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Silvy ist, das lässt sich anders nicht ausdrücken, eine scheußliche Streberin. Abschreiben bei Ihr? Das kommt nicht in Frage. Lässt sie deshalb Leonore nicht abschreiben? Das darf nicht sein, die Freundinnen sind empört. Denn jeder weiß doch, dass Leonores Versetzung in die nächste Klasse gefährdet ist. Und es kommt zugunsten Leonores noch hinzu, dass sie zu Hause eingespannt ist und die kranke Mutter vertreten muss. Wer würde ihr da nicht helfen? Silvy! Als Leonore dann in immer größere Probleme gerät, organisieren die Freundinnen einen Hilfsdienst. Nun wird es spannend, wie sich Silvy verhalten wird?-
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Seitenzahl: 162
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Silvy will die Erste sein
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1967 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719527
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Nach einem strengen Winter mit Eis und Schnee war der Frühling vom Süden her in die Stadt gestürmt. Ein warmer Wind hatte an Fenstern und Türen gerüttelt und den letzten grauen Schneematsch weggetaut. Er hatte die Wolken vom Himmel vertrieben, der sich jetzt wie eine blanke blaue Kuppel über den Dächern wölbte. Die Zugvögel waren heimgekehrt und zwitscherten in den Buchenbäumen hinter der Parkschule, und auf der Wiese, die allmählich Wieder grün zu werden begann, waren die Krokusse, bunt wie Ostereier, durchgebrochen.
Der Holzstapel, auf dem die Freundinnen aus der sechsten Klasse früher so gerne gesessen hatten, war längst abgetragen und verheizt. Aber das war nicht schlimm, denn stattdessen waren viele nagelneue, knallgrün glänzende Bänke auf dem ganzen Gelände verteilt worden, auf denen man die Beine von sich strecken und sich die heiße Frühlingssonne auf die Nase brennen lassen konnte. Nur die rothaarige Olga Helwig tat das nicht, denn sie fürchtete die Sommersprossen, die sich allzu rasch auf ihrer zarten weißen Haut anzusiedeln pflegten; sie lehnte, etwas im Hintergrund, an einem Baumstamm.
Aber die kleine Ruth, die ihr schönes blondes Haar jetzt in einer schicken glatten Innenrolle trug, die spitznasige Silvy, Katrin mit der schwarzen Mähne (und endlich statt der Skihose wieder in ihren geliebten Blue jeans) und die braunäugige, braunhaarige Leonore Müller mit dem lustigen Grübchen im Kinn hockten nebeneinander wie die Spatzen auf einer Stange, und wie die Spatzen schnatterten sie auch miteinander, während sie Körner pickten oder, richtiger gesagt, in ihre Schulbrote bissen.
Heute war ein großer Tag, ein lang und heiß ersehnter Tag: Leonore wurde zwölf Jahre alt.
Das allein wäre natürlich noch kein Grund zu so viel Aufregung gewesen, aber es hatte mit diesem Geburtstag noch eine besondere Bewandtnis. Leonore hatte ihren Eltern die Erlaubnis abgebettelt, eine kleine Party geben zu dürfen, keine gewöhnliche Geburtstagsfeier mit Verlosung und Blindekuh, sondern eine richtige Party mit Jungen, bei der auch getanzt werden sollte.
Das war für die Freundinnen eine Sensation. Zwar waren die Jungen, die ihr Erscheinen zugesagt hatten, nicht gerade Traumboys, denn woher hätte Leonore die nehmen sollen? Sie hatte einfach die Jungen eingeladen, die sie kannte, und das waren erst einmal ihre beiden Zwillingsbrüder Peter und Paul, beide vierzehn Jahre alt, und dann noch Olgas Brüder Hartmut und Ulrich, fünfzehn und sechzehn Jahre, die versprochen hatten, einen Schulfreund namens Gerd mitzubringen. So war für jede der Freundinnen ein Tänzer gesichert, und das war schon viel wert.
„Gestern abend habe ich schon mit Mutti italienischen Salat und Kanapees gemacht…“, sprudelte Leonore aufgeregt.
Silvy fiel ihr ins Wort.
„Ich höre immer Sofa! Wieso hast du für die Party Sofas zurechtgezimmert?“
Katrin lachte so, daß sie fast von der Bank fiel. „Na so was! Weißt du etwa nicht, was Kanapees sind?“
„Sofas!“ beharrte Silvy.
Die anderen gaben durch beredtes Schweigen zu verstehen, daß sie es auch nicht besser wußten.
„Kanapees, das sind so eine Art belegte Brote …“, versuchte Leonore zu erklären.
„Warum nennst du sie dann nicht so?“ fragte Silvy giftig.
„Weil es eben keine belegten Brote sind, sondern Kanapees, nicht wahr, Leonore?“ rief Katrin.
„Und wo ist da der Unterschied?“ ließ sich nun Olga aus dem Hintergrund vernehmen.
„Belegte Brote, das sind kräftige Dinger, Stullen, in die man hineinbeißen kann“, sagte Katrin, „aber Kanapees, das sind mehr so kleine Appetithappen, die man mit einem Biß vertilgt.“
„Ja, das stimmt“, bestätigte Leonore.
„Gratuliere, Katrin“, sagte Silvy, „so weise wie du wäre ich auch, wenn meine Großmutter Köchin wäre.“
„Aber Silvy, das gehört doch nicht hierher!“ mahnte Leonore leise.
Doch Katrin ließ sich nicht so leicht beleidigen. „Und wenn du platzt!“ rief sie. „Ja, ich weiß das von meiner Großmutter! Als wir noch bei Weikerts wohnten, hat sie soundso oft Kanapees bereitet, wenn Gäste kamen, und damit du es nur weißt: ich halte es nicht für eine Schande, wenn man für fremde Leute kocht. Das ist genauso eine Art, Geld zu verdienen, wie anderen Leuten Versicherungen anzudrehen …“
Jetzt ging Silvy, deren Vater Versicherungskaufmann war, in die Luft. „Aber erlaube mal, das ist doch ein gewaltiger Unterschied!“
„Wenn ihr euch auch heute nachmittag in Gegenwart der Jungen so zankt“, sagte Ruth, „werden die ja einen fabelhaften Eindruck von euch kriegen.“
„Finde ich auch“, sagte Olga, „meine Brüder sind sowieso von der Einladung nicht gerade begeistert. Sie haben gesagt, wir wären dumme Gänse und sie kämen nur aus Gnade und Barmherzigkeit.“
„Sie werden sich wundern, wie schick meine Party wird!“ rief Leonore. „Ich habe mir die tollsten Schallplatten zusammengeborgt, und heute früh habe ich mit Peter und Paul zusammen die Terrasse geschmückt… mit Girlanden, Luftschlangen und Lampions, das sieht ganz süß aus, sage ich euch! Geradezu romantisch!“
„Ach, du dicke Neune!“ sagte Katrin. „Das klingt ganz so, als ob ich ein Kleid anziehen müßte.“
„Natürlich muß du!“ rief Ruth. „Willst du etwa in Hosen tanzen?!“
„Aber ich kann überhaupt noch nicht tanzen“, gestand Katrin.
„Sieh mal an“, sagte Silvy, „es gibt also doch etwas, was du nicht in deinem hochherrschaftlichen Hause gelernt hast!“
„Sogar eine ganze Menge“, gab Katrin unumwunden zu, „aber jetzt sei mal ehrlich, Silvy, kannst du denn etwa?“
Olga enthob Silvy der Antwort. „Das kann doch jeder“, behauptete sie, „vielleicht nicht gerade die schwierigen Tänze, Walzer oder Tango, aber solche Platten wird Leonore ja hoffentlich nicht auflegen …“
„Bestimmt nicht! Bloß Soul und Beat!“ bestätigte Leonore.
„Na also“, rief Ruth, „danach braucht man doch bloß herumzuhopsen …“
„Sich im entsprechenden Rhythmus zu bewegen“, verbesserte Olga.
Katrin sprang auf und verrenkte wie ein Clown ihre Glieder. „Hopsen kann ich!“ rief sie übermütig. „Aber wie das mit dem Rhythmus ist …“
„Um Himmels willen, benimm dich nicht wie eine Verrückte“, tadelte Silvy sie, „du wirst uns noch in Grund und Boden vor den Jungen blamieren!“
„Ihr und eure Jungen“, sagte Katrin verächtlich und warf ihre schwarze Mähne in den Nacken, „daß ihr euch bloß nicht ankleckert! Glaubt ihr etwa, ich breche mir wegen dieser blöden Knaben ‘ne Verzierung ab? So gut wie die sind wir doch noch lange. Warum wollt ihr bloß vor denen so eine Schau abziehen?“
„Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja wegbleiben“, sagte Silvy frech.
„Also hör mal!“ rief Leonore empört. „Immerhin bin es ja noch ich, die die Party startet!“
„Ich fürchte“, erklärte Olga mit Grabesstimme, „sie wird sowieso ins Wasser fallen.“
„Was?“ riefen Leonore, Rüth und Silvy wie aus einem Munde und: „Was unkst du da?“ rief Katrin.
„Wer Augen hat, der sehe“, sagte Olga und wies mit dem Zeigefinger in die Ferne.
Die Mädchen folgten ihrem Hinweis und entdeckten über dem Wald eine kleine weiße Wolke.
Leonore lachte ganz erleichtert auf. „Ein Wölkchen, na wenn schon. Und deswegen machst du so ein Theater?“
„Es ist eine Regenwolke“, beharrte Olga.
„Das ist ausgeschlossen“, sagte Leonore energisch, „an meinem Geburtstag hat es noch nie geregnet. Ich bin schließlich ein Sonntagskind.“ Aber Leonore mußte erfahren, daß auch Sonntagskinder nicht gegen Wetterumstürze gefeit sind.
Als die Mädden aus der Schule kamen, war aus dem kleinen weißen Wölchen eine riesige graue Wolkenwand geworden, die sich immer höher und höher hinaufschob und schon den halben Himmel bedeckt hatte.
Zu Hause, auf der liebevoll geschmückten Gartenterrasse, wehten die Luftschlangen und Girlanden und Lampions ganz matt und elend in dem feuchten Wind.
„Das beste wird sein, wir montieren alles wieder ab“, sagte Frau Müller mit einem Blick zu dem griesgrauen Himmel hinauf.
„Nur das nicht!“ rief Leonore entsetzt. „Das Wetter wird sich schon noch halten, es muß sich einfach halten!“
Doch das Wetter tat ihr nicht den Gefallen. Sie saß mit ihrer Mutter und den Geschwistern beim Mittagstisch – ihr Vater, Rechtsanwalt Müller, war wie so häufig in der Stadt aufgehalten worden –, als die ersten schweren Tropfen gegen die Fensterscheiben knallten.
Leonore sprang auf. „Das kann doch nicht wahr sein!“
„Ist es aber“, sagte der dicke Paul gemütlich, „deine Party fällt ins Wasser.“
„Es sei denn, du hättest irgendwo eine Arche geparkt“, erklärte Peter, dünner und länger, aber genauso blond und strubbelig wie sein Zwillingsbruder, ungerührt.
„Ihr seid gemein!“ rief Leonore, den Tränen nahe.
„Ja, nett kann ich euer Benehmen wirklich nicht finden“, sprang ihr die Mutter bei, „statt eure Schwester zu verspotten, solltet ihr ihr lieber helfen. Lauft schnell hinaus auf die Terrasse und nehmt die Dekorationen ab!“
„Was? Bei dem Regen?“ rief Peter.
„Ich habe ja noch nicht einmal fertig gegessen!“ empörte sich Paul.
„Manchmal gibt es Dinge, die wichtiger sind als Essen und Trinken. Also, laßt euch nicht zweimal bitten.“ Frau Müller stand auf. „Ich werde euch helfen“
Der kleine Andy raste zur Glastüre. „Ich komme mit!“ schrie er.
Ina, die jüngste der Geschwister, gerade eben drei Jahre alt, versuchte von ihrem Stuhl zu klettern. „Ich will auch helfen!“ Ich will auch helfen!“
„Nein“, entschied Frau Müller, „ihr beide könnt uns am besten dadurch helfen, daß ihr ganz brav eure Suppe aufeßt und uns nicht zwischen die Beine lauft.“ Als Andy trotzdem hinauszustürmen versuchte, fügte sie bedeutungsvoll hinzu: „Wer nicht gehorcht, kriegt nachher kein Eis mit Schokoladensoße.“
Das wirkte. Andy setzte sich schleunigst wieder auf seinen Platz und begann eifrig zu löffeln. „Aber wenn ich fertig bin?“ fragte er hoffnungsvoll.
„Bringst du Ina ins Bett und verkriechst dich selber in die Falle!“
Frau Müller kümmerte sich nicht länger um die beiden Kleinen, sondern eilte hinter Leonore und den beiden Jungen auf die Terrasse hinaus. Peter und Paul waren schon jeder auf einen Gartenstuhl geklettert, Leonore und Frau Müller folgten ihrem Beispiel, und in Windeseile nahmen sie die bunten Papierdekorationen ab, die sie heute früh mit so viel Liebe und Mühe drapiert hatten. Dabei schlugen ihnen dicke Regentropfen in das Gesicht, und der Wind zauste an ihren Haaren.
Paul hatte gerade den letzten Lampion abmontiert und ins Haus gebracht, als es erst richtig losging; wahre Fluten stürmten vom Himmel herab.
„Da haben wir gerade noch mal Glück gehabt“, sagte Peter befriedigt, geradeso, als wäre das Retten der Dekoration seine Idee gewesen.
„Glück nennst du das?!“ rief Leonore und starrte verzweifelt auf den Haufen bunten, feuchten Papiers, das jede Form verloren zu haben schien. „Alles ist kaputt! Was soll ich jetzt bloß tun? Meine Freundinnen werden wahnsinnig enttäuscht sein, wenn ich die Party abblasen muß.“
„Mach dir nichts draus“, sagte Paul kaltschnäuzig, „zur Not essen wir den Salat und die Brote auch alleine auf!“
„Die Limonade ist noch nicht angesetzt, und das Eis hält sich in der Gefriertruhe“, fügte Peter hinzu.
„Stellt ihr euch so blöd oder könnt ihr wirklich nicht verstehen, was dieser Reinfall für mich bedeutet?“ rief Leonore und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten; sie schluchzte wild und verzweifelt auf.
„Heul nicht, Leonore“, mahnte Frau Müller, „Wasser haben wir draußen gerade genug, und von Tränen ist noch nie etwas heil geworden. Noch ist ja gar nichts verloren. Weißt du was? Wir ziehen deine Party einfach drinnen auf.“
„Aber mein Zimmer ist doch viel zu klein!“
„Wer spricht denn von deinem Kämmerchen? Wir räumen hier das Wohnzimmer aus. Jetzt eßt ganz fix auf, und dann machen wir uns ans Werk. Ich schau nur schnell nach, ob Andy und Ina wirklich in den Federn liegen.“
Leonore lief Frau Müller nach und hängte sich an ihren Hals. „Mutti, Mutti, du bist doch die allerbeste und allerklügste Mutter auf der ganzen Welt!“
Frau Müller strich ihr durch die braunen Locken. „Ich will doch nicht, daß du an deinem Geburtstag weinen mußt!“
Paul beklagte sich, daß die Suppe kalt geworden war, und Peter jammerte, daß er Möbel schleppen mußte, aber Leonore, weit entfernt sich zu ärgern, hörte gar nicht mehr hin; sie war überglücklich, daß ihre Party nun doch steigen sollte. Als alle gegessen hatten, räumten sie eilig ab und stapelten Teller, Besteck und Terrine in der Küche in die Spüle.
Unter Frau Müllers Leitung trugen sie dann gemeinsam mit ihren Brüdern den Eßtisch und die Stühle in das Arbeitszimmer des Vaters hinüber und rollten den Teppich auf, um Platz zum Tanzen zu schaffen. Um den Rauchtisch stapelten sie noch ein paar dicke Polster, so daß zehn Personen dort Platz fanden. Sie bauten den Plattenspieler auf und schoben einen Teewagen für das kalte Büfett heran. Es war erstaunlich, wie rasch sich das langweilige Eßzimmer in einen Partyraum verwandelte.
„Na, siehst du“, sagte Frau Müller, die sich über Leonores strahlendes Gesicht freute, „jetzt brauchen wir nur noch neu zu dekorieren …“
„Aber ohne uns“, protestierte Peter, „wir haben heute nachmittag Turnstunde!“
„Du sagst es!“ rief Paul. „Das hätte ich doch beinahe total vergessen!“
„Könnt ihr die denn nicht sausen lassen? Bei dem Regen?“ bettelte Leonore.
Die Brüder sahen sich zögernd an.
„Nein“, entschied Frau Müller, „Schule geht vor. Saust los, ihr beiden! Wir werden hier schon allein fertig. Aber seht zu, daß ihr rechtzeitig wieder zurück seid!“
„Aber klar“, versprach Paul.
Frau Müller und Leonore hörten die beiden noch in der Garderobe rumoren und dann das Zufallen der Haustüre; sie waren allein mit der restlichen Arbeit zurückgeblieben.
Leonore zog eine der feuchten Girlanden aus dem bunten Haufen und betrachtete sie skeptisch.
„Paß nur auf, wenn sie hängt, sieht sie bestimmt wieder ganz manierlich aus“, tröstete die Mutter Sie, „hol schnell die Leiter!“
„Ob wir das überhaupt noch schaffen?“ fragte Leonore. „Um vier kommen die Gäste!“
„Bis dahin ist noch reichlich Zeit“, meinte Frau Müller.
Leonore schleppte die Stehleiter herbei und klappte die Holme auseinander. „So ein wackeliges Ding“, sagte sie, „sieh bloß mal, Mutti, die Schraube, die das Gelenk hält, sitzt ganz locker.“
„Ja, die hätte ich schon längst richten lassen müssen“, gab Frau Müller zu, „aber du weißt ja, wie so etwas ist. Man nimmt es sich immer wieder vor und verschiebt es dann doch.“
„Das ist ja nicht so schlimm. Du mußt sie nur gut festhalten während ich hinaufklettere.“
Leonore stieg, das Ende einer Girlande in der Hand, die Leiter hinauf, die Frau Müller festhielt. Sie beugte sich zur Seite, um das bunte Gewinde zu befestigen. Die Leiter schwankte.
„Halt!“ rief Frau Müller. „Komm runter, Liebling, so geht das nicht. Du kannst anscheinend keine Balance halten. Laß mich hinaufsteigen.“
Als Leonore wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schob Frau Müller die Leiter so zurecht, daß sie genau unter dem Bilderhaken stand, an dem die Girlande befestigt werden sollte; erst dann kletterte sie hinauf. Diesmal gab es keine Schwierigkeiten. Auf die gleiche Weise fuhren Mutter und Tochter fort, das ganze Zimmer zu dekorieren.
Aber nach einiger Zeit wurde Leonore zappelig. „Es ist gleich vier, Mutti, ich muß mich noch umziehen.“
„Gut, hören wir auf. Jetzt sieht es ja schon wirklich hübsch aus.“
„Wieviel haben wir denn noch? Ach, die zwei Lampions können wir auch noch anbringen.“
Frau Müller sah Leonore kopfschüttelnd an. „Mir scheint, du weißt wirklich nicht, was du willst.“
Leonore lachte. „Ja, ich bin tatsächlich ganz durcheinander. Aber findest du nicht auch, wir sollten die beiden noch aufhängen? Dann brauche ich nur noch zusammenzukehren, und falls ich noch nicht fertig bin, wenn die ersten Gäste kommen, kannst du sie ja unterhalten.“
„Donnerwetter, das ist aber eine Ehre!“ sagte Frau Müller.
Sie entschieden sich dafür, die letzten Lampions an der Dekkenlampe zu befestigen, und schoben die Leiter in die Mitte des Raumes. Frau Müller hatte gerade den einen angebunden, und Leonore reichte ihr den zweiten, als es klingelte, dreimal kurz und heftig hintereinander.
„Oje, da sind sie schon!“ rief Leonore erschrocken und ließ die Leiter los.
Frau Müller nahm ihr den Lampion ab. „Zum Glück sind wir gerade fertig.“
„Ich mache schnell auf!“ Leonore rannte aus dem Zimmer.
Sie öffnete die Haustür und sah sich ihren vier Freundinnen gegenüber.
Katrin grinste von einem Ohr zum anderen. „Wir sind ein bißchen früher gekommen, weil wir dachten, daß wir vielleicht helfen könnten.“
„Falls die Party überhaupt noch stattfindet“, fügte Silvy hinzu.
„Nett von euch, kommt rein!“ bat Leonore.
In diesem Augenblick ertönte ein Aufschrei und ein dumpfes Poltern.
Die Mädchen standen wie versteinert und sahen sich an.
„Was war das?“ fragte Olga.
„Meine Mutter!“
Plötzlich stieg Leonore eine Ahnung auf, was passiert sein konnte. Sie stürzte in das Wohnzimmer, und die Freundinnen, so wie sie waren, in Gummischuhen und Regenmänteln, stürmten hinter ihr her.
Die Leiter war umgefallen und auseinandergebrochen, und Frau Müller lag mitten auf dem Parkett. Ihr Gesicht war sehr weiß, und der rechte Unterschenkel winkelte sich so vom Knie, als gehörte er gar nicht zu ihr.
Leonore ließ sich neben ihr nieder. „Oh, Mutti, Mutti“, jammerte sie, „liebe Mutti! Bitte, bitte, mach die Augen auf! Bitte, bitte!“
„Red keinen Quatsch“, mahnte Katrin mit rauher Stimme. „Sieht doch ein Blinder, daß deine Mutter ohnmächtig geworden ist. Folglich kann sie dich nicht hören, und es hat gar keinen Zweck, ihr etwas vorzujammern. Ein Arzt muß her. “
„Was für einen Arzt habt ihr?“ fragte Silvy. „Ich werde telefonieren.“
Aber Leonore war in ihrer Verzweiflung gar nicht mehr ansprechbar; von ihr war keine Auskunft zu bekommen.
„Nebenan ist Doktor Müllers Arbeitszimmer“, sagte Ruth vernünftig, „vielleicht finden wir die Adresse auf dem Schreibtisch. Oder wir müssen uns einen Arzt aus dem Telefonbuch suchen.“
Silvy, Ruth und Katrin liefen in das Arbeitszimmer, während Olga bei Leonore blieb und versuchte, sie zu beruhigen.
Tatsächlich fanden die drei anderen neben dem Telefon einen Merkkasten, auf dessen oberstem Blatt alle wichtigen Nummern – Arzt, Überfall, Feuerwehr und so weiter – aufgeschrieben waren.
„Ich ruf gleich an!“ rief Silvy eifrig.
„Doktor Theodor Horn, Geibelstraße fünfzehn“, las Katrin, „das ist ja ganz in der Nähe. Ich laufe lieber hin.“
„Ph!“ machte Silvy. „Du kannst mir schon zutrauen, daß ich imstande bin zu telefonieren.“
Aber Katrin war nicht in der Stimmung, sich jetzt auf ein Hick-Hack einzulassen. Sie rannte wortlos auf den Flur hinaus, und Ruth folgte ihr.
Katrin und Ruth rasten durch den strömenden Regen. Beide trugen sie hohe Gummistiefel – die Beutel mit ihren guten Schuhen und ihre Geschenkpäckchen hatten sie bei Müllers liegenlassen –, Katrin war in einen Kapuzenmantel verpackt, und Ruth hielt ein Schirmchen, das mit durchscheinendem rosa Plastik bezogen war, über dem Kopf.
„Wäre es nicht doch vernünftiger gewesen, wir hätten Silvy einfach telefonieren lassen?“ keuchte sie.
„Nein“, gab Katrin zurück, „oder glaubst du etwa, ich brause zum Spaß durch diese Sintflut? Denk doch mal nach! Jeder praktische Arzt macht nachmittags seine Krankenbesuche. Da müßte Silvy schon viel Glück haben, wenn sie ihn telefonisch erreichen würde.“
„Und wir? Werden wir ihn denn erwischen?“
„Klar. Wir laufen einfach so lange herum, bis wir ihn gefunden haben.“
Bis zur Geibelstraße 15 war es nicht weit. Doktor Horn wohnte in einem hübschen Einfamilienhaus, das große Ähnlichkeit mit dem Müllerschen hatte. Neben der Haustür war ein weißes Emailleschild angebracht, auf dem in dicken schwarzen Buchstaben stand: „Dr. med. Theodor Hom, prakt. Arzt, Sprechstunde montags bis samstags von 9 bis 12 Uhr“.
„Da hast du es“, sagte Katrin und drückte entschlossen auf die Klingel.