Sirens – Das Rauschen der Macht - Maike Voß - E-Book

Sirens – Das Rauschen der Macht E-Book

Maike Voß

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Beschreibung

Kaum haben Penn und Regan zueinandergefunden, erfährt Regan ein schreckliches Familiengeheimnis – und plötzlich ist ihre große Liebe ihr größter Feind

Regans Welt steht Kopf. Nach Jahren, in denen sie stets auf der Flucht vor den Nox war, dachte sie, bei den Artaga endlich ein Zuhause und in Prinz Penn ihre große Liebe gefunden zu haben. Doch nach dem Ritual, dass die Macht der sieben Weltmeere für weitere elf Jahre in einem magischen Siegel gebannt hat, erfährt Regan die schreckliche Wahrheit über ihre Eltern – und von einem Moment auf den anderen sind Penn und ihre neu gefundene Familie ihre größten Feinde. Doch als Penn von den Nox entführt wird, setzt Regan alles daran, ihn zu befreien. Selbst wenn das bedeutet, dass sie sich im Rausch der Macht verliert …

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Seitenzahl: 518

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Das Buch

Jahrelang war Regan Seaborn auf der Flucht vor den Nox, jenen Sirenen, die einst ihre Eltern brutal ermordeten. Gerade als sie dachte, bei den Artaga ein Zuhause und in Prinz Penn ihre große Liebe gefunden zu haben, wird Regan von ihrer Vergangenheit eingeholt: Sie erfährt die schreckliche Wahrheit über ihre Eltern – und von einem Moment auf den anderen sind Penn und ihre neu gefundene Familie ihre größten Feinde.

Regan flieht nach New York. Dort, wo einst alles begann, hofft sie, untertauchen zu können. Doch schon bald begreift sie, dass sie vor den Nox nirgends wirklich sicher ist. Als Penn, der ihr nach New York folgt und sie zur Rückkehr zum Schwarm der Artaga bewegt, entführt wird, setzt Regan alles daran, ihn zu befreien. Selbst wenn das bedeutet, dass sie sich der dunklen Seite ihrer Magie öffnen muss.

Schillernde Magie, atemberaubende Action und eine spicy Enemies-to-Lovers-Romance – Mit Das Rauschen der Macht erzählt Maike Voß nun Penn und Regans Geschichte weiter.

Die Autorin

Maike Voß wurde 1995 in Hamburg geboren und hat dort an der Technischen Kunsthochschule studiert. Als gebürtige Hamburgerin besitzt sie natürlich eine Dauerkarte des SV Werder Bremen und ist bei jedem Heimspiel dabei. Sie liebt Literatur und das Reisen, wobei es sie immer wieder in ihre Wahlheimat London zieht. Dort begann sie auch, ihren Debütroman So sieht es also aus, wenn ein Glühwürmchen stirbt zu schreiben. Mit ihrem ersten fantastischen Roman Sirens – Das Glühen der Magie eroberte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste und die Herzen der Fantasy-Fans.

Maike Voß

SIRENS

Das Rauschen der Macht

Roman

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2024 by Maike Voß

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31623-5V001

www.heyne.de

Für alle, die weiterkämpfen, egal, wie oft das Leben euch den Mittelfinger zeigt.

Playlist

Siren – The Chainsmokers

Monster – Imagine Dragons

Demons – Imagine Dragons

Last Of The Real Ones – Fall Out Boy

Thief (Live) – Imagine Dragons

Champion – Fall Out Boy

Save Tonight – Tom Speight, Lydia Clowes

Warriors – Imagine Dragons

Sick Boy – The Chainsmokers

Never Let Me Go – Florence + The Machine

Centuries – Fall Out Boy

Eyes Closed – Imagine Dragons

Immortals – Fall Out Boy

Chasing Cars – Snow Patrol

Little Disaster – Andrew McMahon in the Wilderness

Die Siegelbrecher-Legende

Magie folgt einem Kreislauf stets,

Beginn und Ende gleich.

Wo du dir nimmst, so gib auch ihr,

Ein Gleichgewicht so bleibt.

Rufst du sie, um etwas zu nehm’,

Vereint die Mächte stark.

Seid sicher euch und gebt euch hin,

So sehr, wie’s euch vermag.

Und willst du doch zurück es nehm’,

So seid erneut beisammen.

Du musst ihr beide Seiten geben,

Und führet sie zusammen.

Aus Blut und Blut mach wieder eins,

Zurück, was einst genommen.

Vereint soll beides wieder sein,

Gestärkt und nicht zerronnen.

Sei der Beweis des Krieges Schwund.

Sei beides, heiß und kalt.

So schließe sich der Kreis im Rund,

Die Macht nun in dir wallt.

Zum Dank soll sie nun deine sein,

Die Antwort wird sie kennen.

Befreit und von den Fesseln rein,

Und dir den Namen nennen.

Prolog  Kane

Ich entzündete das Streichholz. Einen Moment lang spürte ich die Wärme des Flämmchens auf meinem Gesicht. Dann ließ ich es in die kleine Schale in meinem Schoß fallen. Sofort fingen Algen und Meersalz an zu brennen und feiner Rauch stieg auf. Sanft pustete ich ihn in den Wasserstrahl.

Die letzten Wochen hatte ich es immer wieder versucht. Auf diesem Hocker zu sitzen, den Hahn aufzudrehen und zu warten, war das Einzige, was meine Gedanken in Schach hielt. Auch wenn ich bisher keinen Erfolg gehabt hatte.

Grace war weg, und es fühlte sich an, als hätte man mir das Herz herausgerissen. Zurück war bloß eine Wunde geblieben, die sich nicht schließen wollte. Ununterbrochen hörte ich ihre Worte in meinem Kopf. Sie wäre schwanger. Er wäre der Vater. Sie würden gemeinsam fortgehen und bräuchten meine Hilfe. Als Wächter-Anwärter wäre es meine Pflicht gewesen, meinen Ausbilder zu informieren. Das hätte ich schon tun sollen, als ich erfuhr, dass Grace den Nox nach dem Angriff nicht getötet, sondern heimlich gesund gepflegt hatte. Doch ich hatte es nicht getan.

Ich liebte Grace. Ihre einfühlsame Art, ihre Stärke, ihr Lachen und den grenzenlosen Mut, mit dem sie allem und jedem gegenübertrat. Fast drei Jahre waren wir ein Paar gewesen. Dann hatte sie Schluss gemacht.

Seinetwegen.

Es wäre leichter, hätte ich sie dafür hassen können, aber das war unmöglich. Neven war ein Nox, eine jener Sirenen, die drohten, die Welt in Schutt und Asche zu legen, sollten sie je wieder an die Macht der sieben Weltmeere gelangen. Er war der Feind. Aber Grace zuliebe hatte ich die Klappe gehalten und ihr geholfen, den Schwarm zu verlassen. Trotz meiner Pflicht. Trotz des Rituals, das nun ohne sie stattfinden würde. Trotz der Konsequenzen, die ihre Flucht nach sich ziehen würde.

Sie werden Regan töten, wenn sie erfahren, was sie ist. Aber sie ist meine Tochter, Kane. Ich muss sie beschützen. Hilf mir.

Ich zerbröselte noch ein paar Algen über der kleiner werdenden Flamme, gab Salz dazu und pustete den Rauch ins Wasser.

Regan.

Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich daran dachte, wie Grace ihren Bauch gestreichelt hatte. Die Wölbung war kaum zu erkennen gewesen und das Baby erst wenige Wochen alt, doch sie wusste schon, dass es ein Mädchen war und wie es heißen sollte. Vielleicht würde es ihre blonden Locken erben und den Mut, für die zu kämpfen, die sie liebte. Aber nicht die blauen Augen. Weil sie nur eine halbe Artaga war.

Ich griff ein drittes Mal nach Algen und Salz und fütterte die Flamme. Ein letzter Versuch, bevor ich Schale und Fläschchen zusammenpacken würde. Bloß um es am nächsten Tag erneut zu versuchen.

Als nur noch wenig Rauch emporstieg, stellte ich das Wasser ab. Meine Hand verharrte auf dem kühlen Griff. Ich ließ die Schultern sinken und atmete gegen den Druck an, der sich hinter meinen Augen aufbaute. Erst als ich sicher war, mich unter Kontrolle zu haben, zog ich die Hand zurück und …

Was zur Hölle?

Ich blickte erst auf meine nasse Hand, dann auf den Hahn. Er war zu, doch das Wasser war noch da. Wie eingefroren hing es in der Luft, umgeben von dem Rauch, den ich eben noch hineingepustet hatte.

Mit offenem Mund sah ich, wie sich die einzelnen Partikel mit dem Wasser verbanden. Feine Linien blitzten darin auf, das Wasser formte sich, schimmerte blau und zischte. Gliedmaßen bildeten sich aus, zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf sowie ein langer Schwanz. Blaue Schuppen bedeckten den Körper, der nicht größer war als mein Unterarm, und ein dünner Streifen Fell zog sich von seinem Nacken über den Rücken bis zur Schwanzspitze. Dann war er plötzlich da: Ein kleiner Wasserdrache, der mich aus zwei goldenen Augen heraus neugierig musterte. Als er lächelte, kamen zwei Reihen scharfer Zähnchen zum Vorschein.

Der Drache schnupperte. Dann sprang er aus dem Waschbecken heraus und stürzte sich auf den Karton auf der Ablage, in den ich Schokolade, Chips und einen Becher Ben & Jerry’s gepackt hatte. Wenn man einen Wasserdrachen beschwor, musste man als Zeichen des Respekts unbedingt etwas zu essen dabeihaben. Andernfalls zog man seinen Zorn auf sich. Und das durfte ich auf keinen Fall riskieren.

»Starr mich nicht so an, das ist unhöflich«, forderte das Wesen mit einer hohen Stimme. »Du hast ordentlich aufgefahren. Muss ja was Wichtiges sein, weswegen du mich rufst. Machst du das hier mal auf?«

Es deutete auf den Ben & Jerry’s-Becher und ich tat, wie mir geheißen.

»Mhmm.« Genüsslich leckte der kleine Drache über das cremige Vanilleeis. »Okay, du hast meine Aufmerksamkeit. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Mein Name ist Kane. Kane Hudson.«

»Ich bin Shen. Freut mich, dich kennenzulernen, Kane Hudson. Wie viel brauchst du?«

»Wie viel?«

»Du hast das noch nie gemacht, oder?« Shen kicherte. »Aber ich will mal nicht so sein. Weil mir das Zeug hier wirklich schmeckt, biete ich dir eine Phiole. Haben wir einen Deal?«

Jetzt verstand ich.

»Ich möchte kein Blut tauschen.«

»Okay.« Shen grub die Krallen in das Eis und fischte eine der Cookie-Dough-Kugeln heraus. »Was willst du dann?«

»Dich um einen Gefallen bitten. Dafür biete ich dir einen Teil meiner Seele: mein Herz.«

Shen verengte die Augen.

»Sollte ich an deinem Verstand zweifeln?«, fragte sie und schob sich die Teigkugel ins Mäulchen.

»Ich meine es ernst.«

»Wieso solltest du das tun?«

»Wasserdrachen haben keine Seele und können sich deshalb nicht dauerhaft manifestieren, außer sie gehen eine Verbindung mit einer Sirene ein«, gab ich wieder, was ich gelesen hatte. »Nimm ein Stück meiner Seele, mein Herz. Im Gegenzug bitte ich dich um ein Versprechen.«

»Dann lass mal hören.«

Ich holte tief Luft und erzählte ihr von Grace. Ich hielt mich so knapp wie möglich. Erstens, weil ich nicht wusste, wie lange Shen bleiben konnte, bevor sie ihren Körper wieder dem Wasser überlassen musste. Zweitens, weil sich jede Erinnerung an Grace wie der Stachel eines Teufelsrochens in meine Eingeweide grub. Ich dachte an unseren ersten Kuss, unser erstes Mal, den Moment, als mir klar wurde, dass ich sie liebte. Und an den Moment, als ich verstand, dass ich damit niemals aufhören würde.

Auch dann nicht, als ich sie gehen ließ.

Mit ihm.

»Die Artaga werden Grace nicht zwingen, zurückzukehren, auch nicht für das Ritual. Aber die Nox werden Neven jagen. Er hat seinen Schwarm verraten, und wenn Setaria nur den leisesten Verdacht schöpft, wieso, ist es bloß eine Frage der Zeit, bis sie die beiden findet und …«

Ich schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Ich zitterte. Allein der Gedanke, man könnte Grace töten, schnürte mir die Kehle zu.

»Ich kann niemanden vor den Nox verstecken«, sagte Shen. »Wenn du mich darum bittest, muss ich dich enttäuschen.«

»Das ist es nicht. Ich will nur wissen, dass es ihnen gut geht. Dass Grace und ihr Baby am Leben sind, mehr nicht. Ich kann nicht bei ihnen sein, aber wenn ich dir einen Teil meiner Seele gebe, dann kannst du es an meiner Stelle. Ich wüsste, dass alles okay ist, ohne dass ich sie in Gefahr bringe.«

»Sie ist dir so wichtig?«

Mein Wangen glühten. Fest presste ich die Lippen zusammen und nickte. Ich vermisste sie. Und die Ungewissheit, ob sie noch am Leben war, war tausendmal schlimmer als das Loch in meiner Brust.

Shen stellte den halb leeren Eisbecher beiseite und kam über den Beckenrand auf mich zu. Ich hielt still, als sie die Pranken ausstreckte und ihre kleinen Krallen sich in meinen Arm bohrten. Ihre goldenen Augen, konzentriert auf mich gerichtet, leuchteten, als sie ihre Magie erweckte.

Mein Kopf kippte nach hinten und das Badezimmer verschwamm. Ich wurde mitgerissen, als wäre ich ein loses Blatt in einem Fluss aus purer Magie. Energie flutete meinen Geist, durchdrang mich wie Wasser einen Schwamm und fegte jede Mauer, die ich um mein Herz errichtet hatte, nieder. Die Erinnerungen an Grace rasten wie im Zeitraffer durch meinen Kopf und jedes Bild trieb den Stachel tiefer in meine Seele.

Ich liebe dich, Kane.

Du und ich für immer.

Es tut mir leid.

Neven und ich werden fortgehen.

Ich komme nicht zurück.

Hilf mir.

Hilf mir.

Hilf mir.

Keuchend sackte ich auf dem Stuhl zusammen, als Shen sich von mir löste.

»Deine Seele ist rein«, flüsterte sie. »Wenn du mir dein Herz gibst, wird sie nie wieder dieselbe sein.«

»Das weiß ich«, erwiderte ich.

»Du bist dir absolut sicher?«

»Ja. Beschütze Grace und Regan. Sie darf nie erfahren, was sie ist. Versprich es mir.«

Shen musterte mich und runzelte nachdenklich die Stirn.

Es gab verschiedene Legenden über Vereinbarungen mit Drachen. Einige besagten, dass sie einem die Wohnung fluteten, wenn man sie für einen niederen Gefallen beschwor, andere, dass sie Sirenen töteten, deren Bitte nicht würdig war. Doch in einer Sache stimmten sie alle überein: Ließ sich der Wasserdrache auf den Deal ein, war es ein bindender Vertrag über den Tod hinaus. Selbst wenn ich starb, musste Shen ihr Versprechen halten.

»Du kennst die Siegelbrecher-Legende und du weißt, was Regan ist«, sagte Shen. »Sie kann alle in Gefahr bringen, sich selbst eingeschlossen, genauso wie dich. Willst du das wirklich riskieren?«

»Das will ich.«

Ich hatte meine Entscheidung längst getroffen.

Shen durchbohrte mich ein letztes Mal mit ihrem Blick, suchte nach Zweifeln, die sie jedoch nicht fand.

»Einverstanden.«

Sie zog eine Kralle über die Handfläche ihrer Pranke. Blaues Blut quoll aus dem Schnitt hervor. Dann griff sie nach meiner Hand und tat dasselbe mit meiner. Wortlos presste sie ihre Wunde auf meine, die Magie in ihrem Blut verband sich mit meiner und machte ihr Versprechen geltend.

Ihre goldenen Augen leuchteten, als sie erwartungsvoll den Blick auf mich richtete und ihre Hand von mir löste. Nun musste ich meinen Teil der Abmachung erfüllen.

Blut für Blut.

Versprechen für Versprechen.

Ich hatte nie erlebt, wie jemand einen Teil seiner Seele abspaltete. Das letzte Mal war fast hundert Jahre her. Allein mir die Informationen darüber zu beschaffen, dass es überhaupt möglich war, hatte mich fast zwei Monate gekostet.

»Nimm die Schale«, wies Shen mich an. »Leg etwas hinein, das dich und Grace verbindet. Füge die Algen und das Meersalz hinzu, mit deren Hilfe du mich gerufen hast. Am Ende versiegeln wir es mit unserem Blut.«

»Das ist alles?«

»Magie muss nicht kompliziert sein, um zu wirken.«

Ich zögerte kurz, dann griff ich in meine Jeans und zog den Brief hervor, den Grace mir gegeben hatte, als wir uns das letzte Mal sahen. Ich kannte ihn auswendig, jede Zeile, jedes Wort, geschrieben in ihrer geschwungenen Handschrift. Seit sie fort war, trug ich ihn immer bei mir. Mit zitternden Fingern legte ich ihn in die Schale und gab die anderen Zutaten dazu, zum Schluss noch ein paar Tropfen meines Blutes. Shen schnaubte.

»Alles muss von deinem Blut bedeckt sein. Es ist deine Seele, die du mir versprochen hast, Kane Hudson. Nicht mehr und nicht weniger.«

Ich biss die Zähne zusammen, schob meinen Ärmel hoch und griff nach dem Messer, mit dem ich vorhin die Algen zerteilt hatte. Unterhalb meines Ellenbogens schnitt ich mir ins Fleisch. Fest ballte ich meine Hand zur Faust und sah zu, wie das Blut in einem Rinnsal den Arm hinabfloss und in die Schale tropfte. Bei dem Anblick wurde mir schwindelig, doch ich hielt durch, bis sie randvoll war.

Shen fing an zu summen und die Oberfläche des Blutes vibrierte. Sie sang eine Melodie, die ich noch nie zuvor gehört hatte und die gleichzeitig in jeden Winkel meiner Seele hallte. Bevor ich es realisierte, hatte sie sich bei mir eingeklinkt.

Keuchend beobachtete ich, wie das verzweigte Netz aus Adern unter meiner Haut aufleuchtete. Kühl wie Gischt glitt Shens Magie meine Arme entlang und kribbelte in meinen Beinen, strich über meine Lenden und wanderte den Rücken Wirbel für Wirbel hinauf. Von beiden Seiten zog sie sich über meine Rippen, erfüllte meine Brust und erreichte nach wenigen Sekunden mein Herz.

Ich zuckte zusammen, als sie ihre Macht wie einen Anker darin versenkte. Immer tiefer grub sie sich in meine Seele, wühlte in ihr, stülpte mein Innerstes nach außen. Meine eigene Magie kochte und drückte gegen die Wände, als wollte sie vor ihr fliehen. Dann beendete Shen ihre Suche so abrupt, wie sie sie begonnen hatte.

Sie hatte mein Herz gefunden.

Wie warme Finger berührte sie etwas in mir. Etwas mit scharfen Kanten und rauen Oberflächen, die eigentlich perfekt ineinandergreifen sollten. Ich sank zu Boden, prallte mit den Knien auf die Fliesen und war nicht mal fähig zu schreien, als die Finger sich um das bisschen schlossen, was von meinem Herzen noch übrig war. Es war, als würde sie über jeden einzelnen Nerv reiben und ihnen die tiefsten Höllenqualen entlocken. Es war grausam, und doch kämpfte sich ein Lächeln auf meine Lippen, als Shen ihre Magie um diesen Teil schlang und ihn mit einem Ruck von meiner Seele abspaltete.

Heißer Schmerz versengte mich. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich mich selbst auf dem Badezimmerboden liegen. Meine fahle Haut glänzte, und mein dunkles Haar stand in alle Richtungen ab. Mein Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell. Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war ich zurück in meinem Körper.

Shen saß nach wie vor auf dem Rand des Waschbeckens. Ein goldener Schimmer umgab sie, als würde sie von innen heraus leuchten.

»Ich spüre sie«, sagte sie. »Grace.«

Ich wartete darauf, dass sich mein Herz zusammenzog, doch nichts geschah. Dieses quälende Etwas, das es kaum ertragen hatte, ihren Namen zu hören, war taub. Ich wusste, wer sie war und dass ich sie liebte. Doch ich spürte es nicht mehr.

Keine Liebe, keine Sehnsucht.

Ich spürte nichts.

Der Schmerz war weg, genau wie Grace.

»Ich finde sie, Kane Hudson, und ich werde sie beschützen«, sagte Shen und drückte zum Abschied meine Hand.

Dann sprang sie ins Waschbecken und verschwand mit einem lauten BLOP-FLITCH.

1  Regan

Das Blut rauschte in meinen Ohren. Wie paralysiert starrte ich auf die Adern, die sich unter meiner Haut abzeichneten. Noch vor wenigen Stunden hatten sie hellblau geleuchtet, doch nun hatte sich Violett hineingemischt und offenbarte die Wahrheit: Ich war halb Artaga, halb Nox. Ich war der Schlüssel, der das Siegel, das die Macht der sieben Weltmeere verschloss, brechen konnte. Und wenn jemand davon erfuhr, war ich tot.

Kleine Pranken rüttelten an meinem Arm und rissen mich aus meinen Gedanken. Als ich den Kopf hob, sah ich in Shens goldene Augen.

»Du kannst nicht hierbleiben«, sagte sie.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch da traf mich die nächste Welle aus Schatten, die sich wie Parasiten in mir ausbreiteten. Shen rutschte von meinen Knien, als ich mich aufbäumte.

Ich kauerte am Boden und wartete, bis die Welle ausrollte, atmete. Und wusste, dass Shen recht hatte.

Ich musste hier weg.

Sofort.

Grimmig lachte ich auf. Es war egal, dass mir das Leben wieder den Mittelfinger zeigte oder wie unfair es war. Mein Leben war kein Disney-Film mit Happy End.

Noch vor einer Stunde hatte ich mit Penn getanzt und die Welt war in Ordnung gewesen. Ich hatte eine Zukunft gehabt, ein Zuhause, Liebe. Wie hatte ich nur glauben können, es wäre von Dauer?

Es kostete mich alle Kraft, aufzustehen. Shen sprang aufs Bett, als ich meinen Rucksack darunter hervorzerrte und die Plastiktüte, in der ich meinen Pass und etwas Geld aufbewahrte, hineinstopfte. Dann lief ich ins Bad.

Wenn ich so nach draußen ging, würden die anderen sofort merken, dass etwas nicht stimmte. Also kämmte ich mich und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Lavendelblaue Augen blickten mir aus dem Spiegel entgegen, und ich rang die Panik nieder.

Ruhig bleiben.

Kein Aufsehen erregen.

Raus hier.

Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Shen saß neben dem Rucksack. Ihr schmaler Körper vibrierte.

Ein Teil von mir wollte sie anschreien. Sie hatte zugesehen, wie ich mich auf die Artaga einließ, obwohl sie mich hätte warnen können. Aber das hatte sie nicht getan. Gleichzeitig war sie alles, was ich hatte. Wo auch immer ich morgen früh aufwachte, würde sie da sein. Also schluckte ich meine Wut hinunter und schlüpfte in meine Docs.

»Gehen wir«, presste ich hervor und öffnete meinen Rucksack.

»Ich kann doch …«

»Nein«, hielt ich sie auf, als sie sich in Richtung Bad davonmachen wollte. »Den Teufel wirst du tun, dich jetzt in die Rohre zu verdrücken. Rein mit dir.«

Shen zögerte. Dann nickte sie und kletterte hinein.

Ich verknotete die Bänder, schwang mir den Rucksack auf den Rücken und ging zur Wohnungstür. Vorsichtig legte ich ein Ohr an das kühle Holz und lauschte. Stille. Als ich sie öffnete, war der Flur leer. Das Deckenlicht sprang automatisch an, und ich hörte den Bass, der aus dem Sailsman nach oben drang. Carlos, Penny, Dylan, Scarlett und Penn schienen immer noch ausgelassen zu feiern.

Tränen brannten in meinen Augen. Die Luft war rein, eine bessere Gelegenheit würde ich nicht bekommen. Mit etwas Glück hatte ich eine knappe Stunde, bevor Penn wie verabredet auftauchte und merkte, dass ich fort war.

Er durfte nie erfahren, was ich war. Er war der Prinz der Artaga und es war seine Pflicht, den Schwarm zu schützen. Auch vor mir. Ich wusste, dass er mich liebte. Aber wenn er die Wahrheit erfuhr, blieb ihm keine Wahl: Dann musste er mich töten. Das konnte ich nicht riskieren. Noch schlimmer, als wieder ein Leben auf der Flucht zu führen und Penn nie wieder zu sehen, war nur der Gedanke, dass er gezwungen wäre, mein Leben zu beenden. Das würde ich ihm nicht antun.

Ich lief den Flur hinunter und ignorierte das Kribbeln, das sich meine Beine entlangzog. Lieber wäre ich gerannt, doch das hätte nur Aufmerksamkeit erregt, sollte jemand meinen Weg kreuzen. Wenigstens standen nicht mehr alle paar Meter Wächter bereit. Auch sie hatten anscheinend zur Feier des Tages frei.

Unbemerkt gelangte ich ins erste Lager und erreichte die Treppe, die zum Geheimgang der Grotte führte. Erst als ich das Ende der Treppe hinter mir gelassen hatte und die marmorne Wand erreichte, die meinen Weg nach draußen markierte, hielt ich inne.

Für einen Moment stand die Zeit still.

Wenn ich jetzt rausging, war alles vorbei. Ich würde Penn nie wiedersehen, nie wieder mit ihm reden, nie wieder …

Verdammt, konzentrier dich!

Ich biss die Zähne zusammen, streckte den Arm aus und stellte mir die gebrochene Unendlichkeit vor. Das Zeichen der Artaga, das auch in Mums Anhänger geprägt war, der an der Kette um meinen Hals hing. Meine Handfläche kribbelte, und ich spürte einen Sog, als würde sie magnetisch von der Wand angezogen. Ich hielt dagegen, verband mich mit der Magie, die den Zugang schützte und sah dabei zu, wie sich feine, türkisblaue Linien vom weißen Stein abhoben und meinen Bewegungen folgten. Die Magie in meinen Adern wirbelte umher und ich fing an zu schwitzen. Das Schutzsiegel schien die Schatten zu wittern, die in mir tobten. Endlich setzte sich die gebrochene Unendlichkeit zusammen. Die Wand glitt auf und ich betrat das schwarz gekachelte Männerklo.

Der Gestank nach Urin und Schimmel drang in meine Nase. Hinter mir raschelte es und ich sah über die Schulter. Die Wand hatte sich wieder geschlossen.

Vielleicht war es besser so.

»Solltest du nicht auf der Party sein?«

Ich schnellte herum. Phil hatte sich über das Drehkreuz gebeugt, durch das man nach draußen gelangte.

Verdammter Mist. Ihn hatte ich vollkommen vergessen.

Ruhig bleiben, ermahnte ich mich.

»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, sagte ich.

»Jemand muss die Grotte bewachen. Was ist deine Ausrede?«

»Ich wollte nur frische Luft schnappen.«

»Soweit ich weiß, darfst du nicht alleine raus.«

Das Herz schlug mir so brutal in der Brust, dass ich sicher war, dass Phil es hörte. Es lagen nur wenige Meter zwischen uns. Sofort senkte ich den Blick. Er durfte meine Augen auf keinen Fall sehen.

»Das Ritual ist doch vorbei«, sagte ich.

»Sorry, Regan. Solange der König keine neuen Anweisungen gibt, kann ich da leider nichts machen.«

»Nur fünf Minuten. Ich bin sofort wieder da, versprochen.«

Ich zwang mir ein Lächeln ins Gesicht und schob mich durchs Drehkreuz. Das Neonlicht über uns flackerte. Als ich auf Phils Höhe war, packte er mich am Arm.

»Sag mal, ist alles okay?«

»Wahrscheinlich ein paar Drinks zu viel«, murmelte ich.

»Schau mich an, Regan.«

»Mir geht’s gut. Mach dir keine Sorgen.«

»Deine Augen sind …«

Ehe er den Satz zu Ende sprechen konnte, stürzte ich mich auf ihn und holte aus. Doch ich hatte die Rechnung ohne seine Reflexe gemacht. Die Reflexe eines Wächters, der einen Nox-Angriff überlebt hatte.

Phil ging zu Boden, rollte sich ab und nahm den Schwung mit, bevor er wieder auf die Beine kam. Ich duckte mich unter seinem Arm weg, zog die Schulter hoch und blockte seinen Schlag. Im Gegenzug rammte ich ihm den Ellbogen in den Magen. Keuchend machte er einen Satz zurück, drehte sich und setzte zum Roundhouse-Kick an, doch das wochenlange Training hatte meine Sinne geschärft. Statt auszuweichen, packte ich seinen Knöchel und zog daran. Für einen Moment brachte ich ihn aus dem Gleichgewicht, und der reichte mir.

Mit der Faust erwischte ich ihn an der Schläfe. Phil taumelte, ich trat ihm die Beine weg und er fiel zu Boden. Sofort war ich über ihm, die Hände an seiner Kehle.

»Hast du den Verstand verloren?«, röchelte er und wehrte sich nach Leibeskräften. Erst als sich unsere Blicke trafen, hielt er inne. Seine Pupillen weiteten sich, als er erkannte, dass meine Augen sich verändert hatten. Ich wartete nicht, bis er eins und eins zusammenzählte. Die Schatten züngelten hoch, leckten an meinem Bewusstsein und trieben mich an, es zu Ende zu bringen. Ich wollte Phil nicht wehtun, doch die Angst war übermächtig. Ich hatte keine Wahl.

»Es tut mir so leid«, flüsterte ich.

Phil riss die Augen auf, als ich fester zudrückte. Rote Flecken erschienen auf seinem Hals und kleine Äderchen platzten in seinen Augen. Ich schluchzte, doch ich wagte es nicht, nachzulassen.

Endlich flatterten seine Lider. Das Strampeln unter mir wurde schwächer, und sein Kopf fiel zur Seite, als er das Bewusstsein verlor.

Zitternd löste ich meinen Griff und drückte zwei Finger an seine Halsschlagader. Der Puls war schwach, aber da.

Wie lange hatte der Kampf gedauert. Fünf Minuten? Oder länger?

Ich zwang mich, aufzustehen, drehte mich auf dem Absatz um und stürmte an Phils reglosem Körper vorbei die Treppe hoch. Oben angekommen, lief ich die Parker Street entlang und über den Kingsway zur Underground. Meine Lunge brannte, als ich in die Piccadilly Line sprang und sich gleich darauf die Türen hinter mir schlossen. Die Bahn fuhr direkt zum Flughafen nach Heathrow.

Da das Abteil so gut wie leer war, öffnete ich den Rucksack ein wenig und sah nach Shen. Sie war während des Kampfes ordentlich durchgeschüttelt worden, aber es ging ihr gut.

Was ich von mir nicht behaupten konnte.

Ich wusste, was die letzten Minuten passiert war, aber ich begriff es nicht. Vor ein paar Stunden war alles noch okay gewesen. Das Ritual war geschafft, wir hatten gefeiert und ich hatte ein Zuhause gehabt. Plötzlich war alles weg.

Noch ehe ich am Flughafen ankam, klingelte mein Handy. Weitere Anrufe folgten, als ich im Flughafenhotel eincheckte. Auch Penns Chat erschien auf meinem Sperrbildschirm.

Samstag, 02:34 Uhr

PrinceCharming: Wo bist du? Bei dir macht niemand auf.

Samstag, 02:42 Uhr

PrinceCharming: Geht es dir gut? Verflucht, geh an dein Handy!

Samstag, 02:47 Uhr

PrinceCharming: Fuck, Regan, was ist passiert? Phil wurde angegriffen, er behauptet, du seist das gewesen.

Samstag, 02:51 Uhr

PrinceCharming: Egal, was los ist, wir kriegen das wieder hin, okay? Ich liebe dich, Mare. Sag mir nur, wo du bist.

Online suchte ich nach dem frühesten Flug, der mich aus London wegbrachte. Es war ein schlechter Scherz des Universums, dass dieser ausgerechnet nach New York City ging, pünktlich morgen früh um sechs Uhr. Trotzdem buchte ich ein Ticket und stellte mir den Wecker, auch wenn ich nicht davon ausging, ein Auge zuzumachen. Rastlos wälzte ich mich hin und her, das Flüstern der Schatten die mit kalten Klauen mein Herz umfassten, hielt mich wach.

»Warum ist das passiert?«, fragte ich Shen, die neben mir auf dem Bett lag.

»Vielleicht sollten wir morgen darüber reden.«

»Nein, jetzt«, bestimmte ich. »Wieso haben Mum und Dad mich belogen? Was hat Kane mit alldem zu tun?«

Wenn mein Leben schon in sich zusammenbrach, wollte ich wenigstens den Grund dafür kennen.

Shen seufzte schwer, dann erzählte sie mir alles. Von Kane und Mum. Dass sie ihn verlassen und er nie aufgehört hatte, sie zu lieben. Dass er Shen für ihr Versprechen, auf uns aufzupassen, ein Stück seiner Seele gegeben hatte und dass seine Seele immer noch ein Teil von ihr war. Kane war der Grund, wieso Shen zu meiner Familie geworden war, nachdem die Nox Mum und Dad getötet hatten. Sie hielt ihr Versprechen nach wie vor. Auch nachdem Kane, bei dem Versuch, mich vor der Wahrheit zu schützen, die mich jetzt einholte, gestorben war. Ein neuer Name auf meiner Liste.

Mum.

Dad.

Isla.

Kane.

Ich fragte mich, wie lang sie noch werden würde, bevor mein eigener darauf landete.

Ich rannte durch dunkle Gassen, dann plötzlich durch einen dichten Wald. Dad schrie, ich solle schneller laufen, er sei direkt hinter mir. Dunkle Gestalten lugten hinter den Bäumen hervor, deren violette Augen in den Schatten aufblitzten. Ich schaute zurück, um mich zu vergewissern, dass Dad nachkam, nur um in ein leeres endloses Nichts zu sehen. Als ich mich wieder nach vorne drehte, war der Wald verschwunden und ich stand Isla gegenüber, ihr Gesicht war blutüberströmt. Sie brach zusammen und ein ohrenbetäubender Schrei zerriss die Luft. Panisch drehte ich mich im Kreis, rief um Hilfe und sah Kane, die Brust von einem Dolch durchbohrt. Alles um mich herum zerbarst, als wären die Wände aus Glas. Bebend sank ich auf die Knie und sah Mum im Boden gespiegelt. Ich streckte die Hand nach ihr aus, da brach auch dieser unter mir entzwei. Der Riss spaltete ihr Gesicht in zwei Hälften. Violette Schatten drangen aus dem Abgrund wie dichter Nebel. Ich wollte schreien, doch es kam kein Laut aus meiner Kehle, als mich der Nebel in die Tiefe zog und ich fiel …

Fiel …

Fiel …

Keuchend schreckte ich auf. Ich war schweißgebadet und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Dann fiel mir alles wieder ein.

Die Wahrheit über Dad.

Meine Flucht.

Offenbar war ich doch noch eingeschlafen. Seit Wochen hatte ich keine Albträume mehr gehabt, Penn hatte sie von mir ferngehalten. Doch jetzt waren sie zurück.

Draußen war es noch dunkel. Ich weckte Shen, machte mich fertig und verließ mein Zimmer. Ich war die Erste am Schalter, um mein Ticket nach New York zu bezahlen. Anschließend holte ich uns etwas zu essen und kaufte bei Boots blaue Kontaktlinsen. Nachdem ich sie mir auf der Toilette eingesetzt hatte, machte ich mich auf den Weg zum Gate. Keine Ahnung, welchen Trick Shen anwandte, um bei der Sicherheitskontrolle nicht entdeckt zu werden. Alles ging so problemlos vonstatten, dass ich beinahe das Gefühl hatte, London selbst wollte mich loswerden. Vielleicht stimmte das sogar. Meine Bilanz nach knapp drei Monaten in der Stadt: zwei Tote und ein gebrochenes Herz. Ich würde mich auch loswerden wollen.

Im Wartebereich vor dem Gate behielt ich die anderen Passagiere genau im Blick. Ein paar Familien, allein reisende Geschäftsleute, eine Gruppe Frauen, die mit den pinken Shirts sehr nach einem Junggesellinnenabschied aussah, und ein schwarzhaariger Typ mit Sonnenbrille und Bomberjacke, der etwas abseits saß und in sein Handy tippte. Keiner beachtete mich. Keiner hielt mich auf.

Penn hatte Jahre gebraucht, um mich zu finden. Ich hatte einen Vorsprung, und selbst wenn er wüsste, wo ich war, hatte ich Heathrow nicht zufällig gewählt. Der Flughafen war riesig und auch so früh am Morgen schon voller Menschen. Die Chance, dass er mich aufspürte, war gleich null.

Als das Boarding begann, erhob ich mich von meinem unbequemen Plastiksitz und schaltete ein letztes Mal mein Handy ein.

PrinceCharming

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Penn Evian♥

49 verpasste Anrufe.

Ich schluckte und öffnete den Chat. Sogar meine Finger waren taub. Ohne seine Nachrichten zu lesen, tippte ich.

Samstag, 05:29 Uhr

GoneGirl: Es geht mir gut, aber ich muss gehen. Mach dir keine Sorgen um mich und such nicht nach mir. Danke für alles. – Regan

Sofort färbten sich die beiden Häkchen blau. Drei Punkte zeigten an, dass Penn antwortete, aber ich las es nicht mehr. Mit zwei Klicks schaltete ich das Handy in den Flugmodus und warf es in einen Mülleimer, bevor ich meinen Weg zum Schalter fortsetzte.

Kurze Zeit später hoben wir ab, und ich sah die Stadt unter mit kleiner werden, bis sie schließlich unter den Wolken verschwand.

Der Flug dauerte etwa acht Stunden. Meine Sitznachbarin entpuppte sich als Glücksgriff. Sie war Einkäuferin für Bergdorf Goodman. Mit anderen Worten: Sie war reich. Nachdem ich mich bei ihr eingeklinkt hatte, gehörte ihre Kreditkarte samt Pin mir. Das würde mich die ersten Tage über Wasser halten.

Nach der Landung in New York besorgte ich mir als Erstes ein neues Handy inklusive SIM-Karte. Danach suchte ich mir einen Starbucks, bestellte einen Kaffee für mich und einen Muffin für Shen, den ich ihr in den Rucksack steckte.

Das Handy am Ladegerät, richtete ich es ein und suchte online nach Hotels. Ich wurde fündig und reservierte eine Suite im Four Seasons. Danke Bergdorf. Sollte ich doch verfolgt werden, würde man mich als Letztes in so einem Luxustempel vermuten. Anschließend kaufte ich mir einen Koffer, eine Tasche und neue Klamotten. Der Schein war alles. Meine alten, durchgeschwitzte Sachen und den Rucksack entsorgte ich am Flughafen, bevor ich mir ein Taxi nahm und dem Fahrer die Adresse des Hotels in Downtown nannte. Ich presste die Lippen zusammen, als New York an meinem Fenster vorbeizog. Alles hier war mir so vertraut. Die Menschen, die Gerüche, die Geräusche. Wie ein Schraubstock drückten die Erinnerungen meine Brust zusammen. Erst als wir den East River hinter uns gelassen hatten, holte ich wieder Luft.

Ich zahlte bar, griff nach meiner neuen Prada-Tasche und betrat das Four Seasons. Die Rezeptionistin war allein und ich nutzte die Gelegenheit, mich bei ihr einzuklinken. Ein paar Minuten später hatte sie meine Buchung um zwei Wochen verlängert und als bezahlt markiert. Sie lächelte, als sie mir die Schlüsselkarte aushändigte. Ich bedankte mich, stieg in den gläsernen Fahrstuhl und fuhr in den neunundvierzigsten Stock.

In der Suite kroch Shen dankbar aus der Tasche und schleppte sich ins Bad. So lange hatte sie es noch nie ohne Wasser aushalten müssen. Währenddessen schob ich die Glastüren auf und trat auf die Terrasse.

Die Sonne brannte vom blauen Himmel herab, New York zu meinen Füßen. Leichter Wind wehte mir ins Gesicht, spielte mit meinen Locken und kühlte meinen Nacken. Ich betrachtete die Wolkenkratzer, die Straßenschluchten, die kleinen Autos und die Menschen, die sich wie Ameisen durch das Schachbrettmuster der Stadt bewegten.

Meine Unterlippe zitterte. Ich kannte diese Linien, nicht nur weil ich Jahre meines Lebens hier verbracht hatte. Unzählige Male hatte ich die Tattoos auf Penns Haut mit meinen Händen und Lippen nachgezogen, sein Flüstern im Ohr, dass er mich liebte, seine Hände auf meinem Körper, die es manifestierten.

Meine Sicht verschwamm und ich krallte die Finger ums Geländer. Manhattan strahlte im Sommerlicht, während die Schatten in mir flüsterten. Damals, nach Islas Tod, hatte Penn mir gesagt, er würde mich nie allein lassen. Ich wusste, er hätte sein Versprechen gehalten.

2

Die ersten Tage blieb ich in der Suite. Während des Flugs hatte das Adrenalin die Schatten in Schach gehalten, doch mittlerweile waren sie zurück. Die fremde Energie pulsierte durch meinen Körper, mir war heiß und ich schwitzte, dann war mir wieder eiskalt, als hätte ich Schüttelfrost. Unter normalen Umständen wäre ich zum Arzt gegangen, aber ich konnte ja schlecht sagen, dass ich unter »magischem Fieber« litt.

Also ertrug ich es.

Zum Glück war die Suite so gut ausgestattet, dass es nicht nötig war, nach draußen zu gehen. Neben einem Wohn- und zwei Schlafzimmern gab es eine Toilette, ein luxuriöses Bad und einen Blick über Manhattan, den die meisten Leute nur aus Gossip Girl kannten. Dazu eine Minibar und einen Vierundzwanzig-Stunden-Roomservice. Für knapp neunhundert Dollar die Nacht konnte man das wohl auch erwarten.

Ich wünschte, es wäre genauso leicht gewesen, meine Gefühle zum Schweigen zu bringen. Obwohl ich wusste, dass ich nicht nach London zurückkehren konnte, hatte ich mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt. Es war, als hätte ich ein Stück von mir dort gelassen, an dessen Stelle nun eine eiternde Wunde klaffte. Ich fragte mich, ob Kane sich so gefühlt hatte, nachdem er Shen einen Teil seiner Seele überlassen hatte. Als wäre ihm nicht nur sein Herz, sondern auch die Lunge herausgerissen worden, sodass es ihm unmöglich war zu atmen. Vor ein paar Monaten hatte ich Penn nicht mal gekannt, und jetzt bereitete es mir körperliche Schmerzen, nicht bei ihm zu sein.

Als würden sie meine Angst wittern, zogen sich die Schatten jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, fester um mich zusammen wie ein Tentakel. Ich wünschte, ich hätte Penn erklären können, wieso ich gegangen war und dass es nichts mit ihm zu tun hatte.

Aber wir waren Vergangenheit.

Eine schöne Illusion, weiter nichts.

Ich würde ihn nie wiedersehen.

Am Ende meiner ersten Woche in New York hatten sich die Schatten endlich beruhigt. Ich fühlte mich so kraftlos und erschöpft wie nach einer schweren Grippe, doch die Fieberschübe hatten nachgelassen.

Ich saß in einem Korbsessel auf der Terrasse und scrollte mich durch die Angebote bei Airbnb. Die Kreditkarte der Bergdorf-Lady war inzwischen gesperrt, und die Rezeptionistin ein weiteres Mal zu manipulieren, war zu riskant, also musste eine billigere Unterkunft her.

Ich fand eine Ein-Zimmer-Wohnung in Midtown, Dachgeschoss, Barzahlung möglich. Ich schickte eine Anfrage ab, dann klickte ich auf eine Seite mit Stellenangeboten. Wie immer war es nicht schwer, eine Bar zu finden, die jemanden suchte. Jetzt musste ich nur noch auf die Antworten warten. Es war absurd, wie leicht ich zurück in meine alte Routine fand.

Ich steckte das Handy weg und hob den Kopf. Graue Wolken waren aufgezogen, vermutlich würde es heute noch regnen. In der Ferne sah ich die Brooklyn Bridge. Vielleicht war es Zeit, mich aus der Suite zu wagen. Nicht dass ich große Lust hatte, mich in das New Yorker Getümmel zu stürzen, aber ich konnte nicht ewig hier drin hocken. Außerdem musste ich mich noch um ein paar Dinge kümmern für den Fall, dass man mich suchte.

»Ich gehe in die Stadt«, sagte ich zu Shen, die im Wohnzimmer auf einem der samtbezogenen Sessel lag.

»Wo willst du hin?«

»Einkaufen und zum Friseur.« Ich schlüpfte in meine Schuhe und zog meine Jacke über. »Ich bin gegen Abend zurück. Brauchst du was?«

Sie schüttelte den Kopf.

Damit war unser Gespräch auch schon beendet.

Wir waren die letzten Tage umeinander herumgeschlichen. Ich war verletzt, weil sie mir nichts gesagt hatte, auch wenn ich verstand, wieso sie es nicht hatte tun können. Es würde noch eine Weile dauern, bis ich alles verdaut hatte, aber offenbar trug sie es mir nicht nach. Sie war hier. Und sie hatte mir versichert, dass sie bleiben würde, egal, wie lange ich brauchte.

Ich verließ die Suite und fuhr nach unten. Als ich aus dem Hotel trat, wurde ich sofort vom Strom der New Yorker absorbiert. Eine Weile lief ich ziellos durch die Straßen, bis ich an einem Friseursalon vorbeikam. Eineinhalb Stunden später war mein Haar weißblond gefärbt und zu einem schulterlangen Bob geschnitten. In einer Drogerie kaufte ich neue blaue Kontaktlinsen und klapperte anschließend die 5th Avenue ab, um mein neues Ich einzukleiden – Bergdorf ließ ich dabei vorsichtshalber aus. Mehr als Unterwäsche, ein paar Oberteile und eine Jeans zum Wechseln brauchte ich nicht. Kleider, die sagten: »Ich habe zwar eine Monatsmiete dafür ausgegeben, aber das ist mein neues Ich, mit dem ich New York im Sturm erobere.« So wie im Grunde jeder Möchtegern-New-Yorker aussah, der gerade in die Stadt gekommen war. Die Klamotten passten ohne Probleme in meine Handtasche.

Eigentlich war meine To-do-Liste damit abgehakt, doch ich kehrte noch nicht ins Hotel zurück. Je länger ich durch die Stadt lief, desto mehr sickerten die Erinnerungen an die Monate zu mir durch, die Mum, Dad und ich hier verbracht hatten. Wahrscheinlich war das unvermeidlich. Die Wolkenkratzer und Hotdog-Stände, die gelben Taxis und die Menschenmassen. New York war mein Zuhause gewesen, die letzte Station vor meinem Leben auf der Flucht.

Wie von selbst zog es mich Richtung Osten, bis ich die Brooklyn Bridge sah. Ein paar Minuten später saß ich auch schon in der Subway und überquerte den Hudson River.

Die Schatten regten sich stärker, je weiter wir uns der Station Myrtle Avenue näherten. Die Haltestelle, von der aus es nur wenige Minuten bis zu unserem Wohnblock waren. Routiniert behielt ich meine Umgebung im Blick. Eine Mutter mit Kind, ein paar Jugendliche, ein Kerl mit schwarzen Haaren und Sonnenbrille, ein Mann der in einer mir unbekannten Sprache übers Headset telefonierte. Niemand beachtete mich. Trotzdem waren meine Hände schweißnass.

Wir erreichten Myrtle Avenue und ich stieg aus. Auch wenn ich über fünf Jahre nicht hier gewesen war, erinnerte ich mich an den Weg, als wäre ich nie fort gewesen. Mein Herz schlug schneller, als ich das Café passierte, in dem ich mir morgens vor der Schule meinen Kaffee geholt hatte. Die kleinen Vorgärten, die Treppenaufgänge, alles war mir so vertraut.

Und dann war ich plötzlich da.

Das rote Backsteingebäude ragte hoch vor mir auf, die markante Feuerleiter hob sich im Zickzack davor ab. Auf der Treppe zur Tür standen mehrere bepflanzte Töpfe. Einer von ihnen hatte einen Sprung, weil ich mal aus Versehen dagegen gelaufen war. Er stand noch immer an derselben Stelle ganz oben.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich zum Fenster im dritten Stock sah, hinter dem unser Wohnzimmer gewesen war. Dort hatten die Nox meine Eltern ermordet. Dort war mein Leben das erste Mal auseinandergebrochen.

Kraftlos sackte Mum zusammen. Sie war tot, ehe sie auf dem Boden aufschlug. Da war Blut, überall Blut, das aus ihrem schmalen Körper quoll. Ich wollte zu ihr, doch Dads Griff war eisern, als er mich zur Feuerleiter schob.

»Lauf, Regan«, befahl er.

»Was ist mit Mum?«, wimmerte ich.

»Wir können nichts mehr für sie tun. Lauf so schnell du kannst und halt nicht an, ich bin direkt hinter dir.«

Ich war wie paralysiert, meine Sicht verschwamm, doch ich tat, was er sagte, rannte die Feuerleiter hinunter und hätte beinahe die letzte Stufe verfehlt. Ich warf einen Blick zurück, sah Dad, der noch immer oben war. Worauf wartete er? Aber ich durfte nicht anhalten, also rannte ich weiter. Dad würde nachkommen, er hatte es versprochen.

Doch er kam nicht. Egal, wie oft ich über die Schulter sah, er war nicht da. Am Ende unserer Straße angelangt, warf ich abermals einen Blick zurück. Ein violetter Blitz zuckte aus dem Fenster unserer Wohnung und wurde sofort von der Dunkelheit verschluckt.

Ich rannte weiter zur Subway, wusste, was das bedeutete. Ich spürte es in meiner Seele, in meinem Herzen und bis in die Knochen. Dad würde nicht mehr kommen.

Ich merkte nicht, wie meine Knie nachgaben. Plötzlich saß ich auf dem Bordstein und bekam keine Luft mehr. Es hatte angefangen zu regnen. Dicke Tropfen schlugen mir ins Gesicht, doch ich spürte sie nicht.

Seit dem Tod meiner Eltern war ich nicht mehr hier gewesen und ich sah alles vor mir. Jede Sekunde dieses Abends. Wie eine Schlinge zogen sich die Erinnerungen immer fester um meinen Hals zusammen und ließen mir kein Entkommen.

Es war deine Schuld.

Deine Schuld.

DEINESCHULD.

Ich hatte geglaubt, dass es eine gute Idee wäre, herzukommen. Dass es mich trösten würde, weil Mum, Dad und ich hier eine richtige Familie gewesen waren. Als würde ich dadurch auf einmal eine Erklärung dafür bekommen, warum das alles passierte. Warum das alles mir passierte. Aber wenn mir mein Ausflug eines zeigte, dann dass mein damaliges Leben eine Lüge gewesen war. Ich hatte mir etwas vorgemacht. Mum und Dad waren nicht mehr hier, sie waren tot, meinetwegen. Die ersten Namen auf einer Liste, die ich immer mit mir herumtrug. Und es würde so weitergehen, sollte ich es noch mal wagen, etwas anderes zu hoffen.

Mum.

Dad.

Isla.

Kane.

Die Adern an meinen Händen glommen lavendelblau und offenbarten die grausame Wahrheit. Offenbarten das Monster, das ich war.

»Hallo, geht es Ihnen gut?«

Erschrocken zuckte ich zusammen. Eine ältere Frau hatte sich zu mir heruntergebeugt, einen Schirm in der Hand, die grauen Brauen sorgenvoll hochgezogen.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Das Brodeln in meinen Adern wurde unerträglich. Die Schatten verdichteten sich, der Tentakel holte aus und knallte wie eine Peitsche an die Stelle, wo ihre Finger meine Schulter berührten. Violettes Licht blitzte auf, die Frau taumelte zurück und fiel. Klappernd landete der Schirm neben ihr auf der Straße.

»Tut mir leid«, stammelte ich und stemmte mich hoch. »Das … das wollte ich nicht.«

»Was war das?«, hauchte sie und sah erst ihre Hand, dann mich fassungslos an.

Ohne nachzudenken, ging ich zu ihr und klinkte mich bei ihr ein. Ein lavendelblauer Schimmer legte sich über ihre Augen.

»Sie haben mich nie gesehen. Sie waren spazieren, wurden vom Regen überrascht und sind ausgerutscht, aber Ihnen ist nichts passiert. Gehen Sie nach Hause.«

Sie blinzelte und der lavendelblaue Schimmer verschwand. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, stand sie auf und hob ihren Schirm auf. Ein paar Sekunden später war sie um die nächste Ecke verschwunden.

Ich rannte in die entgegengesetzte Richtung zurück zur Subway. Doch es war egal, wie schnell ich lief, die Schatten begleiteten mich bei jedem Schritt. Der Tentakel hatte sich fest um mein Innerstes geschlungen, sich an mir festgesaugt und trieb die Dunkelheit in jeden Winkel meiner Seele.

Ich habe die Frau angegriffen.

Sie wollte mir nur helfen.

Was passiert mit mir?

In der Nähe der Subway-Station entdeckte ich eine öffentliche Toilette und hielt direkt darauf zu. Meine Hände zitterten so stark, dass ich die Münze erst im dritten Versuch in den Schlitz bekam. Laut schluchzte ich auf, als ich die Tür endlich hinter mir schloss. Doch Erleichterung stellte sich nicht ein.

Ich wollte, dass meine Eltern hier waren und mir alles erklärten. Ich vermisste Penn und sein Versprechen, dass alles gut werden würde. Ich wollte ein normales Leben führen. Ich wünschte mir, irgendwo zu Hause zu sein. Doch meine bloße Existenz machte das unmöglich.

Wieso ich?

Wieso verdammt noch mal ich?

Meine lavendelfarben leuchtenden Adern verhöhnten mich, schrien mich an, dass es egal war, wie schnell ich rannte, wie weit ich floh oder wo ich mich versteckte. Die Welt scherte sich einen Dreck um mich. Fressen oder gefressen werden – und ich wurde mit Haut und Haar verschlungen.

Ich zuckte zusammen, als jemand gegen die Tür hämmerte.

»Besetzt!«

»Bitte, es ist dringend«, rief eine männliche Stimme.

»BESETZT!«, brüllte ich.

Eine violette Druckwelle ging von mir aus und schlug gegen die Wände. Der Spiegel splitterte, Kacheln lösten sich und Funken sprühten, als die Neonröhre explodierte. Sogar der Regen auf dem Dach verstummte einen Augenblick. Nur das violette Licht meiner Adern, das langsam wieder zu Lavendelblau wurde, durchbrach die Dunkelheit.

Ich hätte nicht herkommen sollen. Das hier war wieder einmal der Beweis, wie gut ich darin war, die falschen Entscheidungen zu treffen. Ich hätte meine Eltern nicht bitten sollen, in New York zu bleiben. Ich hätte nie nach London gehen dürfen. Ich hätte den Artaga nicht helfen sollen. Ich hätte nie am Ritual teilnehmen dürfen, nicht nachdem Kane versucht hatte, mich daran zu hindern, und dabei gestorben war. Ich hätte mich nie in Penn verlieben dürfen. Ich hätte nie glauben dürfen, eine Wahl zu haben, denn die hatte ich nicht.

Es dämmerte bereits, als ich die Toilette verließ und die letzten Meter zur Subway zurücklegte. Der Himmel klarte auf, als wir über die Brooklyn Bridge fuhren. In Manhattan angekommen, fuhr ich mit dem Taxi ins Four Seasons und stieg Sekunden später in den Fahrstuhl. Mit jedem Meter sickerte mehr Energie aus meinem Körper. Als sich die Türen endlich öffneten, stolperte ich mehr aus der Kabine, als dass ich ging. Zum Glück war niemand auf dem Flur.

Shen kam sofort angelaufen, als ich die Suite betrat, und blieb genauso schnell stehen. Sie schien mir vom Gesicht abzulesen, dass etwas nicht stimmte. Ich setzte mich auf den Boden und erzählte ihr von meinem Besuch in Brooklyn, von der Frau, die ich versehentlich angegriffen hatte und dem Moment, als ich von den Schatten überwältigt worden war.

Shen rollte sich in meinen Schoß zusammen und hörte zu. Sie war da. Sie würde immer da sein. Und ich brauchte sie mehr denn je.

»Kannst du mir helfen?«, fragte ich. »Ich will nicht, dass das wieder passiert. Ich kann das nicht, Shen.«

»Man kann Magie versiegeln, aber ich kann es nur mit artagischer. Gegen Schattenkraft bin ich machtlos.«

»Und was soll ich jetzt tun?«

»Vielleicht kannst du lernen, sie zu kontrollieren.«

»Und wenn nicht?«

»Du kannst es«, widersprach Shen. »Du bist schließlich meine Regan.«

Kurz zuckte ein Lächeln an meinen Mundwinkeln, doch es ging so schnell, wie es gekommen war.

Wann würde es endlich genug sein? Wann würde sich das Schicksal einen neuen Spielball suchen und mich zufriedenlassen?

Frustriert zog ich mich hoch und hob Shen auf eines der opulenten Sofas. Noch in Schuhen und Jacke goss ich mir einen Whiskey aus der Minibar ein und stürzte das Glas in einem Zug hinunter.

Alkohol würde die Schatten nicht vertreiben. Ich hatte keinen Schimmer, wie ich sie kontrollieren sollte. Allein beim Gedanken daran stellten sich mir die Nackenhaare auf. Aber ich konnte sie betäuben, zumindest für eine Weile. So wie ich die Panik betäubt hatte, nachdem Penn und sein Vater mir eröffnet hatten, was es mit dem Ritual auf sich hatte.

»Ich bin kein Whiskey-Mädchen.«

Penn seufzte, schraubte den Verschluss ab und trank selbst einen Schluck, als wollte er mir beweisen, dass kein Gift drin war. Dann hielt er mir den Flachmann abermals hin. Diesmal nahm ich ihn und setzte ihn an die Lippen. Der Alkohol brannte in meiner Kehle, und wieder einmal stellte ich fest, dass mir Whiskey absolut nicht schmeckte.

»Deine Mum hatte sicher ihre Gründe, dir nichts zu erzählen«, meinte Penn, als er den Flachmann wieder einsteckte.

»Wage es nicht, mir zu sagen, was meine Mum dachte oder nicht«, fauchte ich. »Du kanntest sie nicht.«

»Ich weiß. Tut mir leid.«

Hatte ich Mum überhaupt gekannt? Und Dad?

Wie auch immer. Penn war nicht hier. Er konnte mir nicht helfen, und auch sonst keiner. Shen und ich waren wieder einmal auf uns alleine gestellt. Und so würde es immer bleiben.

3

»Noch zwei Long Island Iced Tea.«

»Kommen sofort.«

Mit geübtem Griff schnappte ich mir die Gläser und machte mich ans Mixen der Drinks.

Die Juniper Bar war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Gäste tummelten sich auf den Stühlen an der Bar und drängten sich um die Tische im Gastraum, während leiser R’n’B aus den unsichtbaren Boxen in der Decke drang. Ich gab Eiswürfel zu den Spirituosen ins Glas, füllte es mit Cola auf und schob die Cocktails zu den beiden Männern mir gegenüber.

»Du bist schnell«, bemerkte Nole, der Typ, der mich einarbeitete. »Wie lange bist du schon Barkeeperin?«

»Seit ich denken kann«, antwortete ich und rang mir ein Lächeln ab. »Und selbst?«

»Seit zwei Jahren. Ist nur ein Job neben der Uni, mich zieht’s eher an die Wallstreet.«

Ich musterte ihn. Blonde Haare, freundliches Lächeln, ein leichter Bartschatten auf Wangen und Kinn. Eigentlich genau mein Typ, doch die toten Schmetterlinge in meinem Bauch regten sich keinen Millimeter. Offenbar war ich nicht die Art Frau, die sich einen neuen Kerl schnappte, um über ihren Ex hinwegzukommen. Allein bei dem Gedanken daran, drehte sich mir der Magen um.

Am Morgen war ich mit einem gewaltigen Kater aufgewacht. Mein Kopf hatte sich angefühlt, als wäre ich nicht nur einmal gegen eine Wand gelaufen, aber wenigstens hatten sich die Schatten beruhigt. Der Tentakel war da, ich spürte ihn, doch der Alkohol schien ihn schachmatt gesetzt zu haben. Also hatte ich mir eine Aspirin eingeworfen und war wie geplant zum Probearbeiten gegangen. Ich wusste nicht, wie lange ich in New York bleiben würde. Nach dem Vorfall in Brooklyn spielte ich mit dem Gedanken, früher als geplant abzureisen. Wenigstens lenkte mich die Arbeit ein wenig ab.

»Hey, Pfoten weg!«

Und schon war es mit der Ruhe vorbei.

Ein paar Frauen standen an der Ecke des Tresens. Ich hatte ihnen vor ein paar Minuten ihre Drinks serviert. Abwehrend hatte eine von ihnen die Hände vor die Brust gehoben und hielt den Mann auf Abstand, der sich vor ihr und ihren Freundinnen aufgebaut hatte. Er war muskulös, hatte schwarze Haare und die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt. Zahlreiche Tattoos zierten seine Arme. Er war sturzbetrunken.

»Stell dich nicht so an«, lallte er und ließ den Blick anzüglich über ihre üppigen Kurven gleiten.

»Kein Interesse, verzieh dich!«

»Erst anflirten und dann einen auf Schwer-zu-Haben machen. Was ist denn los? Du stehst doch auf Kerle, oder?«

Das war mein Stichwort. Mit wenigen Schritten hatte ich die Ecke erreicht und trat hinterm Tresen hervor.

»Du gehst jetzt!«, blaffte ich ihn an.

»Wer, ich?«

»Ja, du. Raus, du hast Hausverbot!«

Der Typ lachte und richtete seine glasigen grauen Augen auf mich. »Mach lieber noch einen Knopf auf, dann bekommst du mehr Trinkgeld, Süße.«

Komm schon, Arschloch, gib mir einen Grund, dir eine Abreibung zu verpassen. Zum Glück war mein Verstand stärker.

»Ich sag’s nur noch einmal: Raus hier. Sonst ruf ich die Cops.«

»Dich hat auch lange keiner mehr rangenommen, oder?«

Seine Hand schnellte hervor und zielte auf meine Brust.

Das war genug. Ich packte sein Handgelenk und verdrehte es so weit, dass er vor mir in die Knie ging. Alles um mich herum verschwamm, bis auf den Kerl, der schmerzverzerrt das Gesicht verzog.

Es war bloß ein betrunkener Idiot, wie ich sie schon tausendfach bedient hatte. Trotzdem löste die Berührung etwas in mir aus, und ich sah rot. Ich verspürte eine Wut, die ich kaum bändigen konnte. Als hätte jemand Brandbeschleuniger in das gekippt, was sich die letzten Tage in mir aufgestaut hatte. Meine Schatten erwachten und zogen sich um den Kerl zusammen.

Wieso spielst du nicht ein bisschen Karma?, flüsterten sie. Wozu hast du sonst deine neuen Fähigkeiten, wenn du sie nicht nutzt?

Der Gedanke war verlockend. Wenn ich jemandem aus Versehen mit meiner neuen Kraft schaden konnte, was würde dann erst passierten, wenn ich sie absichtlich anwandte? Oder ich drehte sein Handgelenk nur ein paar Millimeter weiter, bis es …

Plötzlich packte mich jemand an der Schulter und zog mich von dem Typen weg. Die Hitze entlud sich in meinen Körper, als hätte ich eine gewischt bekommen, und ich löste den Griff. Die Geräusche um mich herum kehrten zurück und ich war wieder in der Bar. Ich nahm die Menschen wahr, hörte die Musik, die Gespräche, begegnete erstaunten Blicken. Der Kerl mit den Tattoos kniete immer noch vor mir. Sein Kopf war knallrot.

»Du gehst jetzt!«, bestimmte Nole, sah den Typen an und deutete mit einer Hand zum Ausgang.

»Fickt euch!«, spuckte er aus, stand auf und bahnte sich seinen Weg nach draußen. Den würden wir so schnell nicht wiedersehen.

»Willst du dich auch gleich als Türsteherin bewerben?«, fragte Nole. »Das war ziemlich beeindruckend.«

»Hab einen Selbstverteidigungskurs gemacht«, log ich und winkte ab. »Nichts Besonderes.«

Er schmunzelte und wandte sich an die Frauen neben uns. »Bei euch alles okay? Die nächste Runde geht natürlich aufs Haus.«

Ich kehrte hinter die Bar zurück und war froh, wieder einen Tresen zwischen mir und dem Rest der Welt zu haben. Mein Herz raste und ich versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war.

Mit einmal Mal hatte mich eine solche Wut erfasst, dass ich dem Typen nur noch wehtun wollte. Ja, er war ein sexistisches Arschloch, aber das war nicht der Grund, wieso ich ihm auf einmal das Handgelenk hatte brechen wollen. Die Schatten hatten mich dazu gedrängt wie ein lebendiges Wesen, das Streit suchte. Ich durfte kein Aufsehen erregen und das wäre beinahe gründlich nach hinten losgegangen.

Fahrig griff ich nach dem Shaker, um die Drinks zu mixen. Violett blitzte es in meinem Kopf auf, ich keuchte und ließ ihn fallen. Für ein, zwei lange Sekunden leuchteten die Adern an meinem Handgelenk lavendelblau, bevor sie genauso schnell wieder verblassten.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Nole und hob den Shaker auf.

»Nein, es geht schon«, versicherte ich ihm, kleisterte mir mein bestes falsches Lächeln ins Gesicht und stellte den schmutzigen Shaker in die Spüle.

Wie war das noch, mit dem Nicht-Auffallen, Regan?

Besser, ich suchte nach meiner Schicht nach Flügen. Je früher ich aus New York verschwand, desto besser.

Der Rest des Abends verlief ereignislos. Trotzdem dachte ich ununterbrochen an die Sache mit dem betrunkenen Typen. Wäre Nole nicht dazwischengegangen, hätte ich ihm das Handgelenk gebrochen, dessen war ich mir bewusst. Und es machte mir höllische Angst.

Shen hatte recht. Ich musste lernen, die Schatten zu beherrschen, und zwar so schnell wie möglich. Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.

Wie gerne hätte ich Penn angerufen, und ich hasste mich dafür. Seit er mich im Monarchy gefunden hatte, war er für mich da gewesen und hatte mich auf eine Weise verstanden, die nicht mal Shen zustande brachte. In den paar Wochen, die wir zusammen gewesen waren, hatte ich mich so daran gewöhnt, alles mit ihm zu teilen, und das fehlte mir. Er fehlte mir. Zum Glück hatte ich mein Handy in Heathrow entsorgt, um nicht in Versuchung zu kommen. Allein die Vorstellung, seine Stimme zu hören, schnürte mir die Kehle zu. Hoffentlich würde auch dieses Gefühl irgendwann nachlassen.

Der Abend neigte sich dem Ende zu. Als die letzten Gäste die Bar verlassen hatten, sperrte Nole ab, wir spülten die restlichen Gläser und brachten die Kassen in den Tresorraum. Es war fast Mitternacht, als wir uns auf den Heimweg machten.

Die Straßen von New York waren immer noch voller Menschen. Hinter vielen Fenstern der Wolkenkratzer brannte noch Licht. Die Stadt, die niemals schlief. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so einsam gefühlt hatte.

»Du bist gut«, meinte Nole. »Deine Drinks schmecken und du hast ein Auge für deine Umgebung. Jane wäre dumm, dich nicht einzustellen. Abgesehen davon gibt es dann endlich jemanden, mit dem ich mal eine Schicht tauschen kann.«

»Stets zu Diensten.«

»Wo musst du hin?«

»Downtown«, antwortete ich.

»Ich zur 18th Street. Wir können ein Stück zusammen gehen. Es ist ja schon spät.«

Schweigend liefen wir nebeneinanderher. Unter normalen Umständen hätte ich Nole mit einer Ausrede abgewimmelt, doch die Begegnung mit dem Typen vorhin steckte mir noch in den Knochen. Die Schatten in mir lauerten. Es war, als warteten sie bloß darauf, bis ich allein war und sie mich überwältigen konnten. Ein bisschen Gesellschaft würde mir guttun. Selbst wenn es bloß ein Spaziergang war.

Gut zehn Minuten später bogen wir in die 18th Street ein und blieben vor Noles Hauseingang stehen.

»Ich find’s toll, dass du bei uns arbeiten wirst«, meinte er. »Vielleicht hast du Lust, auch so mal etwas zu unternehmen?«

Vor ein paar Monaten wäre ich sofort darauf eingegangen. Nole sah gut aus, war charmant und eroberte mit seiner lockeren Art bestimmt die Herzen im Sturm. Doch bei mir regte sich immer noch nichts. Alles war wie leer gefegt. Anscheinend las er es mir vom Gesicht ab.

»Sorry, das war blöd.«

»Schon gut, es liegt nicht an dir. Ich habe nur gerade eine miese Trennung hinter mir.«

Die Untertreibung des Jahres. Auch wenn ich Penns Namen nicht erwähnte, zog sich alles in mir zusammen, und die Wunde, die sich nach wie vor nicht schließen wollte, pochte.

»Willst du drüber reden?«

»Nein, ich werde schon damit fertig.«

»Verstehe. Dann sehen wir uns morgen?«

»Ja, bis morgen«, erwiderte ich und wandte mich ab.

Er musste nicht wissen, dass ich schon im Flieger sitzen würde, wenn er seine nächste Schicht antrat.

Ich war noch nicht weit gekommen, als etwas hinter mir zu Boden rasselte. Erst wollte ich weitergehen, doch dann drehte ich mich um.

Nole stand vor dem Wohnhaus, eine Hand ausgestreckt, als würde er den Schlüssel noch halten, der zu seinen Füßen lag. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Doch statt der Worte kam nur ein Röcheln heraus. Sein Kopf wurde rot, und er spuckte Blut. Dann brach er zusammen.

»Nole!«

Ich lief zu ihm. Seine Stirn glühte, seine Haut war schweißbedeckt, der Atem ging flach. Was passierte mit ihm? Noch vor wenigen Sekunden war es ihm gut gegangen. Schnell zog ich mein Handy aus der Tasche, um den Notruf …

»Noch ein bisschen, dann ist er so weich gekocht, dass nicht mal eine Pfütze von ihm übrig ist.«