Sing, wilder Vogel, sing - Jacqueline O’Mahony - E-Book

Sing, wilder Vogel, sing E-Book

Jacqueline O’Mahony

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Beschreibung

Die junge Honora war schon immer eine Außenseiterin in ihrem Dorf an der irischen Westküste. Es ist das Jahr 1849. Als die Hungersnot ihre Gemeinschaft mit brutaler Wucht trifft, schöpft sie genau aus ihrem Anderssein die Kraft zu überleben. Nachdem sie alles verloren hat, bricht sie auf nach Amerika, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Honora gibt nicht auf, ehe sie ihre Freiheit findet – und jemanden, der sie als das erkennt, was sie ist.

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Jacqueline O’Mahony

Sing, wilder Vogel, sing

Roman

Aus dem irischen Englisch von pociaound Roberto de Hollanda

Diogenes

Für Mike

Geh bis an deiner Sehnsucht Rand …

Nah ist das Land,

das sie das Leben nennen.

Rainer Maria Rilke

Prolog

Amerika

Oregon-Territorium, 1854

Sie legte die Hand auf ihren Bauch, lehnte sich mit der Schulter an den Fensterrahmen und sah auf die Straße hinunter. Um diese Zeit war das Licht golden und schwer. Zu Hause färbte sich die Luft am Ende des Tages dunkelblau, ehe sie dann tintenblau wurde, nur selten war der Nachthimmel ein schlichtes, kompaktes Etwas. Dort enthielt die Nacht immer etwas von dem Abend, den sie gerade hinter sich gelassen hatte, und dem Morgen, der bevorstand. Sie hatte ihr eigenes Licht, war nie ganz dunkel. Hier dagegen war die Nacht ein ganz anderer Ort als der Tag, die stille Himmelswölbung schwarz wie das Auge eines Vogels und nur gelegentlich von kalten Sternen gesprenkelt.

Jetzt lag die Stadt ruhig da. In der Ferne sah sie den Horizont, wo die Prärie und der Frühabendhimmel aufeinandertrafen.

»Ist die Zeit um?«, fragte er.

Sie wandte sich zu ihm. Halb aufgerichtet lehnte er am eisernen Bettgestell. Von der Taille aufwärts war er nackt, hatte aber die lange weiße Unterhose anbehalten. Ein Bein war aufgestützt, das andere vor ihm ausgestreckt. Er hatte sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen, jetzt stand es nach allen Seiten vom Kopf ab. Er war jung und stark, nicht besonders gut aussehend, aber er verströmte einen frischen, sauberen Geruch, hatte eine lockere Art und eine angenehme, melodische Stimme. Man konnte ihn sich kaum zornig vorstellen. Er war immer freundlich zu ihr gewesen, während andere ihre offensichtliche Verletzlichkeit zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt hatten. Vermutlich hatte er einiges durchgemacht, doch es hatte ihn eher Mitgefühl als Grausamkeit gelehrt. Die wahre Natur eines Menschen zeigt sich schnell, wenn er keinen Grund hat, sie zu verbergen. In diesem Raum blieb ihr nicht viel verborgen.

»Ja«, sagte sie. »Für dich zumindest.«

Sie wandte sich wieder zum Fenster und spürte, wie er sie beobachtete und darauf wartete, dass sie etwas tat.

»Der Blick aus diesem Fenster muss dir ja sehr gefallen«, sagte er. »Jedes Mal, wenn ich hier bin, hab ich das Gefühl, du kannst es kaum erwarten, wieder dorthin zurückzukehren.«

Sie antwortete nicht.

»Ich hab gehört, du kommst aus Irland.«

Aus seinem Mund klang das Wort wie eine Entgleisung. Seine Aussprache war völlig falsch: Er betonte den ersten Teil zu stark und brach das Wort in zwei Teile, als wäre es zu groß, um es herunterzuschlucken. Sie sagte noch immer nichts. Sagte man nichts, wenn andere es erwarteten, sprachen sie selbst, um die Leere zu füllen. Je weniger man sprach, umso mehr redeten die anderen, und je mehr sie sagten, umso mehr erfuhr man über sie und umso weniger erfuhren sie über einen selbst, und das war ihrer Ansicht nach nur gut so.

In letzter Zeit hatte sie gemerkt, dass sie in alte Gewohnheiten zurückfiel; je weniger sie sagte, umso mehr verging ihr die Lust daran. Es war, als käme ihr die Sprache abhanden. Immer häufiger verging ein ganzer Tag, ohne dass sie in diesem Haus voller Leute auch nur ein Wort zu jemandem sagte. Je weniger man von sich gab, umso weniger hatte man zu sagen, umso weniger erwarteten es die Leute von einem, und so weiter und so fort.

»Du hast einen langen Weg hinter dir«, sagte er. »Ich komme aus Tennessee und dachte, das ist weit, aber deine Heimat ist noch viel weiter weg.« Er zögerte. »Bist du den ganzen weiten Weg allein gekommen?«

Er war der einzige Mensch, der ihr jemals Fragen zu ihrer Person gestellt hatte, als interessierte er sich tatsächlich für die Antworten. Wahrscheinlich war das schon allerhand.

Sie kehrte zum Bett zurück, setzte sich auf die Kante und strich mit der Handfläche über die Bettdecke. Der Bezug war aus gutem weißem Leinen, mit Spitzenbesatz. Sie wusch ihn jede Woche selbst, bleichte und bügelte ihn, obwohl das bei solchem Leinen nicht leicht war. Die anderen Mädchen lachten sie aus, weil sie sich so viel Mühe gab, doch ihr machte es Freude. Sie hätte ungern auf diese Arbeit verzichtet: das Leinen so lange zu behandeln, bis es so weiß und sauber war, als wäre es noch nie benutzt worden.

Als er begriff, dass sie nicht antworten würde, schenkte er ihr das schräge Grinsen, das sie schon kannte.

»Na schön«, sagte er. »Ich weiß, du magst keine Fragen. Ich frage trotzdem weiter. Wahrscheinlich, weil ich mir einbilde, dass du antworten wirst, wenn dir eines Tages eine Frage gefällt.«

Er stand auf und ging um das Bett herum zu ihr. Er griff in ihr Haar, das lose über ihre Schulter hing, und wickelte es behutsam um seine Hand, sodass es im Licht schimmerte.

»Wenn ich noch mal wollte, wie würde das gehen?«, fragte er. »Kriege ich darauf eine Antwort?«

»Du zahlst noch mal«, sagte sie. »So geht das. Du legst das Geld da drüben hin, genau wie vorher.«

»Möchtest du auch noch mal, Nell?«, fragte er leise. Seine Stimme blieb an ihrem Namen hängen. Noch immer spielte er langsam, vorsichtig mit dem Haar in seiner Hand.

Sie sah ihn nicht an. Sie wollte das Verlangen in seinem Gesicht nicht sehen und ihn dafür bemitleiden müssen. Es war schon schwer genug, es in seiner Stimme zu hören.

»Leg das Geld da drüben hin.« Sie wies mit dem Kinn zur Kommode bei der Tür, die als Hutablage diente.

»Jetzt, vorher?«, fragte er.

»Ich muss sehen, dass du es hast«, sagte sie. »So ist die Regel. Es könnte ja sein, dass du gar kein Geld mehr hast und nur behauptest, du hättest welches. Deshalb musst du es als Erstes da drüben hinlegen.«

Er ließ ihr Haar los.

»Ha, das war vermutlich die längste Antwort, die du mir je gegeben hast.«

Er stand da und musterte sie. Als sie nicht zu ihm aufsah, wandte er sich ab, ging zu dem Stuhl am Fenster und hob seine Hose auf.

»Nell«, sagte er.

Er durchsuchte seine Hosentaschen und wurde dabei, wie sie merkte, unruhig. Dann fuhr er plötzlich herum, und noch ehe sie begriff, was er vorhatte, trat er den Stuhl gegen die Wand, so heftig, dass eins der dünnen Beine abbrach. Sie sprang auf. Die Tür hinter ihr war abgeschlossen; sie sperrte immer von innen ab und legte dann den Schlüssel in die Schublade der Kommode. Vorsichtig bewegte sie sich darauf zu. Sie wollte den Schlüssel in ihrer Hand spüren.

»Seit neun Monaten komme ich her. Ich komme jeden Freitag, am späten Nachmittag. Sobald ich meinen Lohn in der Hand habe, mache ich mich auf den Weg. Der Vorarbeiter zahlt mich aus. Ich wasche mich. Schwing mich auf mein Pferd. Reite geradewegs hierher. Und wenn ich ankomme, gehe ich nur zu dir. Manchmal muss ich draußen im Gang sitzen und warten, bis der Mann, der hier drin ist, fertig ist. Muss ihm zunicken, wenn er das Zimmer verlässt, als wären wir Bekannte, dabei will ich ihn bloß –« Er schleuderte die Hose zu Boden und trat ans Fenster, stützte sich rechts und links davon an die Wand und beugte sich vor, bis sein Kopf zwischen den ausgestreckten Armen herunterhing.

Sie beobachtete, wie sich sein nackter Rücken mit jedem Atemzug hob und senkte. Eine lange, hässliche Narbe zog sich über das Rückgrat. Sein Pferd, von einer Klapperschlange erschreckt, hatte sich aufgebäumt und ihn abgeworfen, hatte er ihr erzählt, und dann hatte das Tier das Gleichgewicht verloren und war rücklings auf ihn gestürzt. Er hatte sich an einem Felsen den Rücken verletzt, der Schnitt verlief von oben bis unten wie bei einem aufgeschlitzten Fisch. Es hatte viele Monate gedauert, bis die Wunde sich geschlossen hatte und er wieder richtig gehen konnte. Dieses Bild hatte sie im Kopf, als sie die Schublade der Kommode öffnete und den Schlüssel herausnahm: ein Pferd, das sich aufbäumte und umfiel. Immer wieder stellte sie sich das vor, wie in einer Endlosschleife. Nach dem Sturz, hatte er erzählt, musste er das Pferd erschießen. Es hatte sich das Bein gebrochen; man konnte bis auf den Knochen sehen. Es tat ihm um seinen Rücken leid, noch mehr aber um das Pferd. Es war ihm ein guter, treuer Freund gewesen und hatte dieses Ende nicht verdient.

»Ich entschuldige mich«, sagte er. »Ich werde den Stuhl reparieren.«

Er drehte sich zu ihr um. Sie begriff, dass er sich konzentrierte, dass er ihr etwas sagen wollte.

»Das erste Mal habe ich dich auf der Hauptstraße gesehen, Ende letzten Sommer. Das ist jetzt ein Jahr her. Du hast einen Berg Wäsche getragen, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, das ist zu schwer für so ein zerbrechliches Ding. Ich wollte dir helfen, aber die Jungs erzählten mir, wo du mit der Wäsche herkamst, und ich war so verblüfft, dass ich zögerte. Du hattest ein blaues Baumwollkleid an, und dein Haar war fein und sorgfältig zu einem Zopf geflochten, der dir über den Rücken fiel.«

Sie stand noch immer in der Nähe der Kommode und umklammerte den kalten Schlüssel so fest, dass seine Kanten sich in die Handfläche gruben. Ihre Hand schloss sich noch enger um ihn, drückte noch fester zu.

»Ich erkundigte mich nach dir, aber niemand schien etwas über dich zu wissen, außer wann du hier aufgetaucht bist und dass du aus Irland stammst. Auch jetzt weiß niemand mehr, vermute ich. Ich jedenfalls nicht.«

Er machte einen Schritt auf sie zu.

»Ich bin deinetwegen hierhergekommen, Nell. Ich war vorher noch nie in so einem Haus gewesen, und ich habe den Eindruck, dass auch du nicht hierhergehörst. Mir ist klar, dass die Umstände unserer Begegnung nichts sind, worauf man sich was einbilden kann. Keiner von uns beiden, schätze ich, ist besonders stolz darauf, sich hier wiederzufinden. Aber wir sind nun mal hier. Die Frage ist: Wie geht es weiter?«

Sie wartete.

»Kennst du irgendjemanden in diesem Land, Nell?«

Sie schüttelte den Kopf. Nein. Außerhalb dieses Hauses kannte sie niemanden.

»Wartet zu Hause jemand darauf, dass du zurückkommst?«

»Nein«, sagte sie. »Da, wo ich herkomme, gibt es niemanden mehr.«

»Nun«, sagte er. »Wenn du also frei bist, selbst über dein Leben zu entscheiden – könntest du dir vorstellen, dich mit mir zusammenzutun?«

Sie gab keine Antwort.

»Ich hab ein wenig Geld auf die Seite gelegt«, sagte er. »Wir könnten in den Westen gehen. Uns etwas aufbauen. Wir könnten heiraten, Nell.«

Sie legte den Schlüssel auf die Kommode. Er hatte in ihre Handfläche geschnitten; sie blutete.

Von diesem Haus abgesehen, kenne ich niemanden in diesem Land, dachte sie, aber ich kenne mich.

Ich kenne mich selbst.

»Ich heiße nicht Nell«, sagte sie.

TEIL IIrland 1849

I

Ein Rotkehlchen im Haus ist ein piseog. Ein Fluch, der Unglück bringt. Als Honora O’Neills Mutter sie zur Welt brachte, flog ein Rotkehlchen durch die offene Tür ins Zimmer und durch die Hintertür wieder hinaus. Nur wenige Minuten war es im Haus, doch lang genug, um Dunkelheit über das Zimmer und die Menschen darin zu bringen. Ihre Mutter starb kurz nach ihrer Geburt, und man gab der Kleinen Ziegenmilch, weil keine der Mütter im Dorf sie stillen wollte, wegen des piseogs. Die Nachbarn erzählten sich, Honora habe sich selbst aufgezogen, da sie keine Mutter hatte, die sich um sie kümmern konnte, und ihr Vater sie lieber nicht in seiner Nähe haben wollte. Doch die Ziegenmilch machte sie kräftig, kräftiger als die anderen Kinder in ihrem Alter. Beim Laufen hängte sie selbst die älteren Jungen ab, und beim Lernen überflügelte sie alle. Von Menschen hielt sie sich fern, ebenso von deren Zeiteinteilung: Seit frühester Kindheit verbrachte sie die Nächte draußen im Wald und schlief während des Tages – im Sommer im hohen Gras der tiefer liegenden Felder, im Winter auf dem Boden der väterlichen Hütte, denn sie hatte kein Bett –, und so lernte sie die Geheimnisse von Feld und Wald und der Lebewesen dort besser kennen als die meisten anderen Menschen. Sie hatte ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Lebensweise. Die Nachbarn gewöhnten sich an ihr Kommen und Gehen; sie betrachteten sie als ein halb wildes Geschöpf, das zwischen ihrer und der Welt des Waldes lebte, einer anderen Welt, die sie selten aufsuchten. Honora hatte dunkles Haar und sehr helle Augen. Manche Kinder nannten sie sioga und lachten sie aus, ohne Angst, dass sie sich rächen könnte. Sie ignorierte ihren Spott. Ihr war Schlimmeres passiert, als ausgelacht zu werden. Und Schlimmeres passiert ihr auch jetzt, Tag für Tag, wegen des Hungers.

*

Ta an ocras orm. Ich habe Hunger. Alle haben Hunger, aber für sie ist er schlimmer als für die anderen, davon ist sie überzeugt. Alle leiden darunter, sie aber schon immer, seit zwanzig Jahren schon, sie war von Anfang an ein gieriges Ding. Du bist eine Wilde, hat ihr Vater einmal zu ihr gesagt, da war sie noch ganz klein. Deine Augen sind größer als dein Magen. Dieses Bild hat sie dermaßen verstört, dass es sie bis in ihre Träume verfolgte, und noch lange danach ist sie nachts weinend aufgewacht, weil sie sich selbst mit großen, runden Augen und einem seltsam kleinen, runden Bauch sah. In den Träumen waren ihre Augen so riesig, dass sie zu schwer für den Kopf wurden und sie Gesicht voran auf den feuchten Boden fiel. Laut schreiend wachte sie in der Dunkelheit auf, in der niemand sie hörte.

Es hat ihr schon immer etwas gefehlt und fehlt ihr bis heute.

Jetzt ist es William, der an ihr und ihrer Gier verzweifelt, so wie ihr Vater zuvor. Obwohl sie erst seit einem Jahr verheiratet sind, hat er bereits genug von ihr, ist sie leid, wie es scheint.

Anfangs war er verrückt nach ihr gewesen, besonders vor ihrer Hochzeit. Einmal stand er mit einem Arm voller blasser Wildblumen vor der Hütte ihres Vaters – Schlüsselblumen, Geißblatt –, und sie verteilte die Blumen in der dunklen Hütte, und selbst ihr Vater erfreute sich an ihrem Duft. Außerdem hatte er ihr drei Briefe geschrieben. Darin berichtete er, was er zwischen ihren Treffen getan hatte (Heute haben der Vater und ich einen Graben neben der unteren Mauer ausgehoben), und schloss mit seltsam formellen Liebesbekundungen (Sehnsüchtig erwarte ich den Tag, an dem wir uns vereinen). Es hatte ihn einige Anstrengung gekostet, diese Briefe zu schreiben, das wusste sie: William konnte kaum einen Stift halten, und ganz sicher war es nicht einfach gewesen, Papier aufzutreiben. Deshalb hatte sie die Briefe aufbewahrt, obwohl sie so schlecht geschrieben waren und sie sich beim Lesen für William und für sich selbst geschämt hatte. Sie hatte sie immer noch, versteckt hinter einem Stein in der Hauswand.

Kaum vorstellbar, dass William ihr heute noch Briefe schreiben würde. Immer häufiger ertappte sie ihn dabei, dass er sie musterte wie ein Problem, das er nicht lösen konnte. Sie ist eine Halbwilde, hatten die Leute ihn gewarnt. Der Vater wird ihr nicht mal einen Topf als Mitgift geben. Sie hat keine Ahnung, wie man einen Haushalt führt. Aber er hatte ihr erzählt, wie er nachts in seinem Bett wach lag, als wäre er von einem Fieber gepackt, und nichts als ihre hellen Augen sah und wie sie wie ein Geist durch den Wald streif‌te und ihre Füße kaum den Boden berührten. Er liebte ihren Geruch – das sagte er einmal, nachdem sie zusammengelegen hatten: Wenn er sie auf seiner Haut rieche, kriege er Lust, ein Loch in die Wand zu schlagen –, und obwohl die bloße Vorstellung von ihnen als Paar auf allgemeine Ablehnung stieß, heirateten sie wenige Wochen nach ihrer ersten Begegnung im Haus seines Vaters. Sie hatte die Hütte ihres Vaters verlassen und war allein, mit leeren Händen zu ihrer Hochzeit gegangen, ohne sich noch einmal umzusehen.

Sie hatte nur nach vorn geschaut.

Aber es war nicht leicht gewesen, allein vor Williams Familie zu stehen, ein hungriges Ding in Lumpen. Sie erkannte den ersten Anflug von Zweifel in Williams Gesicht, als er sie betrachtete: barfuß an ihrem Hochzeitstag im Haus seines Vaters. Wie er in diesem Augenblick anfing, das ganze Ausmaß ihrer Einsamkeit zu begreifen. Es war nicht leicht, das war ihr klar, eine Frau zu heiraten, die so allein auf der Welt war. Du kannst von Glück reden, Honora, sagte sie sich, dass du in diesen seltsamen Zeiten lebst, in denen aufgrund der Hungersnot so seltsame Dinge geschehen und jemand wie du den Sohn der O’Donoghues heiraten kann, und das ungestraft. Heutzutage gelten die alten Regeln nichts mehr, und das kann für dich nur von Vorteil sein.

Die Leute schüttelten die Köpfe und schnalzten missbilligend, aber es war der Hunger, versicherten sie einander, der die Hochzeit bei den O’Donoghues zu einer so ärmlichen Angelegenheit machte. Niemand gab Honora die Schuld.

Doch nicht immer veränderte der Hunger die Dinge, das wusste Honora, er zeigte nur, wie sie wirklich waren. Es gab kein Hochzeitsfrühstück, aber wenn es nach ihrem Vater gegangen wäre, hätte es ohnehin keins gegeben, auch nicht in besseren Zeiten. Und sie hatte kein Hochzeitskleid, weil das ihrer Mutter vor vielen Jahren verkauft worden war, um die Pacht bezahlen zu können.

So standen die Dinge, Hunger hin, Hunger her.

Sie wusste noch, wie sie sich an ihrem Hochzeitstag gefühlt hatte, aber die Einzelheiten – die waren zum größten Teil fort. Es wurde Tag für Tag schwerer, sich an solche Details zu erinnern: Zeit und Gedächtnis entglitten ihr zunehmend. Sie konnte sich an die Farbe der Schale erinnern, aus der sie als Kind gegessen hatte, das Gefühl der rauen Kante am Mund, den Geruch des Tons, aus dem sie gemacht war, doch was ihr letzte Woche widerfahren war, wusste sie nicht mehr genau. Tage und Wochen vergingen, ununterscheidbar gemacht vom Hunger.

Jeden Tag mühte sich William auf dem Land seines Vaters ab, auf der Suche nach etwas, das nicht da war, und ihr kam es vor, als wäre es die ganze Zeit dunkel und sie hätten nie wirklich Licht.

Sie hatten im Frühling geheiratet, und nach der Hochzeit hatte es lange ungewöhnlich schönes Wetter gegeben. Diese Tage, so schien es ihr bis heute, waren voller Licht gewesen. Es war leichter, im Sommer zu hungern, und sie hatten die – wenn auch schwache – Hoffnung, dass die bevorstehende Ernte gut ausfallen würde. Diese Hoffnung schenkte ihnen Kraft. Tagsüber hatten sie Seite an Seite unter dem hohen, lavendelfarbenen Himmel gearbeitet, an den blauen Abenden waren sie über die Felder gelaufen und bei Einbruch der Nacht zu ihrer Hütte zurückgekehrt. Jede Nacht dort war wie ein Geschenk gewesen. Sie hatten ihr kleines Zuhause, ein Bett, einander, und alles, was sie in diesen Tagen gewollt hatten, war zusammen zu sein. Vor ihrer Hochzeit hatten sie in den hohen Gräsern im Wald gelegen, immer voller Angst, entdeckt zu werden, entehrt, deshalb war der Frieden eines eigenen Zuhauses so wundervoll. Dieser Raum, diese Hütte hatte eine ganze Welt für sie bedeutet. Die Dinge, die sie dort getan hatten – noch heute errötete sie, wenn sie daran dachte. Hand in Hand schliefen sie ein, und wenn sie, immer noch Hand in Hand, am Morgen aufwachten, sahen sie sich an und lächelten. Heute staunte sie darüber: Hand in Hand. Wenn sie versuchte, sich zu sehen, wie sie damals war, kam es ihr vor wie der Versuch, eine ferne Gestalt auf der anderen Seite eines Flusses auszumachen. Die Welt, die sie in diesem Sommer bewohnten, war anders gefärbt und sie waren andere Menschen gewesen.

Doch der Sommer war vergangen und die Ernte im Herbst schlecht ausgefallen, sodass sie die Pacht nicht bezahlen konnten. Deshalb hatte der Besitzer sie noch vor Weihnachten vor die Tür gesetzt und die Hütte abgerissen. Ihr ganzes Glück hatte sich in Luft aufgelöst. Trotzdem hatten sie mehr Glück als andere, das sagte William ihr immer wieder: Sie hatten keine Kinder, für die sie sorgen mussten, und im Haus seines Vaters ein Dach über dem Kopf. Sie mussten nur weiterarbeiten und das Beste hoffen, aber es war sehr schwer mitanzusehen, wie ihr Zuhause abgerissen und ihr Hochzeitsbett weggeschafft wurde, und genauso schwer, in Donal Ogs Haus zu leben. William war nicht gut darin, Sohn und Ehemann zugleich zu sein, und seine Loyalität, seine Aufmerksamkeit gehörten stets seinem Vater, wie sie bald feststellen musste.

Schon wenige Tage nach dem Umzug in Donal Ogs Haus begann Honora, draußen im Wald zu schlafen, und nahm ihre alten Gewohnheiten wieder auf. Sie wurde schweigsamer, sprach weniger. Niemand sagte etwas zu ihrer Abwesenheit oder ihrem Schweigen. Allmählich hatte sie das Gefühl, dass sie in die Welt des Waldes zurückkehren und ganz dortbleiben könnte, ohne dass jemand auch nur bemerkte, dass sie weg war.

Als sie ins Haus zurückkehrte, weil es nachts zu kalt für den Wald wurde, musste sie mit William in dessen schmalem Kinderbett schlafen. Sie hatten eine Ecke des Zimmers mit einem Bettlaken abgetrennt, das sie an der Decke und der Wand befestigten. Es war Monate her – drei, vielleicht sogar vier –, seit sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten, weil William Angst hatte, sein Vater könne sie dabei hören. William war müde von der Arbeit, und sie waren beide zu geschwächt vom Hunger, um sich nachts einander zuzuwenden, zu müde sogar, um Hand in Hand einzuschlafen.

Häufig konnte sie trotz ihrer Müdigkeit nicht schlafen, dann lag sie lange Nächte reglos da, ohne einen Laut von sich zu geben, tat so, als schliefe sie, und versuchte nachzudenken, versuchte herauszufinden, wie sie überleben konnte, und musste das Schnarchen ihres Schwiegervaters ertragen und wie William unter der Decke an sich herumfummelte und dabei so viel Lärm machte, dass er einen Toten hätte wecken können.

Es war schwierig nachzudenken. Es kam ihr vor, als hätte sie ein großes Loch in ihrem Inneren, das sich nun mit keiner Nahrung mehr füllen ließe, und als wäre das, was in ihrem Inneren war, auch außerhalb, als bliebe nur noch Leere, und in dieser Leere schmölze die Welt dahin wie Eis an der Sonne. Mit der Zeit wurde ihr Hunger fast unerträglich, unkontrollierbar, und sie wusste, der Grund dafür war ihre Gier.

Die Gier, der Hunger machten sie ungeduldig, wo sie früher doch geistesgegenwärtig gewesen war, und leider auch unfreundlich, bereit, aus ihrer Wut heraus zu handeln, immer in Erwartung des Schlimmsten. Sie dachte und handelte übereilt, scharf und unberechenbar, neigte zu unerwarteten Reaktionen. Sie war schon weit weg von der Honora, die sie einmal gewesen war, und entfernte sich immer mehr von ihr. Nachts lag sie wach neben William, ohne ihn zu berühren, und zerbrach sich den Kopf darüber, was sie tun könnte und vielleicht tun würde. Allmählich hatte sie das Gefühl, dass sie sich selbst nicht mehr kannte.

*

Sie waren zu spät losgelaufen. Das war ihr von Anfang an klar. Die Leute waren gehalten, zusammen zur Stadt zu laufen, mehr als zwölf Meilen entfernt, wo die Inspektoren des Grundherrn sie empfangen würden. Sollte man zu dem Schluss kommen, dass sie Mangel litten, würde man ihnen Unterstützung gewähren. Diese bestand aus drei Pfund Getreide pro Kopf, was bei entsprechend sparsamem Verbrauch wochenlang ausreichen konnte. Diejenigen, die nicht persönlich vor den Inspektoren erschienen, würden von der Unterstützungsliste gestrichen, und das bedeutete, dass sie nichts bekamen.

Der Hunger und die damit einhergehenden Sorgen hatten die Leute abgestumpft, fand sie. Ihre Schwäche machte sie zu Kindern. Geht, sagte der Grundherr, und so gingen sie. Es wurde nicht hinterfragt, wozu das gut sein sollte. Warum müssen wir dorthin laufen? Warum kann niemand zu uns kommen? Warum nur drei Pfund Getreide? Warum hungern wir? Warum geschieht uns das? Inzwischen waren die Menschen nur noch mit dem Wie beschäftigt. Wie werden wir den Marsch schaffen? Wie werden wir beurteilt werden? Wie kommen wir mit dem Getreide aus, bis wir die nächste Zuteilung bekommen? Der Ansatz war völlig falsch, und dass es den anderen nicht auffiel, wunderte sie. Aber die Menschen konnten ihr Schicksal nicht infrage stellen, das war ihr klar, denn ein Warum würde nur zu einem größeren Warum führen und immer weiteren Warums, so vielen, dass man darin ertrank. Im Moment hatten die Leute genug mit dem Wie zu tun, und selbst das war zu viel für sie, denn einen so dummen Fehler zu machen und bis so spät am Tag zu warten würde mit Sicherheit fatale Folgen haben.

*

Es war ein elend kalter Tag, an dem es ständig kälter wurde und schon seit dem frühen Morgen regnete. Die Männer – darunter William und sein Vater, Donal Og – beschlossen zu warten, bis der Regen aufhörte. Es kommt Schlimmeres auf uns zu als Regen, hatte sie ihnen gesagt. Sie sah dem Himmel an, dass sich hinter den Bergen schlechtes Wetter zusammenbraute. Doch die Männer hörten nicht auf sie, und sie hatte frustriert ausgerufen: Ach, könnte ich doch nur allein losgehen und müsste nicht auf euch warten! Ihr hockt hier herum wie eine Herde schlafender Kühe! Sie lachten sie aus, und William warf ihr einen bösen Blick zu, und weil die anderen zusahen, drohte er ihr mit der Faust. Hör auf, bedeutete die erhobene Faust. Sei still. Er war wütend und schämte sich, weil sie so laut vor der Versammlung gesprochen hatte, doch sie fürchtete weder seinen Ärger noch den der anderen Männer: Ihr Zorn über so viel Starrsinn ließ keinen Raum für Angst. Sie hörten nicht auf sie, obwohl sie unrecht hatten und sie recht hatte; so war es eben. Genauso schlicht und einfach falsch wie alles andere Falsche in ihrem Leben.

Nachdem sie sie zum Schweigen gebracht hatten, verließ Honora den Raum voller Männer und lehnte sich vor dem Cottage mit dem Rücken an die Wand. Sie war kalt und klamm – sie spürte die Kälte durch das Kleid –, und die Bäume erhoben sich schwarz, nass und schön vor dem lavendelblauen Himmel, sodass sie ihr Gesicht in den Wind reckte und die Augen schloss. Etwas in ihrem Inneren öffnete sich, schwang sich auf. Sie liebte diese Stelle an der Ecke des Cottage, die auf das Feld hinausging, und besonders gern stand sie hier, wenn es stürmte. Sie war noch nie auf einem Boot gewesen, obwohl sie das Meer jeden Tag in der Ferne schimmern sah, aber bei stürmischem Wind hier draußen zu sein war bestimmt ziemlich ähnlich, wie in einem kleinen Boot über das gewaltige Meer zu fahren. Selbst heute, mit all dem Elend ringsum, war es herrlich, auf diese Weise dem Wind zu trotzen. Noch während der Moment an ihr vorbeizog, erkannte sie seine Schönheit. Hier habe ich den Wind und seine Unbändigkeit, dachte sie, und ich bin froh, seine Stimme zu hören und seine Geheimnisse zu verstehen. Das zumindest bleibt mir.

Sie blieb lange dort stehen, bis der Wind die Richtung änderte und von den Bergen her wehte, und dann bekam er einen bedrohlichen Klang, fast wie ein Klagelied. Sie war sehr müde, so müde, dass sie sich am liebsten auf der Erde ausgestreckt und lange geschlafen hätte, und immerzu und mehr als alles andere war sie hungrig. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen an, als wäre sie zu groß für ihren Mund, der von einem seltsamen, metallischen Geschmack erfüllt war. Auf einmal hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. In letzter Zeit kam das gelegentlich vor, auch bei einigen anderen – ihnen wurde übel vor Hunger. Sie spürte die Warnzeichen, diese Hitzewelle im Magen, und musste den Kopf an die Wand lehnen und warten, bis Hitze und Übelkeit nachließen.

Als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, wandte sie den Kopf vom Wind ab und ging quer über das Feld auf den Wald zu. Sie wollte zu den Bäumen, weg vom Cottage und den Männern, weg von sich selbst.

Unter ihr lag das Tal und in der Ferne der Schwarze See mit der weißen Straße, die neben ihm herlief, bevor sie abbog und über die Berge führte. Dahinter lag die Stadt. Der Regen fiel jetzt stetig, wurde kälter, und der dunkle, schwere Himmel sagte ihr alles, was man wissen musste. Nirgendwo gab es einen Riss in den Wolken, einen Vogel, der darüber hinwegflog, oder ein Tier auf der Erde. Sie hatte den Rand des Waldes erreicht, der jetzt für sie sang. Sie breitete die Arme aus und stellte sich erneut dem Wind entgegen.

»Honora.«

William kam über das Feld auf sie zu und rief laut ihren Namen, um den Wind zu übertönen. Sein Gesicht war verzerrt von der Anstrengung, zu laufen und dabei zu schreien. Er war kein geborener Läufer – zu groß, zu schwer –, und einen Moment lang dachte sie daran, vor ihm wegzulaufen, damit er ihr durch den Wald folgte, in einer Art von verrücktem Spiel. Er würde sie nicht fangen können und sehr böse werden, was vielleicht lustig wäre. Aber sie wusste, dass es sich nicht lohnte, und außerdem war sie ohnehin zu müde und zu hungrig für solche Spielchen.

Er kam auf sie zu wie ein angeschirrtes Pferd und blieb dann stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Keuchend blickte er ins Tal hinunter, als wolle er in aller Seelenruhe die Aussicht bewundern und nicht etwa Atem schöpfen. Er sah sie kaum an, nur aus den Augenwinkeln.

»Ich wusste, dass ich dich hier oben finde«, sagte er. »Du kannst ja nie genug kriegen von diesem alten Wald.«

Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

Sie sagte nichts.

»Wir warten noch ein paar Stunden«, erklärte er schließlich. »Gegen Abend wird es aufklaren.«

»Nein«, sagte sie, aber leise, denn er konnte den pilzfarbenen Himmel über ihnen ebenso sehen wie sie selbst, und sie wussten beide, was er bedeutete.

»Bei diesem Regen können wir nicht gehen, egal wie weit«, rief er aus, als hätten sie lange darüber gestritten, als wäre dies das Ende und er könne nicht mehr. Sie wusste, dass sie nur den Kopf senken musste, um seine zu Fäusten geballten Hände zu sehen und wie er mit dem Daumen über die Knöchel rieb, als wollte er sie von Schmutz befreien.

»Über den Bergen hängt ein böses Licht«, sagte sie. »Da kommt was auf uns zu.«

»Du klingst wie eine alte Hexe, wenn du solche Dinge sagst.«

Egal, welche Gefühle es zwischen ihnen gegeben hatte, sie waren jetzt nicht mehr da, hatten sich aufgelöst. Wenn sie William heute betrachtete, sah sie jemanden, der träge und schwach war. Seine Bewegungen waren langsam, seine Sprache war langsam, und sein Denken war langsam. Manchmal brauchte er so lange, um einen Satz zu beenden, dass sie schon glaubte, er hätte vergessen, was er sagen wollte, und oft rief sie »Was?« in genau dem Moment, in dem er weitersprach, und erschreckte sie damit alle beide. Sie schämte sich seiner und schämte sich ihres Schamgefühls, doch jedes Mal, wenn sie ihn ansah, empfand sie nur Panik und Sorge. Er hatte sie aus einer starrsinnigen Liebe heraus geheiratet, einer, die schnell an ihr Ende gelangt war.

»Mach, was du willst, William«, sagte sie in den Wind. »So, wie du willst, wie üblich.«

»Ach, Honora«, sagte er.

Sie drehte sich um und sah ihm in die Augen.

»Du traust dich nicht, vor den Männern deine Meinung zu sagen. Du bist ein Feigling.«

Sie war verwundert, dass sie das tatsächlich ausgesprochen hatte. Das war’s jetzt, Honora, sagte sie sich. Das geht zu weit, selbst für William.

William wandte sich zum Gehen, blieb dann jedoch stehen und sagte leise, aber doch so, dass sie es hören konnte: »Dummes, mutterloses Miststück!«

Sie wusste, dass er nur wiederholte, was sie andere hatten sagen hören – die Nachbarjungs, denen sie einen Korb gegeben, die Mädchen von nebenan, die sie überholt, ausgestochen hatte. Doch es aus Williams Mund zu hören zerbrach beinahe etwas in ihr. Sie dachte an seine Briefe, sah ihn über das Blatt gebeugt, wie er versuchte, ihr im trüben Kerzenschein zu schreiben, obwohl er nicht mal richtig den Stift halten konnte, und hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, gleich weinen zu müssen. Als Kind hatte sie nie geweint, dafür war sie bekannt gewesen. Aber in den letzten Monaten fürchtete sie jeden Moment, in Tränen auszubrechen, und diesem Drang zu widerstehen war schwer. Ständig musste sie dagegen ankämpfen. Jetzt aber würden sie mit Sicherheit fließen und Schande über sie bringen. Um sie aufzuhalten, legte sie den Kopf in den Nacken und sah zur weiten, dunklen Wölbung des Himmels auf, hob eine Hand in die Luft und formte mit zusammengedrückten Fingern einen Vogel, der sich vor dem Himmel bewegte, schwarz vor dem grauen Licht. Flieg davon, Vogel, dachte sie. Wenn ich könnte, würde ich mich von diesem Körper befreien, mich aufschwingen zum Himmel, höher und höher, bis die ganze Welt da unten zu einer Erinnerung wird.

»Honora«, sagte William. Er stand jetzt vor ihr, sah sie an und klang sehr müde, genauso müde, wie sie sich selbst fühlte. Er griff nach ihrer Hand in der Luft. »Es wird bald aufklaren. Dieses Wetter. Und außerdem ist es schrecklich trübe. Ist ja nicht so, als ob das gutes Tageslicht wäre, das wir jetzt verpassen. Besser, wir warten.«

Ach, William!, dachte sie. Du willst nicht in die Stadt gehen, deshalb suchst du nach einem Vorwand abzuwarten. Das hat nichts mit dem Wetter zu tun; du hast einfach Angst zu gehen. Solange du nicht gehst, gibt es eine Hoffnung, an die man sich klammern kann, die Hoffnung, alles auf einen anderen Tag verschieben zu können. Was William für Stärke hielt – zu widerstehen, zu warten, immerzu zu warten –, war eigentlich eine Schwäche, weil es so falsch war. Jetzt kämpf‌ten sie gegen Schatten.

»Es wird ein langer Marsch für unsere Füße«, sagte sie, um etwas Unverfängliches zu sagen, um ihm zu helfen.

Sie hatte keine Schuhe, niemand hatte jetzt noch welche. Sie waren barfuß wie kleine Kinder im Sommer. Der Weg führte über Stock und Stein, die weiße Straße war in Wirklichkeit nicht mehr als ein Ziegenpfad; es würde sehr hart für ihre Füße werden. Auch ihre Kleider waren ungeeignet. Früher hatten sie hier im Townland einen Webstuhl gehabt und ihre Kleidung selbst hergestellt, doch der war längst verschwunden, und alles, was sie nun trugen, war fadenscheinig, alt und starrte vor Dreck. Sie würden unterwegs irgendwo Schutz vor der Kälte und der Nacht finden müssen.

Sie standen sich in Regen und Wind gegenüber. Sie erinnerte sich an das erste Mal, dass sie William gesehen hatte, an die warme Energie, die er ausgestrahlt hatte, an seine Kraft. Er war nicht mehr derselbe Mann.

Noch immer hielt er ihre Hand und schüttelte sie jetzt sanft, als wollte er eine Antwort aus ihr herauslocken.

»Wenn all das vorbei ist, Honora, gehen wir nach Galway und kaufen uns die schönsten Schuhe. Ja?«

»William«, sagte sie. Sie würde es noch einmal versuchen. »Bitte. Es ist ein Fehler zu warten. Ich weiß es. Vertraust du mir? Wenn wir gehen wollen, dann sollten wir es jetzt tun. Bis zur Stadt sind es zwölf Meilen. An einem schönen Tag sind das fünf Stunden, wenn man schnell geht. Wenn wir jetzt aufbrechen, kommen wir wenigstens noch bei Tageslicht an.«

Er ließ ihre Hand fallen und wandte den Blick ab. »Es ist so entschieden«, sagte er. »Wir warten, bis der Regen nachlässt. Und du solltest nicht mitkommen. Ich weiß nicht, ob du die Kraft dazu hast, Honora. Du siehst nicht gut aus. Es ist schon Tage her, dass du etwas Anständiges gegessen hast.«

»Ich schaffe das«, sagte sie. »Ich schaffe es genauso gut wie alle anderen. Ich bleibe nicht allein zurück. Ich muss gezählt werden.«

*

Sie bereitete sich, so gut sie konnte, auf den Marsch vor. Unterhalb des Grabens auf dem hinteren Feld kannte sie ein Loch, groß genug, um darin zu schlafen; dort ging sie hin. Im Cottage gab es keinen Platz, um sich auszustrecken, mit all den Männern, und wenn sie irgendwohin gehen wollte, egal wie weit, musste sie sich zuerst ausruhen. Die Erde in dem Loch war fein und trocken, wie Sand, und ihr war warm genug. Ihr war fast immer warm in diesen Tagen, seltsam war das, sie verstand es nicht. Der Hunger hatte ihren Körper in etwas Fremdes verwandelt: Er tat unerwartete Dinge, reagierte auf unerwartete Weise, was sie nicht weiter hinterfragte. Es hatte keinen Sinn, Gedanken an Fragen zu verschwenden, die sich nicht beantworten ließen. Sie legte sich auf die Seite, schob die Hände unter ihr Gesicht und sagte laut zu sich: »Schlaf jetzt, Honora«, wie sie es tat, seit sie klein war. Wenig später war sie eingeschlafen.

Als sie aufwachte, aß sie, was sie in ihrer Schürze versteckt hatte. Es waren ein Stück altes Brot und eine Handvoll Schrot, die sie so langsam wie möglich verzehrte. Die anderen würden alles, was sie hatten, mit auf den Marsch nehmen und es mit ihr teilen, wenn sie sahen, dass sie nichts hatte. Dieses Wenige gehörte ihr allein. Als sie fertig war, trank sie Wasser, schnell, um sich satt zu fühlen. Sie trank, bis die Haut auf ihrem Bauch straff und gespannt war, und dann klopf‌te sie mit den Fingern dagegen und brachte sie wie eine Trommel zum Schwingen. Anschließend kümmerte sie sich um die Füße. Sie riss zwei lange Streifen Stoff aus dem Saum ihres Kleides – sie lösten sich ganz leicht unter ihrer Hand, wie die Blüten welker Blumen – und verknotete die Enden, damit sie länger hielten. Damit würde sie mit ein bisschen Glück den schlimmsten Teil der weißen Straße bewältigen. Sie wickelte die Streifen um ihre Füße, bis sie wie Bündel verschnürt waren. Dann schlang sie ihr Haar zu einem festen Knoten. Sie wollte beim Gehen keine feuchten Haarsträhnen im Gesicht oder im Nacken haben; sie konnte dieses Gefühl nicht ausstehen. Ihr Haar war steif vor Schmutz, und bei jeder Bewegung ging ein entsetzlicher Gestank von ihrem Körper aus. Sie schämte sich dafür, wie für alles andere, was sie hatte, was sie war und wofür sie stand. Schäm dich, Honora, schäm dich, hatte ihr Vater gerufen, als sie ein kleines Mädchen war, und sie dachte, ja, Dada, oh, die Schande, diese Schande.

II

Sie hatte Angst, in die Gesichter der Kinder zu sehen, die von jenseits der Berge gekommen waren. In Williams Townland war es noch nicht so schlimm, dass Kinder verhungerten, die Menschen jedoch, die draußen in den Hügeln lebten, waren dem Tod nah, und ihre Kinder sahen alt aus, wie winzige, verschrumpelte Greise. Sie hatten eingefallene Gesichter, fahl vor Hunger, mit riesigen Augen und kleinen, verkniffenen Mündern. Manche, vor allem die Jüngeren, waren nackt. Die Älteren trugen Lumpen. Alle waren barfuß. Sie sah ein Mädchen aus ihrem eigenen Townland, deren herrliches dunkelrotes Haar ihr früher bis zur Taille gereicht hatte. Sommers wie winters hatte sie es offen getragen. Jetzt hatte es ihr jemand abgeschnitten, übrig war nur ein stumpfes Braun. Sie hatte das Mädchen angesprochen: Ann, bist du das? Doch die Kleine hatte sie angeschaut, ohne sie zu erkennen, als wäre sie, Honora, diejenige, die sich so schrecklich verändert hatte. Da war keinerlei Ausdruck in ihren Augen. Ann sagte nichts, obwohl sie Honora lange anstarrte, so lange, dass diese sich fragte, ob sie überhaupt bei Sinnen war, und dann hatte sie angefangen, leise zu weinen. Sie legte eine Hand auf ihr Haar, Honora legte die Hand auf ihren Arm, und keine von beiden sagte ein Wort. Es gab nichts zu sagen. Das würde sie nie vergessen können: das Schweigen. Keins dieser Kinder gab einen Laut von sich. Nicht einmal die Babys weinten. Sie waren zu schwach, und im Übrigen hatten sie gelernt, dass es keinen Unterschied machte, ob sie weinten oder nicht. Es änderte nichts.

*

Am späten Nachmittag hatte der Regen nachgelassen, ziemlich plötzlich; eine blasse Wintersonne war herausgekommen und schien jetzt durch die Tropfen. Alles in dieser Welt ist falsch, dachte Honora bei diesem Anblick von Sonne und Regen zugleich. Wind kam auf und fegte den Himmel leer, bis er strahlend blau war. Obwohl man wegen der Kälte kaum Luft holen konnte, hatten die Menschen bei dem Anblick gejubelt, und William sagte: Behalte deine Wettervorhersagen nächstes Mal lieber für dich, Honora.

Als der Regen aufhörte, fingen die Leute an, sich am Fuß des Hügels unterhalb des Cottage zu versammeln, inzwischen wartete dort eine große Menge. Honora hatte noch nie so viele Menschen auf einem Fleck gesehen: Es mussten jetzt schon an die hundert sein, wenn nicht mehr, und ihre Zahl nahm stetig zu. Sie betrachtete die Menge, und nach einer Weile ging ihr auf, dass sie nach ihrem Vater suchte. Es war keineswegs auszuschließen, dass er darunter war. Ann war da, und sie hatte auch andere aus ihrem Townland erkannt. Seit dem Morgen ihres Hochzeitstages, als sie seine Hütte für immer verließ, ohne sich umzudrehen, hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen. Kaum war sie durch die Tür gegangen, hatte er sie rasch hinter ihr zugeschlagen: Sie erinnerte sich an den Knall, so laut war er gewesen, dass sie zusammengefahren war.

Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört, aber das war auch nicht verwunderlich: Ihr Dorf lag viele Stunden Fußweg entfernt, jenseits der Berge. Es wurden keine Märkte mehr abgehalten, wo die Leute sich treffen und Neuigkeiten austauschen konnten, und in den letzten Monaten waren die üblichen Strukturen des Lebens weggebrochen. Es gab keine Erntedankfeste, keine Hochzeiten oder Beerdigungen mehr, keine Versammlungen irgendeiner Art. Doch jetzt waren Menschen hier, die sie aus ihrem Dorf kannte – Mädchen, mit denen sie als Kind gespielt hatte, Frauen, an deren Tisch sie gegessen hatte –, und es gab andere, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, obwohl sie alle etwas an sich hatten, das sie an ihre eigenen Leute erinnerte. Doch ihren Vater fand sie nicht; er war nicht da. Sie wusste es instinktiv, noch während sie nach ihm suchte. Wenn er nicht gekommen war, dann, weil er nicht konnte. Sie legte die Hand auf ihr Herz und sagte laut »Oh!«, um ein wenig Druck von ihrer Brust zu nehmen. Er war froh gewesen, dass sie heiratete und sein Haus verließ – das hatte er ihr selbst gesagt. Froh, den piseog loszuwerden, natürlich. Trotzdem hätte es sie gefreut, ihn wiederzusehen.

Das Tageslicht schwand, während der Lärm der Menge anschwoll. Die Menschen wurden allmählich ungeduldig, wollten endlich aufbrechen. Viele von ihnen, die von jenseits der Felder und aus den Bergen, waren bereits Stunden durch Regen und Wind gelaufen, um hierherzugelangen. Die vielen Menschen um sie herum machten ihr Angst; zu viele Gesichter, und jedes erzählte eine schreckliche Geschichte. Sie bahnte sich einen Weg aus der Menge heraus.

»Honora!«

Es war der Schullehrer, der ihr Lesen und Schreiben beigebracht und ihr mittags seine eigene Buttermilch gegeben hatte, wenn sie nichts dabeihatte. Einmal hatte er ihr sogar ein abgelegtes Kleid seiner Frau geschenkt, das sie trug, ohne es zu ändern, weil sie nicht wusste, wie man das macht. Der Rocksaum schleif‌te hinter ihr her, und die anderen Kinder lachten sie aus, doch sie hatte sich an dem fein geblümten, blassen Baumwollstoff gefreut. Sie erinnerte sich noch, dass sie zögerte, das Kleid zu waschen, aus lauter Angst, das Blumenmuster könnte ausbleichen, und so trug sie es sommers wie winters, bis es in ihren Händen zerfiel wie eine vertrocknete Blüte. Das fiel ihr jetzt wieder ein, als sie den alten Lehrer auf sich zukommen sah. Das Kleid, das Klassenzimmer, die Buttermilch – das alles waren nun Dinge aus einem anderen Leben, und es war sehr verwirrend, den Lehrer hier zu sehen, in diesem Leben; es passte nicht. Er hob die Hand und winkte ihr zu. An der Dringlichkeit, mit der er sich durch die Menge schob, erkannte sie, dass er ihr etwas mitteilen wollte. Sie wich einen Schritt zurück und stürzte plötzlich zu Boden, weil sie über ihre eigenen Füße gestolpert war.

Der Lehrer beugte sich über sie. Sie nahm seine ausgestreckte Hand, stand auf und schüttelte sie, um zu überspielen, dass sie gerade wie ein Kind hingefallen war. Sie wollte vor dem Lehrer nicht schwach oder tollpatschig erscheinen.

»Honora«, sagte er. »Wie geht es dir.«

Es klang nicht wie eine Frage, eher wie eine Anerkennung der Umstände, in denen sie sich befanden, auf diesem Feld, unter diesem Himmel.

»Mir geht es gut, Sir«, sagte sie. »Danke.«

»Es tut mir leid, dich hier zu sehen«, sagte er. »Natürlich wusste ich, dass du geheiratet hast und jetzt hier mit Donal O’Donoghues Leuten lebst, aber es tut mir leid zu sehen, wie …«

Seine Stimme verebbte. Er bedeckte seine Augen mit einer Hand, die zitterte, wie auch der Rest seines Körpers. Honora begriff, dass er weinte. Sie wich einen Schritt vor ihm zurück.

»Du warst ein kluges Mädchen. Die beste Schülerin, die ich je hatte, das habe ich immer zu Frances gesagt. Mir ist nie wieder ein Kind untergekommen, das so schnell gelernt hat wie du. Nur ein einziges Mal musste man dir etwas erklären, und schon hattest du es verstanden. Manchen Kindern könnte man jahrelang etwas einhämmern, und es hat keinerlei Wirkung, aber du …«

Er weinte und lachte gleichzeitig, und sie senkte den Kopf, um ihn nicht ansehen zu müssen. Den Lehrer weinen zu sehen – das war genauso unvorstellbar, wie wenn er nackt vor ihr gestanden hätte.

»Sir«, sagte sie.

»Hat man dir von deinem Vater erzählt, Honora?«, fragte er. In seinen Augen funkelte etwas Wildes. Unruhig blickte er sie an, zum Himmel, zur Menge, ohne irgendetwas zu sehen, wie ihr jetzt aufging. An der linken Hand klebte Blut, und sein Gesicht war schmutzig.

»Nein, Sir«, sagte sie. »Seit meiner Heirat habe ich nichts mehr von meinem Vater oder über ihn gehört.«

»Nein, natürlich nicht. Das ist natürlich niemandem eingefallen. Es sind rückständige Menschen, Honora, das habe ich schon immer gesagt. Rückständige, in sich gekehrte Menschen.«

Er legte ihr die Hand auf den Arm.

»Der Hunger hatte ihn geschwächt, und dann kam das Fieber und hat ihn schnell dahingerafft, sehr schnell. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen.«

»Danke, Sir«, sagte sie.

Sie wartete, ob sie irgendetwas fühlte, aber da kam nichts. Es war, als hätte sich eine Tür in ihrem Inneren geöffnet und alles wäre herausgeströmt, und jetzt war sie völlig leer, offen für den Wind, federleicht und so wesenlos wie Licht. Ich stehe jetzt in einem leeren Raum, dachte sie, und werde immer kleiner, und der Raum immer größer. Bald werde ich verschwinden, und nur der leere Raum bleibt übrig.

»Wo ist er begraben?«, fragte sie, denn der Lehrer wartete auf eine Reaktion.

»Oh«, sagte er. Er ruckelte jetzt hin und her und schlug sich mit den Händen auf die Schenkel. »Oh, es gibt kein Geld für Beerdigungen, Honora. Als Frances ging, habe ich sie in ihren Schal gewickelt, und die Männer haben sie zusammen mit den anderen auf einem Karren nach Galway gebracht, und so war es auch bei deinem Vater. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, es tut mir so leid.«

Er beugte sich vor und griff nach ihrer Hand.

»Du musst dieses Land verlassen, Honora«, sagte er. »Es gibt hier nichts für dich. Hörst du, was ich dir sage? Wir sind als Volk erledigt. Geh weg von hier, und komm nie wieder zurück.«

Er ließ ihre Hand fallen, als würde ihm plötzlich bewusst, dass sie zu schwer für ihn war.

»Geh weg, Honora«, sagte er. »Und schau nicht zurück.«

*

Sie stieg wieder den Hügel zum Cottage hinauf. Als sie die Tür erreichte, fühlte sie sich auf einmal ganz wacklig auf den Beinen; sie musste sich abrupt und schwer auf den Boden setzen. Sie zog die Knie zur Brust an, und plötzlich, ohne zu wissen, was sie tat, fing sie an, in der Erde zwischen ihren Beinen zu scharren, als grübe sie nach etwas, das im Boden versteckt war, bis sie sich plötzlich ermahnte: Hör auf damit, Honora. Ihre Hände waren schwarz von der Erde, und sie presste sie an ihr Gesicht. Die Erde war kühl und roch gut, sauber. »Dada«, sagte sie laut und dachte: Das ist das letzte Mal, dass ich dieses Wort laut sage oder auch nur denke. Dieses Wort wird jetzt begraben. Sie schob die Erde zurück in das Loch und stand auf.

Die Menschenmenge am Fuß des Hügels schwoll weiter an und wogte wie eine Wolke von Vögeln am Abendhimmel, wenn der Tag in die violette Nacht übergeht. Die Zeit des Aufbruchs war gekommen; die Menge konnte es spüren. Honora machte einen Schritt vorwärts und kam einem Rotkehlchen in die Quere, das träge an ihr vorbeiflog. Sie legte die Hand auf die Wange: Ein Vogelflügel hatte ihr Gesicht gestreift. Das Rotkehlchen landete auf dem Weg vor ihr, direkt vor der offenen Tür der Hütte, und fing an, sich sorgfältig zu putzen, wobei es den Kopf schief legte und sie betrachtete, still und unverwandt.

Sie ging in die Hocke und sah den Vogel an, und der Vogel sah sie an, als wartete er darauf, dass etwas geschah.

»Hallo, Vogel«, sagte sie. »Hallo, mein Freund.«

Dann spürte sie, wie sich neben ihr etwas niederließ, lautlos wie ein kalter Schatten.

»Weißt du, warum die Brust des Rotkehlchens in diesen Zeiten so rot ist?«

Honora sah dem Vogel noch immer in die Augen.

»Weil es sich von den Leichen auf den Feldern und Straßen ernährt. Stimmt’s, Vögelchen? Deshalb ist das Rotkehlchen so dick und so rot. Der Vogel wird rund vom Fleisch und rot vom Blut der Toten. Stimmt’s, mein Vögelchen?«

Die alte Alice kauerte nieder, sodass sie auf einer Höhe mit Honora war. Sie streckte einen Finger aus und fuhr mit ihrem langen Fingernagel über Honoras nackten Arm.

»Hallo, mein Kleines«, sagte sie sanft.

Honora sprang auf. Die plötzliche Bewegung schlug das Rotkehlchen in die Flucht. Es flatterte auf die Kante der offenen Tür und landete dort schwankend, ohne jedoch Honora aus den Augen zu lassen.

Old Alice lachte.

»Das Vögelchen mag dich«, sagte sie und stand ebenfalls auf. Sie war klein wie ein Kind und so alt, dass ihre Augen milchig waren und ihre Haut die Farbe der Erde angenommen hatte. »Es weiß, dass du Dinge hörst, die andere nicht hören, und Dinge siehst, die anderen verborgen bleiben.«

»Ich höre mehr, als du weißt, und nicht nur das, ich verstehe, was ich höre und sehe«, gab Honora zurück. Sie stand mit dem Rücken zu Alice und wandte den Blick nicht von dem Vogel ab.

Die Leute hatten Angst vor Alice, es hieß, sie könne einen mit dem bösen Blick strafen, wenn man sie schief anschaute. Sie fürchteten sie zu Recht, dachte Honora. Sie fürchteten sie längst nicht genug. Doch die Furcht musste vor Alice verborgen bleiben, denn Furcht bedeutete Schwäche, und Alice nährte sich von allem, was schwach, schutzlos und verletzlich war.

»Oh, sie ist unerschrocken«, rief Alice entzückt. »Als hätte sie die ganze Welt hinter sich, dabei ist sie allein, so allein wie ein Vogel im Wind.«

Besser allein als in falscher Gesellschaft wie deiner, dachte Honora, sagte aber nichts. Es war klüger, jetzt nichts zu sagen.

»Eine Prüfung erwartet dich«, sagte Alice leise. Es war noch schlimmer, wenn sie so leise sprach. Beängstigender. Die Worte fielen auf Honora herab wie Steine, die in einen tiefen Brunnen geworfen werden.

»Das Vögelchen weiß es«, sagte Alice. »Das Vögelchen wartet.«

Weglaufen hatte keinen Zweck, obwohl der Drang, einfach loszurennen, übermächtig war. Mehr als alles andere wünschte sie sich, vor Alice, vor diesem Ort und den Menschen hier weglaufen zu können, und auch vor dem Dreck, der Müdigkeit und dem Hunger. Als Kind war sie überallhin gerannt, barfuß, über die Felder, durch den Wald, von niemandem verfolgt und ohne festes Ziel. Sie war gerannt nur um des Rennens willen. Es war lange her, dass sie die Kraft oder einen Anlass dazu gehabt hatte. Aber vor Alice konnte sie nicht wegrennen, auch nicht wie eine Verrückte den Hügel hinablaufen und bei William und den Leuten Zuflucht suchen. Es würde ihnen zu viel über sie verraten, das sie nicht wissen sollten.

Dennoch hob sie ihre Röcke bis zu den Knien, wie in Erinnerung an die Zeit des Rennens, und entfernte sich so langsam sie konnte von Alice.

»Halt«, sagte Alice. »Du Dummchen. Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Du nicht. Schau dir lieber an, was ich für dich habe.«

Honora blieb stehen. Besser wandte sie Alice nicht allzu lange den Rücken zu. Sie drehte sich um und sah die alte Frau sich bücken und hinter sich greifen, und als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie einen schwarzen Stock in der Hand, der größer war als sie.

»Schlehdorn«, sagte Alice und sah an dem Stock empor. Dann streckte sie ihn Honora entgegen und schüttelte ihn vor ihr. »Baum der dunklen Jahreshälfte. Märchenbaum.«

»Du hast die Schlehen beschnitten«, sagte Honora.

Es war eine Sünde, Schlehen zu beschneiden, und bedeutete angeblich unvorstellbares Unglück für diejenigen, die daraus Nutzen zogen.

»Ach was«, rief Alice. »Ich fürchte mich nicht vor dieser Welt und ihren Regeln. Es ist ein guter, starker Baum und beschützt alle, die ihn bei sich tragen.« Sie lachte. »Nicht diejenigen, die ihn beschneiden, sondern diejenigen, die ihn bei sich tragen.«

Wieder schüttelte sie den Stock vor Honora.

»Nimm ihn«, sagte sie ungeduldig. »Du brauchst ihn da, wo du hingehst. Ungemach kommt auf dich zu. Nimm ihn, Mädchen.«

Sie hatte keine Mutter. Ihr Vater hatte sie lieber nicht im