Sieben Sinne. Der Roman aus der Frauenbewegung - Bente Clod - E-Book

Sieben Sinne. Der Roman aus der Frauenbewegung E-Book

Bente Clod

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Beschreibung

"Sieben Sinne" erzählt die Geschichte verschiedener starken aus diversen Alterskategorien und befasst sich mit widersprüchlichen Erfahrungen im Kontext der Frauenbewegung. Im Zentrum der Erzählung steht die Geschichte einer feministischen Schriftstellerin, die durch ihre politische Arbeit immer wieder an ihre Grenzen gerät: Enttäuschung und Erfolg prallen immer wieder aufeinander, doch trotze allem soll der Zukunftstraum einer "Fraueninsel" nicht aufgebogen werden... – Ein humorvolle und eindrückliche Geschichte über die Frauenbewegung. Lesenswert!Die dänische Schriftstellerin Bente Clod, geboren 1946, macht sich mit ihren Werken nicht nur für die Verbreitung der frauenorientierten Kultur stark, sondern rief während den 1970er Jahren zusammen mit anderen Akteurinnen den kollektiven Selbstverlag "Kvindetryk" ins Leben. Bente Clod hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und ist in Skandinavien eine bekannte Autorin. -

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Bente Clod

Sieben Sinne

Saga

Sieben Sinne. Der Roman aus der Frauenbewegung

Aus dem Dänisch von Regine Elsässer

Originaltitel: Syv Sind © 1980 Bente Clod

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711487440

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

”Ich nehme den toten Vogel mit, um eine passende Stelle zu finden, eine Landschaft, die mir entspricht, um ihn abzeichnen zu können. In diesem Sinne kann man sagen, daß die Bilder konstruiert sind.“

(Die Grafikerin Vibeke Wencke Nielsen über ihre Zeichnungen von ölverklebten Meeresvögeln.)

In der Wohngemeinschaft ’Tantchens Gardinen‘ im Alten Kongevej, einer alten Hauptstraße mit Patrizierhäsern, wohnen:

Jane (34)

Allan (5)

Anne-Marie (32)

Rune (6)

Else (28)

und ab und zu

Eva (28)

Im Musikkollektiv in Söerne, einer Gegend mit Seen und Parks, wohnen:

Helle (24)

Ida (26)

Charlotte (25)

Auf dem Speicher über dem Musikkollektiv wird die Frauenzeitung Thit redigiert und hergestellt.

Mirjam (31) wohnt in der Möllegade, einer kleinen Straße in einem ärmeren Teil der Innenstadt.

Anne (44) wohnt mit dem Hund Vimmer im Vodroffsvej, einer Straße in einer besseren Gegend.

Ase (33) wohnt in der Nansengade.

Lone (51) wohnt in der Holsteingade in der Innenstadt.

Jette (26) und

Franz (24) und

Jonas (1) wohnen in der Elmegade in einer ärmeren Gegend.

Mirjams Vater (55) wohnt in Birkeröd, einer Vorstadt von Kopenhagen.

Kristina Dahl (52) wohnt auf dem Lande auf einem Hof bei Slagelse.

Gitte (26)

Kim (26)

Sara (52)

Ada (55)

Ruth (14)

Ricke (14), Pilar, Francoise, Funken und einige andere Frauen wohnen auf der Mölleinsel.

Das verwendete Lied ”The Woman in your Life“

stammt von der amerikanischen Sängerin Alix Dobkin

Kapitel 1

Mirjam schnallte sich an. Die braunen Pakete mit den Büchern standen auf dem Rücksitz. Plastikbecher, Weinflaschen und Blumensträuße lagen im Auto auf dem Boden.

Sie schaute Anne von der Seite an. – Kommst du mit zurück und bleibst du heute Nacht bei mir?

– Wenn du willst ... Anne steckte den Schlüssel ins Zündschloß. (Anne mit dem Halstuch aus Baumwolle und dem Herzen aus Gold. Anne vor dem Fernseher, vor dem Bücherregal, vor mir ...)

– Klar will ich, antwortete Mirjam und fuhr ein bißchen zu schnell fort: – Wir werden sehen. Ich schmücke den Raum und du verkaufst das Bier. Das Plakat, daß wir die Getränke nicht gratis ausschenken können –

– ist geschrieben. Lone und Charlotte schleppen wohl gerade das Bier ins Cafe. Sie kümmern sich auch um die Bücher, falls jemand etwas kaufen will oder Fragen hat.

– Und Jette und Ase reden mit der Presse. Ich halte mich da ganz raus –

– Wenn du kannst, ja. Du mußt ihnen helfen, wenn sie nervös werden.

– Was ist mit dem Mikrofon für Ida?

Sie schauten sich an und dann aus dem Fenster.

– Sie hätte wohl etwas gesagt, wenn es nötig gewesen wäre, jammerte Mirjam.

– Das Cafe ist nicht so groß. Es wird schon klappen. Anne schlang optimistisch ihr Tuch ein weiteres Mal um den Hals:

– Hast du deine Gedanken im Griff, Jammer? Hast du deine Zehen gezählt?

– Ja?

Sie drehte die Scheibe herunter und ließ das Auto an: – Wir haben es geschafft! Jesus, Maria und Thit Jensena, wir werden heute die Obermütter!

Das ist das erste Mal, daß eine Kleingruppe ein Buch in dieser Art herausbringt – Ihr beschreibt mit Hilfe von Gedichten, Fotos und Auszügen aus Tonbandprotokollen, was im letzten Jahr zwischen Euch passiert ist. Was wollt Ihr damit sagen? Der Journalist vom Radio streckte Mirjam das Mikrofon hin, die den Mund zusammenkniff und es mit einem Nicken an Jette zurückgab. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis Jette sich an den Gedanken gewöhnt hatte, vor der Presse etwas zu sagen. Sie sollte es jetzt auch tun!

Jette erzählte von dem Bedürfnis, weiterzugeben, worüber in einer solchen Kleingruppe geredet wird und von der Frauenzeitung, die die Gruppe ins Leben rufen will, wenn von dem Buch Geld übrig bleibt. Sie redete schnell und atemlos und setzte mit einem finsteren Blick das Bierglas an den Mund: von mir kommt nichts mehr!

– Es ist auch das erste Mal, daß der Begriff Selbstver- äh – Selbst-

– Selbsthilfe, das heißt Selbstuntersuchung der Scheide.

– Ja, es ist also das erste Mal, daß der Begriff Selbsthilfe genauer in Wort und Bild erklärt wird. Habt ihr nicht irgendwie das Gefühl, daß Ihr Euch selbst ausstellt – und habt ihr denn keine Angst, daß der Frauenkampf sozusagen im Unterleib enden wird?!

Mirjam schubste Ase liebevoll an, die ihre Brille ein bißchen weiter nach oben schob und den Mund aufmachte. Es kam nicht ein Ton. Sie trank einen Schluck von Jettes Bier und antwortete dann so freundlich und gründlich, wie nur Ase das konnte, daß sie nichts Falsches darin sehen könnte, die eigene Gebärmutter abzubilden und daß der Frauenkampf nirgendwo zu Ende wäre, den hätte es immer gegeben und würde es auch weiterhin geben. Sie schob wieder die Brille hoch und stellte fest, daß sie Mirjams Hand streichelte. – ein ganzes Jahr! rief sie aus, – daß das Buch nach all dieser Zeit erschienen ist!

Der Journalist reichte erheitert das Mikrofon weiter:

– Mirjam Agard, du bist die einzige in der Gruppe, die einen ”bekannten Namen“ hat und schon Schriftstellerin ist. Dein Roman Sprünge ist bekannt, und viele Frauen haben ihn gelesen. Glaubst Du, daß Euer Buch die gleichen Chancen hätte, wenn Du nicht mit dabei gewesen wärst?

Die Luft war zum Schneiden vor Einverständnis. Mirjam fing an zu schwitzen. Ase explodierte:

– Wir haben eine Menge Energie darauf verwendet, klarzumachen, daß wir eine Gruppe sind, die zusammen arbeitet, und es geht uns verdammt auf den Geist, daß Mirjam immer wieder hervorgehoben wird. Dieser ewige Personenkult ist eine Krankheit. Wir haben uns alle sieben zu diesem Buch durchgeredet, -geschrieben und -geschuftet. Jane, die heute nicht dabei sein kann, weil ihr Sohn krank ist, hat die Bänder abgeschrieben, Lone da drüben hat die politische Analyse geschrieben, ich habe fotografiert, Charlotte hat das Layout gemacht, meine Mutter hat Korrektur gelesen, wir haben alle zusammen unsere Worte, Ansichten und unser Herzblut in das Buch ’Sieben Sinne‘ eingebracht!

Mirjam legte den Arm um Ase und streichelte sie. Der Journalist bedankte sich und zog ab. Sie empfand eine große Zärtlichkeit für Ase. Trotz ihrer Fähigkeiten, sich durch Sitzungen und Referate zu hetzen – um hinterher jammernd ihre verlorenen Gefühle zu suchen – trotz ihrer unvorhersehbaren Ausbrüche und Meinungen: Ase war Ase war Ase.

Die Stimmung im Buchcafé Kvindfolk war dicht. Es bewährte sich, hinter einer improvisierten Theke Bier und Wein zu verkaufen, statt jedem ein halbes Glas Sherry zu reichen. Die Leute unterhielten sich so angeregt, daß der ganze kleine Laden summte. Mirjam betrachtete Lone, die in ihrer apfelgrünen Tunika dastand und die Arme um ihre Tochter und ihren Sohn gelegt hatte. Sie war richtig in ihrem Element. Sie genoß es offensichtlich, ihre erwachsenen Kinder in ihre neue Welt einladen zu können, sie redete und zeigte und holte noch ein goldbraunes Gesundheitsbrot aus ihrer Tasche.

Jette und Franz standen an der Wand und hatten Jonas auf dem Arm. Wußte er etwas? War es Jette gelungen, mit ihm über den Entschluß zu reden, den Entschluß, den sie letzte Nacht gefaßt hatte, nach langen Jahren des Überlegens, mitten im Einpacken und Verschicken: daß sie sich trennen will und eine Zeitlang alleine wohnen will?

Anne war vollauf mit dem Bierverkauf beschäftigt. Charlotte hielt sich an den Büchertisch. Sie hatte zur Feier des Tages einen neuen Hosenanzug an, der ihr gut stand. Sie hätte am liebsten die ganze Zeit das Buch im Arm gehalten. Daß sie das erleben würde, zusammen mit Charlie ein Buch herauszugeben! Mirjam schloß die Augen, einen Moment lang drehte sich alles. Die letzten Monate mit den Tonbandaufnahmen, dem Fotografieren, Lay-outen, die Diskussionen, wie sie ihr Buch herausgeben wollten: das Drucken, der Vertrieb, die Pressemitteilungen – das war ein solcher Streß, daß man fast nicht glauben konnte, daß es jetzt vorbei war.

Ida machte Anstalten zu singen, es zeigte sich, daß alle sie hören konnten. Sie schüttelte die Locken aus dem Gesicht. Die runde Metallbrille glänzte im Licht, und die schwarzen Chinaschuhe Größe 36 standen fest auf dem Tisch des Frauencafes. Sie fing mit einem bekannten Frauenlied in neuem Arrangement an. Der Beifall war mehr als wohlwollend, ihre eigene Begeisterung darüber, zu singen und zu spielen, brachte den Raum zum Vibrieren.

Sie sang einige der Gedichte aus dem Buch, die sie vertont hatte. Alle hörten aufmerksam zu. Das eine war von Jette, sie hatte es in einer finsteren Nacht geschrieben, als sie zum 117. Mal darüber nachdachte, ob sie in Noras Fußstapfen treten sollte oder nicht. Nach dem Lied war es einen Moment lang still, und Mirjam schielte zu Franz hinüber. Dann ging Ida über zu einer fröhlichen irischen Ballade, von dem Mädchen, das vor dem Altar nein sagte. Die Leute lachten und klatschten, die Fotografen knipsten wie wild: ”sie ist eine echte Entdekkung!“. Mirjam dachte berauscht an ihre Inselfrauen, einen Moment lang schwebte sie ganz hoch oben und sah ihre Insel aus der Vogelperspektive mit Tante Adas kleinem Haus und der Schafherde in der Bucht. So würde es auf ihrer Insel sein, wenn sie Feste feierten, genau diese chaotische Freude über etwas, was gelungen ist. Sie suchte Anne und entdeckte sie, sie hatte den Arm um Sonya gelegt.

Anne. Buchprüfer-Anne, ich-schaffe-es-schon-Anne, Fünfundfünfzig-Kilo-Anne mit einem rotblonden Zopf auf dem Rücken. Anne, Anne. In ihrer Wohnung am Vodroffsvej, an einem Herbsttag im Park, mit Regen im Haar, an einem Frühlingstag im Sommerhaus hinter Abrechnungen. Anne und Sonya acht Jahre lang, Anne und Sonya und der Scheidungshund Vimmer, Anne und Mirjam seit fast zwei Jahren. Anne und Mirjam und die Sieben-Sinne-Gruppe. Anne, die letzte Woche vierundvierzig geworden ist, Anne, die von allen gemocht wird und alle mag. Ohne Hintergedanken oder Probleme, ohne –

Mirjam verspürte plötzlich ein ungeheures Bedürfnis, von hier zu verschwinden. So viel war in der letzten Zeit übergangen worden, so viel zwischen ihr und Anne war nicht gründlich geklärt worden. Genau zehn Minuten lang versuchte sie, sich zu beherrschen, aber es half nichts. Sie zog ihren Arm aus Ases und schlängelte sich zu Anne durch.

– Ich geh ein bißchen weg.

– Jetzt?

– ... Who knows more about your story

about your struggles in the world

who cares more to bless your weary shoulders

if not

the woman in your life ... sang Ida.

– Ich bin bald wieder zurück, flüsterte Mirjam. – Zum Aufräumen bin ich wieder da. Sie drängte sich durch die Menge vor Ida, machte so leise wie möglich die Tür auf und lief los.

Sie saß schließlich auf einer Bank auf dem Ratshausplatz. Es hatte ein bißchen geregnet, der September war bald vorbei, die ersten gelben Blätter lagen in den Wasserpfützen.

Anne Seidenhaar. Anne SuperCarla.

Irgendetwas stimmte nicht. Schon lange.

Vor zwei Jahren begann die Kleingruppe Sieben Sinne. Ursprünglich waren es sieben Frauen, die miteinander über ihre Sexualität reden wollten. Nach den ersten Sitzungen war die Gruppe für ein Wochenende in Annes Sommerhaus gefahren, um sich besser kennenzulernen.

Mirjam und Anne haben bei dieser Gelegenheit die anderen nicht sehr gut kennengelernt, dafür aber einander. Sie machten einen Abendspaziergang.

Anne! Der Maiabend war warm und still. Wir gingen in dem sumpfigen Gelände am Meer entlang, und auch in mir war es warm und still. Wie der Schierling, durch den wir stapften, leuchtete die Schleife in deinem Zopf wie ein Freudenpunkt im Dunkeln. Das Schilf stand so dicht, daß wir das Wasser nur flüchtig sehen konnten. Die Gefühle waren so unter der Haut angestaut, daß wir uns nur flüchtig ansahen. Ich spürte, wie du schon einen Faden um mein Herz gesponnen und die Farben des Abends um uns zusammengezogen hattest. Du gingst vor, sorgfältig darauf achtend, wohin du die Füße setztest. Ich konnte dir nur folgen.

Ich bilde mir ein, daß um deinen ganzen hellbraunen Körper in dem allten Pullover eine spezielle Aura war, eine Aura, die die ganze Welt versprach; aber es war wohl mein eigener Blutdruck, der wie in Wellen durch meinen Körper strömte. Wir gingen auf jeden Fall weiter, in einen anderen Zustand hinein, und waren uns plötzlich darüber klar, daß es mehr war als ein Abendspaziergang am Meer, es war eine Reise in einander hinein, die lange dauern würde. Unsere Gefühle waren der Kompaß, an das Ziel wagten wir nicht zu denken, es war zu nahe. Du und ich. Schilf und Schierling. Die Welt schlief (oder hielt sie den Atem an?), und wir konnten auf der Erde gehen, ohne müde zu werden.

Es war dunstig. Es war mondhell. Es war alles so, wie es sein sollte. Und wir hatten es nicht eilig.

Wir kamen über eine Wiese, auf der die Kühe wie dunkle Bauklötze auf einem Spielzeugplatz umherliefen und mit den Zungen Gras abrissen. Sie blieben stehen und unterbrachen ihren Verdauungsprozeß für einen Moment, und ich dachte, daß diese dunkelbraunen, süß riechenden Kühe mit den Araberaugen die schönsten Zeuginnen waren, die wir für das, was gleich geschehen würde, finden konnten. Du gingst, fest verankert in deinem Körper, und ich bemühte mich, nicht so Hals über Kopf auf dich zu fallen, wie ich innerlich schon gefallen war.

Ich gebe gerne zu, ich dachte an deine Brüste und hatte es ein bißchen sehr eilig mit ihnen. Es stand in der Nacht geschrieben, daß jede, die sie kennenlernen würde, ein besserer Mensch werden würde. Kann sein, daß meine Gedanken in dieser Richtung schuld daran waren, daß ich ein paar Mal daneben trat. Auf jeden Fall fielen wir uns zu Tode erschrocken in die Arme, als ein Vogel lärmend aus dem Schilf aufflog und riefen wie aus einem Mund: – Nein schau doch! Ein Vogel!!

Man braucht keine Kuh zu sein, um zu wissen, was danach geschah.

Doch wir fanden eine trockene Stelle.

Das Gelände neigte sich zum Meer hinunter, ein bißchen weiter oben stand eine Hecke aus alten Weißdornsträuchern und schrie mit ihren weißen Blüten in die Sommernacht. Halb fielen, halb trugen wir uns gegenseitig da hinauf. Es gibt nichts Komischeres als zwei erwachsene Menschen, die vor lauter Ungeduld fast nicht auf den Beinen stehen können, aber wir lachten überhaupt nicht. Wir legten uns zwischen die Stämme. Draußen über der Bucht strichen die Vögel dicht über das Wasser. Ihre Schreie vermischten sich mit dem Dunkel gegen deine Haut, die Laute schmolzen mit deinem Haar zusammen.

Du warst keine Frau, in die man hinein- und hinabsinkt, du warst Willen und Muskeln, Stärke und Puls.

– Du bist so weich, hast du ein bißchen später geflüstert. – Warm und weich. Wie eine offene Wunde.

So etwas darf man nicht zu einer Dichterin sagen, wenn man sie schnell wieder loswerden will.

Vielleicht ist die Art und Weise, wie wir uns in dieser Welt aufhalten, unsere politischste Handlung. Wir können reden, uns entwickeln, eine Meinung haben und weitermachen. Aber wenn es darum geht, andere zu beeinflussen, dann glaube ich an nicht viel anderes als an Taten. Lebensweisen. Beispiele. Etwas zu machen, was ein bißchen anders ist als das, was die anderen jeden Tag machen. Deine Bemerkung über Wärme und Wunde liegt über unserer ersten Zeit. Du sagst selten so etwas, gibst den Gefühlen sonst keine Worte. Du fühlst. Redest nicht davon, was gemacht werden müßte, du machst es. Du bist. Du sagst, meinst, tust. Das ist deine Stärke, das bist du.

Wenn ich nachts am Schreibtisch sitze, schläfst du. Wozu ist die Nacht auch sonst da?

Ich bin so froh, daß ich dich zu einem Zeitpunkt getroffen habe, wo ich angefangen hatte, zu meinen Gefühlen zu stehen, anstatt vor ihnen davonzulaufen. Zu einem Zeitpunkt, wo keine von uns in eine andere Beziehung verwickelt war oder Mutter von drei Kindern oder auf dem Weg nach China. Ich bin so froh, daß ich dich getroffen habe, bevor ich allzu kleinlich wurde und nachdem ich endlich aufgehört hatte, über sexuelle Techniken zu spekulieren, aufgehört hatte, darüber nachzudenken, ob mein Partner richtig oder falsch ist, Frau oder nicht, feucht oder nicht. Ich bin so froh, daß ich dich dort am Meer getroffen habe, ohne jeden Anspruch was, warum und wie Liebe sein soll.

Wir lagen fast die ganze Nacht unter dem Weißdorn. Du hattest zu viel Obst gegessen und mußtest ein paar Mal in die Büsche. Ich lag auf dem Rücken und schaute die bleichen Sterne an, die versuchten, das helle Himmelszelt der Mainacht zu durchbrechen und mit den Nadelstichen im Schoß zu konkurrieren.

– Der Weg zwischen deinem Po und deinem Mund ist einfach zu kurz, murmelte ich träge und spürte deine Haut genau unter den Nackenhaaren auf den Lippen prickeln. In Griechenland, wo wir später in jenem Sommer einen Monat lang Mund an Mund umherschwebten, hingen die Sterne niedrig und schwer am Himmel über dem Meer von Liebe, in dem wir jede Nacht schwammen. Hier wurden sie blasser, während wir zwischen den Stämmen lagen, die Hände um einen pochenden Schoß.

Wir gingen zum Sommerhaus und zu den anderen zurück. Ich mußte dich die ganze Zeit heimlich anschauen. Die Seevögel schrien erstaunt über unseren Köpfen, niemand hatte sie auf Wunder vorbereitet. Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich es anstellen könnte, ein Stückchen von diesem Glück zu bewahren. Ich bin sicher, daß du nicht einen einzigen Gedanken im Kopf hattest. Leer und ruhig gingst du den anderen in deinem neuen Zustand entgegen.

Vom Mittelmeer in den himmelblauen 2 CV mit dem Frauenzeichen auf der Rückklappe, hoch durch den Peloponnes in ein staubiges Athen. Weiter hoch durch Europa und nach Hause. Zurück in Kopenhagen und Wohnungen anschauen. Du wohntest nach dem Bruch der acht Jahre langen Beziehung zu Sonya immer noch übergangsweise zur Untermiete. Meine kleine Wohnung in Norrebro war zu eng. Ich vermietete sie weiter. Zwei Monate später hatten wir uns in einer geräumigen Eigentumswohnung in Söerne eingerichtet – die, die jetzt das Musikkollektiv ist.

Wir schwebten. Wir wußten sehr wohl, daß jede Zweierbeziehung dazu verdammt ist, zu Ende zu gehen, aber hat das jemals liebende Paare abgeschreckt?

Was mich betrifft, so war es schon so oft passiert, ich hatte keine Illusionen, ich ging immer nur vorwärts der Nase nach, nicht dem Verstand nach. Für dich war die Trennung von Sonya die Katastrophe, die die Regel bestätigt – und im übrigen wurde die Katastrophe im nachhinein immer weniger schlimm, je mehr du und Sonya die Freundschaft festigten und ihr euch gegenseitig Pole der Geborgenheit wurdet.

Zusammen ein Haus kaufen – und sterben.

Ich wußte es ja, ich hätte es verhindern sollen. Unerklärliche Stimmungen, plötzliche Hiebe, nervöses Lachen. Ich weinte. Ich machte mir nichts daraus. Wir liebten uns ja. War an einem Sonntag müde und erschöpft. Stand in der Küche und schaute das abgelaugte Holz an und haßte die Korkwand zutiefst.

Sonst ging es gut. Ich dachte immer wieder, wenn wir nur wieder nach Griechenland fahren und Kräfte sammeln könnten, dann hätten wir die überschüssige Energie um allen möglichen Großstadtstreß zu ertragen, wenn wir nur –

Aber wir kamen nie wieder in die samtenen Nächte des Ägäischen Meers.

Die Gespräche in der Gruppe liefen gut, die Gruppe bekam einen Namen. In den Sieben Sinnen lernten wir unsere inneren Farben kennen. Die Idee mit dem Buch entstand im Oktober letzten Jahres, im November stellten wir das Tonband an. Es schärfte die Aufmerksamkeit, zu wissen, daß die Gespräche vielleicht abgeschrieben und gedruckt werden würden, wir diskutierten genauer und gingen mehr in die Tiefe. Jettes erstes Gespräch mit Franz über ihre Beziehung hatte zur Folge, daß sie wieder mehr schrieb. Sie brachte eine ihrer Einseitengeschichten mit und las sie vor. Sie hatte noch nie jemandem erzählt, daß sie schrieb, noch nie jemandem etwas gezeigt. Ase lernte Ole kennen und kaufte sich eine neue Kamera, die für Nahaufnahmen geeignet war. Jane verlor das Sorgerecht für ihre Tochter nach einem langen und aufreibenden Rechtsstreit, in dem die Tatsache, daß sie in einer Wohngemeinschaft wohnte, noch dazu ausschließlich mit Frauen, ein schwerwiegendes Argument gegen sie war. Hunderte von Frauen demonstrierten gegen diese versteckte Diskriminierung von Müttern, die von der herrschenden Norm abwichen.

Für mich gab es in diesem Winter gute Arbeitstage zu Hause an der Schreibmaschine. Gedichte wurden im Radio angenommen, Abende mit der Gruppe um das Tonbandgerät, Wochenenden in Annes Sommerhaus, Spaziergänge am Strand, am Weißdorngebüsch vorbei, bis ganz hinaus auf die Landspitze. Jette machte Zwischenprüfung in Spanisch und brachte im Januar 78 Jonas zur Welt, und Jane war bei der Geburt dabei, weil Franz im letzten Augenblick feststellte, daß er es nicht ohne bleibende Schäden überstehen würde. Allan war sehr stolz, daß er, – fast – der erste war, der den kleinen Schreihals sah und betrachtete Jonas als kleinen Bruder. Lone schrieb ihre Artikel mit dem Titel ”Die größte Kolonie der patriarchalischen Gesellschaft: der Unterleib der Frau“. Sie kam als etablierte Hausfrau nach langjähriger Ehe und mit Kindern, die gerade von zu Hause ausgezogen waren, nur zögernd mit in die Gruppe. Zwei Monate später war sie in der schlimmsten Krise ihres Lebens, als ihr Mann mit der Sekretärin verschwand und innerhalb von zwei Wochen ihr 23-jähriges Zusammensein aufkündigte. Ihre Artikel hatten Verlegenheit und Widerwillen bei ihm ausgelöst und nicht Respekt, wie sie geglaubt hatte. Charlotte fing allmählich wieder mit dem Schlittschuhlaufen an, nach mehreren Jahren Pause wegen des Knöchelbruchs und der Scheidung. Es war schön, mit Charlie zusammen zu arbeiten, ich hatte sie nicht oft gesehen, seit ich aus der Ausstellungsgruppe herausgegangen war. Die anderen in den Sieben Sinnen verehrten sie; genau wie in der Ausstellungsgruppe wurde sei eine Art Maskottchen: Charlotte konnte alle froh machen, alle konnten sie froh machen. Auf jeden Fall konnte niemand es ertragen, wenn sie traurig war.

Anne und ich, wir schnurrten. Es war schwer, Worte für all das Schöne zu finden. Wir sind geübter darin, die Sehnsucht zu beschreiben, die Krise, die schmerzvermischte Freude. Mitten in der dunkelsten Jahreszeit hatten wir eine sehr helle Periode. Wir hatten einen Überschuß an Kraft, auch wenn wir müde waren, Energie, auch wenn wir viel zu tun hatten. Ich schämte mich fast, daß es mir so gut ging: Ein verliebter Partisan ist ein ungefährlicher Partisan! Oder –?

Die Liebe zu Anne war vor allem eine Liebe, die möglich war. Nicht wie die Kindheitsfreundinnen, die verschwanden, nicht auf tönernen Füßen wie das Verliebtsein in Svend, nicht von vornherein in der Mitte durchgeschnitten wie die Beziehung zu Charlotte. Ein ganzes Leben, in dem Arbeit, Liebe, politisches Engagement zusammenschmolzen. Wir zählten jeden Morgen unsere Zehen, aßen unsere Omlette Italiano, gingen arbeiten, telefonierten jeden Tag zwischen dem Steuerberatungsbüro und der Abteilung Schreibwerkstatt zu Hause, vergaßen Geldsorgen und andere Anforderungen von außen, schnurrten.

Dann kam Annes hektischste Zeit, wo sie Tag und Nacht über Jahresausgleichen und Steuererklärungen saß und ganz allmählich gab es wieder Krach, der scheinbar aus dem reinen Nichts entstand. Ich wußte, daß es einen Grund geben mußte, ich konnte ihn nur nicht finden. Ich wurde unruhig, rastlos. Zog das Schreiben ihrer Gesellschaft vor, obwohl sie nicht viel zu Hause war. Je mehr ich schrieb, desto unsicherer wurde sie. Drückte sich an mich und machte sich klein. Und ich explodierte lautlos, denn ich hatte mich in ihre Stärke verliebt, daß sie unerschütterlich war, nicht aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen. Ihre Integrität brach plötzlich zusammen. Nichts konnte Anne, den Felsen, aus der Fassung bringen. Nichts außer mir.

Gleichzeitig war Anne alles, was weiblich ist: ”Ich gebe nach, ich mache mich klein und weich – dann gibst du mir schon das, was ich als Gegenleistung haben will.“ Niemand, der sie kannte, wollte glauben, daß sie ganz einfach alles vergessen konnte, woran sie sich nicht erinnern wollte. Sie war nachgiebig und passiv-leidenschaftlich und so ehrlich und aufrichtig, daß ich mir oft wie ein Fehler in ihren Berechnungen vorkam.

Meine vorsichtigen Liebeserklärungen hinterließen eine Stille, die keine von uns durchdringen konnte. Alles konnte ich ihr geben, nur die entscheidenden Beweise nicht. Mein Körper petzte. Seine nicht vorhandenen Absonderungen und der ruhige Atem standen im krassen Gegensatz zu den Worten, Händen, der Liebe zwischen uns. Alles konnte ich ihr geben, nur meinen eigenen kleinen Tod nicht. Als sie im Frühjahr anfing, von anderen Frauen zu sprechen, glaubten wir beide nicht so recht daran.

Geschenke, die keine Geschenke waren. Ablaßbriefe anstelle von Auskünften. Hände, die ins Leere griffen, Füße so schwer wie Marmor. Lächeln, das erstarb, bevor es ankam, Silberfäden zwischen uns, die schmolzen und als Schnur zu Boden fielen.

In Wirklichkeit ging es auch um den inneren Anlauf zum nächsten Roman, aber das wußten wir nicht, am allerwenigsten ich. Das Inselbuch war zu diesem Zeitpunkt ein unüberschaubares Projekt. Es war nicht möglich, zu wissen was eigentlich was war. Wir liebten uns. Wir konnten nur nicht –

Irgendwann wurde ich ungerecht kritisch. Fand plötzlich, daß Anne eine Kopie ihres Vaters war. Ein Wolf im Schafspelz: Sie ging genauso schweigsam durchs Leben, ohne zu sagen, was sie meinte und dachte, obwohl sie es sehr wohl wußte. Sie ”handelte“, ja danke. Genauso schweigsam arrangierte sie das Leben um sich herum, so wie es ihr paßte, ohne andere um Rat zu fragen, ohne wirklich Rücksicht zu nehmen. Sie war in den letzten beiden Jahren, in denen sie zusammenwohnten, hart gegen Sonya gewesen, wirklich hart –

Anne stand jeden Morgen auf, ging zur Arbeit, kam abends nach Hause und saß über ihren Steuererklärungen. Guckte ab und zu mal fern und ging ins Bett, ihr Gesicht wurde jeden Tag ein bißchen grauer. Sie besuchte ihre Mutter und Sonya und ihre gemeinsamen Freunde, redete wie immer von ihnen. Ich wurde unsicher: war ich diejenige, die Gespenster sah, hatte nur ich ”Probleme“? Wenn ich nur gewußt hätte, wie sehr es sie berührte, ob es meine eigene kleine Spinnerei war oder eine gemeinsame Krise, wenn nur Anne selbst auch ein paar Gedanken formuliert hätte, wenn nur –

Ich fuhr eine Woche lang alleine nach Femö zum Vorbereitungslager. Es war richtig befreiend, sich mit schweren, nassen Zeltplanen herumzuplagen. Es passierte wenigstens etwas, als Jane und ich die Waschhütte zusammennagelten und sie für das siebente Jahr aufstellten.

Das Gemeinschaftszelt wurde aufgerichtet und das Stahlskelett des Essenszeltes zusammengeschraubt. Als ich da oben, Schulter an Schulter mit Jane, vier Meter über dem Gras hing, war ich plötzlich überzeugt davon, daß eine Gesellschaft wie die Inselgesellschaft Wirklichkeit werden konnte: Auf der Insel gäbe es ganz einfach keine Möglichkeit, in die großen Plenum-Uneinigkeiten zu geraten. Und Tante Adas Schafe würden die Frauen auch ganz schön in Trab halten! Sie wären dauernd gezwungen, die intellektuellen Prozesse zu unterbrechen, die so tödlich werden, wenn sie das übergeordnete Muster des Zusammenseins sind. Die Stadtgeseilschaft bot keine ausreichenden Möglichkeiten, vom Tisch loszukommen. Der Körper wurde vernachlässigt, während der Kopf überstrapaziert wurde. In fast allen Projekten, in denen ich in den letzten 2-3 Jahren war, setzte sich der trockene Staub der Gespräche im Hals fest. Während die letzten Planen des Gemeinschaftszeltes mit Schnur zusammengebunden wurden, wurden auch die verstreuten Gedanken und die Insel auf dem Boden des Bewußtseins zu einem soliden Flickenteppich zusammengenäht. Dann mußten nur noch ein paar Borten gehäkelt werden, ein paar neue Maschen, Farben, Muster und eine Kante drumherum.

Als ich nach Hause kam, war Anne eine Woche mit Sonya in Rom gewesen. Wir kamen uns mit offenen Armen und angehaltenem Atem entgegen.

Eine Woche später war alles wie zuvor.

Ich verschwand ein Wochenende, ohne zu sagen wohin.

Erst als Anne in einem Vakuum zurückgelassen wurde, begann sie, an ihrer Unsicherheit zu arbeiten. Sie war es nicht gewohnt, die Gefühle ans Licht zu holen, das bereitete ihr größte Qualen. Mit bohrenden Kopfschmerzen weinte und schrieb sie sich durch das Wochenende, machte in einer riesigen Kraftanstrengung den Versuch, sich ein paar Worte über sich selbst anzueignen und sie zu gebrauchen. Gegen ihren Willen und zu einer Zeit, in der die Tabus um die Liebe zwischen Frauen nicht mehr so stark waren, tastete sie sich schneeblind vorwärts und hatte das Tabu als einzigen Ausgangspunkt. Alles, was verschwiegen worden war, hatte ihre wortlosen Wege seit den fünfziger Jahren geformt, und keine Frauenbefreiung oder Geschlechtsrollendiskussion konnte dreißig Jahre später die Spuren der Kindheit in so kurzer Zeit verändern.

Als ich zurückkam, redeten wir eine ganze Nacht. Wir weinten, liebten uns, beschimpften uns ernsthaft – das hatten wir auch noch nie getan. Konfliktangst war überhaupt kein Ausdruck, es war die Unfähigkeit, sich die Scheiße überhaupt anzusehen. Ruhig, wie vernünftige Menschen, einigten wir uns schließlich darauf, auseinanderzuziehen. Das war ein Jahr nach der Nacht unter dem Weißdorn. Der Beschluß band uns zusammen und gab uns eine Menge praktischer Aufgaben, die gemeinsam gelöst werden mußten. Nicht daß es uns an praktischen Aufgaben gefehlt hätte: da waren die Sieben Sinne – wo es während unserer Fahrt über den Wolken gekracht hatte – da war die lesbische Literaturgruppe und eine Arbeitsgruppe für das neue Frauenhausb. Aber es war ein gutes Gefühl, etwas zu machen, eine physische Veränderung vorzunehmen. Wir sahen uns mehr denn je, nachdem ich in die Wohnung in Norrebro zurückgezogen war und Anne eine Wohnung am Vodroffsvej gefunden hatte.

Die anderen in der Gruppe atmeten erleichtert auf, als sie merkten, daß es dem ”Paar“ besser ging. In Wirklichkeit ging es uns nicht so sehr viel anders, wir hatten uns nur in Das Große Verschweigen gerettet. ”Wir sind auseinandergezogen, um die Beziehung zu retten.“ ”Wir ertragen es beide nicht, so nah aufeinanderzuhocken.“ ”Wir brauchen beide Platz, Spielraum.“

Niemand fragte, was zwischen dem Weißdorn-Wochenende und dem Angst-Wochenende geschehen war. Das Buch war geplant, und für das Abschreiben der Bänder ging fast der ganze Sommer drauf. Es war keine Zeit ...

Der Wind wehte die Blätter aus den Pfützen und gegen den Bürgersteig, wo sie nasse Streifen hinterließen. Mirjam fuhr zusammen, als die Rathausuhr über ihr sieben schlug. Sie fror, stand ganz steif vor Kälte auf und ging zum Buchcafe zurück. Es nieselte. Sie rannte, um warm zu werden.

Die anderen hatten gerade mit dem Aufräumen angefangen, als sie zurückkam. Die letzten Gäste saßen in einer Ecke und redeten. Ases Mutter saß mit Annes Mutter zusammen, sie waren fröhlich und ausgelassen und schauten Ases Fotos im Buch an. Da kam die Sehnsucht hoch, die den ganzen Nachmittag unter der Oberfläche gelegen hatte: Wenn doch ihre Mutter jetzt auch hier wäre! Sie leerte hektisch die Aschenbecher und schluckte die Tränen hinunter. Eine Frau aus der Gesundheitsgruppe und ein Fotograf waren hängengeblieben und tranken mit Jette und Franz die letzten Becher am Tresen. Lones Tochter und Sohn halfen eifrig mit, die selbstgebakkenen Brote und die Salate in Alufolie zu verpacken und in der großen Leinentasche zu verstauen, in der immer irgendwas aus ihrer Küche war. Sonya und Charlottes Exmann sammelten Flaschen ein. Vimmer hing abwechselnd an Annes oder Sonyas Fersen, äußerst zufrieden, weil seine beiden Frauchen sich ausnahmsweise einmal im gleichen Raum befanden. Anne kam mit einem Arm voller Plastikbecher auf sie zu. Mirjam küßte ihren forschenden Blick weg, und die Plastikbecher fielen mit großem Getöse auf den Boden. Jane wartete in ’Tantchens Gardinen‘ mit Brot und Käse auf sie, sie hatten ausgemacht, bei ihr zu essen und zu feiern, bis so gegen Mitternacht die ersten Zeitungen erschienen. Die Bücher sollten vorläufig in das Mädchenzimmer hinter der Küche, wo sie auch die letzten Wochen gearbeitet hatten, bis die Redaktionsräume über dem Musikkollektiv fertig waren. Es war ein richtiges Vergnügen, alles ins Auto zu verpacken und zu wissen, daß die Premiere überstanden war.

– Jane, Jane, du hättest Charlotte sehen sollen, als der Fotograf sie dazu bringen wollte, ihm das Foto von ihrer eigenen Gebärmutter zu zeigen!

– Sie waren ganz verrückt auf das Foto von deiner, Jane. Was ist schon eine Gebärmutter, die noch nie geboren hat, gegen eine, die die heilige Geburt schon zweimal vollbracht hat –

– Es ist ja auch mit das deutlichste Bild –

– ”Glauben Sie, daß Männer sich für das Thema, das das Buch behandelt, interessieren?“!

– ”Es kommen ja überhaupt keine Fachleute in dem Buch zu Wort“!

– Haben sie das gesagt?! Oh ja, gebt mir ein bißchen Wein! Jane stieß mit der freien Hand an. Die andere war für immer und ewig in Allans fieberheißer Hand verankert, der sie nicht einmal im Schlaf losließ. Sein Gesicht glühte. Wenn er ab und zu aufwachte, bestand er mit sehr kleiner Stimme darauf, daß seine Mutter und niemand sonst neben ihm am Bett war. Er hatte immer noch 39,8 Fieber, und der Arzt hatte gesagt, daß sie ihn bei der geringsten Verschlechterung anrufen solle.

– Stören wir ihn nicht?

Jane schaute den Jungen an. – Wir werden sehen, wie es geht.

Anne, Lone und Ase richteten das Brot und den Käse auf ein paar Tabletts in Janes großem Bett – es war der einzige Platz, wo sie alle zusammen sitzen konnten, solange Allans Bett hier drinnen stand. Mirjam ging hinunter und holte die letzten Sachen aus dem Auto. Draußen im Flur blieb sie stehen und schaute ins Wohnzimmer. Es war ungewöhnlich still. Else und Anne-Marie waren beim Matriarchatsseminar, Rune war übers Wochenende bei seinem Vater.

Diese große alte Wohnung hier im Alten Kongevej hatte Mirjam den Rahmen für die Inselgeschichte gegeben. Es war eine Wohnung aus der Jahrhundertwende: vom Flur aus ging eine Tür ins Wohnzimmer. Eine zweite Tür nach links führte in Janes Zimmer zur Straße, und ein langer Korridor führte am Eßzimmer entlang zur Küche und zum Mädchenzimmer, das sie bei den letzten Vorbereitungen des Buches als Arbeitszimmer benutzt hatten. Vom Flur aus gingen Türen zu den vier Zimmern, in denen Else (die die Wohnung von ihrer Mutter gekauft hatte) und Anne-Marie und ihr Sohn Rune wohnten. Elses Zwillingsschwester Eva lebte auch in der Wohngemeinschaft, wenn sie nicht bei ihrer Tante auf der Insel war und bei den Schafen half.

Vor kurzem war auch die Mutter der Zwillinge für immer auf die Insel gezogen. Sie war Ende sechzig und hatte bis vor ein paar Jahren Werken unterrichtet. Ein paar von ihren großen Ölgemälden hingen noch in der Wohnung und erinnerten an eine Zeit, in der der Begriff Wohngemeinschaft noch nicht existierte.

Mirjam schleppte die restlichen Buchpakete in das Mädchenzimmer und ließ sich daraufsinken. Die Spuren der letzten Tage waren auf dem Arbeitstisch ausgebreitet: Letrasetbögen, Klebestifte, Scheren, Papierschnipsel, Umschläge.

In diesem Zimmer hatte Elses und Evas Mutter eine Art Atelier gehabt. An der Wand hingen noch immer unfertige Skizzen. Mirjam blieb gedankenverloren vor einer Skizze stehen, die sie besonders gern mochte und die die Tante auf der Insel darstellen mußte Eine kleine, breite Gestalt in einem blauen Kittel und mit einem Tuch um den Kopf schüttete etwas aus einem Eimer in einen Futtertrog. Ein paar Schafe drängten sich um sie.

Sie hatte Else und Eva nicht sehr viel nach ihrer Mutter gefragt, wollte keine feste Vorstellung von der Frau haben, die ihre malende Sara werden sollte, wollte in Ruhe ihre eigene Vorstellung von Ada und Sara und den Töchtern auf der Insel entwickeln.

Aber ab und zu sagte Else etwas, was die Geschichte weitertrug: ”Meiner Tante gehört der größte Teil des Ackerlandes auf der Mölleinsel. Sie wohnt unten auf der Insel, woher sie selbst nicht stammt, und wo sie eigentlich nie richtig von den Bewohnern akzeptiert worden ist. Sie hat doch tatsächlich fünfundzwanzig Jahre mit einem Mann zusammengelebt, den sie nicht ausstehen konnte! Als er eines Tages die Treppe hinunterfiel und starb, blühte die Tante auf und genoß das Leben zusammen mit der Nachbarsfrau Maren, die ihnen ein Menschenalter lang zur Hand gegangen war. Sie legte in ihrem Testament fest, daß kein Mann Grund und Boden der Familie erben oder kaufen darf!

Dann starb Maren jetzt im Frühjahr. Meine Tante bekam über Nacht weiße Haare. Sie schrieb und bat um Hilfe. Eva ist sofort hingefahren und Mutter beschloß, mir diese Wohnung zu verkaufen und auch hinzuziehen.“

Mirjam sah die beiden Frauen vor sich: die Tante, deren Gesicht durch das Aufblühen der letzten Jahre milder geworden war und ihre Schwester, der der Wind in die dunklen Haare blies und die sich mit der Reparatur eines Zaunes für die Schafe abmühte –

– Hat jemand Mirjam gesehen?

Da war auch etwas, daß die Tante und der Inselschmied ungewöhnlich gute Freunde waren – bessere als es den anderen Inselbewohnern paßte. Sie sahen sich mehrmals am Tag, und der Schmied half immer, wenn Not am Mann war und hatte nach dem Tod des Mannes so allmählich die Instandhaltung des Hauses übernommen –

– Mirjam! Wir essen!

– Ist sie auf dem Klo?

Sie steckte ihre Insel in die Tasche und ging zu den anderen. Die Insel mußte warten. Sie hatte schon so lange gewartet. Aber von heute an hatte sie Zeit für Gitte und Kim, Sara und Ada. Sie war wild darauf, endlich anzufangen.

Allan war aufgewacht und schaute die Frauen auf Janes Bett mit verschleierten Augen an. Lones Spezialität, warme geräucherte Hähnchen, waren mit großem Genuß verspeist worden. Jetzt war allgemeines Verdauen. Lone, Jette und Anne deckten das Bett ab. Ase postete allen zu und schwang das Glas. Mirjam lag ausgestreckt in einem Sessel und beobachtete Charlotte, die Janes Pinnwand mit Fotos aus der Zeit bei einer Entwicklungshilfeorganisation studierte: kleine, schiefe Hütten in Indien, Wellblechbaracken aus den Slums von Mexiko. Auf einem Plakat hob eine sehnige, jüdische Frau triumphierend die Arme zum Himmel, auf einem Farbfoto war eine Chinesin mit Mao-Lächeln.

– Stellt euch vor, alle diese Frauen würden unser Buch lesen! Charlotte setzte sich ans Bett: – Wenn ich mir so anschaue, wie Allan im Bett liegt und es sich gemütlich macht, dann kriege ich so eine Lust, auch ein Kind zu sein. Sie kuschelte sich an Jane: – Du riechst so gut. Ich will dein Findelkind sein.

Die Müdigkeit verschwand für einen Augenblick aus Janes Gesicht: – Ich will gern deine Findelmutter sein. Mit Freuden.

Mirjam betrachtete sie neidisch: Jane in ihrem rostfarbenen Hosenanzug mit ungeahnten Mengen innerer Wärme. Charlotte mit dem permanenten Zärtlichkeitsmangel eines Kindes. Wenn sie doch nur auch ein so unkompliziertes Verhältnis zu Charlie hätte.

Es war nie leicht gewesen, Charlie in den Arm zu nehmen: in den ersten Jahren hatte sie viel zu viel Lust gehabt und zu viel Angst, mit dem Ehemann verglichen zu werden. Später war es dann zu schwierig, sie war in ihrer eigenen Ängstlichkeit gefangen. Aber am allermeisten war sie in ihrer Unsicherheit gefangen: sie waren viel mehr an die handgreiflichen Liebesbeweise der Männer gewöhnt, ihre eigenen Bedürfnisse waren wie ein vogelleichter Traum, der gerade dabei war, sich von der Erde zu lösen, damals vor fünf Jahren in Arhus –

Sie schaute Charlottes sommersprossiges Gesicht an. In ihrem Gesicht waren Farben und Andeutungen von gemeinsamen Erlebnissen, von Menschen, die sie kennengelernt hatten, Morgen, an denen sie zusammen aufgewacht sind, Abende, an denen sie sich getrennt haben. Charlotte trug immer noch den kleinen Silberschlittschuh um den Hals, den sie als Freundschaftsgeschenk gekauft hatte, für jede einen.

Mirjam schob die Gedanken beiseite, schüttelte Jette die Hand und verbeugte sich tief:

– Darf ich vorstellen: Unsere neue Pressereferentin Jette Anderesen! Die bislang so verbissene Gegnerin von Mikrofonen und Notizblöcken antwortete klug, schlagfertig und wohlformuliert auf die geistreichen Fragen der Presse –

Jette packte sie liebevoll am Hals, sie fielen rückwärts aufs Bett, die anderen brüllten, daß sie Kaffee wollten.

– Schade, daß du nicht in Form bist. Du bist unsere neue Pressereferentin!

– Das bin ich verdammt noch mal nicht! Ich mach das nie wieder, laß mich los, ich muß – ich muß mich übergeben –

Sie rannte aufs Klo hinaus. Mirjam hinterher.

– Was ist denn mit dir? Mirjam hielt ihr den Kopf und trat neben der Kloschüssel bekümmert von einem Fuß auf den anderen. – Bist du krank?

Jette war richtig grün im Gesicht.

– Ich fürchte – daß das keine – Krankheit ist, flüsterte sie.

– Meinst du – nein, das ist doch nicht dein Ernst! Doch nicht jetzt!

Zu Jettes Beschluß, sich zu trennen, hatte auch beigetragen, daß sie jetzt endlich das Buch schreiben wollte, das sie im Kopf hatte, seit sie siebzehn war.

– Nicht jetzt, wo du unsere Pressereferentin werden sollst.

Jette lächelte blaß. Sie gingen wieder zu den anderen, die gerade eine neue Flasche aufmachten. Ase stieß auf das Sieben-Sinne-Buch an, sie tranken in stummer Freude darüber, daß es gelungen und – überstanden war. Ase erhob sich und schwenkte wieder das Glas über ihren Köpfen.

– Ich habe eine Bekanntmachung, eine wichtige Mitteilung. Ich möchte gerne mitteilen – sie setzte sich mit einem Plumps:

– Daß ich es satt habe, nur noch mit Frauen, Frauen, Frauen umzugehen. Mit der Bettwärme sieht es verdammt schlecht aus! Seit ich in unserer Gruppe bin und im Frauen-Foto-Archiv und im Verlag, treffe ich ja nie mehr einen Menschen!

Sie brüllten vor Lachen. Lone schüttelte ihre stahlgraue Mähne.

– Und ich möchte die versammelten Frauenschaften fragen, wann sie das letzte Mal etwas für den besseren Teil des Körpers getan haben?! Wann findet Charlotte einen Liebsten, wie soll Jane ihre Bedürfnisse befriedigen, und wie oft bumst ihr beide!!

Mirjam und Anne wichen vor Ases Zeigefinger zurück.

– Hör jetzt auf, Ase. Laß deine sexuelle Frustration nicht an uns aus –

– Mutter! Was heißt denn Bedürfnis?

– Ich soll schön grüßen und sagen, daß ich die sensationelle feministische Entdeckung gemacht habe, daß ich mit dieser Situation nicht allein dastehe. Ich habe in der letzten Zeit immer ungehemmter über meine Neue-Männer-treffen-Probleme geredet, und ich finde Gehör, Schwestern! Die Frustrationen darüber, daß wir uns normale Möglichkeiten, Männer kennenzulernen, selbst beschneiden, brechen geradezu hervor. Der einzige Ort, wo ich Wesen männlichen Geschlechts treffe, sind idiotische Kneipen. Müssen wir wirklich zwischen dem Geschlechtsleben und Frauenaktivitäten wählen?

– Das eine braucht das andere ja nicht auszuschließen.

– Nee, eigentlich nicht. Aber es sieht ja so aus. Das ist ein heikles Thema, und ich finde, wir sollten uns damit befassen. Ich finde, es sollte der Ausgangspunkt für eine Diskussion in unserer Zeitung sein: ein Artikel über die Krise des Liebeslebens. Im Buch haben wir uns darauf beschränkt, die Vorgänge zu untersuchen, wie sie vom Körper erlebt werden. Jetzt sollten wir uns einmal damit beschäftigen, unter welchen Bedigungen Menschen sich heute begegnen und – ja, etwas mehr mit den verdammten Gefühlen!

Sie setzte sich, trank und fuhr etwas leiser fort: – Das, was ich eigentlich vorschlagen wollte, ist, daß wir mit unserer Monatszeitung anfangen, auch wenn wir noch nicht wissen, wie das Buch aufgenommen wird. Uns bei irgendwelchen Fonds bewerben und anfangen, auch wenn wir kein Geld haben, das kommt dann schon irgendwie. Wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Und außerdem halte ich es nicht so arg lange ohne euch aus.

– Warum mußt du denn in alles Sex reinbringen?

– Hattest du nicht ”die Frauen satt“?

Mirjam fiel ihr um den Hals.

– Prima Idee! Machen wir!

Charlotte nahm nicht an der allgemeinen Begeisterung teil: – Mit gefällt das nicht, was du da über ”die Frauen satt haben“ gesagt hast. Und das, was du uns über unsere Sexualität anhängst. Wir sind hier in der Gruppe sowohl bisexuell als auch lesbisch, und die Frauenbewegung bietet uns eine der besten Möglichkeiten, ein ganzes Leben zu führen, mit und ohne Sex. Nein, mir gefällt das nicht. Hast du uns satt? Ich will das wissen.

Ase schüttelte den Kopf: – Was ich sagen wollte, ist – äh, wie soll ich sagen – nicht euch in den Sieben Sinnen habe ich satt. Aber – ja, wann warst du das letzte Mal mit jemanden im Bett? Und hast du längere sexuelle Beziehungen haben können und gleichzeitig aktiv in der Frauenbewegung sein können?

Sie starrte Charlotte an, die allmählich einen roten Kopf bekam und zu blinzeln anfing. Dann nahm sie sich zusammen:

– Die letzte ”längere sexuelle Beziehung“ war meine Ehe, in die ich mich bestimmt nicht zurücksehne. Aber in der ersten Zeit, wo ich in der Frauenbewegung war, kam ich auch mit ihm besser klar. Ich brachte eine Menge Dinge fertig, die ich nie ohne – sie schaute Mirjam an – ohne die Unterstützung der Ausstellungsgruppe geschafft hätte. Es geht mir wirklich gut, Ase, ich genieße es, daß ich das erste Mal im Leben ich selbst bin – das bedeutet mir mehr, als irgend jemanden zu finden, mit ich jede Nacht schlafen kann – und im übrigen bin ich verliebt ...

– Wirklich? In wen? Anne steckte neugierig den Kopf vor. Jane warf ihr einen Blick zu. Ase puhlte in der marokkanischen Decke:

– Vielleicht hat das was mit verschiedenen Phasen zu tun, murmelte sie. – Da war ich vor ein paar Jahren. Aber ich muß mir die Zärtlichkeit und die feuchten Küsse immer noch bei dem Unterdrücker holen, gegen den wir hier in der Gruppe kämpfen, rief sie außer sich. – Verstehst du, was es heißt, Freude daraus beziehen zu sollen, sich klein, hilflos zu machen, so richtig altmodisch Frau zu sein? Freude! Ich laß es, ich schieb es weg – und jeden Abend, in dem unvermeidlichen Moment, wo das Licht aus ist, und bevor der Schlaf endlich kommt, wächst die Sehnsucht und die Verzweiflung. Jede Nacht!

Sie saßen da und dachten nach.

– Seid ihr verrückt! es ist halb zwölf! Die Morgenzeitungen!

Vor drei Jahren, im Herbst 1976, hatte Mirjam allein am Kiosk am Rathausplatz gestanden und auf die Morgenzeitungen gewartet. In dieser Nacht, als sie dastand und die Rezensionen las und abwechselnd fluchte und jubelte, war sie danach durch die Straßen gelaufen und hatte gehofft, jemanden zu treffen, mit dem sie ihre Gedanken teilen könnte. Sie hatte sich auf eine Art einsam gefühlt wie noch nie zuvor. Ihr war klar geworden, daß es von nun an viele Bereiche in ihrem Inneren geben würde, wo niemand anders vorkommen konnte. Die Spitze des Eisbergs war das fertige Buch, die Kritiken, die Reaktionen der Medien auf das Ereignis. Der Berg unter der Wasseroberfläche war der Arbeitsprozeß, tausend Wörter auf dem Papier, Rückschläge und Erfolge.

Sie hatte schon ein halbes Jahr in ’Tantchens Gardinen‘ gewohnt. Aber niemand in der Wohngemeinschaft hatte Erfahrung mit dem Verlegen von Büchern. Ihre Brüder wohnten in Jylland. Der Vater in Birkerod und die Mutter, die in dieser Nacht in der alten Wohnung in Fredriksberg übernachtete, wollte sie am nächsten Tag besuchen kommen. Jane hatte sie schlafend im Kinderzimmer zurückgelassen, erschöpft von den letzten schlaflosen Nächten, in denen sie aufgeblieben waren und über den Sorgerechtsprozeß um ihre Tochter diskutiert hatten.

Und Charlotte.

Sie hatte gerade die Korrektur von Sprünge gelesen und war mit einem extra Korrekturexemplar im Arm atemlos zu ihr gekommen und hatte es Charlotte feierlich überreicht: – Wenn du dich beeilst, schaffst du es, der allererste Leser zu sein!

Charlotte hatte den Papierstapel ungeschickt entgegengenommen, mit dem gejagten Ausdruck, den Mirjam eigentlich hätte wiedererkennen müssen. Ihre Beziehung war in der schlimmsten Phase. Charlotte, die eine langsame Leserin war, hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, sich zu dem, was Mirjam schrieb, zu äußern. Nach ihrem letzten Konflikt war es ganz unmöglich geworden.

Einige Monate zuvor hatte Charlotte die Abschnitte gelesen, die von ihrem Kennenlernen und ihrer Freundschaft handelten. Ein letztes Mal war es Mirjam gelungen, Charlottes Verteidigungslinien zu durchbrechen, sie rief aufgeregt mitten in der Nacht an. – Du hast mir mein Ich zurückgegeben! Du zeigst mir, was ich kann, wer ich bin! Du darfst kein Wort an diesem Abschnitt ändern, er ist phantastisch!

Das war das ganze Buch wert, daß der Abschnitt über sie beide gelungen war. Ihre Freundschaft blühte kurz auf, was sie mit einem Kuchenfest feierten, das sehr abrupt zu Ende war, als Mirjam Charlotte fragte, ob sie nun endlich wüßte, ob sie sich von Jens trennen wolle oder nicht. Charlotte klappte zu wie eine Auster und machte die Schale nicht mehr auf. Charlotte wurde nicht die erste Leserin von Sprünge. Die Kopie lag unberührt in der Kommodenschublade.

– Gib mir die Zeitung! Jettes Stimme zitterte.

Anne riß ihr die Zeitung aus der Hand und lief zu einer Bank, dicht gefolgt von Mirjam und Jette: – Gebt her, die Mama liest euch vor –

– Wart, hier ist es: ”Sieben Sinne – tausend Sinne“ –

– Das ist schön. Gute Überschrift!

– Überschrift?

– Lies laut! Ich kann nicht warten, bis wir zurück sind. Jette war plötzlich ungeheuer entschlossen.

– ”Sieben Sinne – tausend Sinne“. Eine Kleingruppe macht ein Buch über die zwei Jahre ihres Zusammenseins, über den Zusammenhalt und die Enttäuschungen, über Orgasmen und Gebärmutteruntersuchungen. Die Gruppe erzählte gestern bei einem Empfang im Buchcafe Kvindfolk in Kopenhagen von den Ideen, die hinter dem Buch stecken: – Es gibt jede Menge Bücher von Männern über das Thema, die jahrelang von Frauen gelesen wurden, sagte Jette Andersen, 28 Jahre und verheiratet, Mutter von Jonas, ein Jahr“ – –

Jette schrak zusammen.

– ”Sollten wir denn nicht auch über spezielle Frauenthemen schreiben können. Es sollte die Männer interessieren, es sollte sie angehen, wie das aussieht, was sie sonst nur mit geschlossenen Augen erleben!“

Mirjam gab Jette einen aufmunternden Klaps.

– ”Außerdem war Ida Hove auf dem Empfang, und sie brachte mit ihren persönlichen Interpretationen der alten Kampflieder die Luft zum Vibrieren. Ida Hove ist besser denn Je –“ –

– Kommt, wir gehen zu den anderen zurück. Jette war immer noch still. Ihre alte Nervosität war wieder da.

– Es sieht gedruckt immer anders aus, versuchte Mirjam. Sie nickte.

– Ich muß Franz anrufen, ich muß es ihm erklären – und meinen Brüdern. Auch wenn sie genau wissen, daß ich über Mutter und Vater geschrieben habe, sie haben es ja gelesen –

Als sie wieder in Janes Zimmer waren, blätterten sie alle Zeitungen durch. Die Überschrift war fast das beste. In allen drei Artikeln über das Buch klangen vorsichtige Vorbehalte an, aber alle waren begeistert über Ida und den Empfang.