Sie können (uns) es schaffen - Sabrina Otte - E-Book

Sie können (uns) es schaffen E-Book

Sabrina Otte

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Beschreibung

Es gibt immer mehr Kinder, die nicht so angepasst ihr Leben meistern. Sie sind besonders. Gern und schnell spricht man von Kindern mit AD(H)S. Doch ist wirklich jedes Kind, das nicht in die Normenwelt der Erwachsenen passen will, deshalb krank? Was bringt so eine Diagnose für das Kind und die Familie? Als Grundschullehrerin mit über 35 Jahren Berufserfahrung und Mutter eines Kindes mit der Diagnose AD(H)S habe ich viele Erfahrungen im Umgang mit solchen besonderen Kindern. In diesem Buch berichte ich von meinen Erfahrungen, Beobachtungen. Aber auch mein Sohn kommt zu Wort und schildert Episoden aus seinem Leben als "Betroffener", inzwischen Erwachsener. Das Buch soll Vertsändnis entwickeln, Hilfen geben und einige Fragen beantworten. Vorallem soll es aber Mut machen. Auch diese besonderen Kinder können nicht nur uns, sie können es schaffen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Die Unbequemen sind das Salz dieser Erde

Sabrina Otte & Sören

es

Sie können unsschaffen

(Über)lebenshilfen AD(H)S

Die im Buch verwendeten Namen sind frei erfunden.

© 2022 Sabrina Otte & Sören

ISBN Softcover:

978-3-347-64881-4

ISBN E-Book:

978-3-347-64908-8

Cover; Bild: zavgorodnya olga; light at end of tunnel

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Warum dieses Buch

Was das Buch nicht ist

Besondere Sinne

Riechen

Hören

Sehen

Schmecken

Fühlen

Der fehlende Filter

Der Gleichgewichtssinns

Der 7. Sinn

Familienleben

Eltern

Die männliche Rolle

Geschwister

Strukturen

Rituale

Spielen

Das Spiel mit anderen

Das Spiel allein

Spielsucht

Freunde

Lernen

Wahrnehmung

Das Zusammenspiel von linker und rechter Gehirnhälfte

Auswendiglernen

Lesen

Schreiben

Mathematik

Gesellschafts -und Naturwissenschaft

Das Lernen aus Erfahrung

Weitere Besonderheiten - eine Auswahl

Essen und Trinken

Schlaf

Wir leben im Jetzt und Heute

Angst

Krankheiten

Ordnung und Sauberkeit

In bin erster

Geduld

Zeitgefühl

Ein „NEIN“ wird schwer akzeptiert

Sucht

Achterbahnfahrt

Diagnostik

Pro Diagnostik Contra Diagnostik

Abgrenzung zu anderen Symptomen

Therapien

Entspannung

Weitere Maßnahmen

Medikamente

Nachwort

Begriffe

Literatur

Ich widme dieses Buch allen besonderen Kindern, die auch einmal erwachsen werden und hoffentlich besonders bleiben, insbesondere unserem Sohn aber auch unserer Tochter, vor allem meinem Mann und meiner Familie. Danke, dass es euch gibt.

Danke für die Geduld, die Ehrlichkeit, den Humor.

Warum dieses Buch?

Wenn man sich im Buchhandel umsieht, findet man eine Vielzahl Literatur zum Thema AD(H)S. Googelt man den Begriff „AD(H)S“ fanden sich im Februar 2018 über 500.000.000 Beiträge im Internet. Im Februar 2022 waren es 6.770.000.000 . Es werden fast täglich mehr. Und nun komme ich mit einem weiteren Buch zu diesem Thema. Was soll das bringen?

Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin Profi auf diesem Gebiet. Nun leide ich nicht an Größenwahn und daher hätte ich mich selbst nie als Profi für irgendetwas bezeichnet. Aber auf einer Fortbildung zum Thema AD(H)S wurde ich neben wenigen anderen Personen als Profi bezeichnet. Frau Neuhaus, genau genommen Dipl. Psych. Dipl. Heilpäd. Cordula Neuhaus, lud zu eben dieser Fortbildung ein. Wie schon die Titel erahnen lassen, ist Frau Neuhaus wirklich ein Profi auf diesem Gebiet. Ich erinnere mich genau an den Beginn in einem großen, überfüllten Saal. Diese Ikone der AD(H)S - forschung und – therapie tritt ans Mikrofon und fragt: „Wer von ihnen ist Lehrerin, Lehrer oder Erzieher

und hat beruflich mit Symptomen des AD(H)S zu tun? Bitte melden!“ Viele Arme gingen nach oben, auch meiner. Dann fragte sie weiter: „Wer von ihnen ist Elternteil eines Kindes mit AD(H)S? Bitte melden!“ Etwas weniger Finger gingen hoch, auch meiner. Dann kam die entscheidende Frage: „Wer hat sich zweimal gemeldet? Bitte melden!“ Mein Finger ging sehr zögerlich hoch. Ich sah mich um, zwei, drei andere Finger konnte ich oben sehen. Auch diese Melder blickten sich fast ängstlich um. Unsere Blicke trafen sich beschämt, etwas verschämt und doch verständnisvoll. In den Augen der anderen Teilnehmer konnte ich Mitleid entdecken. Daraufhin meinte Frau Neuhaus: „Sie sind die Profis.“ Nun, ganz so habe ich das nicht gesehen, denn meine Motivation für diese Fortbildung war enorm hoch. Je mehr ich mich mit dem Thema AD(H)S beschäftigte, beschäftigen musste, je unwissender und laienhafter kam ich mir vor. Nebenbei bemerkt hat mir die Fortbildung sehr geholfen, mich hoch motiviert und vor allem gezeigt, dass ich nicht vollständig in meiner Erziehung versagt habe, wovon ich zu diesem Zeitpunkt überzeugt war. Dazu aber nachher mehr.

Ja, so gesehen bin ich Profi. Ich bin als Grundschullehrerin zunehmend mit Kindern konfrontiert, die schon mit der Diagnose AD(H)S eingeschult werden, denen im Verlauf der ersten Schuljahre die Diagnose AD(H)S gestellt wird oder die zweifelsohne Symptome dieses Krankheitsbildes zeigen. Aber die Kinder sind das eine. Wie viele Gespräche muss ich mit Eltern führen, bei deren Kindern sich Probleme in der Aufmerksamkeit und Konzentration zeigen. Ich empfinde es als extrem befremdlich, wenn ich Eltern meine Beobachtungen mitteile und Vermutungen äußere bzw. eine professionelle Diagnose empfehle und diese als erstes äußern: „Aber Tabletten nimmt mein Kind nicht.“ Der Begriff AD(H)S wird sofort mit Negativschlagzeilen von umstrittenen Medikamenten in Verbindung gebracht. Fragen zum Kind, zu dessen Problemen, zu seinen Empfindungen oder gar Ansätze zu Lösungsmöglichkeiten folgen, wenn überhaupt, erst im zweiten oder dritten Schritt.

Darum also dieses Buch: AD(H)S und ähnliche Symptome sind mehr als die Frage nach der Medikation. Das möchte ich zeigen.

Nun bin ich als Profi aber auch Mutter eines inzwischen erwachsenen Kindes mit der Diagnose AD(H)S. Als solche kenne ich den steinigen Weg der Erziehung. Ich kenne die Rückschläge und die Verzweiflung, wenn man sich unfähig fühlt.

Auch darum dieses Buch. Ich möchte Mut machen, ohne zu beschönigen. Ich möchte zeigen, wie es vielleicht besser klappen kann. Ich möchte Verständnis wecken für die Nöte dieser besonderen Kinder und deren Familien auch in der Gesellschaft.

Jetzt komme ich ins Spiel. Ich bin schlechthin der Profi auf dem Gebiet AD(H)S. Ich habe AD(H)S. Ich bin „Betroffener“, wobei ich diesen Begriff nicht als geeignet erachte. Ich denke, dass wir „Betroffene“ selbst viel zu selten zu Wort kommen. Das möchte ich mit diesem Buch ändern. Ich möchte allen „Betroffenen“ eine Stimme geben, unsere Sicht der Dinge darstellen.

Zuvor aber kurz meine Geschichte zu diesem Buch: Schon lange geisterte in unserer Familie der Gedanke an ein Buch zum Thema AD(H)S durch die Köpfe. Meine Großeltern, meine Tante und viele Verwandte meinten immer mal wieder zu meiner Mutti: „Du solltest ein Buchdarüber schreiben.“ Aber lange Zeit blieb das ein Gedankengespenst. Eines Tages jedoch berichtete meine Mutti von dem Entschluss, dieses Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen. Sie hatte auch die Idee, dies gemeinsam zu verwirklichen, um unsere oft unterschiedlichen Sichtweisen darstellen zu können. Ich war gleich Feuer und Flamme. Das Projekt versprach Spannung und neue Impulse. Jedoch nachdem die erste Euphorie verflogen war, mischte sich zunehmend auch ein banges Gefühl unter die ersten Überlegungen. Die Konfrontation mit meinem bisherigen Leben konnte ich bisher erfolgreich verdrängen. Nun bietet mir das gemeinsame Schreiben an diesem Buch die Möglichkeit, mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Will ich das wirklich? So kämpften von Anfang Freude über das gemeinsame Projekt mit der Angst vor einer auch schmerzlichen Selbstreflektion. Doch ich entschloss mich, mich der Herausforderung zu stellen. Und so werde ich zu den Bereichen, die ich für wichtig erachte, meine Sichtweise darstellen.

Da muss ich auch gleich mit der oben erwähnten Fortbildung anfangen. Ich war ungefähr 12 Jahre alt und die Diagnose AD(H)S war erstellt, als meine Mutti mir vorschlug, mich zu der Fortbildung von Frau Neuhaus mitzunehmen. Nun war ich sicher nicht das Zielpublikum für diese Veranstaltung und auch recht jung, aber das Angebot reizte mich durchaus. Meine Eltern wollten mir damit sicher zeigen, dass sie mich und meine Probleme ernst nahmen. Meine Motivation war aber profaner. Ich konnte länger wach bleiben, vielleicht würde es spannend werden und ich nahm sicher eine besondere Rolle während der Veranstaltung ein. All das sprach für eine Teilnahmeund so willigte ich ein. Natürlich fiel ich in meinem jungen Alter zwischen all den Lehrern, Erziehern und Eltern auf. Ich genoss es, stolzierte durch den Saal und setzte mich erst in letzter Minute auf meinen Platz, um auch von möglichst vielen Teilnehmern wahrgenommen zu werden. An die Fragen zu Beginn der Veranstaltung erinnere ich mich genau. Ich sehe auch noch den Blick der als „Profi“ Bezeichneten vor meinem Auge. Die Teilnehmer, die sich als Eltern outeten, wirkten auf mich, als schämten sie sich dafür. Ich weiß noch, dass mich das wütend machte. Aus meiner Perspektive sollten diese Eltern Stolz auf ihre tollen Kinder sein, Kinder wie mich. Ich sah mich als einzigartig, perfekt und konnte überhaupt nicht begreifen, wie man sich für solch ein Wunderkind schämen sollte. Und nun saß ich in einer Veranstaltung zu dem Thema AD(H)S und die Eltern solcher Kinder wie mir schienen sich für ihre Kinder zu schämen. Die Wut hatte an jenem Abend aber wenig Zeit die Oberhand zu gewinnen, denn schon musste ich feststellen, dass nach „Betroffenen“, die eigentlichen Profis, nicht gefragt wurde. Dieses Phänomen, dass über „Betroffene“ gesprochen wird, diese jedoch nicht zu Wort kommen, stelle ich immer wieder fest. Auf jeden Fall teilte ich meiner Mutti mit, dass ich mich überhaupt nicht melden konnte, ich also nicht existent sei. Sie erinnerte mich aber nur an mein Versprechen, leise zu sein und nicht aufzufallen. Weniger motiviert und mit wechselndem Interesse folgte ich so den Ausführungen der Experten.

Wie dieses Erlebnis liegen meine Kindheit und deren Probleme schon einige Jahre zurück und meine Sicht auf die Dinge hat sich auch geändert, aber ich schaue nach wie vor durch die Brille des „Betroffenen“. In meiner Entwicklung sind mir viele andere Kinder und Jugendliche mit oder ohneDiagnose AD(H)S begegnet, die ähnlich wie ich ticken und ähnliche Probleme hatten und haben. Ich stelle immer wieder fest, dass sich Leute mit ähnlichen Problemen anzuziehen scheinen. So erkenne ich Gleichgesinnte auf den ersten Blick. Gern tausche ich mich mit ihnen aus – auch wenn viele eine Weile brauchen um sich als „Betroffene“ zu outen. Oftmals sind es kleine Hinweise, Kommentare oder beschämte Blicke die das „outing“ einleiten. Noch immer scheint es ein Tabuthema zu sein. So inflationär die Diagnosen bei Kindern - teils auch als bequeme Ausrede – genutzt werden, so schwer tun sich Jugendliche und Erwachsene „Betroffene“ mit einer offenen Kommunikation. In diesem Buch möchte ich das Sprachrohr dieser sein. Vielleicht kann ich dazu beitragen, dass aus „Betroffenen“ besondere Kinder und Erwachsene werden, die ihre Chancen in ihrer speziellen Denkweise erkennen.

Was das Buch nicht ist

Dieses Buch ist auf keinen Fall eine wissenschaftliche Abhandlung zum Thema AD(H)S. Es stellt weder Ursachen, Diagnosen, Therapien und andere wissenschaftliche Erkenntnisse in den Mittelpunkt. Es erhebt keinen Anspruch auf die Auswertung statistischer Erhebungen und ähnlichem. Selbst in der Begriffsbildung werden streng wissenschaftliche Erklärungen unberücksichtigt bleiben. Im Gegenteil es handelt sich um eine subjektive Betrachtung des Problems. Die „Erkenntnisse“ sind subjektiv [individuelle] gefilterte Beobachtungen. Das Buch soll unterhaltend einige Alltagssituationen beleuchten und wenn dann auch ab und an ein „Aha“-Effekt erzielt wird und geschmunzelt werden kann, ist das Ziel erreicht.

Wer Begriffsklärungen, Diagnostik- und Therapiemethoden erklärt haben möchte und dabei auf Vollständigkeit Wert legt, sollte sich geeignete Literatur besorgen. Dieses Buch ist es nicht. Ich werde meine Erfahrungen mit einigen Therapien und Methoden zwar erläutern, erhebe jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Besondere Kinder im Sinne des Buches sind dabei Kinder und Jugendliche mit Symptomen des AD(H)S. Sie können die Diagnose haben oder auch nicht. Auch darauf werde ich eingehen.

Aus meiner Sicht ist das Buch ein Rückblick auf mein persönliches Kindsein und den Schilderungen von anderen. Ich beziehe mich dabei auf meine Erinnerungen, die stark subjektiv gefärbt sind. Besonders emotionale Momente vergisst man weniger schnell als andere. Das ist bei mir nicht anders als bei jedem anderen. So spielen bei der Auswahl persönliche Emotionen sicher eher eine Rolle als statistische Erkenntnisse oder der Anspruch auf Vollständigkeit. Im Übrigen sind die Probleme von Kindern mit AD(H)S sicher so vielfältig und unterschiedlich wie wir Menschen im Allgemeinen sind. Vielleicht erkennt der eine oder andere diese oder jene Situation jedoch auch von seinem Kind, selbst wenn es nicht AD(H)S hat.

Besondere Sinne

Unsere besonderen Kinder haben besondere Sinne. Sie sind extrem feinfühlig in jeder Hinsicht. Nun sind ihre Augen, Ohren, Zungen nicht überdurchschnittlich entwickelt. Es gibt unter ihnen ebenso Kinder mit Seh- oder Hörproblemen, wie im Durchschnitt der Bevölkerung. Aber die besonderen Kinder nehmen alles ungefiltert oder anders gefiltert als der Rest der Menschen wahr.

Riechen

Riechen ist und war für mich immer etwas Besonderes. Wenn ich sage: „Ich kann dich nicht riechen“, meine ich es wörtlich. Es gibt Menschen, die ich einfach nicht riechen kann. Das war schon immer so und ich kann es nicht erklären. Kommen diese Leute mir zu nah und ich muss ihren „Duft“ ertragen, werde ich unruhig, kann mich nicht mehr auf anderes konzentrieren oder werde sogar aggressiv. Früher habe ich sie dann gern weg geschubst, habe versucht Abstand zu gewinnen. Wenn es sich nun um einen Lehrer oder Erzieher handelte, gab es da oft Ärger.

In der Klasse sitzt Tom mir gegenüber. Ungewöhnlich ruhig und aufmerksam folgt er meinen Erklärungen. Er sieht mir freundlich ins Gesicht und nickt ab und zu verständnisvoll. Ich denke: „Jetzt hat er es. Jetzt hat Tom die Aufgaben verstanden.“ Ich will ihn schon loben für seine Aufmerksamkeit und Ruhe, als er mir unvermittelt ins Wort fällt: „Du riechst heute aber gut.“ Dabei strahlt er mich an als erwarte er ein Lob für sein Kompliment. Toms Aufmerksamkeit galt weniger meinen Ausführungen als meinem „Duft“, was ich in der Folge feststellen musste.

Eben dieser Tom kann aber auch eine ganze Stunde in Gefahr bringen. Alle Kinder sitzen und arbeiten leise. Plötzlich schreit er in die Klasse: „Hier stinkt es! Wer hat gepupst?“ Die ganze Klasse lacht, einige machen Kommentare. Tom hat auch gleich einen Übeltäter ausgemacht: „Paul hat gepupst.“ Wieder Lachen in der Klasse. Paul rechtfertigt sich: „Nein, ich war das nicht.“ Obwohl ich eine sehr feine Nase habe, kann ich nichts riechen. Aber um wieder Arbeitsruhe herzustellen, gehe ans Fenster und öffne es. „So, nun kommt frische Luft herein. Arbeitet weiter!“ Einige Kinder folgen der Aufforderung. Nach und nach kommt Ruhe in die Klasse. Nur Tom findet kein Ende. Immer wieder ruft er dazwischen: „Es stinkt! Paul hat gepupst.“ Schwer und unter Aufbringung aller Autorität und Überredungskunst lässt Tom sich zu kleinen Aufgabenschritten überreden.

Kinder mit AD(H)S können von Gerüchen so „gefangen“ werden, dass sie alles andere vergessen. Das kann sowohl positive als auch negative Emotionen hervorrufen. Aus meiner Erfahrung ist es ratsam, die Düfte im unmittelbaren Umfeld dieser Kinder so weit wie möglich zu reduzieren und wenn, kontinuierlich zu halten. Das heißt: so wenig wie möglich Parfüm und Duftstoffe verwenden. Besonders empfindlich reagieren die Kinder auf Rasierwasser, also sparsam verwenden. Beim Kauf von Waschmitteln, Reinigungsmitteln usw. sollte man auf möglichst geruchsneutrale zurückgreifen.

Alles hat seinen Geruch. Ich mochte immer den Geruch meiner Mutti und unseres Hauses. Dann wusste ich, ich bin zuhause. Hat Mutti ein neues Parfüm ausprobiert, fand ich es nicht so gut, sie war dann nicht mehr Mutti. Ebenso erging es mir mit der Erzieherin im Kindergarten oder der Lehrerin. Schlimm finde ich es, wenn alles durcheinander riecht. Im Kaufhaus oder in den Einkaufsmeilen kommen so viele Gerüche zusammen, das verursacht heute noch ein enormes Stresspotential in mir.

Der Duft, der aus Parfümerien, Drogerien oder inzwischen sogar der Klimaanlage strömt, stresst mich mehr als jeder Arbeitsstress. Und das schlimmste ist, dass ich diesem hilflos ausgeliefert bin. Ich kann ihm nicht entkommen. Dieser Gedanke verursacht neuen Stress und eine Spirale kommt ins Rollen, die in Flucht enden muss.

Noch heute erzeugt schon der Gedanke meine Frau in Kaufhäuser oder Parfümerien begleiten zu müssen, regelrechte Stressreaktionen. Und das kann – da ich von Natur aus eher auf Kampf als auf Flucht schalte – zu halben Ehekrisen führen. Es ist unglaublich schwer, jemanden der diese starken Reaktionen nicht hat, nahe zu bringen wie belastend Düfte sein können. Viele Gespräche und eine Pulsuhr, die das Stresslevel messbar machte, waren nötig ein Verständnis zu entwickeln.

Früher, als Kind, hatte ich noch nicht die Möglichkeit zur Flucht. Ich musste bleiben und der Stress stieg ins Unendliche. Das gab dann häufig Wutausbrüche,Auseinandersetzungen und neuen Stress mit den Erwachsenen. Zu meinem Glück gehen auch meine Eltern nicht gern Schoppen. So hielten sich Einkaufsmarathons in Grenzen. Doch häufig muss ich beobachten, wie Kinder die Shoppinglust ihrer Eltern begleiten müssen und es dann unweigerlich zu unschönen Szenen kommt. In den Blicken der Kinder sehe ich die Not, den Stress, der auch durch die Düfte hervorgehoben werden kann.

Wenn aus Kindern mit AD(H)S Jugendliche werden, probieren sie natürlich auch Düfte aus. Doch Vorsicht! Diese Jugendlichen können wie immer kein Maß halten. Was sie bei anderen als unangenehm empfinden, gilt nicht für sie. Da wird gesprüht, parfümiert, was es die Fläschchen hergeben. Eltern sollten ihre Schützlinge da etwas bremsen.

Hören

Kinder und Jugendliche mit AD(H)S hören nicht besser oder schlechter als andere, auch wenn man das manchmal glauben möchte. Sie hören nur anders als wir. Sind sie im Spiel vertieft oder bei einer Beschäftigung, die ihnen Freude macht, vergessen sie die Welt. Sie sind so fokussiert, dass sie nichts anderes sehen oder hören. Sie können oftmals antworten: „Ja, ich komme gleich!“ Aber das sind nur Floskeln. In ihrem Gehirn ist die Tatsache, dass sie aufhören und kommen sollen, nicht angekommen, trotz Antwort. Um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, muss man den Blickkontakt herstellen. Nur so kann man davon ausgehen, dass die Nachricht angekommen ist.

Andererseits hören die besonderen Kinder besser als man glaubt. Meint man, sie spielen im Zimmer und unterhält sich zum Beispiel über ihr Verhalten in der Schule, registrieren sie jede Äußerung. Tage später verwenden sie dann die aufgeschnappten Argumente für sich. Darum niemals im Beisein dieser Kinder unbedachte Äußerungen, die die Autorität der Lehrer, Erzieher usw. in Frage stellen. Besonders schlimm kann es werden, wenn Elternteile unterschiedlich argumentieren oder sogar gegeneinander. Diese Kinder nutzen das sofort für sich aus. Sie haben feine Antennen und scheinen zu spüren, wie sie agieren müssen, um Vorteile für sich zu gewinnen.