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Lässt du dich gerne von romantischen Geschichten in eine andere Welt entführen? Träumst du gerne von der ersten, großen Liebe? Dann findest du in diesem Leseproben-Mix bestimmt genau die richtige Liebesgeschichte für dich! Begleite zum Beispiel das Au-pair Lena in die USA, das sich in einer Kleinstadt in den Rocky Mountains in den Bad Boy ihrer Gastfamilie verliebt. Fiebere mit, wenn Tyler versucht, seine große Liebe zurückzuerobern und vergangene Fehler wieder gutzumachen. Finde heraus, ob Amys Liebe zu Nate groß genug ist, um ihre dunkle Vergangenheit zu überwinden. Oder erfahre, wie es in der »Backstage Love«-Reihe weitergeht. In jedem Fall ist Herzklopfen garantiert mit diesen romantischen, frechen, prickelnden und hochemotionalen Liebesgeschichten! In diesem eBook findest du Leseproben zu acht verführerischen Liebesromanen vom Knaur Verlag und Feelings. Das kostenlose eBook enthält Leseproben zu: - Lilly Lucas »New Beginnings« - Lauren Blakely »One Passion« - Lauren Blakely »One Kiss« - Liv Keen »Backstage Love – Sound der Liebe« - Liv Keen »Backstage Love – Hals über Kopf verliebt« - Sasha Wasley »Outback Kiss – Wohin das Herz sich sehnt« - Jessi M. Jones »Drei Tage Marie« - Madlen Schaffhauser »Amy & Nate – Du und ich«
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Seitenzahl: 283
Sinnliche Aussichten: Young Romance bei Knaur
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New Beginnings
Über dieses Buch:
Ihr Jahr als Au-pair in den USA hatte sich Lena aus Berlin definitiv anders vorgestellt. Statt in einer angesagten Metropole landet sie in der Kleinstadt Green Valley in den Rocky Mountains, wo ihre Gastfamilie ein kleines Bed & Breakfast führt. Doch obwohl Lena als echtes Großstadtmädchen wenig mit Bergen anfangen kann, fühlt sie sich schnell wohl im Haushalt von Jack und Amy Cooper und deren kleinem Sohn Liam. Wäre da nicht Jacks jüngerer Bruder Ryan, der »gefallene Held« von Green Valley! Er musste nach einem schweren Ski-Unfall seine Profikarriere beenden und wohnt nun eher unfreiwillig bei den Coopers, wo er seinen geballten Frust an Lena auslässt. Eines Tages liest ihm Lena ganz schön die Leviten. Von da an ist zwischen ihr und dem gut aussehenden Bad Boy irgendwie alles anders …
Lilly Lucas’ Green-Valley-Love-Reihe im Überblick:
New Beginnings
New Promises
Blumen, Luftballons, ein Willkommensschild. Ich hatte fast ein halbes Jahr und einen Langstreckenflug Zeit gehabt, um mir auszumalen, wie mein neues Leben in den USA starten würde. Worauf ich mich nicht vorbereitet hatte, war die Tatsache, dass ich mutterseelenallein – ohne Blumen, ohne Luftballons und ohne Willkommensschild – in der Ankunftshalle des Denver International Airports stehen und einen wütenden Dialog mit meinem iPhone führen würde, das sich seit der Landung tot stellte. Fast so, als wollte es mir sagen: Ich weiß, wir wollten das hier zusammen durchziehen, aber ich kann das einfach nicht.
Zum gefühlt hundertsten Mal scannten meine Augen die geschäftige Ankunftshalle, in der Gepäckkarren hupend an Reisenden vorbeisausten und fremde Stimmen aus Lautsprechern plärrten, doch von Jack, Amy und dem kleinen Liam fehlte jede Spur. Ich kannte die Familie Cooper nur vom Skypen und von ein paar Fotos, war mir aber sicher, dass ich ihre Gesichter nicht übersehen hätte. Noch dazu hatte ich in der vergangenen Stunde niemanden entdeckt, der offensichtlich Ausschau nach seinem Au-pair hielt. Aus meiner anfänglichen Nervosität war nun echte Anspannung geworden. Hatten die Coopers mich vergessen? Den Tag vergessen, auf den ich seit über einem halben Jahr hinfieberte? Den ich mir in sämtlichen Farben und Schattierungen ausgemalt hatte? Ich rief mir unsere vielen Skype-Telefonate – Jacks sympathisches Lachen, Amys warmherzige Stimme und Liams niedliche Kulleraugen – in Erinnerung und versuchte, das flaue Gefühl in meinem Magen zu vertreiben.
Die Chemie zwischen uns hatte von Anfang an gestimmt, hatte mich sogar darüber hinwegsehen lassen, dass Colorado nicht Kalifornien war. Denn eigentlich hatte ich mein Jahr als Au-pair in einer amerikanischen Metropole, umgeben von Wolkenkratzern, Starbucks und Shopping Malls, verbringen wollen. In meiner Vorstellung hatte ich die Sterne auf dem Hollywood-Boulevard berührt, Macy’s leer geshoppt und bei Dreharbeiten am Miami Beach zugesehen. Ich hatte das Amerika meiner Lieblingsserien vor Augen gehabt, als ich mich bei der Agentur angemeldet hatte, und die spielten nun mal nicht in Green Valley, Colorado, aka Arsch der Welt. Aber zur Belustigung meiner Eltern hatte mein Lebenslauf nur eine siebenköpfige Farmer-Familie aus Oklahoma, ein Ehepaar mit Drillingen aus Idaho und die Coopers aus Colorado angesprochen.
»Bei zwei dieser Staaten war ich mir nicht sicher, ob es die überhaupt gibt«, hatte mich mein Vater aufgezogen, während meiner Mutter nichts Besseres eingefallen war, als mich damit zu trösten, dass in Colorado immerhin auch eine berühmte Fernsehserie spiele.
»Du weißt schon, dass Der Denver-Clan vor ihrer Geburt gedreht wurde?«
Sein amüsiertes Lachen noch im Hinterkopf, warf ich einen angespannten Blick auf die Anzeige der leuchtenden Digitaluhr über dem Dunkin’-Donuts-Laden und begann zu rechnen. Mein Flieger war vor über 90 Minuten gelandet. Erklärungen wie »Zu viel Verkehr«, »Kein Parkplatz« oder »Spät dran« waren also definitiv nicht mehr drin. Eine Autopanne kam infrage. Ja, vielleicht hatten die Coopers auf dem Weg zum Flughafen eine Autopanne gehabt und versuchten gerade verzweifelt, mich zu erreichen. Ich zog mein iPhone aus der Tasche und startete einen weiteren Versuch, doch das Display blieb schwarz. Warum musste dieses verdammte Ding auch ausgerechnet jetzt schlappmachen!
Im Kopf ging ich meine Optionen durch: Nach Hause fliegen (zu dramatisch!), an die Autopanne glauben und abwarten (zu naiv!), nicht an die Autopanne glauben und abwarten (zu stolz!), auf eigene Faust nach Green Valley fahren (sehr emanzipiert!). Entschlossen schnappte ich mir meinen Koffer und zog ihn zum nächsten Infoschalter, hinter dem eine blonde Frau mit Zahnpastalächeln stand, die laut ihrem Namensschild »Christie« hieß. Ich schilderte Christie also mein Dilemma und wurde mit einer Fülle rühriger Ohs und Nos bemitleidet, bevor sie mir riet, den Mountain Express in Richtung Vail zu nehmen. Die Fahrt, erklärte sie, dauerte knapp zwei Stunden, und der Busfahrer würde mich für ein kleines Trinkgeld mit Sicherheit in Green Valley absetzen, einem Ort, der incredibly beautifulsei. Für fast 40 Dollar kaufte ich mir ein Busticket– incredibly beautiful bedeutete wohl auch incredibly expensive – und machte mich auf den Weg zur Haltestelle.
Als ich durch die Tür ins Freie trat, blies mir warme Septemberluft entgegen. Es musste mindestens 20 Grad haben, und mit meinen gefütterten Ugg-Boots und der roten Daunenjacke mit Fellkragen, die ich mir extra für die Berge gekauft hatte, war ich definitiv zu warm angezogen. Aber in den Rocky Mountains war es mit Sicherheit kälter als hier in Denver, schließlich konnte es dort um diese Jahreszeit bereits schneien. Berge und Schnee, seufzte ich in mich hinein. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ausgerechnet ich hier gelandet war. Ich, das Großstadtmädchen, das nicht einschlafen konnte, wenn die S-Bahn nicht ratterte. Das für 200 Meter Fußweg in die Tram stieg und die Taxihotline auf der Kurzwahltaste hatte. Das einer funkelnden Skyline so viel mehr abgewinnen konnte als einem verschneiten Bergpanorama. Ich konnte nur hoffen, dass sich das Ganze nicht als riesengroße Schnapsidee entpuppen würde.
Nachdem ich die Fahrt fast komplett verschlafen hatte, stieg ich leicht gerädert aus dem Shuttlebus, der mit verzuckerten Bergen bedruckt war, die definitiv Bildschirmschoner-Potenzial hatten. Da ich neben einer Reisegruppe aus Frankreich der einzige Fahrgast war, hatte mich der Fahrer, ein grauhaariger Mann namens Ted, direkt vor dem Haus der Coopers abgesetzt. Glücklicherweise war mir noch rechtzeitig eingefallen, dass der Straßenname etwas mit einem Vogel zu tun hatte.
»Eagle Road«, war es fast gelangweilt aus Teds Mund gekommen, der mit seiner Baseballcap und den Nike-Turnschuhen dem weitverbreiteten Bild eines typischen Amerikaners entsprach.
In jener Eagle Road stand ich nun also, vor einem riesigen frei stehenden Haus, das genau so aussah wie auf den Fotos, die mir Jack und Amy Cooper gemailt hatten. Ein Weg aus Natursteinplatten führte zu einem zweistöckigen Holzhaus mit einer überdachten Veranda und einer rot gestrichenen Tür. Der gemauerte Schornstein blies Rauch in den wolkenlosen Himmel, der sich strahlend blau über malerische Berggipfel und saftig grüne Tannen erstreckte. Ich schmunzelte ungläubig. Dieser Anblick hätte für Postkarten herhalten können – oder Instagram-Posts, #nofilterneeded. Zu dumm, dass mein iPhone nicht mehr funktionierte.
Cooper. Der Name auf dem Klingelschild stimmte schon mal, stellte ich mit Erleichterung fest. Vielleicht würde doch noch alles gut werden. Zuversichtlich strich ich mir das lange blonde Haar hinter die Ohren, das sich nach der langen Reise ungekämmt und strähnig anfühlte. Die dunklen Ringe unter meinen Augen hatte ich vor der Landung notdürftig überschminkt, was aber nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass ich problemlos eine Statistenrolle bei »The Walking Dead« bekommen hätte. Ich holte einmal tief Luft und drückte auf die Klingel, während mein Puls in die Höhe schoss. So hatte ich mich das letzte Mal vor dem Bewerbungsgespräch für ein Praktikum bei einem Start-up in Kreuzberg gefühlt (um am Ende einem Typen gegenüberzusitzen, der kaum älter war als ich und ein T-Shirt mit einem grinsenden Kackhaufen trug).
Als sich nichts rührte, klingelte ich ein zweites Mal und lauschte abwartend. Wieder nichts. Nervös wippte ich mit dem Bein und klopfte an die rote Holztür, erst zaghaft, dann fester. Stille. Meine Stimmung schlug um. Aus Beunruhigung wurde binnen weniger Sekunden Ärger. Ich war seit fast 20 Stunden auf den Beinen, um die halbe Welt geflogen, hatte mir am Flughafen die Füße platt gestanden und war zwei Stunden lang mit einem Bus durch die Pampa gegondelt. Ich war müde, verschwitzt und hungrig. Und jetzt öffnete mir niemand die Tür!? Niemand!? Verärgert presste ich meinen Zeigefinger auf die Klingel und ließ es sekundenlang läuten. Dann näherten sich schwere Schritte auf der anderen Seite der Tür, und mein Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür schwang auf. Mein erster Blick fiel auf eine Männerbrust. Eine nackte Männerbrust. Ich stutzte und brauchte ein paar Sekunden, bis mein Blick nach oben wanderte, vorbei an breiten Schultern, dunklen Bartstoppeln, einem gähnenden Mund und Augen, die mich verschlafen musterten. Kam der Typ gerade aus dem Bett? Um … ich schielte auf meine Uhr … ein Uhr nachmittags? War heute nicht Montag?
»Nein. Nein. Und nein«, brummte er und wollte die Tür im selben Moment wieder schließen.
Reflexartig stellte ich meinen Fuß in den Weg und starrte ihn verblüfft an. Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre älter.
»Nein, ich will nichts kaufen, nein, ich will kein Abo abschließen, und nein, den Weg nach Alaska kenne ich auch nicht.« Wieder machte er Anstalten, die Tür zu schließen, doch ich war zu perplex, um meinen Fuß auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Noch dazu hatte mein übernächtigter Verstand Schwierigkeiten, seinem Schnellfeuer-Englisch zu folgen.
»A…laska?«
»Du siehst aus, als würdest du da hinwollen«, bemerkte er spöttisch, während seine Augen von meinen brandneuen Ugg-Boots zu der roten Daunenjacke und dem Fellkragen wanderten. Hitze schoss mir in die Wangen, als mir bewusst wurde, dass er sich über mich lustig machte. Gut, ich sah wirklich ein bisschen albern aus, wenn man bedachte, dass es selbst hier in den Rocky Mountains noch spätsommerlich warm war. Ich hatte die Jacke auch nur schnell übergeworfen, als ich aus dem Bus gestiegen war. Nun sorgten sie und dieser halb nackte Kerl vor meinen Augen dafür, dass ich Schweißausbrüche bekam. Mit einem ausgedehnten Gähnen streckte er sich, und für ein, zwei Sekunden wusste ich nicht, wo ich hinsehen sollte. Da war einfach zu viel nackte Haut in meinem Blickfeld. Zu viel Brust, zu viel Bauch, zu viel Hüftknochen, zu viel … Stopp!, ermahnte ich mich innerlich. Ich wollte zu Jack und Amy Cooper. Einem netten Ehepaar in den Dreißigern mit einem fünfjährigen Sohn. Hatte Busfahrer Ted seine Pfadfinderfähigkeiten überschätzt? War ich in der Eagle Road gelandet und musste eigentlich in die Falcon Road? Die Hawk Street?
»Ich glaube, ich bin hier falsch.«
»Ja, das denke ich mir auch jeden Morgen«, murmelte er und rieb sich das stoppelige Kinn, das in meinen Augen dringend eine Rasur nötig hatte. Lässig lehnte er sich mit der Hüfte gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust, als sei es ihm entfallen – oder vollkommen egal –, dass er nur eine Jogginghose trug. Auf der anderen Seite – mit so einem Oberkörper konnte es einem das vielleicht auch sein.Straff und definiert und …
»Willst du noch deine Kamera rausholen? Ein Selfie machen?«, riss er mich aus meiner Trance.
Ertappt wandte ich den Blick ab und spürte, wie mein Gesicht zur lebenden Glühbirne wurde.
»Ich … äh … wollte eigentlich zu, also ich will zu Jack und Amy … den … Coopers.«
Warum war mein Englisch plötzlich so holprig? Nervös wanderte mein Blick zu dem Klingelschild, als wollte ich mich vergewissern, dass es noch da war – oder jemals dort gewesen war.
»Die Coopers? Die sind schon vor Jahren weggezogen.«
Mein Mund klappte auf.
»Was?!«
Der Boden unter mir begann zu wanken. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Da begann er, laut zu lachen. Ein tiefes, kehliges Lachen. Sein Gesichtsausdruck irritierte mich. Bis vor zwei Sekunden hatte er noch ausgesehen, als hätte er Zitronensäure geschluckt.
»War ein Witz. Was willst du von den Coopers?«
In meinem Kopf brannte eine Sicherung durch.
»Das war nicht witzig«, fuhr ich ihn an.
Sein Lachen wurde noch unverschämter und schürte das Feuer in meinem Inneren.
»Doch, du hättest dich mal sehen sollen.«
Unverhohlen musterte er mich.
»Also: Wer bist du, und was willst du von den Coopers?«
»Ich bin Lena … Lena.«
Lena Lena. Warum ich meinen Namen erst auf Deutsch und dann noch einmal auf Englisch nannte, konnte ich mir selbst nicht erklären – genauso wenig wie diese vollkommen absurde Situation. Wer wollte mich hier eigentlich auf den Arm nehmen? Das monotone Vibrieren eines Handys ließ mich aufhorchen. Meins konnte es nicht sein. Das lag noch immer scheintot in meinem Rucksack. Seine Hand glitt in die Tasche seiner ausgebeulten Jogginghose und zog ein iPhone heraus, dasselbe Modell wie meins. Du Glücklicher!
»Ja?«, brummte er ins Telefon und lehnte sich wieder gegen den Türrahmen, der ein leises Knarren von sich gab. »Weil ich gepennt habe.« Er rollte mit den Augen. »Hab’s vergessen, aber sie hat’s auch so geschafft.« Sein Blick streifte mich. »Jetzt mach keinen Aufstand, Jack. Sie ist ja hier. Ja … ja … Moment.«
Er hielt mir das Handy hin. Ein leicht unbeholfenes »Hallo?« kam aus meinem Mund.
»Hallo Lena, hier ist Jack. Jack Cooper.«
In meinem Kopf erklang Beethovens Halleluja.
»Lena, es tut uns so wahnsinnig leid, dass wir dich nicht abholen konnten. Ich hoffe, du hast unsere Nachricht noch bekommen? Dein Handy war aus, und wir haben dich nicht erreicht.«
Seine Stimme war aufgekratzt, aber sein Englisch klar und verständlich.
»Leider nicht. Mein iPhone funktioniert nicht mehr, seit ich gelandet bin.«
»Oh nein … Dann ist ja wirklich alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte.« Ein tiefes Seufzen drang aus dem Telefon. »Amys Dad hatte einen Autounfall. Wir sind am frühen Morgen nach Kansas aufgebrochen. Deswegen hatte ich dir noch eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.«
Ich fragte mich, wie weit Kansas wohl von Colorado entfernt war. Beide Staaten lagen im Mittleren Westen, wenn mich meine Geografie-Kenntnisse nicht im Stich ließen.
»Wir warten noch eine Untersuchung ab, aber am späten Abend sollten wir zurück in Green Valley sein«, fuhr er fort. »Ich hoffe, das ist kein allzu großes Problem für dich.«
Das schlechte Gewissen sprach aus jedem seiner Sätze und rückte den Frust der letzten Stunden ein wenig in den Hintergrund.
»Nein, nein, kein Problem«, versicherte ich ihm.
»Wir hatten das alles wirklich anders geplant. Amy hat gestern Abend extra noch Brownies für dich gebacken, und Liam hat ein Plakat gemalt.«
Mein Herz machte einen Hüpfer, und ich musste mich zusammenreißen, nicht erleichtert aufzuatmen. Ich hatte mich nicht in den Coopers getäuscht, und es gab doch eine vernünftige Erklärung für diesen ganzen Schlamassel.
»Ach, und Lena, da wäre noch etwas.« Eine unheilvolle Pause entstand. »Ich weiß, das ist viel auf einmal, und wir erklären es dir in Ruhe, aber der Kerl, der dich heute nicht vom Flughafen abgeholt hat, ist Ryan. Mein kleiner Bruder.«
Ryan. Bruder. Überrascht sah ich auf, und unsere Blicke begegneten sich kurz. Grüne Augen. Er hatte grüne Augen. Und er musste mindestens zehn Jahre jünger sein als Jack.
»Ryan wird für ein paar … Wochen bei uns wohnen.«
Wochen. Ich schluckte, und das Lächeln auf meinem Gesicht erstarb.
»Es … war wirklich nicht so geplant. Aber du musst dir keine Sorgen machen, für dich wird sich rein gar nichts ändern. Wir haben genug Platz im Haus, und du … äh … wirst auch gar nicht viel von ihm sehen.«
Jack klang verlegen, und ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen erneut zu dem halb nackten Kerl im Türrahmen schnellten – von dem ich genau genommen schon viel zu viel gesehen hatte.
»Okay«, krächzte ich und zwang mich zu einem Lächeln, als würde Jack mir in diesem Moment gegenüberstehen.
»Gib ihn mir doch bitte noch mal kurz!«
Wortlos reichte ich Ryan das Telefon.
»Ja«, brummte er. »Ja … ja … ja.« Er schielte kurz zu mir. »Ganz bestimmt nicht.«
Er betonte es so stark, dass ich die Kursivschrift fast hören konnte, und ich beschloss, dass ich nicht wissen wollte, worüber die beiden gesprochen hatten.
»Ja, bis später«, murmelte er ins Telefon. »Und Jack …« Seine Stimme klang plötzlich eine Spur sanfter. »Sag Amy … liebe Grüße.«
Er legte auf, ließ das iPhone zurück in seine Hosentasche gleiten und betrachtete mich einen Moment lang unschlüssig. Dann setzte er ein falsches Lächeln auf.
»Also, Lena Lena. Willkommen in Colorado.«
»Küche, Wohnzimmer, Bad, Kinderzimmer …«, leierte Ryan mit vagen Handbewegungen nach rechts und links herunter, während ich versuchte, die vielen Eindrücke zu verarbeiten, die von allen Seiten auf mich einprasselten. Er machte keinen Hehl daraus, dass er lieber Fenster putzen würde, als mich durch das Haus seines Bruders zu führen, das mit seinen holzvertäfelten Wänden, den frei liegenden Balken und dem gemauerten Kamin einen urigen, aber gemütlichen Charme ausstrahlte. Ich spitzte in die geräumige Küche, deren Mittelpunkt ein großer Holztisch mit sechs massiven Stühlen war. Hier würde ich das nächste Jahr über mein Müsli löffeln. Einer dieser Stühle würde fortan meiner sein, dachte ich mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Für eine Sekunde blitzte eine Erinnerung an unser letztes gemeinsames Familienfrühstück vor meinem Abflug auf, und mein Herz wurde schwer. Was meine Eltern wohl gerade machten? Ob sie darauf warteten, dass ich mich bei ihnen meldete?
»Dein Zimmer ist oben«, riss Ryans Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich folgte ihr nach nebenan ins Wohnzimmer, wo er sich auf die abgewetzte Ledercouch gefläzt hatte und ein Footballspiel im Fernsehen ansah. Inzwischen hatte er sich ein dunkelblaues T-Shirt übergezogen, auf dem nur noch das Überbleibsel eines Schriftzugs zu erkennen war. Meine Augen wanderten von ihm zu einer zusammengedrückten Dose Dr. Pepper auf dem Couchtisch und einer Pappschachtel mit den Resten einer Pizza, die zwar leicht verschrumpelt aussah, aber meinen Magen zum Knurren brachte. Ich überlegte, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen hatte, und erinnerte mich mit Widerwillen an das pappige Chicken-Sandwich aus dem Flugzeug. Unschlüssig stand ich eine Weile im Türrahmen. Was erwartete er von mir? Dass ich mich allein auf die Suche nach meinem Zimmer begab? In diesem riesigen Haus? Ich räusperte mich demonstrativ. Ein unüberhörbares Seufzen drang aus seinem Mund.
»Na schön. Nach mir.«
Wortlos folgte ich ihm nach oben, während die Stufen der Treppe unter meinen Füßen knarrten. Zu Hause in Berlin hatten wir keine Treppe. Meine Familie wohnte in einem Bungalow in Grunewald, dessen Terrasse gerade so genug Platz für Gartenmöbel und einen Grill bot. Unsere gesamte Wohnfläche war wahrscheinlich kleiner als das Obergeschoss der Coopers, das aus einem weitläufigen Flur und drei Türen zu jeder Seite bestand. Familienporträts und Babyfotos von Liam zierten die cremefarben gestrichenen Wände, und auf einer breiten Holzkommode lagen ein paar sorgfältig zusammengelegte Handtücher.
»Dein Zimmer, mein Zimmer«, sagte Ryan und zeigte erst auf die linke, dann auf die rechte Tür.
Wir hatten also gegenüberliegende Zimmer. So viel zu: Du wirst nicht viel von ihm sehen.
»Das Bad müssen wir uns wohl teilen.« Er verwies auf eine Tür am Ende des Flurs und gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen. »Komm also bitte nicht auf die Idee, dir morgens stundenlang die Haare zu glätten.«
»Ich hab gar kein«, ich suchte nach dem englischen Begriff, »Glätteisen dabei«, erwiderte ich trotzig und verspürte das dringende Bedürfnis, mein Glätteisen – das ich natürlich dabeihatte – aus meinem Koffer zu ziehen und ihm eins überzubraten.
»Warum solltest du auch. Damit bügelt man!«
Ups. Iron war also die falsche Vokabel gewesen. Ich beschloss, später noch zu googeln, was Glätteisen auf Englisch hieß. Als hätte er genug Worte an mich verschwendet, drehte Ryan sich um, ging in Richtung Treppe und ließ mich sprachlos zurück. Schnaubend sah ich ihm nach, bevor ich die Türklinke nach unten drückte und mit angehaltenem Atem den Raum betrat, in dem ich die nächsten zwölf Monate aufwachen und einschlafen würde. Ein verzücktes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Mein Zimmer war ein echtes Schmuckstück und entschädigte mich auf einen Schlag für alles, was in den letzten Stunden schiefgelaufen war. Es war fast doppelt so groß wie mein altes Kinderzimmer, das ich in den letzten Monaten bewohnt hatte, und bot mit seiner breiten Fensterfront einen spektakulären Ausblick auf tiefgrüne Wälder und verschneite Berggipfel. Staunend ließ ich meine Augen durch den Raum wandern, vorbei an einem massiven Holzschrank, einer Kommode mit Spiegel, einem gemütlichen Ledersessel und dem wohl schönsten Bett, das ich jemals gesehen hatte. Es war aus dicken, alten Holzstämmen gefertigt und mit einer roten gesteppten Tagesdecke und ein paar Kissen bedeckt, die zu den Vorhängen passten. Ein Fransenteppich mit Webmuster lag direkt davor auf dem dunklen Dielenboden. Mit einem wohligen Seufzen ließ ich mich auf das weiche Bett fallen, inhalierte den Duft frischer Wäsche und schloss einen Moment die Augen. Die Strapazen der letzten Stunden steckten mir in den Knochen, und eine bleierne Müdigkeit erfasste mich. Ich sehnte mich nach einer heißen Dusche und war gleichzeitig zu erschöpft, um meine Beine zu bewegen. Nur ein bisschen ausruhen, flüsterte eine wohltuende Stimme in meinem Kopf. Nur ein kleines Päuschen. Nur ein bisschen …
Als ich die Augen wieder öffnete, blinzelte ich verschlafen gegen die Sonne, die mir durchs Fenster entgegenschien. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich wieder wusste, wo ich war, bis mir wieder einfiel, warum statt der gewohnten Ikea-Lampe ein Deckenventilator über mir hing. Gähnend warf ich einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass ich fast zwei Stunden geschlafen hatte. Ich richtete mich im Bett auf und streckte mich ausgiebig, als mir plötzlich einfiel, dass ich vor lauter Aufregung vergessen hatte, meinen Eltern zu schreiben. Ich hatte ihnen versprochen, mich nach meiner Ankunft in Green Valley per WhatsApp zu melden – mein Bruder hatte im Auftrag meiner Mutter eine Familiengruppe mit dem kreativen Namen Lena USA gegründet. Da mein iPhone noch immer im Dornröschenschlaf lag, würde ich ihnen wohl eine E-Mail schicken müssen.Dafür brauchte ich das WLAN-Passwort und mein Notebook, das sich noch im Koffer befand. Ich hatte ihn am Eingang abgestellt, und er war definitiv zu schwer, um ihn allein nach oben zu tragen. Wohl oder übel musste ich diesen Ryan um Hilfe bitten.
Die Wohnzimmertür stand weit offen, aber der Fernseher war aus und die Couch leer. Der Pizzakarton lag noch an derselben Stelle, und mein Magen begann wie auf Kommando zu knurren. Ob ich mir wohl ein Stück nehmen konnte? Ich hatte schrecklichen Hunger, und die Pizza sah ohnehin alt aus. Unschlüssig blickte ich mich um und lauschte. Bis auf das Brummen des Kühlschranks war es still im Haus. Ryan musste gegangen sein, was mir nur recht war. Auf eine weitere Begegnung mit diesem launischen Blödmann konnte ich nun wirklich verzichten. Wahrscheinlich würde er sowieso nicht merken, dass ich mich an seiner vergammelten Pizza bedient hatte. Ein vertrocknetes Stück Salamipizza in der Hand, durchquerte ich das Wohnzimmer und öffnete neugierig die Terrassentür, die auf eine weiß gestrichene Veranda führte. Die Sonne strahlte mir entgegen, als ich ins Freie trat, und die Luft war klar und frisch und roch nach Gras und Tannennadeln. Ob das die berühmte Bergluft war, von der alle immer schwärmten? Meine Augen wanderten in die Ferne. Mit Sicherheit war es die berühmte Einöde, denn weit und breit konnte ich kein weiteres Haus entdecken. Nur Bäume, Berge und einen kleinen Bach, dessen schwaches Plätschern an mein Ohr drang.
Ein mulmiges Gefühl überkam mich. Ich war es gewohnt, die Tram zu sehen, wenn ich aus dem Fenster blickte, Straßencafés, Imbissbuden, Spätis, Fahrräder und Menschen aus allen möglichen Ländern dieser Welt. Tumult, Gedränge, Lichter. Das Leben. Nachdenklich löste ich ein Stück Salami aus der Käsedecke.
»Warum hast du denn nicht gesagt, dass du keine Salami magst? Dann hätte ich mir natürlich eine andere Pizza bestellt.«
Erschrocken fuhr ich herum und blickte in grüne Augen, die mich spöttisch musterten. Keine zwei Meter hinter mir lehnte Ryan in bester James-Dean-Manier mit angewinkeltem Bein an der Hauswand und nippte an einer Dose Dr. Pepper, die mit Kondenswasser überzogen war. Er trug noch immer die graue Jogginghose und das T-Shirt mit der abgeblätterten Schrift. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte da mal »Denver Broncos« gestanden. Konnte das sein? War das irgendein Verein? Basketball? Baseball? Football? Oder Eishockey? Was spielte man denn hier überhaupt?
»Ich …«
Verlegen blickte ich auf die Pizza in meiner Hand, die sich nun eher wie ein glühendes Stück Kohle anfühlte.
»Vergiss es«, murmelte er, nahm einen Schluck und stierte ausdruckslos auf die grüne Idylle, die sich vor uns ausbreitete.
Ich hatte ihn für verkatert gehalten, als er mir die Tür geöffnet hatte. Für unausgeschlafen und übermüdet. Aber je länger ich ihn betrachtete, umso mehr verfestigte sich der Eindruck, dass er zu viel Zeit im Bett verbracht hatte. Seine Haut war etwas zu blass für diese Jahreszeit, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Das Haar war eine Spur zu lang und stand in alle Richtungen ab, als würde es sich weigern, eine Frisur zu sein, und eine Rasur wäre schon vor Tagen überfällig gewesen. Ob er krank war? Oder vielleicht arbeitslos? Eins strahlte er zumindest mit jeder Faser seines Körpers aus: dass er nicht freiwillig hier war.
»Könntest du mir vielleicht meinen Koffer nach oben tragen?«, wagte ich schließlich zu fragen. »Der ist ziemlich schwer und …«
»Nein, kann ich nicht.«
Er machte sich nicht einmal die Mühe, mich dabei anzusehen, und entgegen meinen guten Vorsätzen begann es in meinem Bauch zu grummeln.
»Nein?«
Als er es nicht für nötig hielt, mir zu antworten, platzte mir der Kragen.
»Hab ich dir irgendwas getan?«
Seine Augen schnellten in meine Richtung.
»Ich bitte dich nicht darum, mir die Nägel zu lackieren oder mein Bett zu beziehen, sondern lediglich diesen wirklich schweren Koffer für mich nach oben zu tragen. Was für ein Arsch muss man denn sein, um …?«
»Ein Arsch mit gebrochenem Arm«, erwiderte er nüchtern, ohne den Blick von mir zu wenden.
Ich schluckte und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.
»Das … hab ich nicht gesehen«, stakste ich.
»Dafür müsstest du auch Clark Kent sein.«
Irritiert sah ich ihn an.
»Röntgenblick …?«
Mit zwei Fingern deutete er auf seine Augen, und ich brachte immerhin ein Nicken zustande.
»Der Gips ist schon eine Weile ab«, murmelte er und drehte die Dose in seiner Hand.
Eine gefühlte Ewigkeit sagte keiner von uns etwas.
»Was macht man hier so … abends?«, fragte ich irgendwann, um die seltsame Stille zwischen uns zu durchbrechen.
Er sah mich an wie ein Marsmännchen.
»Was man hier abends macht?«
Der spöttische Zug um seinen Mund ärgerte mich. Mir war schließlich bewusst, dass ich nicht in New York oder Miami gelandet war und keine Rooftop-Bars und Szene-Klubs erwarten konnte. Aber die Rocky Mountains zählten zu den größten Sehenswürdigkeiten der Vereinigten Staaten und zogen jährlich Millionen von Touristen an. Die saßen ja auch nicht jeden Abend in ihrer Hotellobby und spielten Mau-Mau.
»Ja, gibt es irgendwelche Bars? Oder … Cafés? Ein … Kino vielleicht?«
»Du bist in Green Valley«, sagte er seufzend. »Nach 20 Uhr geht hier niemand mehr aus dem Haus.«
Meine Lippen formten ein tonloses Oh. Dann also doch Mau-Mau.
»Tja, Lena Lena, ich sag’s gerne noch ein zweites Mal: Willkommen … in Colorado.«
Als ich kurz darauf die lang ersehnte Dusche nahm, wünschte ich mir, das heiße Wasser würde nicht nur den Schweiß der letzten 24 Stunden, sondern auch meine Zweifel wegspülen. Denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass diese ganze Sache hier mächtig schieflief, und das lag nicht allein daran, dass ich einen unerwarteten Mitbewohner bekommen hatte, der mich – oder die ganze Welt – ablehnte. Vielmehr machte mir die Erkenntnis zu schaffen, dass ich wirklich im Nirgendwo gelandet war, ein Nirgendwo, das allen Klischees von Nirgendwo zu entsprechen schien. Nach 20 Uhr geht hier niemand mehr aus dem Haus. Plötzlich überkam mich eine grenzenlose Sehnsucht nach meinem Zuhause in Berlin. Nach meiner besten Freundin Lara und ihrer WG-Küche, in der wir jeden Sonntag zusammen kochten, nach einem Chai Latte in unserem Lieblingscafé in Friedrichshain, nach Alis Falafel-Bude und dem Flohmarkt am Boxhagener Platz, nach einem Moscow Mule in dieser kleinen Bar in Kreuzberg und diesem süßen Vintage-Laden in der Kastanienallee. Warum habe ich all das aufgegeben?, dachte ich in einem Anflug blanker Verzweiflung. Warum habe ich mein Leben in der besten Stadt der Welt gegen das hier eingetauscht? Du kannst jederzeit zurück nach Hause, flüsterte ich mir Mut zu, während im hintersten Winkel meines Kopfes die Stimme meines Vaters hallte: Das ist deine letzte Chance, Fräulein! Wenn du das auch wieder abbrichst, machst du eine Ausbildung zur Versicherungskauffrau. Ich schüttelte den Kopf. Nein, nach Hause fliegen kam definitiv nicht infrage, wenn ich nicht in der Versicherungsagentur meiner Familie landen wollte, die schon aus chromosomalen Gründen nicht zu mir passte: Lenz & Söhne.
Als ich vor dem Spiegel stand und mein nasses Haar kämmte, hatte ich mich wieder etwas gefangen. Vielleicht hatten Colorado und ich einfach einen schlechten Start gehabt. Vielleicht musste ich dem Ganzen eine zweite Chance geben und mir selbst ein Bild von meinem neuen Zuhause machen. Im Internet hatte Green Valley eigentlich ganz nett ausgesehen, und bestimmt war irgendwo ein Blueberry Muffin, Frappuccino oder Milkshake aufzutreiben, der diesen vermurksten ersten Tag ein wenig aufhellen würde. Mit neuer Zuversicht verließ ich kurz darauf das Haus der Coopers, stellte allerdings schon bald fest, dass ich keine Ahnung hatte, in welche Richtung ich laufen musste. Ich war es gewohnt, dass mir mein iPhone solche Entscheidungen abnahm. Unschlüssig kaute ich auf meiner Lippe herum und versuchte, mich daran zu erinnern, aus welcher Richtung der Bus gekommen war. Intuitiv bog ich nach links ab – um keine fünf Minuten später festzustellen, dass es um meine Intuition schon mal besser gestanden hatte. Die Straße war in eine Art Feldweg übergegangen, und weit und breit sah ich nichts anderes als endlose Wiesen und Wälder vor der majestätischen Kulisse der Rocky Mountains. Entmutigt blickte ich mich nach Schildern oder Wegweisern um.
»Du siehst ein bisschen verloren aus.«
Wie aus dem Nichts war ein Mädchen auf einem Mountainbike herangerauscht und musterte mich mit unverhohlener Neugier. Sie war ungefähr in meinem Alter und sah mit ihren großen blauen Augen und den hüftlangen blonden Dreadlocks wie eine Öko-Version von Elsa, der Eiskönigin, aus.
»Ich wollte in die Stadt, aber ich glaube, ich habe mich verlaufen.«
»In welche Stadt?«
Sie grinste und stützte sich beidseitig auf dem Boden ab. Ihre gebräunten Beine steckten in sportlichen Shorts und Nike-Turnschuhen.
»Green Valley?«
In meine Frage hatte sich unüberhörbar ein Fragezeichen geschlichen.
»Da bist du vollkommen falsch. Nach Green Valley geht es da lang.«
Sie deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war, und ich seufzte.
»Ich bin Isobel, aber alle nennen mich Izzy.«
Sie stützte sich mit den Händen auf dem Lenkrad ab. Ihr blaues T-Shirt gab den Blick auf definierte Oberarme frei.
»Lena«, entgegnete ich lächelnd.
»Bist du das Au-pair von den Frasers? Aus Schweden?«
»Nein, ich komme aus Deutschland.«
»Ah … Dann wohnst du bei den Coopers.«
Das Nirgendwo erfüllte also auch noch sämtliche Kleinstadt-Klischees. Ich nickte.
»Gibt es hier mehrere Au-pairs?«
»Ein paar. Ist eine reiche Gegend.« Izzy zuckte mit den Schultern. »Aber mit den Coopers hast du’s gut erwischt. Jack und Amy sind echt in Ordnung, und der Kleine ist total süß.«
»Ich hab sie noch gar nicht kennengelernt. Sie kommen erst heute Abend aus Kansas zurück.«
»Ach, stimmt. Ich hab das von Amys Dad gehört. Dann bist du jetzt ganz allein in dem großen Haus?«
»Nein, äh … Ryan ist noch da.«
Izzys Brauen hoben sich. »Ryan ist da?«
»Ja …«, antwortete ich verhalten, weil mir die Überraschung in ihren Augen nicht entgangen war. »Kennst du ihn?«
»Ob ich Ryan Cooper kenne?«
Sie lächelte, doch es wirkte aufgesetzt. Ehe ich nachhaken konnte, deutete Izzy auf ihre schmale schwarze Uhr, die wie ein Fitnesstracker aussah. »Du solltest besser umdrehen. Es wird bald dunkel, und am Ende lernst du statt Jack und Amy noch ein paar nette Schwarzbären kennen.«
»Bären?« Erschrocken riss ich die Augen auf und kam mir gleichzeitig schrecklich naiv vor. Natürlich hatte ich gelesen, dass es in den Rocky Mountains Bären gab. Trotzdem war mir nicht bewusst gewesen, dass ich ihnen bei einem harmlosen Spaziergang nach Green Valley begegnen konnte.
Izzy wollte gerade wieder auf ihr Bike steigen, als ihr Blick mitleidig wurde. »Jetzt hab ich dir Angst gemacht, oder? Ach, was soll’s. Ich begleite dich noch ein Stück.« Sie zwinkerte mir zu, und ein Anflug von Erleichterung überkam mich.
»Wo genau kommst du her?«
»Aus Berlin.«
»Das ist die Hauptstadt, oder?«
Ich nickte.
»Ich war erst einmal in Europa. Beim Freestyle Worldcup in Österreich vor zwei Jahren. Kitzbühel.« Sie brachte das Wort nur schwer über die Lippen und lachte selbstironisch. Dass ich mit ihrer Antwort wenig anfangen konnte, schien sie mir anzusehen.
»Snowboarding.«
»Ah.«
»Ich bin Snowboardlehrerin. Drüben in Vail. Das ist ein großes Skigebiet, ungefähr eine halbe Stunde entfernt von hier.«
Ich betrachtete sie von der Seite und stellte fest, dass ich sie mir mit ihren Dreads gut auf einem Snowboard vorstellen konnte.
»Und was machst du, wenn kein Schnee liegt?«
»So wie jetzt zum Beispiel?«, fragte sie zwinkernd. »Außerhalb der Saison arbeite ich für Rocky Outdoor Adventures.« Sie deutete auf das Logo über ihrer Brust, das ich bisher übersehen hatte. »Wir organisieren Kanu- und Raftingtouren für Touristen, Ausflüge in die Nationalparks und so weiter. Und ab und zu stehe ich im Olly’s hinter dem Tresen. Das ist die einzige Bar in Green Valley, und sie gehört zufälligerweise meinem Bruder Oliver.«
»Es gibt eine Bar in Green Valley?«, kam es eine Spur zu euphorisch aus meinem Mund, woraufhin Izzy belustigt lachte.
»Ja, aber erwarte lieber nicht zu viel. Es ist eher … einheimisch.«
Ein Anflug von Enttäuschung machte sich in meinem Gesicht breit.
»Aber schau doch einfach mal vorbei, wenn du Lust hast. Das Olly’s kann man nicht übersehen – genauso wenig wie meinen Bruder.«