Sirens – Das Glühen der Magie - Maike Voß - E-Book
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Sirens – Das Glühen der Magie E-Book

Maike Voß

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Beschreibung

Enemies to Lovers in einer glitzernden Metropole - und ein magisches Geheimnis!

Regan Seaborn ist einundzwanzig, liebt das Wasser und verdammt gute Musik. Doch seit dem gewaltsamen Tod ihrer Eltern führt sie ein Leben auf der Flucht. Ihre letzte Station ist London, und auch wenn Regan klar ist, dass sie nicht lange wird bleiben können, fühlt sie eine gewisse Verbundenheit mit der Stadt. Dann taucht eines Abends der umwerfend gut aussehende Penn in ihrem Leben auf und stellt es gehörig auf den Kopf. Widerwillig fühlt sie sich mehr und mehr zu dem charmanten Bad Boy hingezogen, doch Penn ist nicht nur auf einen sexy Flirt aus. Er ist der Prinz der Artaga, mächtiger Sirenen, und Regan die letzte Überlebende einer alteingesessenen Sirenenfamilie. Und nun brauchen die Artaga ihre Hilfe ...

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Seitenzahl: 592

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Das Buch

Regan ist eine ganz normale junge Frau, wenn man von einer Sache absieht: Sie ist eine Sirene, besitzt magische Kräfte und ist seit dem Mord an ihren Eltern auf der Flucht. Nun ist sie in London gelandet, und auch wenn Regan klar ist, dass sie nicht lange bleiben wird, fühlt sie eine gewisse Verbundenheit mit der Stadt. Als eines Abends in der Bar, in der sie jobbt, ein Typ auftaucht, der ihr Geheimnis zu kennen scheint, ist sie sofort in Alarmbereitschaft. Im Glauben, er gehöre zu den Nox, jenen Sirenen, die ihre Eltern getötet haben, versucht sie, ihn auszuschalten und zu fliehen, doch das geht gründlich schief. Penn ist ein ebenso guter Kämpfer, wie sein arrogantes Grinsen breit ist – und leider braucht er ausgerechnet Regans Hilfe. Und nicht nur er, sondern der gesamte Schwarm der Artaga, von denen Regan ihr ganzes Leben lang geglaubt hat, es gäbe sie nicht mehr. Widerwillig folgt Regan Penn zur Grotte, dem Londoner Geheimversteck der Sirenen, wo sie schon bald feststellen muss, dass ihr Schicksal enger mit dem Penns verbunden ist, als sie je geahnt hätte …

Die Autorin

Maike Voß wurde 1995 in Hamburg geboren und hat dort an der Technischen Kunsthochschule studiert. Als gebürtige Hamburgerin besitzt sie natürlich eine Dauerkarte des SV Werder Bremen und ist bei jedem Heimspiel dabei. Sie liebt Literatur und das Reisen, wobei es sie immer wieder in ihre Wahlheimat London zieht. Dort begann sie auch, ihren Debütroman So sieht es also aus, wenn ein Glühwürmchen stirbt zu schreiben. Mit Sirens – Das Glühen der Magie legt sie nun ihren ersten fantastischen Roman vor.

MAIKE VOSS

SIRENS

DAS GLÜHEN DER MAGIE

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 11/2023

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2023 by Maike Voß

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und

der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Günter Berg Literary Agency

Covergestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30178-1V003

www.heyne.de

Für meine beste Freundin,du bist die Shen zu meiner Regan.

PLAYLIST

Bevor ich anfing an Sirens zu schreiben, hörte ich von vielen Seiten, dass ich es besser lassen sollte, weil Fantasy zu schwer wäre. Ich habe diese Stimmen auf stumm gestellt, weil ich an meine Geschichte geglaubt habe. Vor allem die Musik von Imagine Dragons hat mir dabei geholfen – nicht umsonst besteht die halbe Playlist aus ihnen. Am Manuskript zu arbeiten, war nicht immer leicht, aber letztendlich hat es mir viel gegeben, so wie Regan in der Geschichte von einer Figur, die vieles durchstehen muss, zu einem Charakter wird, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Die Songs, die mich durch den Schreibprozess begleitet haben, inspirierten mich Zweifel zuzulassen und zu reflektieren, Fehler zu machen und daraus zu lernen, verletzlich zu sein und diese Eigenschaft als eine meiner größten Stärken wahrzunehmen. Es geht nicht darum, immer zu wissen, was richtig ist, sondern offen zu sein, neue Perspektiven zu finden und im besten Fall daran zu wachsen.

Believer – Imagine Dragons

Sharks – Imagine Dragons

Problem – Ariana Grande

Bones – Imagine Dragons

Sucker – Jonas Brothers

Dangerous Woman – Ariana Grande

Wrecked – Imagine Dragons

Kiss Me – Dermot Kennedy

Sirens – Imagine Dragons

Almost Gone – Dermot Kennedy

Whatever it Takes – Imagine Dragons

Another One Bites The Dust – Queen

Bad Liar – Imagine Dragons

PROLOG

Sanft rauschte die Brandung an den feinen Sandstrand und ließ das Licht auf der Wasseroberfläche tanzen. Lauer Wind spielte mit meinem Haar, und ich schloss die Augen, spürte die Wärme der untergehenden Sonne auf meinem Gesicht. Alles hier war wie im Traum. Das Haus am Meer, die Ruhe, die so allgegenwärtig war, dass man das Rascheln der Palmenwedel hörte, und der Anblick, der sich vor mir ausbreitete, als ich die Augen wieder öffnete.

Ein paar Meter von mir entfernt, am Strand, spielte Neven mit unserer dreijährigen Tochter im Wasser. Aufgeregt sprang Regan durch die Wellen und spritzte ihren Daddy nass, bis Neven sie packte und blitzschnell in die Luft hob. Regan quietschte vergnügt auf, strahlte mich über seine Schulter hinweg an und lachte, dass mir das Herz aufging.

»Schau mal, was ich gefunden habe, Mummy«, rief Regan, als er sie runterließ und ich die Stufen der hölzernen Veranda hinabstieg und auf die beiden zuging. Auffordernd streckte sie mir ihre kleine Hand entgegen, auf der eine sandfarbene Kammmuschel lag.

»Die ist wirklich schön«, sagte ich und fuhr vorsichtig mit dem Finger über die raue Schale.

»Können wir daraus eine Kette basteln?«, fragte sie.

»Das ist eine tolle Idee«, sagte ich und streichelte ihre Wange.

»Dann suche ich noch ein paar mehr.«

Grinsend drehte Regan sich um und lief den Strand entlang, wobei ihre blonden Locken, die sie von mir geerbt hatte, wie ein Sternenschweif hinter ihr herflogen. Neven und ich folgten ihr in einigem Abstand.

»Du wirkst besorgt«, bemerkte er nach ein paar Schritten, die Stimme so rau wie der Sand unter unseren Füßen. Er griff nach meiner Hand. »Alles okay?«

»Nur das Übliche«, seufzte ich und sah zu, wie Regan weitere Muscheln aus dem Meer fischte und einzelne zurückwarf.

Inzwischen war es fast vier Jahre her, dass ich meinen Schwarm verloren hatte und mit Neven fortgegangen war. Genug Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich meine Familie und Freunde nie wieder sehen und nie wieder Teil der Artaga sein würde. Ich hatte schon damals gewusst, dass meine Entscheidung Konsequenzen haben würde. Obwohl ich bereit gewesen war, sie zu tragen, fragte ich mich manchmal, ob es ein Fehler gewesen war.

Neven löste unsere Hände und legte mir den Arm um die Schultern. Ich schmiegte mich an ihn und merkte sofort, wie sich mein Herzschlag beruhigte.

»Wir tun das Richtige, oder?«, fragte ich.

»Ja«, versicherte er mir. »Sie wird das irgendwann verstehen.«

Wir blieben stehen, und Neven drehte mich sanft zu sich. Sein dunkles Haar war vom Tag am Strand ganz zerzaust, und die kleinen Sorgenfalten um seine Augen zeigten, dass die letzten Jahre auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen waren. Trotzdem lächelte er mich auf diese ihm eigene Art an, die mir jedes Mal den Druck von der Seele nahm, wenn die Zweifel drohten, mich mit sich zu reißen.

»Ich habe etwas für dich«, sagte er und zog etwas aus seiner Hemdtasche, das silbern in der Sonne aufblitzte.

Als ich die Kette mit dem herzförmigen Anhänger näher betrachtete, erkannte ich, dass etwas darin eingraviert war. Mir stockte der Atem: Es war eine gebrochene Unendlichkeit. Das Zeichen der Artaga, meines Schwarms.

»Woher wusstest du …«

Sein Lächeln wurde breiter. Es brachte die Grübchen in seinen Wangen zum Vorschein und seine Augen zum Leuchten. »Ich kenne dich, Grace Seaborn.«

Ja, das tust du wirklich.

Mit klopfendem Herzen nahm ich meine Haare zusammen, damit er mir die Kette anlegen konnte. Glücklich sah ich zu ihm auf und blinzelte. Neven legte mir zwei Finger unters Kinn, beugte sich zu mir herunter und küsste mich. Und für einen Moment war meine Welt wieder in Ordnung. Der Kuss schmeckte leicht salzig von der Meeresluft und entzündete eine wärmende Flamme in mir, voll Liebe und Geborgenheit.

»Iiiih, das ist eklig«, jaulte Regan.

Neven lächelte in den Kuss hinein und löste sich von mir.

»Was ist los, Seeschnecke?«, rief er.

»Küssen ist eklig«, quietschte sie und hielt sich die Hände vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen.

»Ich bin untröstlich«, sagte er und legte sich eine Hand auf die Brust. »Was kann ich tun, um es wiedergutzumachen?«

»Hilf mir, Muscheln suchen, Daddy!«

»Vom wem sie diesen Befehlston wohl hat«, sinnierte ich.

»Ja, sie ist ganz meine Tochter«, murmelte Neven.

Er gab mir einen Kuss auf die Stirn, ließ mich los und lief Regan hinterher, die sich umdrehte und durch das flache Wasser vor ihm davonrannte.

Ich tastete mit einer Hand nach dem Anhänger auf meiner Brust, während das Wasser über meine Füße schwappte. Regan gehörte die eine Hälfte meines Herzens und Neven die andere. Er würde immer da sein, um uns zu beschützen, ebenso wie ich bereit gewesen war, für unsere kleine Familie alles hinter mir zu lassen. So weh es an manchen Tagen auch tat, die beiden waren alles, was ich zum Atmen brauchte. Am liebsten hätte ich diesen Moment eingefangen, um ihn nie wieder loszulassen. Denn ich wusste, dass uns das Schwerste noch bevorstand.

Regan würde älter werden und ihre Magie entdecken. Sie würde wissen wollen, wer sie war. Was sie war. Und sie hatte ein Recht darauf, dass wir es ihr erzählten. Dann würde sie auch erfahren, wieso wir all die Jahre vor ihr verheimlicht hatten, was mit den Artaga geschehen war. Es gab so viel, von dem unser kleines Mädchen in diesem Moment noch nichts ahnte.

Ich zwang mich dazu, die Hand von dem Anhänger zu lösen und verbannte meine Sorgen in den hintersten Winkel meiner Gedanken. Für Neven und mich, aber vor allem für Regan, und schloss zu den beiden auf.

1

Ein nervendes Piepen durchdrang die Dunkelheit und riss mich aus dem Tiefschlaf. Blind tastete ich nach meinem Wecker, der neben mir auf dem Nachttisch stand und erwischte ihn nach ein paar Sekunden.

Endlich.

Ich drehte mich auf den Bauch, zog mir ein Kissen über den Kopf und murrte in die Matratze. Die Nacht war kurz gewesen, und ich hatte nicht allzu viel Schlaf abbekommen, was mich nicht unbedingt dazu motivierte, aufzustehen. Gleichzeitig knurrte mir der Magen, und ich sehnte mich nach einer heißen Tasse Kaffee, die ich jedoch nur bekommen würde, wenn ich selbst dafür sorgte.

Das Leben war nicht fair.

Neben mir regte sich jemand. Einer der Typen, die gestern ins Monarchy geschneit waren und eine Runde nach der anderen bestellt hatten. Als Barkeeperin erlaubte ich es mir, ab und zu mit der Kundschaft zu flirten, was meinem Trinkgeld durchaus zugutekam. Er hatte sich ganz besonders ins Zeug gelegt. Blond, Brite, Bart, die drei Bs, bei denen ich gerne mal schwach wurde. Auch wenn ich jetzt hundemüde war, die Nacht war es in jedem Fall wert gewesen.

Ich zog mir das Kissen wieder vom Kopf und blinzelte durch den Vorhang meiner blonden Locken zu ihm herüber. Er hatte sich auf die Unterarme gestützt und die Decke war heruntergerutscht, wodurch ich freie Sicht auf seine definierten Bauchmuskeln hatte, die ich gestern Nacht nach allen Regeln der Kunst erkundet hatte. Sein Mund verzog sich zu einem verschlafenen Grinsen, als er meinen Blick bemerkte.

»Morgen«, sagte er.

»Morgen«, antwortete ich und strich mir das Haar aus dem Gesicht.

»Regan, richtig?«

»Richtig. Und du bist …«

Ich hatte doch tatsächlich seinen Namen vergessen.

»David.«

Ich erwiderte sein Lächeln, richtete mich ebenfalls auf und streckte mich. Nein, mein Körper war definitiv noch nicht dazu bereit, wach zu sein. Trotzdem zwang ich meine Beine über die Bettkante und stand auf. Unsere Klamotten lagen kreuz und quer auf dem abgenutzten Hartholzboden, aber ich machte mir nicht die Mühe, meine Sachen von gestern aufzulesen. Stattdessen ging ich zur Kommode, die gegenüber dem Bett stand und mindestens so alt war wie der Boden selbst, und fischte Unterwäsche, ein frisches T-Shirt und Shorts heraus.

»Wie spät ist es?«, murmelte David.

»Kurz nach zwölf«, antwortete ich, schloss den Knopf meiner Hose und drehte mich zu ihm um.

Mein Wecker klingelte immer um zwölf. Spät genug, dass ich nach der Schicht in der Bar noch etwas Schlaf bekam, und gleichzeitig so früh, dass ich nicht den ganzen Tag verpennte.

»Fuck« zischte David, als er seinen nackten Körper aus meinem Bett hievte. »Scheiße, ich muss zurück ins Hostel. Mein Flieger geht um vier von Heathrow, und ich hab’ noch nicht mal gepackt!«, sagte er und klaubte hastig seine Klamotten vom Boden, wobei er beinahe über seine eigenen Beine stolperte.

Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht zu grinsen, als er seine Hose hochzog und sich das Hemd zuknöpfte. Er strauchelte leicht, als er im Stehen in seine Schuhe stieg und sich hektisch im Zimmer um sich selbst drehte, bis er sein Handy auf dem Boden entdeckte.

»Tut mir leid, dass ich jetzt losmuss, du warst … du bist echt toll. Letzte Nacht war der Hammer!«, stammelte er.

»Fand ich auch«, stimmte ich zu.

»Krieg ich deine Nummer? Dann könnten wir uns treffen, wenn ich das nächste Mal in London bin.«

»Klar.« Ich nahm sein Handy entgegen, tippte schnell meine Nummer ein, vertauschte die letzten beiden Ziffern, und gab es ihm zurück.

»Cool.« Er lächelte, wobei seine Wangen etwas rot wurden. Süß.

Auf halbem Weg nach draußen, drehte er sich noch mal zu mir um und winkte. Ich hob ebenfalls die Hand.

»Beeil dich, sonst verpasst du deinen Flug.«

Nicht dass ich ihn rauswerfen wollte, aber offensichtlich war er nicht sehr erfahren, was One-Night-Stands anging, und ich hatte keine Lust, ihm zum Abschied die Regeln zu erklären.

»Ja, also …«, sagte er. »Bis dann?«

»Bis dann.«

Er nickte und öffnete die Tür. Kurz darauf hörte ich seine Schritte durch das Treppenhaus poltern. Dass er seinen Flieger rechtzeitig bekommen würde, bezweifelte ich, wenn er erst noch ins Hostel musste, um seine Sachen zu holen. Aber das Ende würde ich wohl nie erfahren.

Ich gähnte und schlurfte zur Küchenzeile, die sich nur durch die schwarz-weißen Fliesen vom Rest des Zimmers abhob, und lediglich das Nötigste beherbergte: zwei Hängeschränke, einen alten Kühlschrank, eine Spüle, in der sich das Geschirr stapelte, eine Mikrowelle und meine heiß geliebte Kaffeemaschine, die wenige Sekunden später ihren Dienst aufnahm. Kleine Dunstwölkchen bildeten sich in der Luft darüber, während mein Lebenselixier in die Kanne tropfte und sich ein herrlicher Duft im Raum ausbreitete.

Ich füllte eine Tasse, gab Zucker dazu und schnappte mir einen Löffel aus der Schublade. Gemächlich rührte ich um und steuerte auf den Tisch zu, der vor dem einzigen Fenster stand. Dort schaltete ich das Radio ein und sank auf einen der Hocker.

Das Tageslicht warf kurze Schatten über den Boden, die gelben Wände und die Einrichtung. Viel war es nicht, bloß das Bett, die Kommode und der Tisch samt den beiden Hockern. Nicht dass ich mich über das Einzimmerapartment beschweren wollte, es erfüllte seinen Zweck. Außerdem lag es direkt über dem Monarchy, der Bar, in der ich arbeitete.

Schon mit dem ersten Schluck Kaffee kehrten meine Lebensgeister zurück, und ich seufzte zufrieden. Alles war, wie es sein sollte, von den einsetzenden Kopfschmerzen mal abgesehen, gegen die ich gleich eine Aspirin einwerfen würde.

»… wird noch immer die dreiundzwanzigjährige Lenora Piper vermisst, die Polizei bittet um Ihre Mithilfe«, ratterte der Nachrichtensprecher herunter. Schnell wechselte ich den Sender und blieb bei einem Imagine-Dragons-Song hängen. Ich drehte lauter und fing automatisch an mitzusummen. Für schlechte Nachrichten war es noch zu früh.

Ich hatte es gestern wirklich übertrieben. Andererseits musste man sich am Morgen nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag vielleicht so fühlen: müde, verkatert und ein wenig peinlich berührt von dem Gespräch mit dem One-Night-Stand. Obwohl ich daran mittlerweile gewöhnt sein sollte. Seit fünf Jahren feierte ich meinen Geburtstag so, und das würde sich die nächsten fünf Jahre auch nicht ändern. Nur dass ich nächstes Mal nicht in dieser Wohnung aufwachen würde, nicht in dieser Stadt und ganz sicher nicht mit demselben Typen.

Ich seufzte und spülte den Anflug von Nostalgie mit einem großen Schluck süßen Kaffee hinunter. Es wäre gelogen zu behaupten, ich wünschte mir nicht, dass es anders wäre. Dass meine Eltern nicht tot wären, mein Leben nicht so kompliziert, und die Gefahr, entdeckt zu werden, nicht mein ständiger Begleiter. Aber Wünsche hatten in meinem Leben keinen Platz. Ich konnte es nicht ändern, wieso sollte ich mich also damit beschäftigen? Genauso gut konnte ich mich auf die guten Dinge konzentrieren: Die Sonne wärmte mein Gesicht, der Kaffee schmeckte, und ich hatte letzte Nacht wahnsinnig guten Sex gehabt. Obwohl mein Leben so kompliziert war, hätte es mich auch deutlich schlechter treffen können.

Unbarmherzig knallte die Sonne vom makellos blauen Himmel auf die Chalk Farm Road hinab und strafte das Klischee Lügen, dass es in London angeblich nonstop regnete. Bereits nach wenigen Metern bereute ich, mein Apartment verlassen zu haben. Ich wechselte die Straßenseite und lief in dem spärlichen Schatten weiter, den die Mauer des Camden Market warf. Meine Locken hatte ich zu einem lockeren Dutt gebunden, und eine kleine Umhängetasche schlackerte um meine Hüften.

Ich warf einen schnellen Blick aufs Handy und fluchte. Isla wartete schon geschlagene zehn Minuten auf mich, und das nur, weil ich doch noch mal eingeschlafen war.

Wir arbeiteten zusammen im Monarchy. Ich hatte sie kurz nach meiner Ankunft in London kennengelernt, und Isla war das, was einer Freundin für mich am nächsten kam. Durch sie war ich auch an den Job als Barkeeperin gekommen, und nachdem ihr die Ehre zuteilgeworden war, mich einzuarbeiten, hatten wir ein paarmal etwas zusammen unternommen. Sie war das genaue Gegenteil von mir, angefangen von ihrem Hang zur Pünktlichkeit bis hin zu ihrem optimistischen, fröhlichen Wesen. Aber ich mochte sie. Genug jedenfalls, dass ich mich für sie der beißenden Nachmittagshitze voll schwitzender Leute aussetzte.

Unter der Überführung der Overground, auf der mit weißen Lettern der Name des Viertels, Camden Town, stand, kramte ich meine Sonnenbrille aus der Tasche und schob sie mir auf die Nase. Viel besser. Ich zwängte mich an ein paar Passanten vorbei und entdeckte Isla nur ein paar Sekunden später. Sie lehnte am Geländer der Brücke, die über den Regent’s Canal führte, den Blick auf ihr Handy gerichtet. Passend zum Wetter trug sie ein kurzes hellblaues Kleid mit Fledermausärmeln, in dem ich, blass wie ich war, vermutlich wie eines der gruseligen Zwillingsmädchen aus Shining ausgesehen hätte. Mit ihrem dunklen Teint und den goldenen Armreifen, harmonierte es dermaßen perfekt, als hätte sie das Outfit aus einem Fashion-Blog kopiert. Ihr kurzes schwarzes Haar betonte ihre verboten hohen Wangenknochen und den rot geschminkten Mund. Auch sie hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, und an ihrem Ellbogen baumelte ein Beutel auf dem stand: Normal People Scare Me.

Unwillkürlich musste ich grinsen.

Das Handy in meiner Hand brummte.

IslasIsland: Wo bleibst du?

Ich verdrehte die Augen, schob mich an der nächsten Touristengruppe vorbei und tippte ihr auf die Schulter.

»Bin schon da.«

Überrascht schnellte sie zu mir herum.

»Hey, ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, begrüßte sie mich und sah mich über ihre Brillengläser hinweg an.

»Sorry, war ein stressiger Morgen.«

»Es ist Nachmittag. Oder wurde es gestern doch etwas später mit Dustin?«

»David«, korrigierte ich sie.

»Wie auch immer. Ich will Details.«

Ich schüttelte den Kopf, wobei sich meine Mundwinkel automatisch hoben. »Viel gibt es da nicht zu erzählen. Vielleicht haben wir nach der Schicht noch ein, zwei Tequila getrunken. Und ganz vielleicht sind wir danach bei mir in der Wohnung gelandet. Genug Details? Oder willst du auch wissen, wie er mich …«

»Nein, schon gut, das reicht«, fiel sie mir ins Wort. »Ich kann es mir denken. Und dann?«

»Nichts dann.«

»Schade.«

»Wieso?«, fragte ich.

»Er sah gut aus, mochte dich, und am Ende geht ihr dann doch getrennte Wege. Ein Trauerspiel.«

Isla seufzte, und ich unterdrückte ein Lachen.

Was mir an romantischem Einfühlungsvermögen fehlte, machte Isla mit Leichtigkeit wett. Würden wir je eine Rolle in Cinderella übernehmen, wäre sie die schöne Märchenprinzessin und ich eine der bösen Stiefschwestern. Sie trug immer etwas Buntes, ich meist Schwarz oder Grau. Sie träumte von süßen Romanzen, ich begnügte mich mit One-Night-Stands. Sie war eine Frohnatur, ich das sarkastische Gegenstück.

»Ist halb so wild«, winkte ich ab und hakte mich bei ihr unter, als wir uns in Bewegung setzten. »Ich bin nicht auf der Suche. Ein fester Freund würde mich eh nur aufhalten.«

»Ein Grund mehr, warum ich mich freuen würde, wenn es bei dir funkt. Dann würdest du nicht so schnell wieder verschwinden. Immerhin ist London die tollste Stadt der Welt. Keine Ahnung, warum du durch Europa reisen willst, wenn du das hier« – sie breitete den freien Arm vor sich aus – »haben kannst.«

Da hatte sie nicht unrecht. Es gefiel mir in London, und unter normalen Umständen würde ich vielleicht länger bleiben, aber das ging nun mal nicht. Alle paar Monate brach ich meine Zelte ab, um sie woanders wieder aufzuschlagen, etwas anderes kam nicht infrage. Das letzte Mal, dass ich dieses Muster durchbrochen hatte, war in New York gewesen, und allein der Gedanke daran, verursachte mir trotz der Sommerhitze Gänsehaut.

Schnell verscheuchte ich die Bilder aus meinem Kopf, bevor sie sich festkrallen konnten. Daran wollte ich im Augenblick nicht denken. Eigentlich wollte ich nie wieder daran denken. Das Einzige, was zählte war das Hier und Jetzt.

»Wie wär’s, wenn wir erst über meinen Abschied reden, wenn es so weit ist?«, schlug ich vor. »Uns fällt doch bestimmt etwas Besseres ein, um diesen Tag zu nutzen.«

»Vorerst«, lenkte Isla ein, wobei sie ihren Zeigefinger in die Luft hob. »Aber damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«

Wir liefen an den vielen bunten Läden und Ständen vorbei, die die Camden High Street zu beiden Seiten säumten. Obwohl mir immer noch zu heiß war, reckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen und tastete nach dem herzförmigen Anhänger um meinen Hals.

Vielleicht war es nicht fair, Isla in dem Glauben zu lassen, ich würde meine Pläne noch ändern. In jeder Stadt gab es Leute, für die es sich zu bleiben lohnte, aber am Ende tat ich es nie. Daher beließ ich es stets bei vagen Angaben, gab keine Versprechen und entschuldigte mich auch nicht. So würde es auch diesmal sein. Der Abschied würde unweigerlich kommen, und bis dahin konnten wir die Zeit wenigstens genießen.

2

Am nächsten Abend hatten Isla und ich Schicht im Monarchy. Wie immer war die Hölle los. Die Bar platzte aus allen Nähten, und wir hatten alle Hände voll zu tun, die Drinks zu mixen. Mein schwarzes Top klebte mir am Rücken, und am liebsten hätte ich mir das Eis, das ich gerade zerstampfte, in den Kragen gekippt. Stattdessen schüttete ich 5 cl Havana ins Glas, gab Minze, Limetten und braunen Zucker dazu, rundete das Ganze mit Eis und Soda ab und schob den Mojito der Frau mit dem »I Love London«-Shirt zu, die auf der anderen Seite des Tresens darauf wartete.

»Regan? Reichst du mir zwei Longdrinkgläser?«, rief Isla.

»Schon unterwegs«, antwortete ich, griff mir besagte Gläser und kam zu ihr. »Was brauchst du?«

»Zwei Cuba Libre, Limetten liegen bereit.«

Ich gab ihr ein Zeichen, dass ich die Drinks übernahm, und Isla machte sich daran, die nächsten Gäste zu bedienen. Sie war zwar schon länger im Monarchy, aber ich arbeitete schon länger als Barkeeperin und war dementsprechend schneller. Einem fehlenden Schulabschluss und einem gefälschten Ausweis sei Dank.

Nach meiner Flucht aus New York hatte ich an Geld kommen müssen, und in jeder Stadt gab es eine Bar, die eine Aushilfe suchte. Der Job war leicht, wenn man ihn erst beherrschte, und mein Aussehen kam mir dabei zugute. Das sollte nicht eingebildet klingen, es war nun mal so. Außerdem verschaffte mir beides zusammen einen Vorteil für mein zweites Talent, denn betrunkene Touristen abzuziehen war sogar noch leichter, als einem Kleinkind den Lolli zu klauen. Eine klassische Win-win-Situation.

Zumindest für mich.

Die nächste halbe Stunde ging das Gedränge unbeirrt weiter. Die Gäste bestellten Longdrinks, Cocktails und Bier und tanzten zur Musik, die aus den Boxen vor der Bühne dröhnte. Mittwochs gab es immer Livemusik, und in ein paar Minuten würde The Collage, die Band des Abends, die Bühne betreten.

Unser Boss Jeff checkte gerade ein letztes Mal die Mikros und kam dann zu Isla und mir herüber.

»Sagst du den Jungs, dass es gleich losgeht, Regan? Ich geh’ hoch und kümmere mich ums Licht.«

»Mach’ ich«, sagte ich, trocknete mir die Hände ab und trat durch die Klappe in den Gastraum.

Die Bar war zur Hälfte mit Holz vertäfelt und die andere Hälfte mit alten Werbeschildern, Fotos und Zeitungsausschnitten übersät. Gepolsterte Stühle standen um runde Tische, die allesamt in Beschlag genommen waren. Köcher mit Bierdeckeln und Teelichter in verschiedenen Farben waren die einzige Deko, deren Licht von den umstehenden Flaschen und Gläsern reflektiert wurde. Der Geräuschpegel war hoch, gespickt mit einzelnen Rufen und lautem Gelächter.

Ich steuerte auf einen Tisch an der Seite zu, der für den Act des Abends reserviert war. Wren, der Bandleader, der sich beim Soundcheck am frühen Nachmittag als Einziger mit Namen vorgestellt hatte, verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

»Hey Süße, bringst du die nächste Runde?«, fragte er und fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar.

»Irrtum. Jeff meint, ihr könnt anfangen«, gab ich zurück.

»Gerne. Wenn Monty vom Klo zurück ist, kann’s losgehen. Bleibst du denn während des Auftritts?«

»Wahrscheinlich ja«, sagte ich gedehnt. »Ich arbeite hier.«

Er neigte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, was so ziemlich das Unerotischste war, das ich je gesehen hatte. Dann griff er nach seinem Bier und trank einen Schluck, ohne den Blick von mir abzuwenden.

»Okay, dann … Viel Spaß bei der Show«, wünschte ich und wandte mich ab.

»Dir auch, Süße.«

Langsam entfernte ich mich vom Tisch. Ich sah mich unauffällig um, dann verschränkte ich die Arme vor der Brust und zog die Finger meiner Hand ein klein wenig an. Ich rief mir Wrens Bierflasche vor Augen und konzentrierte mich darauf, sah sie genau vor mir. Sie war noch halb voll. Ich spürte das schwache Perlen der Kohlensäure auf meiner Handfläche, nahm die Bewegung der Flüssigkeit wahr, die in der Flasche hin und her schwappte und schmeckte den Hopfen auf meiner Zunge. Zielgerichtet krümmte ich meine Finger ein wenig mehr, kleine Wirbel zischten über meine Haut, und meine Fingerkuppen schimmerten für den Bruchteil einer Sekunde hellblau auf. Meine Mundwinkel zuckten, als mich ein kurzes, heftiges Glücksgefühl durchströmte, wie jedes Mal, wenn ich meine Kräfte anwandte. Nicht dass das häufig vorkam. Dafür hatte ich normalerweise zu viel Angst, entdeckt zu werden. Heute ging ich das Risiko jedoch ein.

Ich hatte die Leute den ganzen Abend im Blick behalten, doch mir war niemand aufgefallen, der mir hätte gefährlich werden können. Es war voll, die Gäste plauderten, tranken oder tanzten, und niemand achtete groß auf mich. Deshalb hatte Wren sich das warme Bier mit seinem zweiten »Süße« absolut verdient.

Bevor ich es zum Kochen brachte, riss ich mich zusammen und lockerte meine Finger wieder. Der Hopfengeschmack auf meiner Zunge ließ nach ebenso wie das Kribbeln auf meinen Handflächen.

Ich drehte mich um und sah, wie Wren die Flasche an die Lippen setzte und dann angewidert das Gesicht verzog. Ein Bild zum Niederknien.

Zufrieden setzte ich meinen Weg zum Tresen fort – und lief prompt in jemanden hinein. Ein heißer Blitz durchzuckte mich, als hätte ich einen Stromschlag bekommen, und ich taumelte zurück. Tja, Regan, das nennt man dann wohl Karma.

Ich presste mir eine Hand auf die Brust und sah zu dem Kerl auf, den ich gerade fast über den Haufen gerannt hatte. Er erwiderte meinen Blick und ließ mich kurz vergessen, wie man atmete.

Der Typ war einen Kopf größer als ich, hatte ein markantes Kinn und ausgeprägte Wangenknochen, die mich augenblicklich mit dem Wunsch erfüllten, sie nachzuzeichnen. Ein paar Strähnen seines braunen Haars fielen ihm in die Stirn, lange Wimpern umrahmten seine unglaublich blauen Augen, und seine Lippen waren zu einem breiten Lächeln verzogen. Er musste gerade erst gekommen sein. Jemand wie er wäre mir garantiert aufgefallen.

»Heute muss mein Glückstag sein«, sagte er mit samtiger Stimme.

»Glückstag?«, wiederholte ich.

»So nennt man es doch, wenn man von einer hübschen Frau umgerannt wird, oder?«

Ich lachte und legte den Kopf schräg. »Sorry, mein Fehler.«

»Schon okay, Süße. Und? Wie heißt du?«

Und so schnell, Ladies and Gentlemen, konnte man seine tiefblauen Sympathiepunkte wieder verspielen.

»Jedenfalls nicht Süße«, erwiderte ich kühl. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest? Ich muss arbeiten.«

Er musterte mich kurz und steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Das graue Shirt mit V-Ausschnitt betonte seine kräftige Brust und die muskulösen Arme. Er war heiß. Doch auch ein hübsches Arschgesicht blieb ein Arschgesicht.

»Danke«, sagte ich und ging an ihm vorbei, als er endlich einen Schritt zur Seite trat.

»Gern. Netter Trick, übrigens.«

»Das war ein Versehen«, rief ich ihm über die Schulter zu. Nicht dass er wirklich noch dachte, ich hätte ihn absichtlich übersehen.

Zurück an der Bar erwartete Isla mich mit leuchtenden Augen. »Wer war das?«, wollte sie wissen.

»Wen meinst du?«

»Der Kerl, mit dem du gerade gesprochen hast. Er starrt dich immer noch an«, bemerkte sie und wackelte mit den Augenbrauen. »Er sieht gut aus.«

»Geht so«, meinte ich. Die Untertreibung des Jahrhunderts. »Sein Pech, dass Wren meinen Bedarf an Typen mit zu großem Ego bereits gedeckt hat.«

»Sicher?«

Ich schnappte mir das Geschirrtuch und warf es nach Isla. Lachend pflückte sie es aus der Luft und streckte mir die Zunge raus. Ich wollte noch etwas sagen, da wurde das Licht gedimmt, die Scheinwerfer hochgefahren und The College betraten die Bühne.

Isla und ich holten uns was zu trinken und sahen uns die Show vom Tresen aus an. Der chillige Indiesound und Wrens Reibeisenstimme hörten sich erstaunlich gut an. Die Stimmung war ausgelassen, zwischendurch gab es eine kleine Pause, und als die Band eine Dreiviertelstunde später ihr zweites Set beendete, ertönte von allen Seiten Applaus.

Während die Band von der Bühne ging und sofort von ihren Fans belagert wurde, begaben Isla und ich uns wieder hinter den Tresen, bereit für die nächste Runde.

»Danke dir«, sagte der Typ, dem ich gerade zwei Lager hingestellt hatte. Seinem wässrigen Blick nach zu urteilen, waren diese Biere nicht seine ersten an diesem Abend.

»Wenn du mich weiter so anstarrst, wird dein Bier noch warm«, sagte ich.

»Oh … sorry. Ich hab’ nur überlegt, ob ich den Spruch bringen kann, ob du öfter hier bist.«

Ich lachte. »Wie heißt du?«

»Arian.«

»Und Arian, bist du öfter hier?«

»Nein, ich bin nicht aus London. Ich besuche ein paar Freunde. Warum fragst du?«

Volltreffer!

»Nur so«, antwortete ich, zwinkerte ihm zu und holte ein Tablett mit Shots hervor, das ich neben seinen Bieren abstellte.

»Die hab’ ich nicht bestellt«, sagte er.

»Pst«, machte ich und beugte mich verschwörerisch zu ihm vor. »Ich verrate nichts, wenn du nichts verrätst.«

Sein Blick zuckte zu meinem Ausschnitt, und ein anzügliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Ich schätze, wir sehen uns dann später.«

»Gern«, antwortete ich, nahm die Zehnpfundnote entgegen, die Arian mir hinschob und winkte ihm hinterher, als er sich mit den Bieren und den Shots vom Tresen entfernte.

Sag ich ja. So einfach, wie einem Kind den Lolli zu klauen.

Ich bediente die nächsten Gäste und drehte eine Runde durch den Gastraum. Jeff hatte die Musik aufgedreht, und vor der Bühne rieben die Leute wieder ihre erhitzten Körper im Rhythmus aneinander. Etwas, das ich freiwillig niemals getan hätte, zumindest nicht hier und ganz sicher nicht jetzt. So viel stand fest: Sollte ich noch mal nach London kommen, dann im Herbst oder Winter.

»Hey Regan, dein Typ wird verlangt«, rief Isla, als ich mit einem Tablett leerer Gläser zurückkam. Der Blick aus ihren dunklen Augen war vielsagend.

»Sag bloß, er ist schon zurück?«, fragte ich. Dabei hatte ich Arian doch eben erst bedient.

»Wenn wir von dem gleichen Kerl reden«, antwortete sie.

»Cool.« Lächelnd räumte ich die Gläser aufs Spülbrett.

»Wie machst du das nur?«, fragte Isla. »Ich kriege nicht mal ein Match bei Tinder, und du brauchst nur …« Sie schnipste mit den Fingern.

»Ganz einfach«, gab ich zurück. »Wenn dich jemand anflirtet, der dir gefällt, flirtest du zurück. Und wenn nicht, dann nicht.«

»Ich glaube, mein Radar, wann jemand mit mir flirtet, funktioniert nicht richtig«, seufzte sie und legte den Kopf in den Nacken. »Ich werde sicher allein sterben.«

»Wirst du nicht«, widersprach ich. »Würde ich auf Frauen stehen, würde ich dich sicher um ein Date bitten.«

»Und da hat sich bei dir in letzter Zeit nichts geändert?«

»Sorry.« Ich zuckte mit den Schultern. »Straight geboren, dafür kann ich leider nichts.«

»Hey, können wir bestellen?«

Mein Kopf schnellte herum, und ich sah die Frau, die nach uns gerufen hatte. Isla hielt mich am Arm fest und bugsierte mich zur anderen Seite des Tresens.

»Ich mach’ das schon. Geh du zu dem Typen rüber. Wenigstens eine von uns sollte ein Liebesleben haben.«

Ich warf ihr eine Kusshand zu und drehte mich um, bereit, Arian mit meinem nächsten Schachzug noch fester um den Finger zu wickeln. Umso überraschter war ich, als ich nicht seinem glasigen Blick begegnete, sondern zwei wachen blauen Augen – von denen ich gehofft hatte, sie hätten inzwischen das Weite gesucht.

Ich schaute mich um, ob sonst noch wer etwas bestellen wollte, doch anscheinend waren alle Gäste mit Getränken versorgt. Alle, bis auf einen, der seine leere Flasche in die Luft hielt und mich mit unverhohlener Neugierde ansah. Ich atmete tief durch. Von mir aus. Wenn er sich noch eine Abfuhr abholen wollte, konnte er die haben.

»Was willst du?«, fragte ich mit meinem besten falschen Lächeln.

»Dein Name würde mir schon reichen. Aber wenn du so nett fragst: noch ein Ale.«

Er verzog die Lippen zu einem arroganten Grinsen. Seine dichten Wimpern umrahmten seine Augen wie schwarze Rabenfedern.

Ich schnappte mir die Flasche und ließ sie in eine der Kisten unterm Tresen fallen. Dann nahm ich ein neues Ale aus dem Kühlschrank, öffnete es und stellte es vor ihm ab.

»Cheers«, wünschte ich.

»Danke. Ich bin übrigens Penn.«

»Schön für dich.«

»Süße, ich will dir ja nicht vorschreiben, wie du deinen Job zu machen hast, aber so gewinnst du keine neuen Stammkunden.«

Ich schloss für einen Moment die Augen. »Nenn mich noch einmal Süße, und meine Stammkunden sind dein kleinstes Problem.«

»Dann verrate mir doch einfach deinen Namen.«

Er stützte sich auf den Tresen, legte sein Kinn auf die zur Faust geballten Finger und blinzelte unschuldig. Ich schürzte die Lippen, wusste aber, dass ich ihn schneller wieder loswurde, wenn ich für einen Moment auf sein blödes Spiel einging.

»Regan«, gab ich widerwillig zurück.

»Regan. Und weiter?«

Zum Glück erspähte ich in dem Moment endlich ein junges Pärchen, das bestellen wollte. Meine Rettung!

»Tut mir echt leid, dass ich unser faszinierendes Gespräch an der Stelle beenden muss, aber ich habe zu tun.«

»Kein Problem«, gab er zurück. »Ich habe den ganzen Abend Zeit.«

Dies stellte er auch gekonnt unter Beweis, indem er die nächste halbe Stunde konsequent am Tresen blieb und mich nahezu mit seinen Blicken durchbohrte. Doch um mich aus der Reserve zu locken, hätte er früher aufstehen müssen. Wieso auch immer er mir unbedingt auf die Nerven gehen wollte, ich kam mit solchen Gästen zurecht, selbst wenn ich nicht abstreiten konnte, dass seine Anwesenheit ein leichtes Kribbeln in meinem Nacken hervorrief.

Nachdem er noch ein drittes Ale bestellt hatte und ich einem erneuten Gesprächsversuch seinerseits ausgewichen war, gab Penn schließlich doch auf. Stumm nickte er mir zu, erhob sich und ließ die Flasche auf dem Tresen stehen, die er nicht mal halb ausgetrunken hatte. Mir sollte es recht sein.

Um Viertel vor elf tauchte Arian wieder auf. Ich hatte ihn zwischenzeitlich tatsächlich vergessen. Er schwankte nun deutlich, sein Mund stand offen, und sein Blick war verhangen.

»Wasser?«, fragte ich.

»Bitte«, antwortete er erschöpft.

Er sah müde, aber glücklich aus. Wie jemand, der ein bisschen zu viel getrunken hatte, doch nicht genug, um es schon zu bereuen. Genau, wie ich es brauchte.

»Du bist echt hübsch«, sagte er und lächelte träge.

»Danke, du siehst auch nicht schlecht aus.«

Ich stellte das Wasser vor ihm ab, und er stürzte es in einem Zug hinunter. Laut atmete er aus.

»Wann hast du Schluss?«

»In einer Viertelstunde. Hältst du noch so lange durch?«

Die Frage war ernst gemeint. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er auf der Stelle eingeschlafen wäre. Doch er nickte.

»Wohnst du in der Nähe?«, wollte er wissen.

»Ja, es ist nicht weit.«

»Perfekt.«

Oh ja! Gedanklich gab ich mir selbst ein High five und beugte mich zu ihm vor. Ich fixierte seinen Blick und summte eine Melodie, die ich seit meiner Kindheit kannte. Meine Mum hatte sie mir früher immer vorgesungen, wenn ich nicht einschlafen konnte. Nur an den Text erinnerte ich mich nicht mehr.

Einen Moment lang hörte Arian auf zu blinzeln, und ein hellblauer Schimmer legte sich über seine braune Iris. Als ich mich in seine Gedanken einklinkte, fühlte sich das an, als würde ein Zahnrad ins andere greifen. So schnell, wie er erschienen war, verblasste der Schimmer wieder, und der träge Ausdruck kehrte in seine Augen zurück.

Wenn man in anderer Leute Gedanken eindrang, sah derjenige immer so aus, als hätte er zu viel intus. Dass Arian tatsächlich betrunken war, spielte mir nur in die Karten. Am nächsten Tag würde er sich an nichts mehr erinnern und es auf seinen Kater schieben, wodurch meine kleine Taschenspielermagie nicht weiter auffiel. In dem Zustand könnte ich ihn die wildesten Dinge tun lassen, auch wenn ich daran kein Interesse hatte. Ich hatte nur ein Ziel, und das befand sich in seiner Hose, genauer gesagt dort, wo sich sein Portemonnaie unter dem Stoff seiner Jeans abzeichnete.

»Du solltest deinen Freunden sagen, dass du heute Nacht woanders schläfst«, raunte ich ihm zu.

Arian nickte. »Mein Kumpel hat noch mein Handy. Er hat seiner Freundin geschrieben, weil sein Akku alle war.«

»Hast du eine Freundin?«, fragte ich.

Er lachte. »Ja, aber die erfährt hiervon nichts, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht von mir. Sei doch so gut und warte draußen auf mich.«

»Klar«, gab er zurück.

Arian erhob sich und ging zu seinen Freunden, die sich an der Tür versammelt hatten, um sich zu verabschieden. Gut, dass er ein Arsch war. Um über die Runden zu kommen, gehörte es für mich dazu, Touristen auszunehmen, aber wenigstens traf es an diesem Abend den Richtigen. Ein Typ, der seine Freundin betrog, hatte definitiv schlechtes Karma verdient.

Isla schlug die Glocke an der Rückseite des Tresens und läutete den Zapfenstreich ein. Die Gäste verließen die Bar, vereinzelt kamen noch einige zu Isla und mir, um zu zahlen, und nach und nach leerte sich das Monarchy. Arian winkte mir von der Tür aus zu, bevor er sich draußen gegen die Scheibe lehnte, um auf mich zu warten.

Wir schlossen ab, und Isla brachte Jeff die Einnahmen für die Abrechnung ins Hinterzimmer, während ich die Stühle hochstellte und einmal durchfegte. Dann meldeten auch wir uns ab und traten unseren verdienten Feierabend an.

Erleichtert seufzte ich auf, als wir das Monarchy verließen und von kühler Nachtluft eingehüllt wurden. Der Himmel war klar, selbst ein paar Sterne zeigten sich, und ein lauer Wind legte sich wohltuend auf meinen Nacken.

»Arbeitest du morgen?«, fragte Isla.

»Wie immer«, antwortete ich.

»Dann bis morgen.«

Sie hob die Hand, wackelte mit ihren Fingern und drehte sich um. Der 24er wartete schon an der Bushaltestelle. Sie erwischte ihn gerade noch, bevor sich seine Türen mit einem Zischen schlossen. Einen Moment lang sah ich dem abfahrenden Bus nach, dann wandte ich mich Arian zu, der immer noch neben dem Eingang lehnte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er.

»Wie wäre es mit einem Abstecher zu Morrisons?«, schlug ich vor.

Seine Augen begannen im Licht der Straßenlaternen zu leuchten, als hätte ich ihm gerade einen Lapdance versprochen.

»Morrisons klingt toll.«

Meine Güte, er war wirklich hinüber.

Ich hakte mich bei ihm unter und vergewisserte mich, dass kein Auto kam, bevor wir auf die andere Straßenseite wechselten. Ein paar Meter weiter bogen wir nach links ab, und es dauerte nicht lange, bis wir den Markt erreicht hatten, dessen gelbes Dach mit dem grünen Schriftzug unheilvoll vor uns aufragte.

Der Parkplatz lag wie ausgestorben da. Es fehlte nur, dass wie im Western ein Steppenläufer über den Asphalt rollte. Kein Wunder. Wer um die Zeit noch unterwegs war, verirrte sich sicher nicht auf den Parkplatz eines längst geschlossenen Supermarktes – und auch nicht zu den beiden Geldautomaten davor.

»Hast du deine Karte dabei?«, fragte ich Arian.

»Äh ja, hier«, sagte er und zog sein Portemonnaie hervor.

»Danke.« Ich nahm die Karte entgegen, die er mir reichte. »Wie lautet deine PIN?«

»Meine PIN?«

»Bitte, ich sage sie auch niemandem weiter«, versprach ich, sah ihm tief in die Augen und bemerkte zufrieden, wie das selige Grinsen auf sein Gesicht zurückkehrte.

»1-2-3-4.«

Hätte ich mir denken können.

Ich schob die Karte in den Automaten, gab die PIN ein und beäugte Arian kurz, bevor ich die gewünschte Summe eintippte. Ich schätzte, dreihundert Pfund waren Strafe genug, und sie würden mich über die nächste Woche bringen. Ich bestätigte den Auftrag, die Maschine begann zu schnurren und spuckte kurz darauf drei blaue Scheine aus. Sie waren sogar noch warm.

»Danke«, sagte ich, steckte sie in meine Hosentasche und gab ihm die Karte zurück.

»Gerne. Und was machen wir jetzt?«

Ich schnalzte mit der Zunge. »Wir machen gar nichts. Du rufst dir jetzt ein Taxi und fährst nach Hause. Du hattest einen wilden Abend, hast dich mit deinen Kumpels volllaufen lassen, und jetzt ist er vorbei.«

Arian runzelte die Stirn, als hätte ich ihm ein kompliziertes Rätsel gestellt. Weil ich keine Lust hatte, ewig darauf zu warten, dass er seine Erleuchtung hatte, klinkte ich mich ein weiteres Mal bei ihm ein. »Geh heim, Arian«, summte ich. »Und hör auf, deine Freundin zu betrügen.«

Endlich verschwand die Verwirrung aus seinem Gesicht, und seine Stirn entspannte sich.

»Wow, ich bin echt dicht. Ich sollte besser nach Hause«, murmelte er und rieb sich verlegen den Nacken.

»Tolle Idee«, stimmte ich zu. »Gute Fahrt.«

»Dir auch. Ich meine, wir sehen uns. Schätze ich.«

Unbeholfen winkte er mir zu, obwohl er nur zwei Meter entfernt stand. Trotzdem erwiderte ich die Geste und sah dem Umriss seines weißen Shirts nach, bis er um die Ecke verschwand.

Mein kleiner Zauber würde sich von selbst auflösen, so wie sich der Alkohol mit der Zeit aus seinem Körper zurückzog. Wenn er in ein paar Stunden aufwachte, würde nichts mehr davon übrig sein bis auf einen leichten Kater. Manche Dinge waren wirklich zu einfach, aber ich betrachtete es als karmischen Ausgleich zum Rest meines Lebens.

Ein leises Knirschen ließ mich aufhorchen. Sohlen auf Asphalt. Mein Herz, das bis eben noch ruhig in meiner Brust geschlagen hatte, stolperte, und meine Muskeln spannten sich an, als ich herumwirbelte.

War Arian zurückgekommen? Nein, unmöglich, mein Zauber konnte sich noch nicht gelöst haben.

Alarmiert scannte ich die Umgebung, musterte den verwaisten Parkplatz und die Geldautomaten zu meiner Rechten, drehte mich weiter und sah zu den gläsernen Schiebetüren des Morrisons, hinter denen ebenfalls alles dunkel war. Trotzdem wollte das leichte Kribbeln, das sich über meinen Nacken zog und mir die Haare zu Berge stehen ließ, nicht verschwinden. Es wurde sogar noch stärker. Wieder knirschte es, dann hörte ich jemanden leise lachen. Ich ballte die Fäuste.

»Wenn du anderen nachstellst, solltest du besser leise sein«, rief ich.

Eine Weile tat sich nichts. Ich starrte in die Dunkelheit, versuchte, etwas auszumachen. Dann löste sich ein Schatten von einer der Säulen links von mir.

»Mein Fehler, Süße«, ertönte eine samtige Stimme, die zu dem Lachen passte. »Entschuldige, ich meinte natürlich: Regan.«

Ich erkannte ihn sofort. Das schwache Licht der Neonröhren erhellte die markanten, ebenmäßigen Züge. Ein paar Haarsträhnen lugten unter der Kapuze hervor, die er sich über den Kopf gezogen hatte, die blauen Augen waren auf mich gerichtet, und um seine Lippen spielte das gleiche selbstsichere Lächeln wie vorhin im Monarchy.

Penn.

»Du hast also noch mehr Tricks auf Lager. Nicht schlecht. Machst du das öfter?«, fragte er.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Ich glaube, du weißt ganz genau, wovon ich spreche. Erst die Sache mit dem Bier. Und wie du dem Kerl gerade sein Geld abgenommen hast … wirklich beeindruckend. Ein ungewöhnliches Talent.«

Panik ersetzte das Kribbeln in meinem Nacken und kitzelte meinen Fluchtreflex. Trotzdem hielt ich an mich und blieb, wo ich war. Vielleicht bildest du dir bloß etwas ein.

»Sorry, ich weiß nicht, was du meinst. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, versuch’s mit der Parkuhr.«

»Sorry, aber das geht nicht.«

Der Puls hämmerte in meinen Ohren. Ich wollte mir einreden, dass er nur ein Typ war, der kein Nein akzeptierte, aber meine Instinkte sagten mir, dass ich damit falschlag. Es war seine Haltung, die Art wie er sprach, sein ganzes Auftreten. Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Und je länger ich ihn ansah, desto unruhiger wurde ich.

»Was zur Hölle willst du von mir?«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schluckte den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals zusammengeballt hatte.

»Dasselbe wie vorhin. Mit dir reden.«

»Und wieso sollte ich das tun?«

»Weil ich weiß, was du bist.«

Eine furchtbare Kälte breitete sich in mir aus. Er hatte nicht wer gesagt, sondern was.

3

Es gab nur wenige Wesen, die wussten, was ich war: die Nox.

Seit fünf Jahren war ich vor ihnen auf der Flucht. Ich erinnerte mich an sie, als wäre es gestern gewesen. Wie sie mein Leben auseinandergerissen hatten, als sie erst meine Mum und dann meinen Dad getötet hatten. Damals war ich ihnen entkommen, doch nun hatten sie mich gefunden. Penn war einer von ihnen.

Mit aller Macht kämpfte ich gegen die Panik an, die mich zu überwältigen drohte. Ich musste ruhig bleiben, bis sich eine Gelegenheit zur Flucht ergab. Ich hatte keine Ahnung, wieso er mich noch nicht angegriffen hatte, aber nur weil er mir bisher keine Kugel in den Kopf gejagt hatte, bedeutete das nicht, dass er es nicht noch tun würde.

»Du weißt also, was ich bin? Und was soll das deiner Meinung nach sein?«, spielte ich die Ahnungslose.

»Eine Sirene«, antwortete er, hob die Hände und trat einen Schritt auf mich zu. »Hör mal, es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber ich bin aus einem bestimmten Grund hier. Ich brauche deine Hilfe.«

»Ich wüsste nicht, wie ich dir helfen soll«, entgegnete ich. Als würde ich jemals einen Deal mit einem Nox eingehen.

»Bitte«, sagte er und kam noch etwas näher. »Gib mir eine halbe Stunde, damit ich dir alles erklären kann. Mehr verlange ich nicht.«

Beinahe hätte ich gelacht. Dieser Irre meinte das ernst. Immer lauter läuteten meine Alarmglocken und übertönten alles andere. Wenn mich der Tod meiner Eltern eines gelehrt hatte, dann, dass ich einen Nox niemals unterschätzen durfte. Und dass ich handeln musste, bevor das Zittern meiner Arme auf den Rest meines Körpers überging.

»Vergiss es«, entgegnete ich und sprang auf ihn zu.

Spätestens seine Reflexe bewiesen, dass er nicht bloß ein gruseliger Typ war, der sich nachts auf Parkplätzen herumtrieb. Mein Tritt hätte ihn eigentlich dort treffen müssen, wo es richtig wehtat. Stattdessen machte er einen Satz zurück, und ich trat ins Leere. Ich nutzte den Schwung, drehte mich um die eigene Achse und duckte mich weg, als er seinerseits ausholte. Sein Ellenbogen verfehlte mich so knapp, dass ich den Windhauch an meiner Wange spürte und zu Boden taumelte.

Schmerzhaft pochte mein Herz gegen die Rippen, und ich stützte mich auf dem Asphalt ab. Meine Eltern hatten mir früh beigebracht, mich zu verteidigen. Seit Jahren war mir jede Bewegung, jeder Schlag und jede Abwehr ins Gedächtnis gebrannt, genau für diesen Moment. Ich verlagerte mein Gewicht, riss das Bein herum und zielte auf Penns Knöchel. Diesmal schaffte er es nicht rechtzeitig auszuweichen und strauchelte. Ehe er sich fangen konnte, schnellte ich hoch und warf mich mit meinem ganzen Körper gegen ihn. Er verlor das Gleichgewicht, krachte mit den Schultern voran auf den harten Boden und stöhnte vor Schmerz. Blitzschnell setzte ich mich auf ihn und fixierte seine Arme mit meinen Knien. Eine Hand presste ich auf seine Brust, mit der anderen tastete ich nach dem Klappmesser, das ich für Notfälle im Schaft meiner Doc Martens versteckt hatte, und drückte ihm die Klinge an die Kehle.

»Wer bist du? Was willst du von mir?«, zischte ich und verstärkte den Druck meiner Knie, als er sich wehrte.

»Ich bin Penn«, ächzte er und schien beinahe belustigt, was ich angesichts seiner Lage nicht ganz nachvollziehen konnte.

»Und was willst du?«

»Jetzt gerade? Eigentlich bin ich wunschlos glücklich. Eine laue Sommernacht, ’ne heiße Frau auf mir … klassischer Mittwochabend.«

Ich verzog das Gesicht und spürte, wie mir Zornesröte in die Wangen stieg. »Antworte, oder du hast gleich ein mächtiges Problem.«

»Und zwar?«

»Mich.«

Plötzlich stand der Parkplatz Kopf, und ehe ich reagieren konnte, spürte ich den harten Boden in meinem Rücken. Das Messer fiel klappernd zu Boden, die Luft wurde mir aus der Lunge gepresst, und ich keuchte, als mich Penns Gewicht niederdrückte.

»Ich glaube, mein Problem hat sich gerade in Luft aufgelöst.«

Dieses verdammte Arschloch!

Ich sammelte all meine Kräfte und versuchte, ihn von mir runterzuwerfen, doch ohne Erfolg. Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich befreien konnte, bis mir das Offensichtlichste einfiel, auch wenn ich es nie bei einem Nox versucht hatte. Doch die Angst trieb mich an. Ich hatte keine Wahl.

Ich hörte auf, mich zu wehren, und sah ihm fest in die Augen. Sein Blick ruhte auf mir – im wahrsten Sinne des Wortes. Er schien völlig gelassen, und das machte mich noch rasender. Trotzdem konzentrierte ich mich, so fest ich konnte, und wartete. Auf den blauen Schimmer. Auf das Einklinken. Doch es passierte … nichts.

»Tut mir leid, aber mit mir hast du nicht so leichtes Spiel wie mit dem Typen, den du abgezogen hast«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Außerdem bin ich stärker als du.«

»Fahr zur Hölle«, keuchte ich.

»Ich will dir nicht wehtun, sondern bloß reden«, wiederholte er. »Würde ich dir etwas Böses wollen, hätte ich es längst getan, denkst du nicht?«

»Vor allem denke ich, dass du mich loslassen solltest, wenn du etwas von mir willst«, zischte ich.

Nachdenklich zog er die Brauen zusammen und legte den Kopf schräg. Ich schluckte und zwang mich dazu, ruhig zu bleiben.

»Lass. Mich. Los!«, verlangte ich.

Ein paar Sekunden lang regte sich keiner von uns. Seine Kiefer mahlten, dann seufzte er.

»Lass mich das nicht bereuen.«

Wider Erwarten löste sich Penn von mir. Erst verschwand das Gewicht von meinen Armen, bis er sich ganz erhob und ich mich wieder frei bewegen konnte. Damit hatte ich nun nicht gerechnet. Er beugte sich vor und streckte mir die Hand entgegen. Verständnislos sah ich sie an.

»Ich will dir nur aufhelfen«, erklärte er. »Wie wäre es mit ein klein wenig Vertrauen?«

Ich behielt ihn im Blick, als ich mich ohne seine Hilfe aufrappelte. Meine Muskeln brannten, und mein Puls schien einen neuen Rekord aufstellen zu wollen.

Ich sollte ihm vertrauen? Als ob. Und dass er mit mir reden wollte, glaubte er wohl selbst nicht. Er war ein Nox, und die Nox redeten nicht.

»Gib mir fünf Minuten, Regan. Ich kann dir alles erklären, zumindest das Nötigste«, versuchte Penn es erneut. »Ich bin nicht hier, um mit dir zu kämpfen, ganz im Gegenteil. Wir stehen auf derselben Seite.«

Er bückte sich, um etwas vom Boden aufzuheben. Als er es mir hinhielt, erkannte ich mein Messer, der Griff in meine Richtung gedreht. Ich zögerte kurz, dann nahm ich es entgegen.

»Nur reden?«, fragte ich.

»Nur reden«, bestätigte er.

Ich atmete tief durch, schaffte es aber nicht, das Zittern in meinen Händen zu kontrollieren. Ich darf jetzt keinen Fehler machen. Vorsichtig steckte ich das Messer in den Schaft meines Stiefels zurück. Penn stand immer noch an derselben Stelle und beobachtete mich.

Ich schluckte. »Gut. Reden wir.«

»Okay. Ich würde vorschlagen, wir holen uns erst mal einen Kaffee. Wir haben viel zu besprechen.« Er wandte den Kopf zur Seite. »Wie wäre es, wenn wir …«

Weiter kam er nicht. Ich nutzte diesen winzigen Moment der Unaufmerksamkeit und traf ihn direkt an der Schläfe. Überrascht riss er die Augen auf und versuchte auszuweichen, doch da hatte ich schon zum Roundhouse-Kick angesetzt. Volltreffer. Ein letzter Schlag mit der Faust, dann ging er k. o., und plötzlich lag ein beachtlicher Haufen Penn zu meinen Füßen.

Einen Moment starrte ich ihn an, wartete, ob er sich regte, doch nichts. Vorsichtig ging ich rückwärts und behielt Penn genauestens im Blick, bis ich am Ende des Parkplatzes angelangt war.

Erst dann wandte ich mich ab, nahm die Beine in die Hand und rannte um mein Leben.

Jeder Schritt hallte in den leeren Straßen wider, bis ich schließlich in den Hinterhof des Gebäudekomplexes einbog, in dem sich das Monarchy und mein Apartment befanden. Binnen Sekunden brachte ich das Treppenhaus hinter mich und kam mit so viel Schwung oben an, dass ich beinahe gegen die Wand geprallt wäre. Erst mit dem zweiten Anlauf schaffte ich es, den Schlüssel ins Schloss zu kriegen, dann schwang die Tür endlich auf, und ich stürzte hinein.

Ich schaltete das Licht ein, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und sah mich hastig im Zimmer um. Alles, was ich brauchte, waren meine Papiere. Den Rest konnte ich neu kaufen. Wichtig war, dass ich hier wegkam.

Ich drehte mich im Kreis und überlegte fieberhaft, wo ich meinen Pass gelassen hatte. Und das Geld. Mein Blick sprang hin und her, doch ich wusste es plötzlich nicht mehr. Die Gedanken flogen umher wie ein wild gewordener Wespenschwarm und machten es mir unmöglich, einen von ihnen zu fassen. Fetzen fünf Jahre alter Erinnerungen zuckten durch meinen Kopf und drohten, mich zu überwältigen, doch das durfte ich nicht zulassen.

Reiß dich zusammen, befahl ich mir und drückte mir die zitternden Fäuste gegen die Schläfen.

Wenn ich jetzt zusammenbrach, war alles umsonst gewesen: der Tod meiner Eltern, meine Flucht, die letzten Jahre, einfach alles. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren, meinen Pass finden und so schnell es ging von hier weggehen.

Shen! Verdammt, ich musste Shen eine Nachricht schreiben und ihr erzählen, was passiert war. Ich hatte sie seit Tagen nicht gesehen, aber ich konnte nicht abhauen, ohne ihr Bescheid zu geben.

Ich zwang mich dazu, nicht durchzudrehen.

Ein Schritt nach dem anderen.

Endlich fiel mir ein, wo ich meine Dokumente versteckt hatte, und warf mich neben meinem Bett zu Boden. Ich schob meine Hand in die Spalte zwischen Gestell und Matratze und bekam die Plastiktüte zu fassen, in der ich meine Ausweisdokumente verstaut hatte, inklusive Bargeld für den Notfall. Als Nächstes zog ich meinen Rucksack unter dem Bett hervor, packte die Tüte und die dreihundert Pfund von Arian hinein und zog die Bänder zusammen.

Geschafft. Mein ganzes Leben passte problemlos in einen kleinen Rucksack. Beeindruckend, hätte es nicht einen so grausamen Beigeschmack gehabt.

Ich erhob mich, drückte mir Zeige- und Mittelfinger an die Stirn und dachte nach. Die Chalk Farm Station war um diese Zeit geschlossen, also musste ich zur Camden Town Station und von dort zum Flughafen. Heathrow war groß und unübersichtlich, viele Hotels. Dort würde man mich am schwersten finden können. Auf dem Weg würde ich online den erstbesten Flug buchen. Egal wohin. Und wenn ich wo auch immer ankam, konnte ich überlegen, wie es weitergehen sollte. Ich würde das schaffen, ich hatte es schließlich schon etliche Male getan: untertauchen, unsichtbar werden, woanders neu anfangen und …

»Shit, hast du einen Schlag drauf.«

Ich erstarrte, als ich Penns samtige Stimme hinter mir hörte.

Hart schluckte ich und drehte mich wie in Zeitlupe zu dem Typen um, der eigentlich wie ein Häufchen Elend auf dem Parkplatz des Morrisons liegen sollte.

Mein Herz, das sich seit unserem Kampf kein bisschen beruhigt hatte, legte noch mal an Tempo zu, als ich ihn in der Tür stehen sah. In der Hektik hatte ich nicht daran gedacht, sie zu schließen.

»Noch einen Schritt näher und du kannst dir noch mehr von der Sorte abholen«, drohte ich.

»Wirklich? Ich dachte, wir hätten das hinter uns«, merkte er an. »Hatten wir nicht einen Deal?«

»Ich mache keine Deals mit Nox.«

»Das trifft sich gut, denn ich bin kein Nox.«

»Und das soll ich dir glauben?«

Wir ließen einander nicht aus den Augen, als er näher kam und die Tür hinter sich schloss. Sein muskulöser Körper zwischen mir und meinem Weg nach draußen.

»Es ist mir egal, was du glaubst oder nicht. Ich will nur, dass du mir zuhörst.«

»Immer noch die Masche, dass du nur mit mir reden willst? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Soll ich ehrlich sein?«

»Du kannst mich mal.«

Unbeeindruckt kam er weiter auf mich zu und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Also Regan, ich sag dir, wie es läuft. Entweder du gibst mir freiwillig die Chance, dir alles zu erklären, oder ich muss zu anderen Mitteln greifen. Deine Entscheidung.«

»Lieber sterbe ich, als mit einem Nox zu verhandeln.«

»Als würde ich gegen eine Wand reden«, murmelte er und verdrehte die Augen. »Noch mal: Ich. Bin. Kein. Nox.«

»Ich glaube dir kein Wort. Wer sonst sollte wissen, was ich bin?« Dann preschte ich vor, holte aus und zielte auf seinen Magen. Diesmal war er schneller und blockte den Schlag ab. Mit dem Ellenbogen drückte er meinen Arm nach unten, griff nach meinem Handgelenk, doch ich entwand es ihm, bevor er es zu fassen bekam. Im nächsten Zug riss ich die Schulter hoch und zielte auf Penns Gesicht.

Fluchend ließ er mich los, stolperte zurück und rieb sich das Kinn. »Scheiße, kannst du das mal lassen?«

»Ich fange gerade erst an.«

Ich duckte mich unter seinem Arm hindurch, als er ausholte, und nutzte den Schwung, um mein Knie anzuziehen und es in seiner Magengrube zu versenken. Er drehte sich zur Seite, ich verfehlte ihn knapp und wurde im nächsten Moment selbst zurückgestoßen. Wut züngelte wie eine Klapperschlange in mir hoch und spritzte ihr Gift in jede Faser meines Körpers. Ich fing mich, zielte neu, erspähte die Stelle unter seinen Rippen und holte ein zweites Mal aus – doch wieder war ich zu langsam. Aus dem Nichts traf mich sein nächster Schlag in den Bauch, sein Fuß hakte sich hinter meinen und zog ihn mir so schnell weg, dass ich den Boden schon auf mich zukommen sah. Doch kurz bevor ich ihn erreichte, riss Penn mich zurück, und ich prallte gegen seine harte Brust.

Sein Atem kitzelte meinen Nacken. Wie ein Schraubstock drückte sein Arm gegen meine Kehle. Plötzlich war es gespenstisch still, und ich wagte es nicht mehr, mich zu rühren.

Eine kleine Bewegung, und es war vorbei. Ich würde nicht mal spüren, wie mein Körper aufschlug, und das Letzte, was ich hören würde, wäre das Brechen meines Genicks. Tränen brannten in meinen Augen, als ich begriff, dass ich verloren hatte.

Alles war umsonst gewesen. Die Nox hatten mich gefunden, und jetzt würde ich sterben, so wie Mum und Dad.

»Bist du fertig?«, fragte Penn, seine Stimme so nah an meinem Ohr, dass sie mir eine Gänsehaut verpasste.

»Bring es einfach zu Ende«, stieß ich hervor. Was gab es noch zu reden?

»Ich werde dich nicht töten«, raunte er. »Aber ich habe auch keine Lust, dass du mir wieder ins Gesicht schlägst.«

Ich war so starr vor Angst, dass ich nicht mal reagierte, als Penn seinen Griff lockerte und mit der Hand an meiner Seite entlangglitt. Die Berührung war so schwach, dass ich es kaum spürte. Seine langen Finger waren gespreizt und hielten inne, als sie über meine Hüfte strichen. Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper, und ich schnappte nach Luft.

Meine Sinne mussten mir einen Streich spielen, denn ich bildete mir ein, dass seine Fingerkuppen glühten. So wie meine vorhin in der Bar. Und nicht nur sie, auch die Adern an seinem Handgelenk. Sie leuchteten hellblau wie das Meer an einem sonnigen Morgen.

Ich fühlte mich wie ein Blatt, das auf einmal von einer kräftigen Strömung erfasst wurde. Sie riss mich mit sich, eine unbekannte Energie drang in mich ein und verband sich mit meiner. Klinkte sich in mich ein. Das Gefühl hielt nur wenige Sekunden an, bevor es wieder schwächer wurde. Bloß ein kleiner Rest blieb zurück, der sich wie ein heller, beständiger Faden mit meinem Innersten verwoben hatte und dafür sorgte, dass ich an Ort und Stelle stehen blieb, als Penn sich von mir löste.