3,99 €
Magdalena Jagelke schreibt über Leben: junge Frauen, die am Leben scheitern. An der Liebesbeziehung, an der Familie, am Beruf. Und doch lieben sie und leben und werden schwanger, gern auch von Unbekannt, wie in »Beautiful Boy«, einer Antwort auf Lewitscharoffs Halbwesenbezichtigung. Immer geht es in den Erzählungen von Jagelke auch um das Finden einer Heimat, das Suchen zwischen Polen und Deutschland, zwischen Europa und der Welt. Und auch um die Rolle Polens, dem »Orang-Utan Europas«, in dem französische Adelige aus einem anderen Jahrhundert elegant räubern und plündern. Verstörend und anrührend sind die Geschichten, schneidend und klar die Sprache Jagelkes. Schnörkellos und gleichzeitig voller Poesie. Magdalena Jagelke ist eine Schriftstellerin mit einer gewaltigen, eigenen Stimme und großem Talent.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 83
Magdalena Jagelke
Sich in Polen einen Bob schneiden lassen
Storys
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
Über das Buch
Magdalena Jagelke schreibt über Leben: junge Frauen, die am Leben scheitern. An der Liebesbeziehung, an der Familie, am Beruf. Und doch lieben sie und leben und werden schwanger, gern auch von Unbekannt, wie in »Beautiful Boy«, einer Antwort auf Lewitscharoffs Halbwesenbezichtigung.
Immer geht es in den Erzählungen von Jagelke auch um das Finden einer Heimat, das Suchen zwischen Polen und Deutschland, zwischen Europa und der Welt. Und auch um die Rolle Polens, dem »Orang-Utan Europas«, in dem französische Adelige aus einem anderen Jahrhundert elegant räubern und plündern.
Verstörend und anrührend sind die Geschichten, schneidend und klar die Sprache Jagelkes. Schnörkellos und gleichzeitig voller Poesie.
Wir freuen uns sehr, Magdalena Jagelkes erste Erzählsammlung zu veröffentlichen. Sie ist eine Schriftstellerin mit einer gewaltigen, eigenen Stimme und großem Talent.
Über die Autorin
Magdalena Jagelke, 1974 in Polen geboren, lebt seit 1986 in Deutschland. Sie hat Anglistik und Bibliotheks-/Informationswissenschaft studiert und danach in Köln und im Ruhrgebiet gearbeitet. Nominierung für den Lyrikpreis München im Jahr 2010. Merck-Stipendiatin 2013. Ein Sohn (seit 2013).
Impressum
Originalausgabe: © CulturBooks Verlag 2015
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Zoë Beck
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 01.01.2015
ISBN 978-3-944818-75-7
*
Den Comte de Crain hat es in Folge von Grundverkäufen nach Polen verschlagen. Seitdem lebt er dort und hält die Freundschaft zu dem Chevalier d’Aubry durch Briefe aufrecht.
Nun ist der Chevalier nicht unvorsichtig. Er hat von Polen, dem gemeinen Ungeheuer, Europas Orang-Utan, in den Pamphleten gelesen, doch der Comte de Crain versichert ihm, die Berichte seien lediglich Phantastereien von Schreiberlingen. Und da der Herr sich in Aubry zuweilen langweilt, soll er doch eine Reise nach Polen wagen.
Bald macht sich der Chevalier von Aubry auf nach Polen.
Nach einer ereignislosen Kutschfahrt, selbst hinter der deutschen Grenze geschieht nichts Außergewöhnliches, kommt der Chevalier bei Herrn de Crain an einem Nachmittag im Jahr 1780 an.
Die Wiedersehensfreude der beiden ist groß, lebt Herr de Crain doch bereits lange nicht mehr in Frankreich.
Herr de Crain führt den Chevalier herum, zeigt ihm das Schloss und die Gegend.
Bereits wenige Tage nach der Ankunft ist der Chevalier ohne die Diener unterwegs. Er nimmt einen Weg, den er oft mit de Crain fuhr. Von Weitem blitzen die Ziegel der Schänke in der Sonne. Dem Weg, der zur Schänke führt, fehlen Zweige. Die Wirtin hat die kränkelnden Bäume fällen lassen. Vor der Schänke verkündet er seine Ankunft. Die Wirtin lässt das Pferd in die Scheune bringen und füttern.
Sie trägt ein Kleid mit Blumenmuster. Ihr Haar ist zur Plica Polonica geknotet. Als sie den Chevalier an einen Tisch führt, ziehen einige Gäste an den Blumen auf dem Kleid.
In der Schänke bieten Kinder aus dem Dorf Kekse an. Manche Betrunkene treten nach ihnen. Die Kinder lassen sich von ihnen treten, denn es läuft gut. Die Kekse verkaufen sich.
Mädchen schlängeln sich zwischen den männlichen Gästen. Sie berühren die Felle, die die Herren tragen. Sie setzen sich auf den Schoß der Herren. Sie singen etwas, bücken sich, dass die Herren ihnen Geld in das Dekolleté werfen. Sie fragen, ob sie mitkommen können, da sie Leuchter funkeln und das Mobiliar blitzen sehen wollen. Sie sagen, dass sie den Herren zeigen, wie ihre nackte Haut glänzt. Die Herren lachen auf, richten sich auf, die Mädchen fallen vom Schoß zu Boden.
Der Chevalier sinkt tiefer in seinen Mantel. Schatten hinter den Gardinen. Er denkt an die Schatten. Wie es auf der Reise hierher war. In seinem Magen zitterte es, sein Herz klopfte laut, er betete an den dunklen Kreuzungen. Es regnete, und der Himmel hing tief.
Am Tisch neben ihm tuscheln die Männer, er versteht ja nicht, er schaut nicht hoch. Die Polen kommen auf den Chevalier zu, belagern ihn. Sie prosten und sie lächeln dem Herrn zu. Sie zerren ihn in ihre Mitte. Sie lassen nicht von dem Herrn ab. Was sind das nur für aufdringliche Leute, denkt er. Er versucht, sie wegzuschubsen.
Die Wirtin bringt dem Herrn Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse.
Doch der Chevalier kommt nicht zum Essen. Schon wieder zerrt jemand an seiner Schulter. Dieses Mal ist es einer von den Jungen, die hier ihre Kekse verkaufen. Er streckt dem Chevalier die Hand entgegen. Der Herr hat Mitleid mit der Kreatur, dem dünnen, barfüßigen, ungekämmten Wesen. Er greift nach der Geldbörse in seiner Tasche und legt Münzen auf die kleine Handfläche. Achète-toi des chaussures, sagt er. Der Junge lächelt. Dziękuję panu. Dziękuję bardzo.
Das Gästezimmer ist unter dem Dach. Es ist beheizt. Das Bett ist neu bezogen. Der Chevalier bläst die Lampe nicht aus. Er fröstelt unter der Decke, er versucht, nicht an die polnischen Wälder vor dem Fenster zu denken.
Er schaut zum Tisch. Aprikosen in der Schale. Er betrachtet die Früchte, zählt sie mehrmals ...
*
Er weiß das Refugium zu schätzen. Nun, da der Herr die Winde hier kennt, Polens kalten Atem. Sein Freund hat alles aus Frankreich importieren und das Schloss von französischen Architekten bauen lassen. Marmor ziert die Treppen und Wände. Verzierungen aller Art prangen an den Türen. Blätter, Blumen, Früchte, Engel. Gemälde mit Landschaften mit Verliebten.
Stets pünktlich zu den Mahlzeiten begrüßt de Crain den Chevalier. Dieser hat Schatten unter den Augen. In der Schänke schlief er nicht gut. Er meinte, irgendwelche Geräusche zu hören und untersuchte das Zimmer, um sich zu überzeugen, dass nichts weiter da war als harmlose Zeitgenossen. Spinnen hinter den Schränken und kleine Würmer. Er findet, der Comte trägt zur Stunde eine besonders reizvoll bestickte Weste. Er teilt dies dem Freund mit. Dieser dankt ihm für das Kompliment.
Es gibt Wild, Trüffel, Trauben, Austern und Kuchen. Auch Cognac und Wein werden serviert. Der Comte prostet dem Chevalier zu. Er solle es sich schmecken lassen. Zum Dessert erscheinen die Damen im Salon, die der Comte sich für den Abend hat bestellen lassen.
Die Lippen der Mädchen färben sich rot, da die Kuchen mit roten Beeren gefüllt sind. Der Herr lässt die Mädchen Cognac mit Eigelb trinken und Kakao mit drei Lagen Vanille. Er lässt Früchte bringen. Pfirsiche, Feigen. Die Mädchen seufzen vor Entzücken.
Comte de Crain fragt den Chevalier, ob es ihm gefällt, so zu speisen, umgeben von Mädchen mit hübschen Fingern, die ihm die Kuchen in den Mund stecken. Der Herr gibt nicht zu, dass es ihn stört. Sagt nicht, dass ihm niemand das Fleisch in Stücke schneiden muss, dass er es schon selbst schafft, sie in den Mund zu führen. Stattdessen bekundet der Herr seine Freude, ja seine Begeisterung diesbezüglich. De Crain schlägt d’Aubry vor, einige der Mädchen für die Nacht mit hochzunehmen. Der Chevalier lehnt das Angebot mit der Ausrede ab, er sei noch müde vom Ausflug. Er richtet sich auf und dankt für die Mahlzeit, dann verlässt er den Salon und geht in seine Räume.
Der Comte setzt das Treiben mit den Dirnen in den eigenen Gemächern fort, auf den Birken- und Zedernböden, an den wassergrünen Wänden, den Kaminen aus Bronze, unter Kronleuchtern und Spiegeln. Im Boudoir mit all den Perlen und dem Porzellan.
*
Die Dirnen sind beim Frühstück ebenfalls da. Unbekleidet sitzen sie mit am Tisch. Comte de Crain ist auch nackt. Er lässt sich von einigen der Mädchen füttern, während weitere ihn untenherum bearbeiten.
Der Chevalier kann nicht anders, als sich für die Mädchen bei der Szene zu schämen. Er versucht, sich auf das Essen zu konzentrieren. Es gelingt ihm nicht, nicht hinzusehen.
De Crain nimmt Früchte von der Platte und steckt sie den Mädchen zwischen die Beine. Sich selbst beschmiert er mit Marmelade und lässt den Brei von den Dirnen ablecken. Er redet Unsinn, findet der Chevalier, lauter frivole Obszönitäten.
Der Comte schickt ein Mädchen, dem Chevalier zu gefallen. Das mit Erdbeeren beschmierte Mädchen schlendert auf den Chevalier zu. Sie legt sich auf den Boden vor dem Stuhl, in dem der Herr sitzt, räkelt sich einladend. Er würde sich vielleicht auf das Mädchen einlassen, irgendwie gefällt sie ihm ja. Die langen Locken, der kirschrote Mund. Unter anderen Umständen, eventuell, aber nicht so, nicht unter Beobachtung des Comte de Crain.
Die Geräusche der Kopulierenden unten im Salon dringen in die Zimmer, die d’Aubry bewohnt. Sie bringen ihn dazu, sich selbst zu berühren. Er hätte vielleicht doch eine mitgenommen, wenn ihm eine nachgelaufen wäre.
Am nächsten Tag lädt der Comte de Crain zu einem Bummel in der Stadt. Sie flanieren in den Gassen und im Stadtgarten, stöbern in den Läden an dem Rathaus. Der Chevalier kauft einen Hut und französische Zeitungen. Dann sitzen sie eine Weile vor einer Talmudschule. Ein tüchtiges Völkchen, sagt der Comte de Crain. In Polen hat es seine Heimat gefunden.
*
De Crain macht seine Runde zwischen den Gästen, erkundigt sich nach deren Wohlbefinden. Bei dem Chevalier angekommen, belustigt ihn die Unordnung auf dem Tisch neben seinem Teller. Da liegen Essensreste auf der Decke, halb geschälte Früchte und leere Muschelschalen.
Soßenfett tropft den Gästen am Kinn herunter.
Die Damen und Herrn der Szlachta tuscheln. Sie reden über die Dirnen, die die Tafel bevölkern. Den Kurtisanen beste Plätze zuzuteilen, finden die Herrschaften unerhört.
Der Comte spielt mit den polnischen Damen das Spiel, Zungenbrecher auszusprechen. »Chaste chasseur aux yeux chassieux, sache chasser, chose aisée, ce chat chauve caché sous ces souches de sauge sèche!«, »Si huit fruits cuits lui nuisent, donnez-lui huit fruits crus.«
»Six fûts, six caisses, la main entre les caisses, le doigt dans le trou du fût. Six fûts, six caisses, le doigt dans le trou du fût, la main entre les caisses.«
Derweil hält sich Herr d’Aubry draußen auf. Eine polnische Mätresse bedrängte ihn. Sie gefiel ihm nicht. Er musste fliehen. Lieber spaziert er im Schlossgarten.