Shopaholic & Family - Sophie Kinsella - E-Book
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Shopaholic & Family E-Book

Sophie Kinsella

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Beschreibung

Becky steht vor ihrer größten Herausforderung: Sie will ihren Vater finden, der nach Las Vegas verschwunden ist und so ihre Fehler aus der Vergangenheit wiedergutmachen. Zunächst muss sie aber den Roadtrip nach Nevada überstehen, denn sie reist nicht allein: In einem Kleinbus kutschiert ihr Göttergatte Luke nicht nur sie und Minnie, sondern auch Beckys beste Freundin Suze – deren Mann zusammen mit Papa Bloomwood verschwunden ist –, ihre Erzfeindin Alicia, ihre Mutter und deren beste Freundin durch die Wüste. Der Beginn einer turbulenten Suchaktion, während derer Becky feststellt, dass es in Las Vegas nicht nur um ihr eigenes Glück geht ...

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Buch

Becky steht vor ihrer größten Herausforderung: Sie will ihren Vater finden, der nach Las Vegas verschwunden ist, und so ihre Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen. Zunächst muss sie aber den Roadtrip von Los Angeles Richtung Nevada überstehen, denn sie reist nicht allein. In einem Kleinbus chauffiert ihr Göttergatte Luke nicht nur sie und Minnie, sondern auch Beckys beste Freundin Suze, ihre Erzfeindin Alicia – die versucht, ihr Suze auszuspannen –, ihre aufgebrachte Mutter und deren beste Freundin durch die Wüste. Der Beginn einer turbulenten Suchaktion, während derer Becky ihr Talent fürs Roulette entdeckt und feststellt, dass sie vielleicht sogar den Geschmack am Shoppen verloren hat. Vor allem aber erkennt sie, dass es in Las Vegas nicht nur um ihr eigenes Glück geht und dass nur sie all ihre Lieben zusammenhalten kann …

Weitere Informationen zu Sophie Kinsellasowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Sophie Kinsella

Shopaholic& Family

Roman

Aus dem Englischen von Jörn Ingwersen

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Shopaholic to the Rescue« bei Bantam Press, London, an imprint of Transworld Publishers

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Neuveröffentlichung August 2023

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Sophie Kinsella

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagmotiv: © Bildkomposing aus Motiven von shutterstock

Redaktion: Kerstin Ingwersen

tk · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28308-7V002

www.goldmann-verlag.de

Für Linda Evans, mit viel Liebe und großem Dank für alles

Von: [email protected]

An: Brandon, Rebecca

Betreff: Kleine Bitte

Liebe Mrs Brandon,

lange haben wir nichts voneinander gehört. Ich hoffe, Sie und Ihre Familie sind bester Dinge.

Was mich angeht, so genieße ich das Leben im Ruhestand sehr, denke jedoch noch oft warmen Herzens an so manche Episode im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit bei der Bank zurück. Daher habe ich mich entschlossen, sozusagen meine Memoiren, meine Autobiografie zu schreiben, unter dem provisorischen Titel: Gute und schlechte Schulden: Die Höhen und Tiefen eines langmütigen (und doch nicht ganz so langmütigen!) Filialleiters der Bank von Fulham.

Zwei Kapitel habe ich bereits verfasst, die in meinem örtlichen Gartenkulturverein sehr gut aufgenommen wurden. Mehrere Mitglieder waren der Meinung: »So was sollten die mal im Fernsehen bringen!« Nun, so weit würde ich eher nicht gehen!!

Ich darf wohl sagen, Mrs Brandon, dass Sie stets eine meiner »farbenfroheren« Kundinnen waren, nicht zuletzt da Sie eine recht »kuriose« Einstellung gegenüber Ihren Finanzen zu hegen pflegten. (Ich hoffe von Herzen, dass sich Ihnen die Welt der Erwachsenen mittlerweile erschlossen hat.) Oft genug sind wir aneinandergeraten, dennoch glaube ich, dass wir zum Zeitpunkt meiner Pensionierung in gewisser Weise zu einer »Entente cordiale« gelangt waren.

Aus diesem Grunde erlaube ich mir die Frage, ob ich Sie wohl – zu einem Ihnen genehmen Zeitpunkt – für mein Buch befragen dürfte.

In freudiger Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen,

Derek Smeath

Bank Manager (i.R.)

Von: [email protected]

An: Brandon, Rebecca

Betreff: Re: Re: Kleine Bitte

Liebe Mrs Brandon,

ich muss meiner Enttäuschung Ausdruck verleihen. In gutem Glauben habe ich mich an Sie gewandt, als Kollege oder, wenn ich so sagen darf, als Freund, und ich hatte gehofft, auch als solcher behandelt zu werden.

Wenn Sie für meine Memoiren nicht befragt werden möchten, dann akzeptiere ich Ihre Entscheidung. Dennoch stimmt es mich traurig, dass Sie es für nötig erachten, dafür eine Lüge zu ersinnen. Zweifellos ist diese haarsträubende Geschichte, dass Sie Ihren »Vater nach Las Vegas verfolgen, um einem Geheimnis auf die Spur zu kommen« und »aufpassen müssen, dass man den armen Tarkie keiner Gehirnwäsche unterzieht«, gänzlich Ihrer blühenden Fantasie entsprungen.

Mrs Brandon, wie oft schon habe ich Nachrichten von Ihnen erhalten, Sie hätten sich »das Bein gebrochen«, litten »unter Drüsenfieber«, oder Ihr (imaginärer) Hund sei gestorben? Ich hatte gehofft, dass Sie als verheiratete Frau und Mutter ein wenig reifer geworden wären. Leider jedoch sehe ich mich getäuscht.

Mit freundlichen Grüßen,

Derek Smeath

Von: [email protected]

An: Brandon, Rebecca

Betreff: Re: Re: Re: Re: Kleine Bitte

Liebe Mrs Brandon,

zu sagen, Ihre letzte E-Mail hätte mich erstaunt, wäre eine grobe Untertreibung. Haben Sie vielen Dank für die Fotos.

In der Tat kann ich sehen, wie Sie am Rande der Wüste stehen. Ich sehe auch das Wohnmobil, auf das Sie deuten und die Nahaufnahme einer Straßenkarte von Kalifornien. Darüber hinaus erkenne ich auf einem der Bilder Ihre Freundin Lady Cleath-Stuart. Ob jedoch »an ihrer gequälten Miene deutlich zu erkennen ist, wie sehr sie ihren Mann vermisst«, wage ich nicht zu beurteilen.

Dürfte ich wohl um der Klarheit willen fragen: Ihr Vater wird vermisst sowie der Gatte Ihrer Freundin? Beide gleichzeitig?

Mit freundlichen Grüßen,

Derek Smeath

Von: [email protected]

An: Brandon, Rebecca

Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Kleine Bitte

Liebe Mrs Brandon,

meine Güte, was für eine Geschichte! Ihre E-Mail war ein wenig wirr, wenn ich so sagen darf – entspricht die folgende Auflistung den Tatsachen?

Ihr Vater besuchte Sie in Los Angeles, weil ihm etwas über einen alten Freund namens Brent zu Ohren gekommen war, den er seit vielen Jahren nicht gesehen hatte.Dann verschwand er mit unbekanntem Ziel und ließ nur einen Zettel zurück, auf dem geschrieben stand, er wolle etwas »in Ordnung bringen«.Er sicherte sich die Unterstützung von Lord Cleath-Stuart (»Tarkie«), der jüngst eine schwere Zeit zu durchleiden hatte und einen »äußerst verwundbaren Eindruck« macht.Begleitet werden sie von einem Burschen namens »Bryce«. (Welch sonderbare Namen es in Kalifornien doch gibt.)Derzeit verfolgen Sie die drei Männer nach Las Vegas, weil Sie fürchten, dieser Bryce könnte ein ruchloser Geselle sein, der es auf das Vermögen von Lord Cleath-Stuart abgesehen hat.Um Ihre Frage zu beantworten: Leider sind mir bisher keine »Geistesblitze« gekommen, die Ihnen weiterhelfen könnten, und während meiner Zeit bei der Bank ist etwas Derartiges auch nie vorgefallen. Wenngleich wir einmal einen eher zwielichtigen Kunden hatten, der einen Müllbeutel voller Zwanzigpfundscheine einzahlen wollte, woraufhin ich sofort die Finanzbehörden informierte. Gewiss wird sich auch dieses kleine Abenteuer in meinem Buch wiederfinden!!

Ich wünsche Ihnen alles Gute bei Ihrer Suche nach den drei Vermissten, und falls ich Ihnen sonst wie behilflich sein kann, so zögern Sie bitte nicht, mich zu kontaktieren.

Mit freundlichen Grüßen,

Derek Smeath

Eins

»Okay«, sagt Luke ganz ruhig. »Keine Panik.«

Keine Panik? Luke sagt »Keine Panik«? Nein. Nein, nein, nein. So läuft das nicht. Mein Mann sagt niemals »Keine Panik«. Und wenn er doch »Keine Panik« sagt, dann meint er eigentlich: Wir haben allen Grund zur Panik.

O Gott, jetzt kriege ichPanik.

Die Lichter blinken, und die Polizeisirene hört nicht auf zu heulen. Ich kann nur wahllos wildes Zeug denken wie: Tun Handschellen weh?Wen soll ich von meiner Zelle aus anrufen?Sind die Overalls eigentlich alle orange?

Ein Polizist kommt auf unser gemietetes Neunmeterwohnmobil zu. (Blau karierte Leinenvorhänge, geblümte Polster, sechs Betten – wobei »Betten« es nicht so ganz trifft, eher »sechs dünne Matratzen auf Brettern«.) Der Cop ist von dieser markig amerikanischen Sorte mit verspiegelter Sonnenbrille, braungebrannt und furchteinflößend. Mein Herz rast, und instinktiv suche ich nach einem sicheren Versteck.

Okay, vielleicht reagiere ich ein bisschen über. Aber in Gegenwart von Polizisten war ich schon immer nervös, seit ich mit fünf Jahren bei Hamleys sechs Paar Schuhe für meine Puppen eingesteckt hatte und ein Polizist auf mich zukam und polterte: »Was haben wir denn da, junge Dame?« und ich mir vor Schreck fast in die Hose gemacht hätte. Wie sich herausstellte, bewunderte er nur meinen Heliumballon.

(Die Puppenschuhe haben wir wieder zurückgeschickt, nachdem Mum und Dad sie bei mir gefunden hatten. Den Entschuldigungsbrief habe ich selbst verfasst. Hamleys schrieb mir zurück, Mach dir keine Sorgen, sehr verständnisvoll. Ich glaube, da habe ich wohl zum ersten Mal gemerkt, wie gut man sich mit einem Brief aus der Affäre ziehen kann.)

»Luke!«, raune ich ihm zu. »Schnell. Erwartet man von uns, dass wir sie bestechen? Wie viel Bargeld haben wir dabei?«

»Becky«, sagt Luke geduldig. »Keine Panik. Es kann nichts Schlimmes sein, weshalb sie uns angehalten haben.«

»Sollten wir alle aussteigen?«, fragt Suze.

»Ich finde, wir bleiben lieber im Auto«, meint Janice und klingt nervös. »Am besten verhalten wir uns ganz normal, als hätten wir nichts zu verbergen.«

»Wir haben auch nichts zu verbergen«, erwidert Alicia und klingt gereizt. »Entspannt euch mal.«

»Die tragen Waffen!«, kräht Mum bei einem Blick aus dem Fenster. »Waffen, Janice!«

»Jane, bitte beruhige dich!«, sagt Luke. »Ich rede mit denen.«

Er steigt aus dem Wohnmobil. Wir anderen sehen uns ängstlich an. Ich bin mit meiner besten Freundin Suze unterwegs, meiner un-besten Freundin Alicia, meiner Tochter Minnie, meiner Mum und deren bester Freundin Janice. Wir wollen von Los Angeles nach Las Vegas und haben uns bisher schon um die Klimaanlage, die Sitzordnung und die Frage gestritten, ob Janice keltische Dudelsackmusik anstellen darf, um ihre Nerven zu beruhigen. (Antwort: Nein. Fünf Stimmen gegen eine.) Er ist etwas stressig, unser kleiner Ausflug, dabei sind wir gerade erst seit ein paar Stunden unterwegs. Und jetzt das.

Ich beobachte, wie der Cop Luke entgegengeht und mit ihm spricht.

»Wauwau!«, sagt Minnie und deutet aus dem Fenster. »Großer, großer Wauwau.«

Ein zweiter Cop ist an Luke herangetreten, mit einem bedrohlich wirkenden Polizeihund an der Leine, einem Deutschen Schäferhund, der an Lukes Füßen herumschnüffelt. Plötzlich blickt das Tier zum Wohnmobil auf und bellt.

»O mein Gott!« Janice entfährt ein gequälter Aufschrei. »Ich wusste es! Die Drogenfahndung! Jetzt bin ich geliefert!«

»Was?« Ich starre sie an. Janice ist eine ältere Dame in den besten Jahren, die Blumenarrangements mag und andere Leute gern in grellen Pfirsichfarben schminkt. Was soll das heißen, sie ist geliefert?

»Es tut mir leid, aber ich muss euch was gestehen …« Sie schluckt theatralisch. »Ich habe illegale Drogen bei mir.«

Einen Moment lang sitzen alle ganz still da. Mein Hirn weigert sich, diese beiden Elemente zusammenzufügen. Illegale Drogen? Janice?

»Drogen!«, ruft Mum. »Janice, wovon redest du?«

»Ein Medikament gegen Jetlag«, stöhnt Janice. »Mein Arzt wollte mir nicht helfen, deshalb musste ich mich dem Internet zuwenden. Annabel vom Bridge-Club hat mir eine Website genannt, und da stand ein Hinweis: Könnte in einigen Ländern verboten sein. Und jetzt wird dieser Hund das Zeug erschnüffeln, und dann nehmen sie uns mit zum Verhör …«

Wildes Gebell bringt sie zum Schweigen. Ich muss zugeben, dass der Hund ganz scharf darauf zu sein scheint, sich das Wohnmobil näher anzusehen. Er reißt an seiner Leine und winselt, doch der Polizist sieht nur ärgerlich auf ihn herab.

»Du hast dir Drogen gekauft?«, platzt Suze heraus. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

»Janice, du wirst noch unsere ganze Reise gefährden!« Mum ist außer sich. »Wie konntest du nur harte Drogen nach Amerika schmuggeln?«

»So hart sind die bestimmt gar nicht«, werfe ich ein, aber Mum und Janice sind viel zu hysterisch, um mir zuzuhören.

»Schmeiß sie weg!«, kreischt Mum. »Sofort!«

»Da hab ich sie.« Mit zitternden Händen holt Janice zwei weiße Päckchen aus ihrer Tasche. »Ich hätte sie doch niemals mitgenommen, wenn ich gewusst hätte …«

»Und was sollen wir jetzt damit machen?«, will Mum wissen.

»Jeder verschluckt einen Blister«, sagt Janice und schüttelt die Dinger zittrig heraus. »Uns bleibt gar nichts anderes übrig.«

»Bist du irre?«, keift Suze. »Ich schluck doch keine illegalen Tabletten aus dem Internet!«

»Janice, du musst sie irgendwie loswerden«, drängt Mum. »Steig aus und verstreu sie abseits der Straße. Ich werde die Polizisten ablenken. Nein, wir alle werden sie ablenken. Raus aus dem Wagen! Alle, wie ihr da seid!«

»Die Polizei wird mich erwischen!«, heult Janice.

»Nein, die Polizei wird dich nicht erwischen«, sagt Mum entschlossen. »Hörst du, Janice? Die Polizei wird dich nicht erwischen. Nicht, wenn du dich beeilst.«

Mum klappt die Tür des Wohnmobils auf, und nacheinander klettern wir in den sengend heißen Vormittag hinaus. Wir parken direkt am Straßenrand. Um uns herum ist nichts als staubige, strauchige Wüste, so weit das Auge reicht.

»Geh weiter!«, zischt Mum Janice an.

Als Janice sich in Richtung Wüste davonmacht, eilt Mum geradewegs auf die Polizisten zu, mit Suze und Alicia im Schlepptau.

»Jane!«, sagt Luke erstaunt, sie neben sich zu sehen. »Ihr hättet doch nicht extra aussteigen müssen.« Er wirft mir einen fragenden Blick zu, der mir sagen soll: Was zum Teufel geht hier vor? Ich zucke hilflos mit den Schultern.

»Guten Morgen, Officer«, sagt Mum an den einen der beiden Polizisten gewandt. »Gewiss hat mein Schwiegersohn Ihnen die Lage bereits erklärt. Mein Mann ist auf einer geheimen Mission verschollen. Es geht um Leben und Tod.«

»Also, nicht wirklich um Leben und Tod.« Ich denke, das sollte man klarstellen.

Bestimmt steigt jedes Mal Mums Blutdruck, wenn sie die Formulierung »um Leben und Tod« verwendet. Ich versuche immer noch, sie zu beruhigen, bin mir aber gar nicht sicher, ob sie überhaupt beruhigt werden möchte.

»Er befindet sich in Gesellschaft von Lord Cleath-Stuart«, fährt Mum fort, »und das hier ist Lady Cleath-Stuart. Sie wohnen auf Letherby Hall, einem der prachtvollsten Herrenhäuser in ganz England«, fügt sie stolz hinzu.

»Das tut doch nichts zur Sache!«, sagt Suze.

Einer der Cops nimmt seine Sonnenbrille ab, um sich Suze näher anzusehen.

»So wie Downton Abbey? Meine Frau ist verrückt nach dieser Serie.«

»Ach, Letherby ist viel schöner als Downton«, sagt Mum. »Sie sollten mal hinfahren.«

Aus dem Augenwinkel bemerke ich Janice, die in ihrem türkis geblümten Kostüm in der Wüste steht und panisch Pillen hinter einen Kaktus schüttet. Sie könnte sich kaum auffälliger benehmen. Zum Glück sind die Polizisten abgelenkt, denn nun erzählt Mum ihnen von Dads Zettel.

»Auf sein Kopfkissen hat er ihn gelegt!«, sagt sie entrüstet. »Einen ›kleinen Ausflug‹ nennt er das. Welcher verheiratete Mann fährt einfach los und macht einen ›kleinen Ausflug‹?«

»Meine Herren …« Luke versucht schon länger, das Wort zu ergreifen. »Vielen Dank, dass Sie mich über die defekte Rückleuchte in Kenntnis gesetzt haben. Können wir unsere Reise fortsetzen?«

Schweigend sehen sich die beiden Cops an.

»Keine Panik«, sagt Minnie. Sie blickt auf, mit ihrer Lieblingspuppe Speaky in der Hand, und strahlt einen der beiden Polizisten an. »Keine Panik.«

»Alles klar.« Er lächelt zurück. »Süßes Kind. Wie heißt du, Kleine?«

»Die Polizei wird dich nicht erwischen«, antwortet Minnie im Plauderton, und sofort herrscht angespanntes Schweigen. Ich wage nicht, Suze anzusehen.

Inzwischen ist die Miene des Cops zu Eis erstarrt. »Entschuldige, was hast du gesagt?«, fragt er Minnie. »Wen denn erwischen, Schätzchen?«

»Niemanden!«, lache ich schrill. »Wir haben ferngesehen. Sie wissen doch, wie Kinder sind …«

»Das hätten wir!« Atemlos kommt Janice angelaufen. »Alles erledigt. Hallo, die Herren, was können wir für Sie tun?«

Die beiden Cops wirken etwas irritiert, weil sich noch jemand zur Gruppe gesellt.

»Wo waren Sie, Ma’am?«, fragt der eine.

»Ich war hinter dem Kaktus. Ich hatte ein natürliches Bedürfnis«, fügt Janice hinzu, offensichtlich stolz auf ihre vorbereitete Antwort.

»Haben Sie denn keine Toilette in Ihrem Wohnmobil?«, will der blonde Cop wissen.

»Ach«, sagt Janice verdutzt. »Ach, du je. Ich glaube schon.« Ihr selbstsicheres Auftreten ist dahin. Wild blickt sie in die Runde. »Du jemine. Hm … also … ehrlich gesagt … Mir war nach einem kleinen Spaziergang zumute.«

Der dunkelhaarige Cop verschränkt die Arme. »Einem Spaziergang? Hinter einen Kaktus?«

»Die Polizei wird dich nicht erwischen«, vertraut Minnie Janice an, und Janice zuckt zurück wie eine aufgescheuchte Katze.

»Minnie! Du meine Güte! Wen denn erwischen? Ha-ha-ha!«

»Könnte mal jemand dieses Kind zum Schweigen bringen?«, faucht Alicia.

»Es war ein kleiner Spaziergang durch die Natur«, fügt Janice lahm hinzu. »Ich habe die Kakteen bewundert. Wunderschöne … äh … Stacheln.«

Wunderschöne Stacheln? Was Besseres ist ihr nicht eingefallen? Okay, mit Janice gehe ich nie wieder auf Reisen. Sie ist total unentspannt, und das schlechte Gewissen steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Kein Wunder, dass die Cops misstrauisch werden. (Zugegebenermaßen war Minnie auch keine große Hilfe.)

Die beiden Polizisten werfen sich vielsagende Blicke zu. Gleich werden sie verkünden, dass sie uns mitnehmen oder das FBI holen. Ich muss schnell etwas unternehmen. Aber was? Denk nach, denk nach …

Da kommt mir eine Idee.

»Officer!«, rufe ich. »Gerade fällt mir etwas ein! Ich würde Sie gern um einen kleinen Gefallen bitten. Ich habe einen jungen Cousin, der so furchtbar gern Polizeibeamter werden möchte, und er sucht dringend nach einem Praktikumsplatz. Dürfte er sich vielleicht an Sie wenden? Sie heißen … Officer Kapinski …« Ich nehme mein Handy und fange an, den Namen einzutippen. »Vielleicht dürfte er mal mit Ihnen auf Streife gehen …«

»Da gibt es offizielle Wege, Ma’am«, erwidert Officer Kapinski entmutigend. »Sagen Sie ihm, er soll sich auf unserer Website informieren.«

»Ach, es geht doch aber nichts über Beziehungen, oder?« Unschuldig zwinkere ich ihm zu. »Hätten Sie morgen vielleicht Zeit? Wir könnten uns doch nach der Arbeit treffen. Genau! Wir werden draußen vor dem Revier auf Sie warten.« Ich trete einen Schritt vor, doch Officer Kapinski weicht zurück. »Er ist so begabt und so gesprächig. Sie werden ihn mögen. Dann also bis morgen, ja? Ich bringe uns Croissants mit!«

Officer Kapinski sieht aus wie ein verschrecktes Tier.

»Sie können weiterfahren«, murmelt er und macht dann auf dem Absatz kehrt. Keine dreißig Sekunden später sitzt er mitsamt seinem Kollegen und dem Polizeihund wieder im Streifenwagen und düst ab.

»Bravo, Becky!«, lobt mich Luke.

»Gut gemacht, Liebes!«, stimmt Mum mit ein.

»Das war knapp.« Janice zittert. »Zu knapp. In Zukunft müssen wir vorsichtiger sein.«

»Was sollte das ganze Theater?«, fragt Luke verwundert. »Warum seid ihr ausgestiegen?«

»Janice ist auf der Flucht vor der Drogenfahndung«, sage ich und möchte bei seinem Gesichtsausdruck am liebsten laut loslachen. »Ich erklär’s dir unterwegs. Lass uns weiterfahren.«

Zwei

Sie sind seit zwei Tagen verschollen. Nun könnte man sagen: Na und? Wahrscheinlich wollen sie nur mal unter sich sein. Was spricht dagegen, einfach zu entspannen und abzuwarten, bis sie wieder zu Hause eintrudeln? Tatsächlich hat die Polizei genau das gesagt. Doch die Lage ist komplexer. Tarquin hatte vor Kurzem fast so etwas Ähnliches wie einen Nervenzusammenbruch. Hinzu kommt, dass er sehr reich ist und dieser Bryce es offenbar mit Hilfe »unlauterer Praktiken« auf ihn abgesehen hat, was Suzes Ansicht nach bedeutet: »ihn in eine Sekte zu locken«.

Dabei ist das alles graue Theorie. Im Grunde gibt es dazu sogar mehrere Theorien. Um ehrlich zu sein – auch wenn ich es Suze niemals sagen würde –, glaube ich insgeheim, wir werden möglicherweise bald feststellen, dass Dad und Tarquin die ganze Zeit über in L. A. in einem Café gesessen haben. Suze dagegen glaubt, dass Tarquin bereits tot in einem Canyon liegt, nachdem Bryce sein Bankkonto geplündert hat. (Sie würde es nie zugeben, aber ich weiß, dass sie so denkt.)

Was wir brauchen, ist eine gewisse Ordnung. Wir brauchen einen Plan. Wir brauchen eine von diesen weißen Magnettafeln, die sie in Polizeiserien immer haben, mit Listen und Pfeilen und Fotos von Dad und Tarkie. (Oder vielleicht doch lieber nicht. Dann sähen die beiden endgültig aus wie Mordopfer.) Aber irgendetwas brauchen wir. Bis jetzt war diese Reise vor allem chaotisch.

Heute Morgen jedenfalls herrschte das reine Tohuwabohu – das Packen der Taschen, die Übergabe von Suzes drei Kindern an ihre Nanny Ellie (sie wohnt vorübergehend mit im Haus und kümmert sich um alles, solange wir weg sind). Im Morgengrauen kam Luke mit dem gemieteten Wohnmobil an. Da habe ich Mum und Janice erst geweckt, denn die beiden hatten seit ihrer Ankunft aus England viel zu wenig geschlafen, aber sofort waren sie voll bei der Sache, und es hieß: Ab nach Vegas!

Wenn ich ganz ehrlich sein soll, hätten wir vermutlich gar kein Wohnmobil gebraucht. Luke war eigentlich dafür, mit zwei Pkws zu fahren. Aber mein Gegenargument war: Wir müssen unterwegs miteinander reden können. Deshalb haben wir nun doch ein Wohnmobil. Außerdem: Wie könnte man anders durch Amerika reisen als in einem Wohnmobil? Eben.

Suze hat während der ganzen Fahrt nach Sekten gegoogelt, was ich gar nicht gut finde, weil sie sich damit nur unnötig verrückt macht. (Besonders seit sie auf eine Sekte gestoßen ist, bei der die Leute sich die Gesichter weiß anmalen und Tiere heiraten.) Luke hat die meiste Zeit mit Gary telefoniert, der ihn in London auf einer Konferenz vertritt. Luke ist Inhaber einer PR-Firma, und im Moment hat er haufenweise Aufträge, aber er lässt dennoch alles stehen und liegen, um dieses Wohnmobil zu steuern. Was wirklich lieb von ihm ist, und sobald sich die Gelegenheit ergibt, werde ich genau dasselbe auch für ihn tun.

Janice und Mum entwickeln beunruhigende Theorien, nach denen Dad in einer tiefen Sinnkrise steckt und nun mutterseelenallein in der Wüste leben will, im Poncho. (Wieso im Poncho?) Minnie ruft am laufenden Band: »Kaktus, Mami! Kak-TUS!« Und ich sitze nur schweigend da, streichel ihr übers Haar und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Was – offen gesagt – kein Vergnügen ist. Momentan sind meine Gedanken nämlich nicht besonders aufheiternd.

Zwar gebe ich mir große Mühe, so heiter und positiv wie möglich zu bleiben, tu ich wirklich. Ich versuche, alle bei Laune zu halten und nicht in unnütze Grübeleien zu verfallen. Doch sobald ich nicht aufpasse, holt mich alles wieder ein, und ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen. Denn im Grunde machen wir diese ganze Reise nur meinetwegen. Es ist alles meine Schuld.

Eine halbe Stunde später halten wir vor einem Diner, um zu frühstücken und uns zu sammeln. Ich nehme Minnie mit zur Damentoilette, wo wir ein längeres Gespräch über die unterschiedlichen Seifensorten führen und Minnie es sich nicht nehmen lässt, jeden einzelnen Seifenspender auszuprobieren, was mehr oder weniger ewig dauert. Als wir endlich wieder ins Restaurant kommen, sehe ich Suze vor einem auf altmodisch getrimmten Werbeplakat stehen und gehe auf sie zu.

»Suze …«, sage ich zum millionsten Mal. »Es tut mir so leid.«

»Was tut dir leid?« Sie blickt kaum auf.

»Du weißt schon. Alles …« Ich gerate ins Stocken, bin am Verzweifeln. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Suze ist meine engste, älteste Freundin, und wir haben immer zusammengehalten. Aber jetzt komme ich mir vor wie in einem Theaterstück, bei dem ich meinen Text vergessen habe, und sie weigert sich einfach, mir weiterzuhelfen.

Es ging schon die ganzen letzten Wochen schief, als wir in L. A. waren. Nicht nur zwischen Suze und mir, sondern ganz allgemein. Ich war kopflos. Mein Verstand hat vorübergehend ausgesetzt. Ich wollte so dringend Promistylistin werden, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat. Kaum zu glauben, dass ich erst gestern bei einer Premiere auf dem roten Teppich stand und mit jeder Faser meines Körpers gespürt habe, dass ich auf gar keinen Fall zwischen all den Promis in diesem Kino sitzen wollte. Ich fühle mich, als hätte ich in einer Seifenblase gelebt, die nun geplatzt ist.

Luke versteht mich. Wir hatten gestern ein langes Gespräch und konnten einiges klären. Was mit mir in Hollywood passiert ist, sei skurril, sagte er. Ohne es zu wollen, wurde ich über Nacht berühmt, und es hat mich komplett aus der Bahn geworfen. Er meinte, Freunde und Familie würden es mir sicher nicht ewig vorhalten. Sie würden mir schon verzeihen.

Nun, er mag mir verziehen haben. Suze aber nicht.

Am schlimmsten ist, dass ich gestern Abend noch dachte, alles würde wieder gut. Suze stand da und flehte mich an, mit ihr nach Las Vegas zu fahren, und ich habe ihr versprochen, sofort alles stehen und liegen zu lassen. Sie hat geweint und gesagt, sie hätte mich so sehr vermisst, und mir fiel ein solcher Stein vom Herzen. Aber jetzt, wo ich hier bin, ist alles anders. Sie verhält sich, als wollte sie mich gar nicht dabeihaben. Sie will nicht darüber sprechen. Sie gibt sich unversöhnlich.

Ich meine, ich weiß ja, dass sie sich Sorgen um Tarkie macht. Ich weiß, dass ich sie in Ruhe lassen sollte. Es fällt mir nur so schwer.

»Wie dem auch sei«, sagt Suze barsch. Und ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, kehrt sie an den Tisch zurück. Als ich ihr folge, blickt Alicia Biest-Langbein auf und mustert mich verächtlich. Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie mitkommt. Alicia Biest-Langbein, mein unliebster Mensch auf der ganzen Welt.

Eigentlich sollte ich sie Alicia Merrelle nennen. So heißt sie nämlich jetzt, seit sie Wilton Merrelle geheiratet hat, den Gründer eines berühmten Yoga- und Reha-Zentrums. Das Golden Peace ist ein gewaltiger Komplex mit Seminarräumen und einem Souvenirshop, und für eine Weile war ich ein echter Fan davon. Wir alle waren Fans. Bis Tarquin ständig dorthin ging, um mit diesem Bryce zusammen zu sein. Er meinte, Suze sei »destruktiv«, und er benahm sich wirklich seltsam. (Oder besser: seltsamer. Der gute, alte Tarkie war schon immer etwas anders als die anderen.)

Alicia war diejenige, die herausgefunden hat, dass die drei Männer auf dem Weg nach Las Vegas sind. Alicia war diejenige, die eine Kühlbox voller Kokoswasser fürs Wohnmobil besorgt hat. Alicia ist die Heldin der Stunde. Ich traue ihr nach wie vor nicht über den Weg. Alicia war mir schon immer ein Gräuel, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, vor vielen Jahren, noch bevor ich verheiratet war. Sie hat versucht, mein Leben zu ruinieren. Sie hat versucht, Lukes Leben zu ruinieren. Sie hat mich bei jeder Gelegenheit auflaufen lassen und mir das Gefühl gegeben, klein und dumm zu sein. Jetzt sagt sie, das sei nun vorbei, wir sollten es einfach vergessen, sie habe sich geändert. Tut mir leid, aber ich traue ihr trotzdem kein Stück. Das bring ich einfach nicht fertig.

»Ich denke«, sage ich und gebe mir Mühe, sachlich zu klingen, »wir sollten einen ordentlichen Plan ausarbeiten.« Ich hole Stift und Notizbuch aus meiner Tasche, schreibe in Großbuchstaben PLAN hinein und lege das Buch offen auf den Tisch, wo alle es sehen können. »Gehen wir die Fakten durch.«

»Dein Dad hat die anderen beiden mitgequatscht, um etwas zu regeln, was mit seiner Vergangenheit zu tun hat«, beginnt Suze. »Leider weißt du nicht, was, weil du ihn nicht danach gefragt hast.« Vorwurfsvoll sieht sie mich an.

»Ich weiß«, sage ich kleinlaut. »Tut mir leid.«

Ich hätte mehr mit meinem Dad reden sollen. Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, würde ich alles anders machen, selbstverständlich würde ich das, selbstverständlich. Aber ich kann nicht. Mir bleibt nur der Versuch, es wiedergutzumachen.

»Fassen wir zusammen, was wir wissen«, sage ich bemüht munter. »Graham Bloomwood kam 1972 in die Vereinigten Staaten. Er reiste mit drei amerikanischen Freunden herum: Brent, Corey und Raymond. Und sie sind dieser Route hier gefolgt.« Ich klappe Dads Karte auf und breite sie mit großer Geste aus. »Beweisstück A.«

Zum millionsten Mal studieren wir nun schon diese Karte. Es handelt sich um eine ganz einfache Straßenkarte, alt und vergilbt. Die Route ist mit rotem Kugelschreiber eingetragen. Diese Karte hilft uns eigentlich nicht weiter, aber trotzdem starren wir wie gebannt darauf, für alle Fälle. Ich habe das Zimmer von meinem Dad durchsucht, nachdem er mit Tarkie verschwunden war, aber abgesehen von einer alten Zeitschrift nur diese Karte gefunden.

»Es könnte also sein, dass sie diese Route nehmen.« Suze ist noch immer in die Karte vertieft. »L. A. … Las Vegas … Hier, sie sind zum Grand Canyon gefahren …«

»Aber vielleicht nehmen sie ja auch eine ganz andere Route«, sage ich eilig, bevor sie zu dem Schluss kommen kann, dass Dad und Tarkie am Grunde des Grand Canyons liegen und wir auf der Stelle per Hubschrauber hinfliegen müssen.

»Gehört dein Vater zu den Menschen, die ihre Wege nachvollziehen?«, fragt Alicia. »Was ich damit sagen will: Ist er redaktiv veranlagt?«

Redaktiv? Was bedeutet das?

»Na ja.« Ich huste. »Manchmal. Vielleicht.«

Dauernd stellt mir Alicia so schwierige Fragen. Und dann zwinkert sie mir triumphierend zu, als wollte sie sagen: Du verstehst kein Wort, stimmt’s?

Außerdem spricht sie immer mit einer so sanften und ernsten Stimme, was echt gruselig ist. Alicia hat sich total verändert, ist überhaupt nicht mehr so herrisch, wie sie es als PR-Frau in London war. Sie trägt Yogahosen, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, und immer wieder lässt sie so New Age-mäßige Ausdrücke fallen. Allerdings ist sie noch genauso herablassend wie eh und je.

»Manchmal vollzieht er seine Wege nach, manchmal nicht«, improvisiere ich. »Je nachdem.«

»Bex, du musst doch noch mehr wissen«, sagt Suze gereizt. »Erzähl noch mal von dem Trailerpark! Vielleicht hast du was übersehen.«

Gehorsam fange ich an: »Dad wollte, dass ich seinen alten Freund Brent aufsuche. Als ich zu der Adresse kam, stand ich vor einem Trailerpark, und Brent war gerade der Mietvertrag gekündigt worden.«

Während ich so rede, wird mir ganz heiß, und ich nehme einen Schluck Wasser. Das ist der Punkt, an dem ich es echt vermasselt habe. Oft genug hat Dad mich gebeten, nach Brent zu suchen, aber ich habe es immer wieder aufgeschoben, weil … na ja, weil das Leben so spannend war, und die Suche schien mir ein langweiliger Dad-Auftrag zu sein. Wenn ich es einfach gemacht hätte, wenn ich früher hingefahren wäre, hätte Dad vielleicht mit Brent reden können, bevor dieser ausziehen musste. Vielleicht wäre Brent dann noch da. Vielleicht wäre alles anders gekommen.

»Dad wollte es erst nicht glauben«, fahre ich fort, »weil er dachte, Brent müsste reich sein.«

»Wieso?«, will Suze wissen. »Wieso dachte er, Brent müsste reich sein? Schließlich hatte er ihn seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen.«

»Keine Ahnung. Aber er ging davon aus, dass Brent in einer Villa wohnte.«

»Also ist dein Dad extra nach L. A. geflogen und hat Brent besucht.«

»Ja. Vermutlich im Trailerpark. Offenbar hatten sie irgendwas miteinander ›auszutragen‹.«

»Und das hat dir Brents Tochter erzählt.« Sie überlegt. »Rebecca.«

Wir schweigen beide. Das ist der merkwürdigste Teil der Geschichte. Ich sehe die Szene noch vor mir. Wie ich Brents Tochter auf den Stufen des Wohnwagens gegenüberstehe und sie für mich nichts als ätzende Feindseligkeit übrig hat. Wie ich sie verwundert anstarre und denke: Was habe ich dir nur getan? Und dann dieser Killersatz: Wir heißen alle Rebecca. Ich weiß immer noch nicht, wen sie mit »alle« meinte. Aber von ihr hatte ich ganz bestimmt keine Erklärung zu erwarten.

»Was hat sie sonst noch gesagt?«, fragt Suze ungeduldig.

»Nichts weiter! Nur: ›Wenn du es nicht weißt, werde ich es dir sicher nicht sagen.‹«

»Sehr hilfreich.« Suze rollt mit den Augen.

»Ja, nun. Sie schien mich nicht besonders zu mögen. Ich weiß nicht, wieso.«

Ich behalte lieber für mich, dass sie meinte, ich hätte ein »etepetete Stimmchen«, und dass ihre letzten Worte zu mir waren: »Und jetzt verpiss dich, Prinzessin.«

»Diesen Corey hat sie mit keinem Wort erwähnt?« Suze klappert mit ihrem Stift auf dem Tisch.

»Nein.«

»Aber Corey wohnt in Las Vegas. Also will dein Dad vielleicht zu ihm.«

»Das glaube ich auch.«

»Du glaubst es!«, fährt Suze mich an. »Bex, wir brauchen handfeste Fakten!«

Es ist ja schön und gut, dass Suze der Ansicht ist, ich müsste auf alles eine Antwort haben. Aber Mum und ich wissen ja nicht einmal, wie Corey oder Raymond mit Nachnamen heißen, ganz zu schweigen von sonst irgendwelchen Details. Mum meint, Dad hätte die beiden immer nur erwähnt, wenn er sich an die Reise erinnerte, was einmal im Jahr vorkam, zu Weihnachten, aber sie hat nie so richtig zugehört. (Sie meinte sogar: Kennt man eine Geschichte von der sengenden Hitze im Death Valley, kennt man alle, und sie hätten sich doch auch einfach einen hübschen Swimmingpool suchen können.)

Ich habe corey las vegas gegoogelt, corey graham bloomwood, corey brent und alles, was mir sonst noch so einfiel. Das Problem ist nur, dass es in Las Vegas viele Coreys gibt.

»Okay.« Alicia beendet ihr Telefonat. »Trotzdem vielen Dank.«

Alicia hat alle möglichen Leute angerufen, um herauszufinden, ob Bryce erwähnt hat, wo er in Las Vegas absteigen wollte. Bisher weiß niemand etwas.

»Kein Glück?«

»Nein.« Sie seufzt schwer. »Suze, ich fühle mich, als würde ich dich im Stich lassen.«

»Du lässt mich doch nicht im Stich!«, sagt Suze sofort und drückt Alicias Hand. »Du bist ein Engel.«

Die beiden ignorieren mich geflissentlich. Vielleicht ist es sowieso mal an der Zeit, eine kleine Pause einzulegen. Ich zwinge mich zu einem freundlichen Lächeln und sage: »Ich gehe mir kurz die Beine vertreten. Angeblich gibt es hinter dem Diner einen Viehstall. Bestellt ihr mir bitte die Waffeln mit Ahornsirup? Und Pancakes und einen Erdbeermilchshake für Minnie. Komm mit, Schätzchen.« Ich nehme Minnies kleine Hand in meine und fühle mich sofort getröstet. Wenigstens Minnie liebt mich bedingungslos.

(Oder zumindest wird sie es tun, bis sie dreizehn ist und ich ihr sagen muss, dass sie nicht im superkurzen Mini zur Schule darf, woraufhin sie mich mehr hassen wird als sonst jemanden auf der Welt.)

(O Gott, das sind nur noch elf Jahre. Warum kann sie nicht für immer zweieinhalb bleiben?)

Drei

Als wir uns auf den Weg zum Hinterausgang des Diners machen, sehe ich Mum und Janice aus der Damentoilette kommen. Janice trägt eine weiße Sonnenbrille auf dem Kopf, deren Anblick Minnie sehnsuchtsvoll aufseufzen lässt.

»Die mag ich!«, sagt sie zögerlich und deutet mit dem Finger. »Bittteeeee?«

»Schätzchen!«, sagt Janice. »Möchtest du die haben?«

»Janice!«, rufe ich entsetzt, als sie Minnie die Sonnenbrille gibt. »Das sollst du doch nicht!«

»Ach, das macht nichts«, lacht sie. »Ich habe so viele Sonnenbrillen.«

Dabei muss ich zugeben, dass Minnie mit dieser übergroßen weißen Brille geradezu anbetungswürdig aussieht. Trotzdem kann ich ihr das nicht durchgehen lassen.

»Minnie«, sage ich ernst. »Du hast dich noch nicht mal dafür bedankt. Und du sollst nicht betteln. Was macht die arme Janice denn jetzt, wo sie keine Sonnenbrille mehr hat?«

Die Brille rutscht an Minnies Nase herunter, und sie hält sie fest, während sie angestrengt nachdenkt.

»Danke«, sagt sie schließlich. »Danke, Weniss.« (»Janice« kriegt sie noch nicht so richtig hin.) Sie greift in ihre Haare, löst ihr rosa kariertes Stoffschleifchen und reicht es Janice. »Weniss Schleife.«

»Aber Süße!« Unwillkürlich muss ich kichern. »Janice trägt doch keine Schleifchen.«

»Unsinn!«, sagt Janice. »Das ist lieb von dir, Minnie, vielen Dank.«

Sie steckt das Schleifchen in ihre grauen Haare, wo es völlig deplatziert wirkt, und plötzlich übermannt mich eine Woge der Zuneigung. Ich kenne Janice schon ewig. Sie ist ein bisschen verrückt. Sie ist spontan mit nach L. A. geflogen, um Mum zu unterstützen, und hat uns alle mit Geschichten über ihren Ikebana-Kursus unterhalten. Es ist immer nett, sie dabeizuhaben. (Außer natürlich, wenn sie mit illegalen Drogen dealt.)

»Danke, dass du mitgekommen bist, Janice«, sage ich überschwänglich und umarme sie so gut es geht angesichts der Tatsache, dass ihre diebstahlsichere Bauchtasche wie ein Schwangerschaftsbäuchlein ihr Oberteil ausbeult. Mum und sie haben sich identische Taschen umgeschnallt, und wenn man mich fragt, könnten die beiden ebenso Schilder vor sich hertragen, auf denen steht: FETTEBEUTE! Das habe ich allerdings bisher für mich behalten, weil sie sich auch so schon genug Sorgen machen.

»Mum …« Ich drehe mich um und will sie auch an mich drücken. »Keine Sorge. Dad geht es bestimmt gut.«

Aber sie ist total verspannt und erwidert meine Umarmung gar nicht richtig. »Das ist ja alles schön und gut, Becky«, sagt sie aufgebracht. »Aber diese Heimlichtuerei. So was kann ich überhaupt nicht brauchen, nicht in meinem Alter.«

»Ich weiß«, sage ich verständnisvoll.

»Dein Dad wollte dich gar nicht Rebecca nennen. Ich war diejenige, die den Namen mochte.«

»Ich weiß.«

Dieses Gespräch hatten wir bestimmt schon zwanzig Mal. Es war so ziemlich das Erste, was ich von Mum wissen wollte, als sie nach L. A. kam: »Warum heiße ich Rebecca?«

»Du weißt doch, wie dieses Buch«, fährt Mum fort. »Dieser Roman von Daphne du Maurier.«

»Ich weiß.« Geduldig nicke ich.

»Aber Dad wollte nicht. Er schlug Henrietta vor.« Mums Wangen beben.

»Henrietta.« Ich rümpfe die Nase. Ich bin so was von überhaupt keine Henrietta.

»Warum um alles in der Welt wollte er dich nicht Rebecca nennen?« Mums Stimme wird schrill.

Keiner sagt was. Alles ist ganz still, bis auf dieses leise Klickern, weil Mum an ihrer Perlenkette herumnestelt. Es tut mir weh zu sehen, wie ihre Finger zittern. Dad hat ihr diese Perlenkette geschenkt, eine echte Antiquität von 1895, und ich habe Mum damals beim Kauf beraten. Sie war so verzückt und selig. Dad bekommt einen MB – einen Megabonus – und kauft uns allen davon jedes Jahr etwas Hübsches.

Mein Dad ist schon wirklich was Besonderes. Er erhält seinen MB noch immer, obwohl er längst pensioniert ist, einfach nur für seine gelegentliche Beratungstätigkeit bei der Versicherung. Luke meint, er muss wohl über ungewöhnliche Nischenkenntnisse verfügen, um ein derart hohes Honorar verlangen zu können. Dabei ist er so bescheiden. Er gibt niemals damit an. Immer kauft er uns etwas davon, und zur Feier des Tages gehen wir alle zusammen in London essen. So ein Mensch ist mein Dad. Er ist großzügig. Er ist liebevoll. Er sorgt für seine Familie. Das hier passt alles überhaupt nicht zu ihm.

Sanft nehme ich Mums Hand und löse sie von der Perlenkette.

»Du wirst sie noch zerreißen«, sage ich. »Mum, bitte versuch, dich zu entspannen!«

»Komm mit, Jane.« Tröstend nimmt Janice Mum beim Arm. »Setzen wir uns und essen eine Kleinigkeit. Hier gibt es Kaffee satt«, fügt sie im Gehen noch hinzu. »Die laufen mit der Kanne von Tisch zu Tisch und schenken einem nach, wenn man möchte! So viel man will! Das ist mal ein vernünftiges System. Viel besser als diese ganzen Caffè Lattes und Grandaccinos …«

Als die beiden gegangen sind, nehme ich Minnie bei der Hand und steuere auf den Hinterausgang des Diners zu. Sobald ich vor die Tür trete, geht es mir schon besser, trotz der glühenden Sonne. Ich musste da weg. Alle sind so gereizt und angespannt. Am liebsten würde ich mich mit Suze hinsetzen und mal richtig reden, aber das geht nicht, solange Alicia dabei ist …

Ach, was haben wir denn da?

Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Nicht wegen dieses sogenannten Viehstalls, der sich als Pferch mit drei räudigen Ziegen entpuppt, sondern weil da ein Schild hängt mit der Aufschrift: HANDWERKSKUNSTAUSDERREGION. Vielleicht sollte ich da mal reingehen und mir was Schönes gönnen, um mich ein wenig aufzuheitern. Mir eine kleine Freude machen und dabei gleichzeitig die lokale Wirtschaft unterstützen. Ja, das sollte ich.

Es gibt etwa sechs Stände mit Kunsthandwerk und Handwerkskunst. Ich sehe ein dürres Mädchen mit hochhackigen Wildlederstiefeln, das Halsketten in einen Einkaufskorb schaufelt und dabei der Verkäuferin zuruft: »Die sind himmlisch! Hier kaufe ich jetzt alle meine Weihnachtsgeschenke!«

Als ich näher herantrete, taucht hinter einem anderen Stand plötzlich eine weißhaarige, alte Dame auf, und ich schrecke zurück. Sie sieht selbst aus wie handgemacht. Ihre Haut ist so braun und faltig, dass sie ebenso aus gegerbtem Leder oder uraltem Holz bestehen könnte. Die Frau trägt einen Lederhut mit einer Kordel unterm Kinn, ihr fehlt ein Zahn, und der karierte Rock muss an die hundert Jahre alt sein.

»Auf Urlaub?«, erkundigt sie sich, als ich anfange, mir die Ledertaschen anzusehen

»Mehr oder weniger … na ja, nicht wirklich«, gebe ich zu. »Eigentlich suchen wir jemanden. Mehrere. Wir sind ihnen auf der Spur.«

»Menschenjagd.« Sie nickt nüchtern. »Mein Opa war Kopfgeldjäger.«

Kopfgeldjäger? Das ist das Coolste, was ich je gehört habe. Allein die Vorstellung, selbst eine Kopfgeldjägerin zu sein! Unwillkürlich sehe ich vor meinem inneren Auge eine Visitenkarte, vielleicht mit einem kleinen Cowboyhut oben rechts in der Ecke:

REBECCABRANDON, KOPFGELDJÄGERIN.

»Vermutlich bin ich wohl auch so was wie eine Kopfgeldjägerin«, höre ich mich unbekümmert sagen. »Sie wissen schon. Mehr oder weniger.«

Was in gewisser Weise stimmt. Schließlich jage ich Menschen. Das macht mich doch zur Menschenjägerin, oder etwa nicht? »Hätten Sie wohl ein paar Tipps für mich?«, füge ich hinzu.

»Mehr als genug«, sagt sie heiser. »Mein Opa hat immer gesagt: ›Hol sie nicht ein, hol sie ab.‹«

»Hol sie nicht ein, hol sie ab?«, wiederhole ich. »Was bedeutet das?«

»Es bedeutet: Sei schlau. Lauf keinem hinterher, der auf der Flucht ist. Such nach den Freunden. Such die Familie.« Plötzlich holt sie ein Bündel von dunkelbraunem Leder hervor. »Gönnen Sie sich doch ein feines Holster, Ma’am. Handgenäht.«

Ein Holster? Ein Holster, etwa … für eine Waffe?

»Oh«, sage ich verunsichert. »Natürlich! Ein Holster. Wow. Das ist … mh … zauberhaft. Das Problem ist nur …« Ich räuspere mich verlegen. »Ich habe gar keine Waffe.«

»Sind Sie etwa unbewaffnet?«, fragt sie entgeistert.

Ich komme mir vor wie eine Memme. Ich habe noch nie eine Waffe in der Hand gehalten, geschweige denn eine besessen. Aber vielleicht sollte ich offeneren Geistes sein. Ich meine, so läuft das doch hier draußen im Wilden Westen, oder? Man trägt Hut, man trägt Stiefel, man trägt Waffe. Wahrscheinlich schlendern die Mädchen im Wilden Westen durch die Straßen und mustern die Revolver der anderen, so wie ich nach Hermès-Handtaschen Ausschau halte.

»Ich habe im Moment keine Waffe«, ergänze ich. »Ich habe sie gerade nicht bei mir. Aber wenn, dann komme ich zurück und kaufe ganz bestimmt ein Holster.«

Als ich weitergehe, überlege ich, ob ich nicht schnell ein paar Schießstunden nehmen, mir einen Waffenschein besorgen und eine Gluck kaufen sollte. Oder meine ich Glock? Oder eine Smith & Soundso. Ich weiß nicht mal, welche die Coolste ist. Es sollte eine Vogue für Schusswaffen geben.

Ich gehe auf den nächsten Stand zu, an dem das dürre Mädchen, das mir vorhin schon aufgefallen war, mittlerweile bereits den zweiten Einkaufskorb füllt.

»Hey«, sagt sie freundlich und blickt zu mir auf. »Diese Tücher sind um fünfzig Prozent reduziert!«

»Manche sogar um fünfundsiebzig Prozent«, stimmt die Budenbesitzerin mit ein. Sie hat einen grauen Zopf, der mit Bändern durchflochten ist, was wirklich entzückend aussieht. »Ich mache großen Schlussverkauf.«

»Wow.« Ich nehme eines der Tücher und schüttle es aus. Es ist aus ganz weicher Baumwolle, mit wunderschön gestickten Vögeln, und das zu einem unglaublichen Preis.

»Ich nehme je zwei für meine Mum und mich«, sagt das dürre Mädchen. »Sie sollten sich mal die Gürtel ansehen!« Sie deutet auf den Nachbarstand. »Also, ich finde, Gürtel kann man gar nicht genug haben.«

»Absolut«, stimme ich zu. »Ohne Gürtel geht gar nichts.«

»Nicht wahr?« Sie nickt begeistert. »Könnte ich noch einen Korb bekommen?«, fügt sie an die Budenbesitzerin gewandt hinzu. »Und akzeptieren Sie Amex?«

Während die Verkäuferin ihr Kreditkartengerät hervorholt, nehme ich ein paar Tücher in die Hand. Aber es ist seltsam. Vielleicht bin ich einfach nicht in Tuchlaune oder so, denn obwohl nicht zu übersehen ist, wie traumhaft schön sie sind, ist mir doch nicht danach zumute, sie zu kaufen. Als stünde ein Wagen mit den köstlichsten Desserts vor mir, und ich hätte keinen Appetit.

Also gehe ich rüber zu dem Gürtelstand und werfe mal einen Blick darauf.

Ich meine, die sind sehr gut gearbeitet. Die Schnallen sind hübsch und schwer, und es gibt sie in durchaus geschmackvollen Farben. Ich kann nichts finden, was daran auszusetzen wäre. Mir ist nur nicht danach zumute, sie zu kaufen. Bei dem Gedanken daran wird mir sogar ein bisschen übel. Was wirklich merkwürdig ist.

Das dürre Mädchen hat fünf volle Körbe mit Waren aufgereiht und kramt in ihrem Michael-Kors-Täschchen herum. »Ich war mir sicher, dass diese Kreditkarte in Ordnung ist«, sagt sie ungeduldig. »Versuchen wir es mit einer anderen …Oh, nein!« Abrupt bückt sie sich, weil ihr die Tasche ausgekippt ist. Ich will ihr gerade zur Hand gehen, als ich meinen Namen höre.

»Bex!« Ich drehe mich um und sehe Suze in der Hintertür des Diners stehen. »Das Essen ist da …« Sie stutzt, und ihr Blick fährt an der Reihe voller Körbe entlang. »Na, das ist mal wieder typisch. Du bist beim Shoppen. Was auch sonst?«

Ihr Ton ist so scharf, dass ich spüre, wie sich meine Wangen rot färben. Doch halte ich ihrem Blick schweigend stand. Es hat keinen Sinn, etwas erklären zu wollen. Suze ist entschlossen, kein gutes Haar an mir zu lassen, was immer ich auch tue. Als sie wieder im Diner verschwindet, atme ich aus.

»Komm mit, Minnie«, sage ich und gebe mir Mühe, heiter zu klingen. »Wir sollten endlich frühstücken. Du darfst sogar einen Milchshake haben.«

»Milchshake!«, ruft Minnie begeistert. »Von einer Kuh«, erklärt sie mir. »Schokoladenkuh?«

»Nein, heute von einer Erdbeerkuh«, erkläre ich ihr und kitzle sie unterm Kinn.

Okay. Ich weiß ja, dass wir Minnie eines Tages die Wahrheit sagen müssen, was die Kühe angeht, aber ich bringe es einfach noch nicht übers Herz. Es ist so niedlich. Sie glaubt ernsthaft, es gäbe Schokoladenkühe, Vanillekühe und Erdbeerkühe.

»Von einer besonders leckeren Erdbeerkuh«, höre ich Lukes Stimme, und als ich aufblicke, sehe ich ihn in der Tür zum Diner. »Das Essen ist da.« Er zwinkert mir zu.

»Danke. Wir kommen.«

»Minnie schwingen?«, fragt unsere Kleine und blickt hoffnungsvoll auf. Luke lacht.

»Dann mal los, du Früchtchen.«

Ein paar Minuten spazieren wir herum und schwingen Minnie zwischen uns vor und zurück.

»Wie läuft’s denn so?«, fragt mich Luke über Minnies Kopf hinweg. »Du warst ziemlich still im Wagen.«

»Ach«, sage ich etwas irritiert, dass es ihm überhaupt aufgefallen ist. »Na ja, ich habe … du weißt schon … nachgedacht.«

Das stimmt nicht ganz. Ich bin so still, weil ich niemanden zum Reden habe. Suze und Alicia pflegen ihre kleine Zweisamkeit, genau wie Mum und Janice. Mir bleibt nur Minnie, und die klebt an ihrem iPad und guckt Verwünscht.

Ich meine, ich habe es ja versucht. Als wir in L. A. losfuhren, habe ich mich zu Suze gesetzt und wollte sie mal richtig fest an mich drücken, aber sie wurde ganz starr und hat mich total auflaufen lassen. Ich kam mir so blöd vor, dass ich eilig wieder auf meinen Sitz zurück bin und so getan habe, als würde ich mich für die Landschaft interessieren.

Aber darauf will ich jetzt nicht weiter eingehen. Ich möchte Luke nicht mit meinen Problemen belasten. Er ist ein wahrer Held – da ist es ja wohl das Mindeste, ihm nicht auch noch meine albernen Sorgen aufzubürden. Ich werde würdevoll und diskret bleiben, wie man es von einer Ehefrau erwarten kann. »Danke, dass du mitgekommen bist«, sage ich. »Danke, dass du das hier mitmachst. Ich weiß, wie viel du zu tun hast.«

»Ich würde dich doch nie mit Suze allein in die Wüste fahren lassen.« Er lacht kurz auf.

Es war Suzes Idee, kurz rüber nach Vegas zu fahren – sie und Alicia waren überzeugt davon, dass sie Bryce schon bald aufspüren würden. Doch das war bisher noch nicht der Fall, und da sind wir nun, auf halber Strecke, ohne Hotelreservierung, ohne einen Plan oder sonst irgendwas …

Ich meine, ich habe ja nichts dagegen, schnell mal irgendwohin zu fahren. Aber selbst ich sehe ein, dass das alles ein bisschen durchgeknallt ist. Nur möchte ich nicht diejenige sein, die es laut aussprechen muss, weil Suze mir bestimmt dafür den Kopf abreißt. Bei dem Gedanken an Suze komme ich schon wieder unter Druck, und plötzlich kann ich es nicht mehr für mich behalten. Ich werde ein andermal würdevoll und diskret sein.

»Luke, ich glaube, ich verliere sie«, platzt es aus mir heraus. »Sie sieht mich nicht mehr an, sie spricht nicht mehr mit mir …«

»Wer, Suze?« Luke verzieht das Gesicht. »Ist mir auch schon aufgefallen.«

»Ich will Suze nicht verlieren.« Meine Stimme fängt an zu zittern. »Das darf nicht passieren. Sie ist meine Drei-Uhr-nachts-Freundin!«

»Deine was?« Verwundert sieht Luke mich an.

»Du weißt schon. So eine Freundin, die man notfalls auch mitten in der Nacht anrufen kann, und sie würde sofort vorbeikommen. So wie Janice Mums Drei-Uhr-nachts-Freundin ist, und Gary dein Drei-Uhr-nachts-Freund …«

»Ich verstehe, was du meinst.« Luke nickt.

Gary ist der loyalste Mensch der Welt. Und er betet Luke an. Er wäre um drei Uhr nachts für ihn da, ohne zu zögern, und Luke genauso für ihn. Ich dachte immer, Suze und ich würden bis ans Ende unserer Tage ebenso eng verbunden sein.

»Wenn ich heute Nacht um drei Probleme hätte, könnte ich Suze wohl nicht mehr anrufen.« Niedergeschlagen sehe ich Luke an. »Sie würde vermutlich auflegen.«

»Das ist doch Unsinn«, sagt Luke energisch. »Suze liebt dich noch genauso wie immer.«

»Tut sie nicht.« Ich schüttle den Kopf. »Und ich kann ihr daraus nicht mal einen Vorwurf machen. Es ist alles meine Schuld …«

»Nein, ist es nicht«, sagt Luke und lacht erstaunt. »Was redest du da?«

Verdutzt starre ich ihn an. Wie kann er das überhaupt fragen?

»Natürlich ist es das! Wäre ich früher zu Brent gefahren, wie es abgemacht war, wären wir nicht hier.«

»Becky, es ist nicht alles deine Schuld«, entgegnet Luke mit fester Stimme. »Du weißt nicht, was sich daraus ergeben hätte, wenn du früher zu Brent gefahren wärst. Und außerdem sind Tarquin und dein Vater erwachsene Männer. Du darfst dir nicht die Schuld geben. Okay?«

Ich höre ihn reden, aber er täuscht sich. Er begreift nicht.

»Wie dem auch sei.« Ich seufze schwer. »Suze hat nur noch Augen für Alicia.«

»Du bist dir aber schon darüber im Klaren, dass Alicia versucht, dich zu verunsichern.«

»Im Ernst?«

»Das ist doch offensichtlich. Sie redet völligen Blödsinn. Das Wort ›redaktiv‹ gibt es überhaupt nicht.«

»Im Ernst?« Plötzlich fühle ich mich besser. »Ich dachte, ich bin bloß zu dumm.«

»Dumm? Du bist doch nicht dumm!« Luke lässt Minnies Hand los, zieht mich an sich und blickt mir tief in die Augen. »Dusselig beim Einparken vielleicht. Aber nicht dumm. Becky, lass dich von diesem Biest ja nicht kleinkriegen.«

»Weißt du, was ich denke?« Ich spreche leiser, obwohl uns keiner hören kann. »Sie führt etwas im Schilde. Alicia meine ich.«

»Was denn?«

»Das weiß ich noch nicht«, gebe ich zu. »Aber ich werde es herausfinden.«

Luke zieht seine Augenbrauen hoch. »Sei aber vorsichtig mit dem, was du tust. Suze ist momentan sehr empfindlich.«

»Ich weiß. Das musst du mir nicht sagen.«

Luke nimmt mich in den Arm, und für einen Augenblick lasse ich mich fallen. Ich bin ganz schön erschöpft.

»Komm, gehen wir rein«, sagt er schließlich. »Übrigens glaube ich, Janice hat sich übers Ohr hauen lassen«, fügt er hinzu, als wir auf das Gebäude zugehen. »Diese Tabletten? Ich habe mir die Liste der Inhaltsstoffe angesehen, und das hübsche lateinische Wort, das da für den Hauptwirkstoff stand, bedeutet nichts anderes als Aspirin.«

»Im Ernst?« Fast möchte ich laut loslachen, wenn ich daran denke, wie panisch Janice ihre Tabletten in der Wüste verstreut hat. »Na, das behalten wir wohl lieber für uns.«

Als wir wieder zum Tisch kommen, steht alles voller Teller, doch scheint niemand zu essen, bis auf Janice, die Rührei in sich hineinschiebt. Mum rührt mürrisch ihren Kaffee, Suze knabbert an ihrem Daumennagel herum (was sie immer tut, wenn sie gestresst ist), und Alicia schüttet irgend so ein grünes Pulver in ihre Tasse. Wahrscheinlich wieder irgendwas ekelhaft Gesundes.

»Hallo«, sage ich in die Runde und lasse mich auf meinem Stuhl nieder. »Schmeckt’s?«

»Wir versuchen hier, scharf nachzudenken«, knurrt Suze. »Und es wäre schön, wenn sich alle daran beteiligen könnten.«

Alicia flüstert ihr etwas ins Ohr, Suze nickt, und beide sehen mich schräg von der Seite an. Und für einen bitteren Augenblick komme ich mir vor wie damals in der Schule, als die anderen Mädchen mit Fingern auf meinen Turnanzug gezeigt haben. (Mum hat mich gezwungen, den alten Turnanzug zu tragen, während alle anderen schon längst den neuen hatten, und das nur, weil sie die Neuanschaffung für Nepp hielt. Ich meine, ich mache ihr keinen Vorwurf, aber ich wurde dafür ausgelacht, und zwar in jeder einzelnen Turnstunde.)

Wie dem auch sei, ich will mich nicht aufregen. Ich bin eine erwachsene Frau, die etwas zu erledigen hat. Ich beiße in meine Waffel, ziehe Dads Straßenkarte näher zu mir und starre sie an, bis die Linien verschwimmen. Die Worte der weisen Alten gehen mir gar nicht aus dem Sinn: »Such nach den Freunden. Such die Familie.«

Was es mit diesem Geheimnis auch auf sich haben mag, es hat in jedem Fall mit den vier Freunden zu tun. Also noch mal zurück zu den Fakten. Corey ist der Freund in Las Vegas. Das ist unser wichtigster Anhaltspunkt. Wir müssen diesen Corey finden. Wir müssen schlauer sein. Aber wie?

Bestimmt weiß ich mehr, als mir bewusst ist. Bestimmt. Ich muss nur schärfer nachdenken. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, in der Zeit zurückzureisen. Es ist Weihnachten. Ich sitze am Kamin in unserem Haus in Oxshott. Ich kann die Schokoladenorange auf meinem Schoß riechen. Dad hat die alte Straßenkarte auf dem Kaffeetisch ausgebreitet und schwelgt in Erinnerungen an seine Reise nach Amerika. Ich höre sogar seine Stimme, zufällige Satzfetzen.

»… und dann geriet das Feuer außer Kontrolle. Das war kein Picknick, das kann ich euch sagen …«

»… man sagt ›stur wie ein Esel‹, und ich weiß auch wieso – das elende Mistvieh wollte um keinen Preis in diesen Canyon hinuntersteigen …«

»… bis tief in die Nacht saßen wir zusammen und haben Bier getrunken …«

»… Brent und Corey waren kluge Jungs – studierte Wissenschaftler …«

»… dann diskutierten sie ihre Theorien und machten sich Notizen …«

»… Corey hatte natürlich genug Geld, denn er kam aus reicher Familie …«

»… es gibt doch nichts Schöneres als beim Campen den Sonnenaufgang zu sehen …«

»… um ein Haar wäre der Wagen in eine Schlucht gestürzt, weil Raymond einfach nicht nachgeben wollte …«

»… Corey hat fortwährend gezeichnet. Er war ein waschechter Künstler, mit allem, was dazu gehört …«

Moment mal.

Corey war ein waschechter Künstler. Das hatte ich glatt vergessen. Aber da war noch irgendwas mit Corey und seiner Malerei. Was war das noch? Was war das noch …?

Eins muss ich sagen: Ich bin ganz gut darin, mein Gehirn herumzukommandieren. Es kann Visa-Rechnungen vergessen, wenn ich will, und Konflikte übertünchen, und es kann die gute Seite an so ziemlich allem sehen. Und jetzt befehle ich ihm, sich zu erinnern. In all diesen staubigen Ecken in meinem Kopf nachzugucken, die ich nie aufräume, und sich zu erinnern. Denn ich weiß, dass da noch irgendwas war … Ich weiß genau, dass da noch was war …

Ja!

»… er hat auf jedes Bild einen kleinen Adler gezeichnet, wie eine Signatur …«

Ich reiße die Augen auf. Ein Adler. Ich wusste doch, dass da etwas war. Na, es ist zwar nicht viel, aber immerhin ein Anfang, oder?

Ich zücke mein Handy, gebe bei Google corey künstler adler las vegas ein und warte auf Treffer. Irgendwie habe ich kein Netz und drücke ungeduldig auf der Tastatur herum, während mein Hirn nach weiteren Informationen sucht. Corey, der Künstler. Corey, der reiche Mann. Corey, der Wissenschaftler. Gab es noch andere Hinweise?

»Eben habe ich Nachricht von meinem Bekannten bekommen«, sagt Alicia und blickt von ihrem Handy auf. »Wieder kein Glück. Suze …« Sie hält inne, macht ein trauriges Gesicht. »Möglicherweise sollten wir zurück nach L. A. fahren und noch mal neu überlegen.«

»Aufgeben?« Suze zieht eine Grimasse, und mich packt die Angst. Getrieben von Adrenalin und einem ausgeprägten Sinn für Dramatik sind wir in die Wüste gerast. Wenn wir jetzt einfach aufgeben und nach Hause fahren, bricht Suze garantiert zusammen.

»Lasst uns nicht gleich das Handtuch werfen«, sage ich und gebe mir Mühe, positiv zu klingen. »Wenn wir noch ein bisschen überlegen, kommt irgendwann bestimmt was dabei heraus …«

»Ach, wirklich, Bex?«, faucht Suze. »Du hast leicht reden. Und was trägst du dazu bei? Nichts! Was treibst du da eigentlich?« Mit wilder Geste deutet sie auf mein Handy. »Wahrscheinlich wieder Onlineshoppen.«

»Tu ich nicht!«, sage ich trotzig. »Ich recherchiere.«

»Und zwar was?«

Mein blöder Bildschirm ist eingefroren. Ich drücke noch mal auf ENTER, tippe ungeduldig darauf herum.

»Luke, du hast doch Einfluss!«, wirft Mum ein. »Immerhin kennst du den Premierminister. Kann der uns nicht helfen?«

»Der Premierminister?« Luke klingt etwas ratlos.

Plötzlich erscheinen die Suchergebnisse auf meinem Bildschirm. Und als ich auf der Seite nach unten scrolle, traue ich meinen Augen kaum. Da ist er! Der Corey von Dads Reise!

Lokaler Künstler Corey Andrews … Signatur Adler … stellte in der Las Vegas Gallery aus …

Das muss er doch sein, oder?

Eilig tippe ich Corey Andrews ein und halte die Luft an. Schon baut sich eine Seite mit Treffern auf. Da gibt es eine Wikipedia-Seite, Geschäftsberichte, Immobiliennachrichten, irgendeine Firma namens Firelight Innovations Inc. – alles derselbe Typ. Corey Andrews aus Las Vegas. Ich habe ihn gefunden!

»Oder dieser Mensch, den du bei der Bank of England kennst …« Mum bleibt beharrlich.

»Du meinst den Vorstandsvorsitzenden der Bank of England?«, fragt Luke nach einer Pause.

»Ja, den! Ruf ihn an!«

Ich möchte laut lachen, als ich Lukes Gesicht sehe. Mum scheint allen Ernstes zu erwarten, dass er das gesamte britische Kabinett hierherzitiert, um Dad zu suchen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das im Bereich des Möglichen liegt«, sagt Luke höflich und wendet sich Alicia zu. »Fällt dir denn niemand mehr ein, den man fragen könnte?«

»Nein.« Alicia seufzt. »Ich glaube, hier endet unser Weg.«

»Ich weiß etwas«, melde ich mich unsicher zu Wort, und alle drehen sich zu mir um.

»Du?«, fragt Suze misstrauisch.

»Ich habe diesen Corey von Dads Reise aufgetrieben. Er heißt Corey Andrews. Mum, klingt das vertraut?«

»Corey Andrews.« Mum runzelt die Stirn. »Ja, Andrews könnte stimmen …« Sie strahlt mich an. »Becky, ich glaube, das ist er! Corey Andrews. Er war der Reiche, wie Dad ihn immer nannte. Hat er nicht auch Bilder gemalt?«

»Genau! Und er wohnt in Las Vegas. Ich hab seine Adresse.«

»Gut gemacht, Becky, Liebes!«, sagt Janice, und unwillkürlich wird mir ganz warm vor Stolz.

»Wie hast du das rausgefunden?«, will Alicia wissen und scheint mir fast empört.

»Einfach … mh … du weißt schon. Laterales Denken.« Ich reiche Luke mein Handy. »Hier ist die Postleitzahl. Los geht’s.«

Von: [email protected]

An: Brandon, Rebecca

Betreff: Re: Bewerbung als Kopfgeldjäger

Liebe Mrs Brandon,

vielen Dank für Ihre E-Mail. Wenn Sie sich dem Internationalen Verband der Ermittler zur Rückführung Justizflüchtiger anschließen möchten, füllen Sie bitte das beigefügte Formular aus und senden es mit den $95 Mitgliedsbeitrag an uns zurück. Dafür erhalten Sie einen Ausweis und weitere Vorteile, die Sie bitte unserer Webseite entnehmen.

Um jedoch Ihre Frage zu beantworten, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir weder »Kopfgeldjäger-Dienstabzeichen« noch anderweitige »Kopfgeldjäger-Accessoires« ausgeben.

Zwar gibt es tatsächlich ein besonderes Ausbildungsprogramm, doch bieten wir in diesem Rahmen keine speziellen Kurse zum Thema »Wie man seinen verschollenen Dad wiederfindet« an. Und auch nicht »Wie man mit seinen Kopfgeldjägerkollegen befreundet bleibt«.

Viel Glück bei Ihrem Vorhaben!

Mit freundlichen Grüßen,

Wyatt Underwood

Mitgliederbetreuung

Internationaler Verband der Ermittler

zur Rückführung Justizflüchtiger

Vier

Auf dem Weg nach Las Vegas ist die Stimmung im Wohnmobil gedrückt. Mum und Janice schweigen. Suze und Alicia sitzen mir tuschelnd gegenüber. Ich selbst spiele Stickers mit Minnie und denke über Bryce nach.

Sein voller Name lautet Bryce Perry, und er war – ist – im Golden Peace zuständig für die »persönliche Entfaltung«. Ich bin ihm oft genug über den Weg gelaufen, als ich dort Kurse besucht habe, und eines will mir nicht recht einleuchten: Warum ist Tarquin ihm verfallen? Warum hat Dad ihn gebeten, mit nach Las Vegas zu kommen? Warum vertrauen ihm die beiden? Aber ich glaube, ich habe die Antwort darauf gefunden: Bryce ist ein wirklich gut aussehender Mann.

Nicht dass es was mit Schwulsein zu tun hätte. Schöne Menschen haben einfach etwas Faszinierendes. Besonders unrasierte Männer mit markantem Kinn und eindringlichen Augen. Man hängt an ihren Lippen und glaubt alles, was sie sagen. Wenn morgen Will Smith zu mir käme und behaupten würde, er sei auf der Flucht vor korrupten Regierungsbeamten und ich müsse ihm helfen, ohne Fragen zu stellen, würde ich das sofort tun.

Na, und genauso ist es mit Bryce. Er hat diesen einnehmenden Blick, bei dem man weiche Knie bekommt. Wenn er spricht, lauscht man ihm wie hypnotisiert. Man denkt: Bryce, du hast ja so recht! Mit allem! Selbst wenn er einem nur die Anfangszeiten der Yogakurse mitteilt.