Silvester-Unfall - Siegfried Lenz - E-Book

Silvester-Unfall E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.

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Seitenzahl: 24

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Siegfried Lenz

Silvester-Unfall

Erzählung

Hoffmann und Campe Verlag

Silvester-Unfall

Träge hockte sie neben der schwach leuchtenden Tischlampe, das Gesicht auf die Tür zur Küche gerichtet. Sie hörte ihn in der Küche hin und her gehen, hörte ihn in erzwungener Fröhlichkeit mit sich selbst reden – wobei sie spürte, daß alles, was er vor sich hinredete, für sie bestimmt war –, und während sie horchend dahockte, in dem großgeblümten Kittel, mit den massigen Schultern und ihrer trägen Verzweiflung, dachte sie, daß es sein letztes Silvester war. Das Licht per Lampe schnitt einen Halbbogen aus ihrem Körper heraus, erhellte eine Hälfte des knolligen, kartoffelartigen Gesichts, des schlaffen Halses; das Licht fiel auf die linke Seite ihres formlosen Körpers, auf die lose im Schoß ruhenden Hände und weiter hinab auf die Füße, die in altmodischen, kaum getragenen Schuhen steckten. Sie zuckte zusammen, wenn in der Küche eine Schranktür zuflog, griff forschend nach ihrem Knoten im Nacken, besorgt, daß er sich gelöst haben könnte, und legte die Hände wieder in den Schoß. Sie wartete dort, wo er sie niedergedrückt hatte auf den Hocker, bevor er in die Küche gegangen war: den Rücken gegen die Nähmaschine gelehnt, die geschwollenen Beine auf einer Fußbank, und griffbereit unter der Lampe ein Glas Rotwein, das er ihr als Trost dafür hingestellt hatte, daß sie aus der Küche verbannt war. Die alte Frau rührte das Glas nicht an.

Hinter ihrem Rücken lief das Radio. Die Alte hörte nicht zu; geduldig blickte sie auf die braune Tür zur Küche, hinter der Topfdeckel klappten, Geschirr klirrte, sie horchte auf das heftige Rattern des Wasserhahns, erschauerte, wenn Mummer in gewaltsamer Vergnügtheit seine Selbstgespräche begann, oder legte beschwichtigend einen Ellenbogen über ihre schwere Brust, sobald es in der Küche still wurde. Dann, als sie es nicht vermutete, öffnete er die Tür und trat mit leicht vorgestreckten Händen in den Türrahmen.

Eine warme Essenswolke strömte an Mummer vorbei in die Stube, und er stand da in seinem alten, schäbigen Kellnerfrack: ausgezehrt, schwärzlich im Gesicht, gewaltsam grinsend, ein leichter Mann mit einer Jockey-Figur, alt und doch von unschätzbarem Alter; seine Stirn war schweißbedeckt. Triumphierend sah er die Frau an, rieb die Handrücken am Frack ab; dann ging er tänzelnd auf sie zu, zog sie vom Hocker und bot ihr seinen Arm.

»Ich lasse bitten«, sagte er.