Hause, sagten wir. Diese armen Trottel, die sich durch den öden Alltag schleppen müssen, eingemummt gegen Kälte und Regen. Warum können sie nicht wie wir sein und ihre Zeit besser nutzen?
Unser Gefühl, dass wir die Zeit besser nutzten, wurde noch durch die Tatsache aufgewertet, dass es mit der Welt zu Ende ging. Die nukleare Bedrohung durch die Sowjets hatte sich über Wochen zu einer ausweglosen Situation hochgeschaukelt. Die Sowjets hatten drei Dutzend Raketen auf Kuba stationiert, die Vereinigten Staaten wollten, dass diese umgehend abgezogen würden und beide Seiten hatten ihr letztes Angebot gemacht. Die Verhandlungen waren gescheitert – der 3. Weltkrieg musste jede Minute beginnen. Den Zeitungen zufolge würde noch heute die erste Rakete vom Himmel fallen. Spätestens morgen. Die Welt hatte sich in Pompeji verwandelt und der Vulkan spie bereits Asche. Na denn, wenn dies das Ende der Menschheit ist, so waren sich alle in der Strandbar einig, kann man ebenso gut von hier aus den Atompilz beobachten. Aloha, Zivilisation.
Und dann die große Überraschung: Die Welt wurde verschont. Die Krise ging vorüber. Der Himmel schien vor Erleichterung zu seufzen, als die Luft plötzlich wieder rein und klar war. Es folgte ein perfekter hawaiianischer Herbst. Tage voller Zufriedenheit, fast schon das reine Glück.
Doch mit einem Mal verspürte ich eine innere Unruhe. Eines Abends stellte ich mein Bier auf den Tresen und drehte mich zu Carter um. »Ich glaube, es ist an der Zeit, Shangri-La zu verlassen«, sagte ich.
Ich wollte nichts groß erklären. Dachte, es müsste nicht sein. Es war schlicht höchste Zeit, den alten Plan wieder aufzugreifen. Aber Carter runzelte die Stirn und strich sich über sein Kinn. »Ach Buck, ich weiß nicht.«
Er hatte ein Mädchen kennengelernt. Einen hübschen Teenager aus Hawaii mit langen, braunen Beinen und pechschwarzen Augen, die Art von Mädchen, die uns am Flugzeug begrüßt hatte, eine, von der ich nur träumen, aber die ich nie besitzen würde. Er wollte also bleiben und was sollte ich schon dagegen einwenden?
Ich sagte ihm, ich verstünde das. Aber eigentlich war ich am Boden zerstört. Ich verließ die Bar und ging erst einmal am Strand spazieren. Das Spiel ist aus, sagte ich mir.
Das Letzte, was ich wollte, war, zu packen und nach Oregon zurückzukehren. Aber ich sah mich auch nicht alleine um die Welt reisen. Kehr heim, sagte mir eine leise, innere Stimme. Besorg dir einen normalen Job. Werde ein normaler Mensch.
Dann hörte ich eine andere leise Stimme, nicht minder überzeugend. Nein, kehre nicht heim. Setze deinen Weg fort. Hör nicht auf.
Am nächsten Tag reichte ich im Büro meine zweiwöchige Kündigung ein. »Schade, Buck«, sagte einer der Chefs. »Du hättest eine große Zukunft als Verkäufer gehabt.«
»Gott behüte«, murmelte ich.
An jenem Nachmittag besorgte ich mir im Reisebüro ein offenes Flugticket, mit dem man ein Jahr lang mit jeder Fluglinie überall hinfliegen konnte. Eine Art Interrailpass für die Lüfte. Am Erntedanktag 1962 schnürte ich meinen Rucksack und schüttelte Carter die Hand. »Buck«, sagte er, »lass dich nicht übers Ohr hauen.«
Der Kapitän wandte sich in stakkatohaftem Japanisch an die Fluggäste und ich begann zu schwitzen. Ich schaute aus dem Fenster auf den leuchtend roten Kreis auf dem Flügel. Mom Hatfield hatte Recht, dachte ich. Wir hatten mit diesen Menschen gerade erst Krieg geführt. Corregidor, der Todesmarsch von Bataan, das Massaker von Nanking – und nun machte ich mich auf den Weg, dort meine Zeit und mein Geld zu verschwenden?
Verrückte Idee? Vielleicht war ich tatsächlich verrückt.
Falls ja, war es zu spät für professionelle Hilfe. Der Flieger rumpelte schon auf über die Rollbahn und dröhnte dann über die maisgelben Sandstrände von Hawaii. Ich blickte auf die riesigen Vulkane, die immer kleiner wurden. Es gab kein Zurück mehr.
Es war Erntedank, weshalb die Mahlzeiten auf dem Flug aus gefülltem Truthahn mit Cranberrysoße bestanden. Da unser Ziel Japan war, gab es zudem rohen Thunfisch, Misosuppe und heißen Sake. Ich aß alles, während ich die Taschenbücher las, die ich mir eingesteckt hatte. Der Fänger im Roggen und Naked Lunch. Mit Holden Caulfield, dem introvertierten Teenager, der seinen Platz auf dieser Welt suchte, konnte ich mich identifizieren, Burroughs hingegen überstieg meinen Horizont. Der Heroindealer verkauft seine Ware nicht an den Konsumenten, sondern den Konsumenten an seine Ware.
Das wurde mir alles zu viel. Ich schlief ein. Als ich aufwachte, waren wir bereits im Sinkflug. Unter mir lag das grell leuchtende Tokio. Besonders das Geschäfts- und Vergnügungsviertel Ginza glitzerte wie ein Weihnachtsbaum.
Auf dem Weg zum Hotel war ich jedoch von Dunkelheit umgeben. Große Teile der Stadt waren schwarz wie Tinte. »Krieg«, meinte der Taxifahrer. »Viele Häuser noch Bomben.«
Amerikanische B-29 Superfortresses hatten die Hälfe von Tokio zerstört. Im Sommer 1944 hatten Langstreckenbomber in nur wenigen Nächten 340.000 Kilo Bomben auf die Stadt fallen lassen, die meisten davon mit Benzin oder anderem entzündlichen Material gefüllt. Tokio, eine der ältesten Städte der Welt, war zum großen Teil aus Holz gebaut, sodass die Bomben ein Flammeninferno entfachten. Ungefähr 300.000 Menschen verbrannten bei lebendigem Leib, viermal so viel wie in Hiroshima starben. Mehr als eine Million erlitten grauenvolle Verletzungen. Und fast 80 Prozent der Gebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die meiste Zeit schwiegen der Taxifahrer und ich. Es gab nichts zu sagen.
Schließlich hielt der Fahrer an der Adresse, die ich in meinem Notizbuch notiert hatte. Ein schäbiges Hotel. Mehr als heruntergekommen. Ich hatte es über American Express gebucht, ohne es mir anzuschauen, was ein Fehler war, wie ich nun feststellen musste. Ich überquerte den löchrigen Bürgersteig und betrat ein Gebäude, das in jedem Moment in sich zusammenzufallen drohte. Eine alte japanische Frau verbeugte sich vor mir. Dann erst bemerkte ich, dass sie sich nicht verbeugte, sondern dass das Alter sie gebeugt hatte wie einen von vielen Stürmen heimgesuchten Baum. Langsam führte sie mich auf mein Zimmer, das eher einer Schachtel glich. Eine Tatami-Matte, ein schiefer Tisch, sonst nichts. Es war mir egal. Ich nahm kaum wahr, dass die Tatami-Matte hauchdünn war. Ich verbeugte mich vor der alten Frau und wünschte ihr eine gute Nacht. Oyasumi nasai. Ich rollte mich auf der Matte zusammen und schlief ein.
Stunden später wachte ich in einem von Licht durchfluteten Raum auf. Ich kroch zum Fenster. Scheinbar befand ich mich mitten in einem Industriegebiet am Rande der Stadt. Mit all ihren Kais und Fabriken musste die Gegend ein bevorzugtes Ziel für die B-29 gewesen sein. Wohin ich auch schaute, sah man Verwüstung. Überall kaputte und rissige Gebäude, wenn sie nicht eh dem Erdboden gleichgemacht waren.
Zum Glück kannte mein Vater ein paar Leute in Tokio, darunter eine Gruppe Amerikaner, die für United Press International arbeiteten. Ich fuhr mit dem Taxi zu ihnen und sie nahmen mich sehr herzlich in Empfang. Sie boten mir Kaffee nebst einem kleinen Frühstück an, und als ich ihnen erzählte, wo ich meine Nacht verbracht hatte, mussten sie lachen. Sie besorgten mir ein sauberes, anständiges Hotel. Dann schrieben sie mir noch ein paar Adressen auf, wo man gut essen konnte.
»Was machst du denn in Gottes Namen in Tokio?«
Ich erklärte ihnen, dass ich auf Weltreise sei. Dann erwähnte ich meine Verrückte Idee. »Oho«, riefen sie und rollten mit ihren Augen. Sie erzählten mir von zwei ehemaligen GIs, die ein Monatsmagazin namens Importer herausbrachten. »Sprich mal mit den Typen«, empfahlen sie mir, »bevor du irgendetwas überstürzt.«
Ich versprach, es zu tun. Doch erst einmal wollte ich mir die Stadt anschauen.
Ausgerüstet mit einem Reiseführer und einer Minolta-Kamera, machte ich mich auf die Suche nach den wenigen Denkmälern, die den Krieg überstanden hatten, nach den ältesten Tempeln und Schreinen. Ich verbrachte Stunden auf einer Bank in einem ummauerten Garten und las über Japans wichtigste Religionen, Buddhismus und Schintoismus. Ich bewunderte das Konzept des kenshō oder satori – Erleuchtung, die wie ein Blitz daherkommt, ein blendender Knall. Ein wenig wie das Blitzlicht meiner Minolta. Das gefiel mir. Das wollte ich auch.
Doch erst einmal musste ich meine ganze Denkweise ändern. Ich war ein geradliniger Denker, doch im Zen heißt es, geradliniges Denken sei bloß eine Illusion, eine von vielen, die uns vom Glück abhält. Die Realität ist nicht linear. Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Alles ist Hier und Jetzt.
In jeder Religion, so scheint es, ist das Selbst das eigentliche Hindernis, der Feind. Und doch wird im Zen ganz klar erklärt, dass das Selbst gar nicht existiert. Das Selbst ist eine Fata Morgana, ein Fiebertraum, und unser stures Beharren auf seiner Existenz vergeudet nicht nur unser Leben, sondern verkürzt es sogar. Das Selbst ist eine blanke Lüge, die wir uns täglich auftischen. Um glücklich zu sein, müssen wir diese Lüge überwinden, sie entlarven. DasSelbstwahrlichzuverstehen,bedeutet,sichselbstzuvergessen, hat im 13. Jahrhundert der Zen-Meister Dōgen gesagt. Innere Stimme, äußere Stimmen, es ist alles gleich. Keine Trennungslinien.
Besonders im Wettkampf. Der Sieg, heißt es im Zen, kommt, wenn wir uns selbst und den Gegner vergessen, denn beide sind die Hälften eines Ganzen. In ZenunddieKunstdesBogenschießens ist dies so formuliert: DieVollendungderSchwertkunstbestehtdarin,dasskeinGedankemehranIchundDu,andenGegnerundseinSchwert,andaseigeneSchwertundwieeszuführensei,keinGedankemehrsogaranLebenundToddasHerzbekümmert....AllesalsoistLeere:duselbst,dasgezückteSchwertunddieschwertführendenArme.SelbstderGedankeandieLeereistnichtmehrda.
Mir war schon ganz schummrig im Kopf, darum entschied ich mich, zur Abwechslung eine völlig Zen-freie Sehenswürdigkeit zu besuchen, quasi den ultimativen Anti-Zen-Ort Japans, eine Enklave, in der Männer ganz auf sich selbst und nur auf sich selbst konzentriert sind: die Börse von Tokio. Untergebracht in einem marmornen romanischen Gebäude mit hohen griechischen Säulen, sah das Tōshō von der anderen Straßenseite aus wie eine langweilige Bank in einem ruhigen Kaff in Kansas. Innendrin herrschte jedoch das absolute Chaos. Hunderte Männer, die wild mit ihren Armen wedelten, sich die Haare rauften und herumschrien. Eine verderbte Version von Cornfelds Hexenkessel.
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Ich schaute und schaute, wobei ich mich fragte: Ist es das, was du willst? Wirklich? Ich mochte Geld wie jedermann, aber ich wollte nicht, dass mein Leben sich darauf beschränkte.
Nach dem Tōshō brauchte ich erst einmal Ruhe. Ich fand sie tief im Herzen der Stadt, im Park des im 19. Jahrhundert regierenden Kaisers Meiji und seiner Kaiserin. Dieser Ort sollte über eine immense spirituelle Kraft verfügen. Ich setzte mich ganz nachdenklich und ehrfürchtig unter einen sich wiegenden Ginkgobaum neben einem wunderschönen Torii-Tor. Ich hatte in meinem Reiseführer gelesen, dass diese Toriis gewöhnlich die Pforten zu heiligen Orten seien, und so sonnte ich mich in der Heiligkeit, der Gelassenheit und versuchte, das alles in mich aufzunehmen.
Am nächsten Morgen band ich meine Laufschuhe und joggte nach Tsukiji, zum größten Fischmarkt der Welt. Es war genau wie im Tōshō, nur mit Shrimps statt Aktien. Ich beobachtete alte Fischer, die ihre Fänge auf Holzkarren ausgebreitet hatten und mit knorrigen Händlern feilschten. Am Abend nahm ich einen Bus zu den fünf Fuji-Seen in den nördlichen Bergen von Hakone, einer Gegend, die viele der großen Zen-Dichter inspiriert hatte. DukannstdenPfadnichtbeschreiten,solangeduselbstnichtderPfadgewordenbist, hatte Buddha gesagt, und nun stand ich voller Staunen selbst vor diesem Pfad, der sich von den glasklaren Seen bis zum wolkenumringten Fuji schlängelte, diesem perfekten schneebedeckten Dreieck, das exakt so aussah wie der Mount Hood bei mir zu Hause. Die Japaner glauben, dass es eine mystische Erfahrung ist, den Fuji zu besteigen, ein feierliches Ritual. Doch ich entschloss mich, noch zu warten. Ich würde wiederkommen, wenn ich etwas zu feiern hatte.
Ich kehrte nach Tokio zurück und wurde beim Importer vorstellig. Die beiden bulligen und stiernackigen Ex-GIs, die hier das Sagen hatten, waren sehr beschäftigt und ließen mich zunächst spüren, dass ich störte und ihre Zeit vergeudete. Doch nach wenigen Minuten tauten sie auf und wurden aufgeschlossen und freundlich, erfreut, jemanden aus ihrer alten Heimat zu treffen. Wir sprachen die meiste Zeit über Sport. Kannst du dir vorstellen, dass die Yankees wieder alles gewonnen haben? Der arme Willie Mays. Kein besserer. Ja Sir, kein besserer. Dann erzählten sie mir ihre Geschichte.
Sie waren die ersten Amerikaner, die ich kennenlernte, die Japan liebten. Während der Besatzung waren sie dort stationiert und beide dem Zauber der japanischen Kultur, des Essens und der Frauen verfallen. Als es dann zurückgehen sollte, brachten sie es einfach nicht fertig, das Land zu verlassen. Daher gründeten sie ein Magazin für Importe, und das zu einer Zeit, als noch niemand an Importen aus Japan interessiert war. Aber irgendwie hatten sie es geschafft, dies nun schon 17 Jahre am Laufen zu halten.
Ich erzählte ihnen von meiner Verrückten Idee und sie hörten mit einigem Interesse zu. Sie kochten eine Kanne Kaffee und wir setzten uns zusammen. Ob es denn eine bestimmte Kollektion japanischer Schuhe gäbe, die ich als Import in Betracht zöge, fragten sie.
Ich erzählte ihnen, dass ich Tiger mochte, eine schicke Marke, die von Onitsuka Co. angefertigt wurde, die in Kobe saßen, der größten Stadt im Süden von Japan.
»Ja, die haben wir schon mal gesehen«, sagten sie.
Ich erzählte ihnen, dass ich mich mit dem Gedanken trug, dort hinzufahren, um die Leute von Onitsuka persönlich zu treffen.
»In diesem Fall«, sagten die Ex-GIs, »solltest du besser ein paar Dinge darüber lernen, wie man Geschäfte mit Japanern macht. Das Wichtigste ist, nicht aufdringlich zu sein. Komm nicht daher wie das typisch amerikanische Arschloch, der typische gaijin – die sind unverschämt, laut, aggressiv und akzeptieren Nein nicht als Antwort. Die Japaner reagieren nicht besonders gut auf aggressive Verkaufstaktik. Hier sind die Verhandlungen meist sanft und zäh. Überlege mal, wie lange es bei den Amerikanern und Russen gedauert hat, Hirohito zur Aufgabe zu bewegen. Und als er schließlich kapituliert hat, als sein Land nur noch ein einziger Haufen Asche war, was hat er seinem Volk da gesagt? ›Die Kriegslage hat sich nicht zu Japans Vorteil entwickelt.‹ Dies ist eine Kultur des Umwegs. Hier stößt man nie auf offene Ablehnung. Nie sagt jemand ganz klar nein. Aber auch nicht ja. Sie winden sich in den Gesprächen, in Sätzen ohne eindeutiges Subjekt und Objekt. Lass dich nicht entmutigen, sei aber auch nicht übermütig. Vielleicht verlässt du das Büro eines Mannes und meinst, du hast es vermasselt, aber in Wahrheit ist er bereit, ein Geschäft mit dir zu machen. Vielleicht gehst du mit dem Gedanken, ein Geschäft in der Tasche zu haben, aber eigentlich ist es in die Hose gegangen. Dukannstdirniesichersein.«
Mein Blick hatte sich verfinstert. Ich war alles andere als ein großartiger Verhandlungsführer und nun sollte ich mich zu Verhandlungen in ein Spiegelkabinett voller Zerrbilder begeben? Wo keine Maßstäbe mehr gelten?
Nach einer Stunde dieses verwirrenden Tutoriums schüttelte ich den Ex-GIs die Hände und verabschiedete mich. Plötzlich hatte ich das Gefühl, nicht mehr länger warten zu können, sofort zuschlagen zu müssen, jetzt, wo mir ihre Worte noch frisch in Erinnerung waren. Ich eilte ins Hotel zurück, packte Koffer und Rucksack und rief bei Onitsuka an, um einen Termin auszumachen.
Noch am Nachmittag bestieg ich einen Zug in den Süden.
Japan war bekannt für seine makellose Ordnung und extreme Sauberkeit. Japanische Literatur, Philosophie, Kleidung, Alltagsleben, alles war so fabelhaft sauber und klar. Minimalistisch. Erwartenichts,suchenichtsundhaltenichtsfest – die unsterblichen japanischen Dichter hatten Zeilen geschrieben, die sie so lange polierten, bis sie wie die Klinge eines Samuraischwerts oder wie Steine in einem Gebirgsbach glänzten. Makellos.
Warum also, wunderte ich mich, war es in dem Zug nach Kobe so schmutzig?
Der Boden war übersät mit Zeitungen und Zigarettenstummeln. Die Sitze waren bedeckt mit Orangenschalen und Papierfetzen. Schlimmer noch, alle Abteile waren brechend voll. Es gab kaum Platz, irgendwo zu stehen.
Ich fand einen Haltegriff an einem Fenster und hing dort sieben Stunden lang, während der Zug ruckelte und durch abgelegene Dörfer kroch, an Bauernhöfen vorbei, die gerade mal so groß waren wie ein normaler Hinterhof in Portland. Die Fahrt zog sich dahin, aber weder meine Beine noch meine Geduld gaben auf. Ich war zu sehr damit beschäftigt, alles immer wieder durchzugehen, was mir die Ex-GIs eingetrichtert hatten.
Nach meiner Ankunft nahm ich mir ein kleines Zimmer in einem billigen ryokan, einem traditionellen japanischen Hotel. Mein Termin bei Onitsuka war schon früh am nächsten Morgen, sodass ich mich sofort auf die Tatami-Matte legte. Doch ich war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können; ich wälzte mich die ganze Nacht auf der Matte herum. Bei Sonnenaufgang stand ich erschöpft auf und blickte in den Spiegel – ich sah ausgemergelt und verschlafen aus. Nach der Rasur zog ich meinen grünen Brooks-Brothers-Anzug an und sprach mir Mut zu.
Du bist fähig. Du bist selbstbewusst. Du schaffst das.
You can DO this.
Und dann fuhr ich zur falschen Adresse.
Ich meldete mich in den Verkaufsräumen von Onitsuka, wurde jedoch in der Fabrik von Onitsuka erwartet – am anderen Ende der Stadt. Ich schnappte mir ein Taxi und kam eine halbe Stunde zu spät, völlig aufgewühlt. In der Lobby nahmen mich vier Manager in Empfang, die sich nichts anmerken ließen. Sie verbeugten sich. Ich verbeugte mich. Einer trat hervor. Er sagte, sein Name sei Ken Miyazaki und er würde mir gerne das ganze Gelände zeigen.
Die erste Schuhfabrik, die ich jemals gesehen hatte. Ich fand alles daran interessant. Sogar irgendwie musikalisch. Jedes Mal, wenn ein Schuh geformt war, fiel mit einem silbrigen Laut ein Metallleisten zu Boden, ein melodisches Kling-klong. Alle paar Sekunden, KLING-klong, KLING-klong, ein Schusterkonzert. Den Managern schien das auch zu gefallen. Sie lächelten mich und sich gegenseitig an.
Wir passierten die Buchhaltung. Alle im Raum, Männer und Frauen, erhoben sich von ihren Stühlen und verbeugten sich gemeinsam, eine Geste des kei, aus Respekt vor dem amerikanischen Tycoon. Ich hatte gelesen, dass »Tycoon« von taikun abgeleitet war, japanisch für Kriegsherr. Ich wusste nicht, wie ich ihr kei würdigen sollte. Verbeugen oder nicht verbeugen, das ist in Japan immer die Frage. Ich schenkte ihnen ein müdes Lächeln und eine halbe Verbeugung und ging weiter.
Die Manager erzählten mir, dass sie jeden Monat 15.000 Paar Schuhe produzierten. »Beeindruckend«, sagte ich, ohne zu wissen, ob das viel oder wenig war. Sie führten mich in einen Konferenzraum und deuteten auf einen Stuhl am Kopf eines langen rundlichen Tisches. »Mr. Knight«, sagte jemand. »hier bitte.«
Ein Ehrenplatz. Noch mehr kei. Sie verteilten sich um den Tisch, richteten ihre Krawatten und starrten mich an. Der Moment der Wahrheit war gekommen.
Ich hatte diese Szene in meinem Kopf schon etliche Male durchgespielt, so wie ich jedes Rennen, das ich gelaufen bin, durchgegangen war, noch bevor der Startschuss fiel. Aber mir war klar, dass dies hier kein Rennen war. Es gibt dieses ursprüngliche Verlangen, alles – das Leben, das Geschäft, Abenteuer aller Art – mit einem Rennen zu vergleichen, doch der Vergleich hinkt. Er bringt dich nicht besonders weit.
Unfähig, mich daran zu erinnern, was ich sagen wollte oder warum ich überhaupt hier war, atmete ich erst einmal tief durch. Alles hing davon ab, inwieweit ich der Situation gewachsen war. Alles. Falls nicht, falls ich es verpatzen würde, wäre ich den Rest meines Lebens verdammt, Lexika, Anlagefonds oder sonst irgendeinen Mist zu verkaufen. Ich hätte alle enttäuscht, meine Eltern, meine Schule, meine Heimatstadt. Und mich selbst.
Ich blickte in die Gesichter rund um den Tisch. Wann immer ich mir diese Szene vorgestellt hatte, hatte ich ein entscheidendes Element außer Acht gelassen: Ich hatte nicht geahnt, wie präsent der Zweite Weltkrieg in diesem Raum noch sein würde. Der Krieg war tatsächlich noch da, neben uns, zwischen uns, unterschwellig in jedem gesprochenen Wort. Good evening, everyone – there’s good news tonight!
Und doch war er auch irgendwie nicht da. Die Japaner hatten den Krieg durch ihre Widerstandsfähigkeit, die stoische Akzeptanz ihrer totalen Niederlage und den heldenhaften Wiederaufbau ihres Landes ganz klar hinter sich gelassen. Zudem waren die Manager in diesem Raum so jung wie ich, und man konnte ihnen ansehen, dass sie mit dem Krieg absolut nichts zu tun hatten.
Andererseits hatten ihre Väter und Onkel versucht, meine zu töten.
Andererseits musste man die Vergangenheit auf sich beruhen lassen.
Andererseits vernebelte und verkomplizierte die ganze Frage des Siegens und Verlierens so manche Geschäfte, und es wurde noch viel komplizierter, wenn Sieger und Verlierer erst kürzlich – obgleich von Stellvertretern und Vorfahren – in einen weltweiten Flächenbrand verstrickt waren.
All diese Gedanken, dieses ungute Gefühl, was Krieg und Frieden betraf, erzeugten ein leises Brummen in meinem Kopf, ein Unbehagen, auf das ich nicht vorbereitet war. Der Realist in mir wollte sich das eingestehen, der Idealist es einfach beiseiteschieben. Ich hüstelte und begann: »Meine Herren ...«
Mr. Miyazaki unterbrach mich. »Mr. Knight – welche Firma vertreten sie?«, fragte er.
»Ach ja, gute Frage.«
Adrenalin schoss mir durchs Blut und löste einen Fluchtreflex aus. Ich wollte wegrennen und mich verstecken, was mich gleich an den sichersten Platz der Welt denken ließ. Mein Elternhaus. Das Haus war vor Jahrzehnten von vermögenden Leuten gebaut worden, die viel mehr Geld als meine Eltern hatten und deren Architekten in dem hinteren Teil Räume für Bedienstete vorgesehen hatten. Und in diesem Teil lag auch mein Zimmer, das ich mit Baseballkarten, Schallplatten, Postern, Büchern und anderen Heiligtümern gefüllt hatte. Eine Wand hatte ich mit all den blauen Schleifen von meinen Läufen dekoriert, auf die ich stolz war wie auf sonst nichts in meinem Leben. Also? »Blue Ribbon«, platzte es aus mir heraus. »Meine Herren, ich vertrete Blue Ribbon Sports aus Portland, Oregon.«
Mr. Miyazaki lächelte. Die anderen Manager lächelten. Ein Murmeln machte die Runde. Blueribbon,blueribbon,blueribbon. Die Manager falteten ihre Hände, verfielen in Schweigen und starrten mich wieder an. »Nun, meine Herren«, fuhr ich fort, »der amerikanische Schuhmarkt ist riesig. Und weitestgehend unerschlossen. Wenn Onitsuka auf diesen Markt vordringen kann, wenn Onitsuka seine Tiger in die amerikanischen Läden bringt und Adidas, die von den meisten amerikanischen Sportlern getragen werden, vom Preis her unterbietet, könnte dies ein enorm profitables Geschäft sein.«
Ich zitierte einfach meinen Vortrag aus Stanford, Wort für Wort, all die Zeilen und Zahlen, für die ich wochenlange Nachforschungen betrieben und die ich auswendig gelernt hatte, was mir jetzt half, sehr eloquent zu wirken. Ich konnte sehen, dass ich die Manager beeindruckte, und als ich meinen Vortrag beendete hatte, herrschte erst einmal absolute Stille. Dann unterbrach einer von ihnen diese Stille, dann noch einer, und irgendwann redeten alle laut und aufgeregt aufeinander ein, aber nicht mit mir, sondern nur untereinander.
Dann standen sie urplötzlich auf und gingen hinaus.
War das die übliche japanische Art, eine Verrückte Idee abzulehnen? Gemeinsam aufzustehen und zu gehen? Hatte ich mein kei verspielt – einfach so? War ich entlassen? Was sollte ich tun? Sollte ich einfach ... gehen?
Nach ein paar Minuten kehrten sie zurück. Sie hatten Entwürfe und Muster dabei, die Mr. Miyazaki nun vor mir ausbreitete. »Mr. Knight«, sagte er, »wir haben schon lange über den amerikanischen Markt nachgedacht.«
»Haben sie das?«
»Wir verkaufen bereits Wrestlingschuhe in die Vereinigten Staaten. Im Nordosten, glaube ich Wir haben schon oft darüber nachgedacht, weitere Artikel in anderen Gegenden in Amerika zu etablieren.«
Sie zeigten mir drei unterschiedliche Tiger-Modelle. Ein Trainingsschuh, den sie »Limber Up« nannten. »Hübsch«, sagte ich. Ein Schuh für Hochspringer, der »Spring Up« genannt wurde. »Großartig«, sagte ich. Und ein Schuh für Diskuswerfer, den sie »Throw Up« nannten – ohne zu ahnen, dass dies »erbrechen« bedeutete.
Jetzt bloß nicht lachen, sagte ich mir, bloß nicht ...
Sie bombardierten mich mit Fragen über die Vereinigten Staaten, über die amerikanische Kultur und aktuelle Trends, über verschiedene Arten von Sportschuhen, die es in unseren Sportartikelläden gab. Sie fragten mich, wie groß der amerikanische Schuhmarkt sei, wie groß er werden könnte, und ich betonte, dass Umsätze von bis zu einer Milliarde Dollar möglich seien. Bis heute weiß ich nicht, wie ich auf diese Zahl kam. Sie lehnten sich zurück und blickten sich erstaunt an. Zu meiner Verwunderung begannen sie jetzt auf mich einzureden. »Wäre Blue Ribbon ... denn interessiert ... Tiger Schuhe zu vertreten? In den Vereinigten Staaten?« Ich antwortete: »Ja, ich denke schon.«
Ich konzentrierte mich besonders auf den »Limber Up«: »Das ist ein wirklich guter Schuh«, sagte ich. »Diesen Schuh hier – diesen Schuh kann ich verkaufen.« Ich bat sie, mir umgehend ein paar Muster zu schicken, gab ihnen meine Adresse und versprach, ihnen 50 Dollar anweisen zu lassen.
Sie standen auf und verbeugten sich tief. Auch ich verbeugte mich tief. Wir schüttelten uns die Hände. Ich verbeugte mich noch einmal. Sie verbeugten sich noch einmal. Wir lächelten uns an. Der Krieg hatte nie stattgefunden. Wir waren Partner. Wir waren Brüder. Das Meeting hatte anstatt der geplanten fünfzehn Minuten zwei volle Stunden gedauert.
Von Onitsuka ging ich direkt ins nächste American Express Büro und schrieb meinem Vater. Lieber Dad: Dringend. Bitte überweise direkt 50 Dollar an Onitsuka Corp in Kobe.
Ho ho, hee hee ... strange things are happening.