Sisters of the Sword - Die Magie unserer Herzen - Tricia Levenseller - E-Book

Sisters of the Sword - Die Magie unserer Herzen E-Book

Tricia Levenseller

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Beschreibung

Magische Schwerter, ein unschlagbares Quartett und eine gefährliche Quest

Die magisch begabte Ziva hat es geschafft, jenes mächtigste Schwert, das sie je geschaffen hat, vor der brutalen Kriegsherrin zu schützen. Doch der Preis, den sie und ihre Freunde dafür zahlen, ist hoch. Zivas geliebte Schwester Temra wurde beim Kampf um das Schwert schwer verletzt. Zusammen mit dem bezaubernden Söldner Kellyn und dem jungen Studenten Petrik befindet sie sich nun auf einem Wettlauf mit der Zeit. Denn nur, wenn sie eine sagenumwobene Heilerin aufspüren können, hat Temra eine Chance. Doch als ein machtgieriger Prinz sie gefangen nimmt, muss Ziva entscheiden, ob sie ihre Gabe missbrauchen darf, um das Leben ihrer Liebsten zu retten ...

Das grandiose Finale der Dilogie von der TikTok-Sensation und New-York-Times Bestsellerautorin von »The Shadows Between Us« und »Daughter of the Pirate King«: eine außergewöhnliche Heldin, großartige Actionszenen, funkensprühende Dialoge und eine fein gezeichnete Liebesgeschichte.

Die »Sisters of the Sword«-Dilogie:
Sisters of the Sword – Wie zwei Schneiden einer Klinge (Band 1)
Sisters of the Sword – Die Magie unserer Herzen (Band 2)

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Seitenzahl: 534

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Aus dem Amerikanischenvon Petra Koob-Pawis

Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die Produktion entstandenen CO2-Emissionen ausgeglichen, indem der cbj Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstützt.

Weitere Informationen zu dem Projekt unter:

www.ClimatePartner.com/14044-1912-1001 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Erstmals als cbt Taschenbuch Dezember 2022 

© 2022 Tricia Levenseller

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Master of Iron« bei Feiwel and Friends, einem Imprint der Macmillan Publishing Group LLC, New York

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Petra Koob-Pawis

Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, Inkcraft

unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock (Nimaxs; michelaubryphoto; TheStockLair; iiiphevgeniy; Alan Paulson Photography)

MP · Herstellung: UK

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28116-8V001 

www.cbj-verlag.de

Für meine Mitstreitenden, die Tag für Tag mit sozialen Ängsten zu kämpfen haben. Ihr seid wichtig. Ich nehme euch wahr. Kämpft weiter. Es wartet so viel Gutes auf euch.

KAPITEL EINS

Wir haben keine Zeit für so etwas.

Ein umgestürzter Baum auf der Straße versperrt uns den Weg zur Brücke.

Ich blicke auf meine schlafende Schwester hinunter und bemerke die roten Sprenkel auf ihren Lippen, als ein weiterer keuchender Atemzug in ein Husten übergeht. Behutsam drehe ich Temra auf die Seite, damit sie nicht an ihrem eigenen Blut erstickt. Wir verabreichen ihr immer wieder eine Tinktur, damit sie ohne Bewusstsein bleibt und ihre Wunden nicht berührt, was alles nur noch schlimmer machen würde. Aus der Naht an ihrem Arm sickert kein Blut mehr, aber der tiefe Schwertstoß in ihre Seite hat die Lunge verletzt. Blut ist in das Organ gedrungen, was der Grund für ihre schwere Atmung ist.

Ihr Lebenskraft schwindet vor meinen Augen dahin, und es wird noch Tage dauern, bis wir endlich bei der magischen Heilerin von Skiro sind.

Hasserfüllt betrachte ich Kymora, die Kriegsherrin, die nur wenige Handbreit von mir entfernt gefesselt auf dem Karren liegt. Sie ist der Grund für Temras derzeitigen Zustand, und falls meine Schwester stirbt, kann mich keine Macht der Welt von dem abhalten, was ich dieser Frau antun werde.

Kellyn steigt von der Kutschbank ab und zieht das magische Langschwert aus der Scheide auf seinem Rücken, das ich für ihn geschmiedet habe.

»Was soll das?«, fragt Petrik. »Willst du uns etwa den Weg freihacken?«

»Sei still. Geh nach hinten zu Ziva in Deckung. Haltet eure Köpfe unten.«

Der Gelehrte folgt Kellyns Anweisung, während ich den Blick über die umliegenden Bäume schweifen lasse und nun auch die Gefahr erkenne.

Unsere Reisegesellschaft ist klein, und nur drei von uns sind ausgebildete Kämpfer: meine bewusstlose Schwester, unsere Gefangene, Kymora, die verwundet und gefesselt ist, und Kellyn, ein Söldner, der uns begleitet, obwohl er schon lange nicht mehr bezahlt wird.

Letzterer ist jetzt ungewöhnlich still und hält nach Gefahren Ausschau.

Einige Männer tauchen an der Flussböschung auf, sie haben Stecken und Knüppel in den Händen. Bei ihrem Anblick stockt Petrik der Atem und ich beuge mich schützend über meine Schwester.

Als die Fremden nur noch zehn Fuß von uns entfernt sind, bleiben sie stehen.

»Hallo, Freunde«, ruft einer von ihnen. Er ist groß, wenn auch nicht so groß wie Kellyn, dafür kräftiger um die Mitte und mit seinen kräftigen Pranken könnte er glatt ein Pferd hochstemmen. Sein Knüppel schleift über den Boden, als er auf uns zukommt. Seine Augenbrauen sind zu einer einzigen geraden Linie zusammengewachsen.

»Wir wollen keinen Ärger«, sagt Kellyn. »Eine von uns ist krank. Wir sind auf dem Weg in die Hauptstadt, um bei einer Heilerin Hilfe zu suchen.«

Die acht Männer, die sich jetzt hinter ihrem Anführer versammeln, haben dafür nur ein Grunzen und ein breites Grinsen übrig.

»Das ist gut. Auch wir wollen keinen Ärger. Wir sind hier, um unsere Dienste anzubieten, wisst ihr? Fünfzig Ockel, und wir helfen euch, den Baumstamm von der Straße zu schaffen.«

Da einer der Männer eine Axt über der Schulter trägt, ist nicht schwer zu erraten, was sie vorhaben.

»Das geht leider nicht, denn wir haben kein Geld«, erwidert Kellyn.

Der Anführer mit dem Knüppel putzt sich mit dem kleinen Finger sein Ohr aus. »Ich muss mich wohl verhört haben, mein Freund. Oder hast du tatsächlich gesagt, du hättest kein Geld? Wer reist denn zu einer Heilerin und hat keine Bezahlung dabei? Der Preis für unsere großzügige Hilfe ist soeben auf fünfundsiebzig Ockel gestiegen.«

In meinem Bauch scheint sich eine Familie von Würmern zu winden. Ich hasse Auseinandersetzungen, aber meine Wut und mein dringender Wunsch, meine Schwester zu beschützen, geben den Ausschlag.

Ich stehe auf. »Meine Schwester hat nicht mehr viel Zeit. Lasst uns vorbei. Wir haben wirklich kein Geld. Die Heilerin ist eine Freundin von uns. Wir bezahlen sie nicht für ihre Dienste.«

Ein anderer Mann tritt vor und stößt seinen langen Stecken vor sich in den Boden. Er späht in den hinteren Teil des Karrens und Petrik schiebt sich sofort schützend zwischen ihn und Temra. »Womöglich ist deine Schwester ohnehin so gut wie tot. Dann ist keine Eile mehr geboten.«

Ich versuche, die düstere Prophezeiung des Banditen nicht an mich heranzulassen, trotzdem ist es, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen.

Er weiß nichts von der magischen Heilerin. Meine Schwester ist nicht unrettbar verloren, denke ich beschwörend. Es gibt noch Hoffnung.

»Devran«, fährt der Bandit fort, »sie haben hier hinten eine gefesselte Frau!«

Der Anführer stößt einen zischenden Laut aus. »Das ist aber nicht sehr nett.« Devran späht um den Karren herum, will einen Blick auf Kymora werfen. »Ist auf sie ein Kopfgeld ausgesetzt? Wenn ja, können wir sie gerne von euch übernehmen.«

Sie dürfen Kymora auf keinen Fall haben. Sie ist unser Druckmittel. Wir müssen sie ausliefern, damit nicht länger ein Kopfgeld auf uns ausgesetzt ist. Wir hoffen, dass ihre Gefangennahme Prinz Skiro großzügig stimmt und er uns zu seiner Heilerin lässt.

Aber dazu müssen wir unseren Weg fortsetzen. Und zwar sofort!

»Geht zur Seite«, fordert Kellyn. »Lasst uns vorbei. Ich werde es nicht noch einmal sagen.«

Devran saugt an seiner Unterlippe, mustert unsere kleine Gruppe. »Nehmt es uns nicht übel, wenn wir euch die Sache mit dem Geld nicht abnehmen. Jungs, durchsucht sie gründlich. Und wenn sie nichts bei sich haben, nehmen wir einfach die Pferde und das Schwert mit.« Er zeigt auf Kellyns Langschwert Lady Killer. »Eine wirklich schöne Waffe.«

Neun gegen Kellyn, Petrik und mich.

Wir hatten schon Situationen, in denen die Chancen schlechter standen.

»Es wird alles gut«, flüstere ich Temra zu, auch wenn sie mich wahrscheinlich nicht hören kann.

Ich springe über die Seite des Karrens auf die Straße und richte mich auf. Der Mann, der mir am nächsten steht, weicht einen Schritt zurück.

»Donnerwetter«, sagt er, als er zu mir hochschaut.

Ja, hoch. Ich war schon immer größer als die meisten Männer. Normalerweise hasse ich meine Größe. Sie macht mich zum Objekt ständiger Blicke und Kommentare. Aber in diesem Moment gefällt mir die Art, wie der Wegelagerer mich ansieht. Eingeschüchtert.

Seine Augenbrauen schießen in die Höhe, als ich meine Zwillingshämmer aus dem Gürtel ziehe.

Ich mag keine ausgebildete Kriegerin sein, aber ich bin eine ausgebildete Schmiedin, und es gibt nichts, was ich besser kann, als einen Hammer zu schwingen.

Kellyn tritt neben mich und verdeckt so die Sicht auf meine Schwester. Ich sehe, wie Kymora derweil ihre Hände nach Petrik ausstreckt, in einer stummen Bitte, sie loszubinden. Ich kann euch helfen, sagt ihre Miene.

Aber Petrik nimmt wortlos eine lange Metallstange aus dem Inneren des Wagens und gesellt sich zu uns. Früher diente sie als Karrenachse, jetzt ist sie ein magischer Stab.

»Freunde«, sagt Devran, »ihr seid in der Unterzahl, und meine Männer werden viel sanfter mit euch umgehen, wenn ihr eure Waffen niederlegt. Es gibt keinen Grund, den Kopf zu verlieren.«

»Ich werde schon allein mit denen fertig«, sagt Kellyn zu mir, »vielleicht solltest du lieber im Wagen warten.«

»Wenn ich im Wagen hätte warten wollen, wäre ich im Wagen.«

»Also gut.« Seine Antwort ist leise, aber ich habe keine Gewissensbisse, weil ich ihn angeschnauzt habe. In letzter Zeit scheint mich alles, was Kellyn sagt, aus der Ruhe zu bringen.

Devran hört bei unserem Wortwechsel amüsiert zu. »Vielleicht habt ihr einen falschen Eindruck von uns, weil wir so höflich sind. Ist euch klar, dass wir Räuber sind und notfalls Gewalt anwenden?«

»Das ist uns bewusst«, antworte ich. »Ihr hingegen täuscht euch, wenn ihr glaubt, wir seien leichte Beute.«

Den Hammer in der linken Hand, stürme ich los.

Das Werkzeug ist natürlich mit Magie aufgeladen, wie alles, was ich je gemacht habe. Dieser Hammer funktioniert zugleich wie ein Schild, indem er eine unsichtbare Barriere zwischen mir und heranstürmenden Feinden aufbaut. Und falls mich jemand angreift, prallt dessen Waffe daran ab und wendet sich gegen seinen Besitzer.

Der erste Räuber baut sich vor mir auf und hebt seinen Knüppel, um mich abzuwehren. Ich pflüge ihn nieder, steige über ihn hinweg und stürze mich auf den nächsten. Der weicht zurück, nachdem er gesehen hat, wie ich mit seinem Kameraden verfahren bin, nimmt dann jedoch all seinen Mut zusammen.

Er macht einen Schritt zur Seite und schwingt seinen Kampfstab. Ich pariere mit meinem linken Hammer, fange den Schlag mit dem unsichtbaren Schild ab, sodass der Mann durch den magischen Rückstoß auf dem Hintern landet.

Mit dem Schwung meines rechten Hammers, der ohne jede Magie ist, schlage ich ihn nieder.

Zwei weniger. Sieben bleiben übrig – die mich jetzt anstarren, als hätten sie eine mystische Kreatur vom Himmel herabsteigen sehen.

»Lasst uns vorbei«, fordere ich noch einmal.

An meinen Fingerspitzen sind rote Spritzer. Mein Magen dreht sich um.

Ich bin keine Verfechterin von Gewalt, aber ich bin dazu bereit, wenn es darum geht, jene zu schützen, die ich liebe. Egal wie entsetzt ich selbst darüber bin.

Devran packt nun seine Keule mit beiden Händen und schreit: »Vor-wärts!«

Ich überlasse es Petrik und Kellyn, mit den anderen fertigzuwerden, und bleibe lieber in Temras Nähe.

Lady Killer, Kellyns geliebtes Langschwert, besitzt die spezielle magische Fähigkeit, es mit mehreren Feinden gleichzeitig aufnehmen zu können. Als Devrans Männer Kellyn umzingeln, hat der Söldner nur ein Grinsen für sie übrig.

Er duckt sich unter einem Keulenschlag von links weg, holt nach rechts aus und rammt sein Schwert in den Bauch eines Angreifers.

Lady Killer veranlasst ihn, sich zu drehen, lenkt ihn in die richtige Richtung – und so entgeht Kellyn knapp der Spitze eines Kampfstabs, der genau dort niedergeht, wo er gerade noch stand.

Drei Waffen sausen gleichzeitig auf ihn zu, aber Kellyn weicht mit dem Oberkörper nach hinten aus und schwingt Lady Killer in einem weiten Bogen, um weitere Schläge abzuwehren.

Petrik steht immer noch in der Nähe des Wagens, aber nur, weil seine Waffe aus der Ferne besser funktioniert. Er schleudert den Metallstab mit aller Kraft, der, um die eigene Achse wirbelnd, durch die Luft schwirrt und schließlich einen der Räuber trifft. Der Mann trägt keine Rüstung, und ich höre seine Rippen knacken, bevor der Stab zu Petrik zurückfliegt, weil die ihm innewohnende Magie ihn immer wieder zum Besitzer zurückkehren lässt.

Noch fünf.

Kellyn und Petrik erledigen einen nach dem anderen, bis nur noch Devran und ein weiterer Räuber übrig sind.

Letzterer flieht, während Devran uns verwundert anstarrt. »Wer seid ihr?«

Kellyn Derinor, der Söldner.

Petrik Avedin, der Gelehrte.

Ziva Tellion, die Klingenschmiedin.

Unser Verhältnis zueinander ist komplizierter als je zuvor. Aber wir sind bereit zu kämpfen, jeder Einzelne von uns, um die anderen zu schützen. Unsere gemeinsamen Abenteuer und der damit verbundene Blutzoll haben uns zusammengeschweißt.

Wieder dringt ein Husten aus dem Wagen, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mir die Hände an meiner Hose abzuwischen, bevor ich einsteige, um nach Temra zu sehen.

»Wir sind Reisende, die es eilig haben«, antwortet Petrik, »und du hast uns jetzt lange genug aufgehalten.« Er wirft seinen magischen Stab, erwischt Devran an der Schläfe, und der Anführer geht taumelnd zu Boden. Petrik wartet nicht ab, sondern nimmt die Verfolgung des flüchtenden Banditen auf.

Behutsam streiche ich meiner Schwester eine Haarsträhne von den Lippen, damit sie nicht von dem Blut befleckt wird, das sich in ihren Mundwinkeln sammelt. Ich drehe mich zur Seite, um Kymora einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen.

Aber außer meiner Schwester ist niemand im Wagen.

Ich blinzle ein paarmal, wie um die Kriegsherrin heraufzubeschwören.

»Kellyn!«, rufe ich.

Als Temras Hustenanfall endlich nachlässt, lege ich sie sanft zurück und springe über die Längsseite des Wagens, wo noch die durchschnittenen Fesseln baumeln.

Kaum haben meine Füße den Boden berührt, werden sie unter mir weggezogen, doch ich kann mit den Händen den größten Teil meines Gewichts abfangen.

Ich wirble liegend herum und entdecke die Kriegsherrin unter dem Karren. Sie rollt hervor, wirft sich auf mich und presst die Unterseite ihres Arms gegen meine Kehle. Ich kralle meine Finger in ihr Gesicht und versuche, die Frau von mir wegzustoßen, während ich vergeblich nach Luft ringe.

Plötzlich ist Kellyn da und zerrt Kymora weg.

Sie rammt ihm ihren Ellbogen in den Bauch. Kellyn bleibt die Luft weg und er krümmt sich. Als Kymora fliehen will, springe ich auf. Für eine Frau mit einem zertrümmerten Knie humpelt sie erstaunlich schnell, fast so, als würde sie keinen Schmerz empfinden.

Ich renne ihr nach, greife erneut nach meinen Hämmern. Bei jedem anderen wäre das vielleicht übertrieben, aber Kymora ist die furchterregendste Kriegerin in ganz Ghadra. Sie will die Königsfamilie stürzen und alle Hoheitsgebiete unter ihre Herrschaft bringen. In unserem letzten Kampf mussten Kellyn, Petrik und ich all unsere magischen Kräfte aufbieten, um sie zu besiegen.

Sie ist die Frau, die meine Schwester an die Schwelle des Todes gebracht hat. Die mich vor Jahren zur Waise gemacht hat. Die mich ausnutzen wollte, um an magische Waffen für ihre Privatarmee heranzukommen, damit sie Ghadra widerstandslos einnehmen kann.

Es gibt niemanden, der gefährlicher ist.

Sie darf nicht entkommen.

Ich wage es nicht, einen Hammer nach ihr zu werfen, aus Angst, ihr unfreiwillig meine Waffe zu überlassen. Diese Frau kann sogar mit einem Ast in der Hand einschüchternd sein. Stattdessen versetze ich ihr mit meinem Schildhammer von hinten einen Schlag, sodass sie zu Boden geht. Sofort robbt sie durchs Gras und greift nach einem großen Stock.

»Wenn Ihr ihn anfasst, breche ich Euch Euer anderes Knie«, drohe ich ihr in einem Ton, den ich von mir selbst so noch nicht kannte.

Kymora ignoriert mich und packt den Ast. Sie stützt sich auf ihn, sucht Halt an einem Baum, um auf die Füße zu kommen.

In diesem Moment taucht Kellyn mit gezücktem Schwert neben mir auf.

»Halt sie von hinten in Schach«, fordere ich ihn auf, aber er hat sich längst in Bewegung gesetzt.

»Ihr könnt nirgendwo hin«, sage ich. »Ergebt Euch.«

Kymora streicht sich eine lose Haarsträhne aus den Augen. Ihr sonst so straffer Dutt hat sich gelöst, und nachdem sie ihren Knebel losgeworden ist, fällt die lange Narbe auf ihrer Wange wieder ins Auge. Irgendwie wirkt sie mit ihrem zerzausten Äußeren noch bedrohlicher.

»Kannst du es dir wirklich leisten, Zeit auf mich zu verschwenden, wo deine Schwester dringend in die Hauptstadt gebracht werden muss?«, fragt sie. »Ich dachte, jede Sekunde zählt.«

Ihre Worte versetzen mich erst recht in Rage, denn sie erinnern mich an die Dringlichkeit unserer Mission, und vielleicht machen sie mich deshalb ein bisschen leichtsinnig.

Mit zusammengebissenen Zähnen greife ich sie an, und auch Kellyn geht von hinten auf sie los. Sie kann uns beide schlecht gleichzeitig abwehren, schon gar nicht mit einem verletzten Bein, aber das hält sie nicht davon ab, es zu versuchen. Mit dem Stock pariert sie meinen Hammer und stößt mich zur Seite, um Kellyns Schlag auszuweichen. Mein Instinkt rät mir zurückzuweichen, weg von dieser mörderischen Frau.

Aber ich ignoriere ihn und trete gegen ihr zerschmettertes Knie.

Kymora schreit auf und lässt im Fallen den Stock los.

Ich packe die Kriegsherrin und versuche, ihr den Arm auf den Rücken zu drehen. Kymora holt mit der freien Faust aus, um mich am Kopf zu erwischen.

Ich ziehe ihren verdrehten Arm höher, bis Muskeln und Gelenke zum Zerreißen gespannt sind. Sie stöhnt, als ich sie nach vorne stoße und zu Boden zwinge. Ich greife nach ihrem anderen Handgelenk und versuche, auch diesen Arm auf ihren Rücken zu bekommen. Inzwischen lastet mein ganzes Gewicht auf der älteren Frau.

»Ergebt Euch!«, schreie ich sie an.

»Niemals!« Sie versucht, ihren Kopf in den Nacken zu werfen, die Bewegung lässt sie wie ein gestrandeter Fisch wirken.

»Wenn ich die Wahl habe, Euch entkommen zu lassen oder Euch zu töten, werde ich Euch töten«, entgegne ich. »Ihr verdient den Tod, denn Ihr habt mir alles genommen!«

Kellyn drückt sie nun ebenfalls mit seinem Gewicht nach unten, er sitzt praktisch auf ihren Beinen, damit sie keine Tritte austeilen kann. Er holt ein Seil hervor, und ich fessele damit ihre Handgelenke, fester als nötig.

Wir ergreifen sie an den Armen, ziehen sie hoch und schleifen die sich heftig wehrende Kriegsherrin zurück zum Wagen.

Petrik kommt zwischen den Bäumen angerannt. Als er uns sieht, bleibt er stehen und stützt seine Hände auf die Oberschenkel. »Der letzte Mann ist entkommen.«

»Lass ihn«, sage ich. »Hilf lieber Kellyn.«

Obwohl Petrik sichtlich erschöpft ist, packt er mit an, als seine Mutter in den Wagen gehievt wird. Als sie wieder sicher verwahrt ist, begutachtet er die durchtrennten Seile. »Wie ist sie freigekommen? Inmitten des Gefechts konnte sie ja wohl kaum eine Waffe stehlen. Die Männer hatten nur Knüppel und Stecken, und die Axt liegt noch an derselben Stelle auf dem Boden.«

»Vielleicht hat ihr jemand einen scharfen Gegenstand zugesteckt«, sagt Kellyn.

»Das würde ich nie tun.«

Ich ignoriere die beiden und suche unter dem Wagen nach einem Dolch oder etwas anderem, das den Fluchtversuch der Kriegsherrin erklären könnte.

»Blut ist dicker als Wasser«, sagt Kellyn.

»Ich kenne diese Frau kaum. Sie mag mich geboren haben, aber es gibt keine Liebe zwischen uns. Das wisst ihr. Warum sollte ich ausgerechnet die Frau befreien, die Temra verletzt hat?«

»Hört auf zu streiten«, entgegne ich und richte mich auf. Ich zeige ihnen ein spitzes Metallstück. »Eine Haarspange. Aus ihrem Dutt. Sie hat sie vermutlich schon vor Tagen herausgenommen und nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um sie zu benutzen.«

Kellyn sieht Petrik nicht in die Augen. »Tut mir leid«, brummt er.

»Wann vertraust du mir endlich?«, fragt Petrik. »Ich habe euch immer nur geholfen. Zugegeben, ich habe meine Herkunft für mich behalten, aber ich habe weder die beiden Tellion-Schwestern noch dich jemals verraten.«

»Wir haben größere Probleme als euer Gezänk.« Ich blicke zur Brücke. »Die Straße ist immer noch versperrt, und alle, die uns helfen könnten, den Baumstamm wegzuschaffen, sind entweder bewusstlos, tot oder geflohen. Gibt es noch eine andere Route?«

»Ja«, sagt Petrik, »aber sie verlängert die Reise um einen halben Tag.«

Mir ist nach Weinen zumute. Die Zeit ist ohnehin schon knapp. Die Heilerin in Amanor sagte, wir hätten nur noch eine Woche, bevor Temra an ihren Wunden sterben wird.

Und genau so lange brauchen wir, um die Hauptstadt zu erreichen.

Eine noch nie gekannte Wut durchflutet meine Glieder, als ich wieder in den Karren klettere. Ich ziehe meinen nicht magischen Hammer von meiner Hüfte und schwinge ihn gegen Kymoras unverletztes Bein.

Ein lautes Knacken. Kymoras Schrei wird durch ihren Knebel gedämpft. Petriks erschrockenes Nach-Luft-Schnappen und Kellyns entsetzter Blick erfüllen mich mit Schuldgefühlen, aber … »Ein Versprechen ist ein Versprechen«, murmle ich.

Sie wird nicht noch einmal fliehen.

KAPITEL ZWEI

Wir fahren die ganze Nacht, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Die Straße ist furchtbar, überall Spurrillen und Löcher, aber wir spüren die Unebenheiten nicht allzu sehr. Bevor wir Kellyns Heimatort verließen, habe ich das Metall unter dem Wagen mit Magie versehen, damit Temra so sanft wie möglich reisen kann.

Trotzdem finde ich keinen Schlaf, nicht bei all den Geräuschen, die an mein Ohr dringen – Temras krampfhafte Hustenanfälle, Kymoras Stöhnen, das Knacken von Kellyns Halswirbel, wenn er über seine Schulter nach mir sieht.

Ich möchte ihn anschreien, wütend auf alle sein. Jeder Einzelne soll so leiden, wie ich es gerade tue. Mein Körper befindet sich in einem seltsamen Zustand von Erschöpfung und erhöhter Wachsamkeit. Um mir die Zeit zu vertreiben, zähle ich die Atemzüge meiner Schwester.

Als ich eine Bewegung wahrnehme, balle ich die Faust, aus Sorge, dass Kymora sich wieder losgerissen haben könnte, aber es ist nur Petrik, der neben mir auf die Ladefläche klettert.

»Du solltest dich ausruhen«, sagt er. »Lass mich auf sie aufpassen.«

»Danke, aber es geht mir gut.«

»Falls es erneut einen Kampf gibt, bist du nützlicher, wenn du etwas geschlafen hast.«

Ich glaube, es ist die Erschöpfung, die mich zur Ehrlichkeit zwingt. »Ich habe Angst, dass sie stirbt, wenn ich meine Augen schließe.«

»Sie ist zäher, als du denkst«, erwidert Petrik voller Zuversicht.

Es ist schön, das zu hören, auch wenn er nicht mit Sicherheit wissen kann, was Temras Körper aushält. Er ist sehr gebildet, aber mit medizinischen Dingen kennt auch er sich nicht aus. Petrik ist ein Gelehrter aus der Großen Bibliothek in Skiros Hauptstadt und hat sein Leben lang alte Magie studiert. Ich habe ihn kennengelernt, weil er ein Buch über die bisher bekannte Magie in unserer Welt schreibt. Er wollte alles über mich und meine Fähigkeiten als Schmiedin wissen.

Auf unserer ersten gemeinsamen Reise verliebte er sich in meine Schwester. Das hat er zwar nie gesagt, aber ich weiß es. Wie könnte sich jemand nicht in meine tapfere und temperamentvolle Schwester verlieben? Sie ist stark und stur, und das im allerbesten Sinne.

Als wir herausfanden, dass Petrik uns seine Beziehung zu Kymora verschwiegen hat, die seine Mutter ist, war Temra außer sich vor Wut. Mir persönlich ist das ziemlich egal, solange er uns unterstützt. Seine Worte von vorhin sind wahr. Er hat uns nie verraten oder etwas getan, was darauf hindeutet, dass wir ihm nicht vertrauen können. Er hat nur ein persönliches Geheimnis bewahrt.

Und wer würde nicht verbergen wollen, dass er mit diesem Monster verwandt ist?

Aber Monster oder nicht, sie ist immer noch seine Mutter.

»Es tut mir leid, dass ich ihr vor deinen Augen wehgetan habe«, sage ich leise.

Petrik schluckt. »Es musste getan werden. Wir können keine weitere Verzögerung riskieren.«

»Ich war nicht unfair, ich habe ihr gesagt, ich würde es tun, wenn sie …«

»Es ist okay, Ziva. Wirklich.«

Seine dunklen Augen gleiten über Temras Gesicht, ihr mahagonibraunes Haar, ihre geschwungenen Lippen, ihre makellosen Züge, nur vage sichtbar im Mondlicht. »Sie hatte noch keine Gelegenheit, mich wegen meines Geheimnisses anzuschreien. Das muss sie noch tun. Sie muss mir sagen, dass sie meine Ausreden nicht hören will. Sie wird mit Dingen nach mir werfen wollen.«

Ich lache gepresst, um nicht zu weinen. »Das wird sie. All das wird passieren. Hast du dir schon eine Erklärung für sie ausgedacht?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe keine. Nur die Wahrheit. Ich hatte Angst, ihr würdet mich nicht mitnehmen, wenn ihr wüsstet, wer ich bin. Es gibt Leute, die sich nicht vorstellen können, dass ich keinerlei warme Gefühle für Kymora hege.« Bei diesen Worten wirft er einen Blick in Kellyns Richtung.

»Ich weiß, warum du es getan hast«, sage ich. »Ich werfe es dir nicht vor.«

»Du bist eine gute Freundin, Ziva, und eine noch bessere Schwester.«

»Ich habe sie enttäuscht.«

»Hast du nicht. Du kämpfst weiter. Wir werden die Hauptstadt rechtzeitig erreichen. Temra wird geheilt werden. Unsere Namen werden reingewaschen, und Kymora wird das Schicksal ereilen, das eine Verräterin verdient.«

Ich möchte ihm so gerne glauben, aber in meinem Kopf spielen sich dauernd die schrecklichsten Szenen ab und setzen sich sogar in meinen Träumen fort.

Es ist die Stille, die mich aufweckt.

Der Wagen hat angehalten. Sofort sehe ich nach Temra, während ich gleichzeitig rufe: »Warum fahren wir nicht weiter?«

»Wir müssen eine Pause machen«, sagt Kellyn. »Wenn wir die Pferde weiter so antreiben, verlassen sie die Kräfte, bevor wir die Hauptstadt erreichen.«

Er ist von der Straße abgebogen und nimmt den Pferden bereits das Zaumzeug ab. Petrik stapft mit seinem Gepäck davon, wahrscheinlich um Essen zuzubereiten.

So bleibe ich mit Kymora und Temra zurück.

Es scheint, als würde die Kriegsherrin nie ein Auge zutun. Jedes Mal, wenn ich zu ihr hinüberschaue, ist sie hellwach. Ihr Blick schweift über die Landschaft, über unser Lager, immer auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.

»Hier«, sagt Petrik einige Zeit später. Er reicht mir eine Schüssel mit Brühe. »Ich kann sie füttern, wenn du willst.«

»Nein, ich schaffe das schon.«

»Ich helfe trotzdem.« Er kniet sich hinter Temra und hebt sie in eine sitzende Position, während ich mit zitternden Fingern einen Löffel an ihren Mund führe.

Ich schiebe den Löffel zwischen ihre Lippen, kippe die Brühe hinein und drücke vorsichtig ihren Kopf nach hinten. Als ich sehe, wie sie schluckt, atme ich erleichtert auf.

»Wir werden es schaffen«, sagt Petrik.

»Diese Heilerin, von der du gesprochen hast – ist sie gut?«

»Sie wirkt Magie am menschlichen Körper, wie du es mit Eisen machst. Sie ist gut, Ziva.«

Der nächste Löffel Brühe endet damit, dass meine Schwester noch mehr Blut hustet.

»Sie kann das Loch in Temras Lunge verschließen?«, frage ich.

»Ich habe gesehen, wie sie abgetrennte Gliedmaßen wieder angefügt hat.«

Die brennende Hoffnung in meiner Brust ist gefährlich, aber wenn Temra stirbt, verliere ich das letzte Familienmitglied, das ich habe. Dann verliere ich auch mein Herz.

Dann hat Kymora mir wirklich alles genommen.

Als Temra genug gegessen hat, blickt Petrik zu seiner Mutter. »Ich glaube, ich gehe jetzt und füttere sie.«

Er schöpft eine weitere Schale mit Brühe und tritt zu seiner Mutter. Vorsichtig nimmt er ihr den Knebel ab und bietet ihr zuerst etwas Wasser an. Kymora trinkt und trinkt und trinkt. Sie versucht sich zurückzuhalten, vermutlich um keine Schwäche zu zeigen, aber allein an der Menge, die sie zu sich nimmt, erkenne ich, wie sehr ihr die Fahrt zusetzt. Wahrscheinlich tun ihr alle Glieder weh, und weil sie immer gefesselt ist, sind ihre Handgelenke und Knöchel rot und geschwollen von den strammen Seilen, wobei das angesichts ihrer anderen schweren Verletzungen ihr sicher nicht die größte Qual bereitet.

Ich bin froh, dass sie leidet, und ich schäme mich nicht dafür.

Temras Gesicht ist in den letzten vier Tagen noch bleicher geworden. Ihre Lippen sind rissig. Ihre Lunge ist geschwächt. Sie hat wunde Stellen, weil sie so lange in derselben Position gelegen hat. Aber ich wage es nicht, sie mehr zu bewegen, um ihren Zustand nicht zu verschlimmern.

Dies könnten die letzten Tage sein, die ich mit meiner Schwester verbringe, und ich kann nicht einmal mit ihr sprechen.

Ich zwinge mich, meine Gedanken woandershin zu lenken.

Petrik und Kymora unterhalten sich im Flüsterton, nachdem sie sich satt getrunken hat. Ich kann die Einzelheiten des Gesprächs nicht hören, aber Petrik zuckt bei etwas, das sie erwidert, zusammen. Er löffelt etwas Brühe und flößt sie ihr ein. Daraufhin sagt sie etwas. Ihr Gesicht verrät nicht, worum es dabei geht, und ich frage mich, ob ich näher heranrücken soll.

Da fängt Temra an zu husten.

Ich drehe sie sanft auf die Seite und reibe ihr den Rücken. Ihre Schultern heben sich und ihr Körper verkrampft. Blut quillt aus ihrem Mund.

»Ich verlasse dich nicht«, sage ich. »Ich bin hier, Temra. Dir wird nichts geschehen.«

Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr und wirble herum. Kellyn geht in die Knie, um sich etwas Suppe zu holen. Mit seinen gewaltigen sechseinhalb Fuß Körpergröße muss er sich tief bücken, um aus dem Kochtopf zu schöpfen. Mit seinen goldroten Haaren und den edlen Gesichtszügen ist er in jeder Hinsicht ein schöner Mann, daran ändert auch der Schmutz der Reise nichts.

Er hat mir so viel bedeutet. Wir waren … eine Zeit lang zusammen. Aber statt meiner Schwester im Kampf gegen Kymora beizustehen, verfolgte er die Männer, die mich ergriffen und entführt hatten.

Er hat mich gerettet, nicht sie.

Und wenn sie stirbt, werde ich ihm das nie verzeihen.

Selbst wenn sie überlebt, glaube ich nicht, dass ich ihm vergeben kann. Er weiß, dass meine Schwester die Welt für mich bedeutet. Er wusste, dass ich nicht wirklich in Gefahr war. Kymora wollte, dass ich lebe. Aber sie wollte meine Schwester tot sehen, um mir eine Lektion zu erteilen.

Trotzdem ist er mir hinterhergekommen.

Er hat sich falsch entschieden, wie also könnte ich mich jetzt noch für ihn entscheiden?

Als er sich etwas Brühe genommen hat, kommt er auf meine Seite des Wagens. Seine Nähe jagt eine Schockwelle durch mich. Ich weiß nicht, wieso er immer noch diese Wirkung auf mich hat, wo wir doch schon so viel Zeit miteinander verbracht haben. Und doch ist es so. Aufregung und Angst durchströmen mich in seiner Nähe und verbinden sich zu einem verwirrenden Durcheinander an Gefühlen.

»Es tut mir leid, dass ich an Petrik gezweifelt habe«, sagt er.

»Schon wieder«, erinnere ich ihn.

»Schon wieder.«

»Es quält ihn, seine Mutter in Fesseln zu sehen, aber jedes Mal, wenn sie etwas sagt und versucht, ihn zu manipulieren, damit er ihr hilft, sieht er Temra an. Er erinnert sich selbst daran, warum seine Mutter eine Gefangene ist und ihre Fesseln notwendig sind.«

»Ich weiß. Ich mache mir einfach Sorgen. Ich kann nicht anders.«

»Er hätte seine Herkunft nicht vor uns geheim halten dürfen. Aber er ist nicht wie seine Mutter. Er ist jetzt hier bei uns. Er bringt uns an einen Ort, wo wir Hilfe bekommen.«

Während unseres Gesprächs habe ich auf Kellyns Brust gestarrt, aber als ich jetzt seinen Blick auf mir spüre, hebe ich den Kopf.

Seine braunen Augen treffen auf meine blauen und ein Wirbelsturm von Gefühlen kämpft in meiner Brust um die Vorherrschaft. Furcht. Verlangen. Hass. Resignation.

Früher hatte ich große Scheu, mit ihm zu sprechen. Ich brachte kaum ein Wort heraus, ohne dass ich von meinen Ängsten überwältigt wurde. Das änderte sich mit der Zeit. Vor allem während der Reise, für die Temra und ich ihn angeheuert hatten, damit er für unser sicheres Geleit nach Thersa sorgt. Von dort aus mussten wir durch zwei weitere Gebiete des Königreichs fliehen und landeten schließlich in seiner Heimat Amanor, wo ich seine Familie kennenlernte. Dort hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, diesen Mann wirklich kennenzulernen, und ich wollte, dass auch er mich kennenlernt.

Vielleicht begann ich sogar zu lieben –

Der Gedanke tut weh, also lasse ich ihn gar nicht erst zu.

Kellyn zu mögen, ihm zu vertrauen, ihn zu wollen – all das fühlt sich an wie ein Verrat an dem einzigen Menschen, der immer für mich da war.

Temra leidet nicht unter Ängsten wie ich. Sie hat mich mein ganzes Leben lang vor unangenehmen Begegnungen beschützt.

Und als ich sie hätte beschützen sollen, als ich Kellyn um Hilfe bat, wurde sie tödlich verwundet.

Das ist meine Schuld. Es ist Kellyns schuld. Es ist Kymoras schuld.

Ich kann nicht mit ihm zusammen sein, ohne mich selbst zu hassen.

Er sieht mich an, in seinen Augen lese ich Sehnsucht und Schmerz. Ich sehe, wie er seinen Mund öffnet und wieder schließt, vergeblich nach den richtigen Worten sucht.

Aber er und ich wissen beide, dass es keine gibt.

Kellyn macht ein kurzes Nickerchen, bevor wir wieder aufbrechen. Er und Petrik wechseln sich bei den Pferden ab, während ich hinten auf der Ladefläche des Karrens bleibe, eingeklemmt zwischen der Person, die ich am meisten liebe, und der Person, die ich am meisten verabscheue.

Eine Woche hat sich noch nie so lang angefühlt.

Die Sekunden kriechen träge dahin, während der Tag wieder in die Nacht übergeht. Die verrinnenden Stunden haben keine Bedeutung für mich, außer dass sie einen hohen Tribut von Temra fordern. Sie wird immer blasser, dünner, schwächer.

Uns läuft die Zeit davon.

Kellyn fragt: »Wie geht es weiter, wenn wir bei Skiro sind?« Da er die Worte flüstert, nehme ich an, dass sie nicht an mich gerichtet sind.

Petrik setzt sich aufrechter hin. »Wir werden sofort eine Audienz bei Skiro erbitten. Er wird uns alles zur Verfügung stellen, was wir brauchen.«

»Du klingst sehr zuversichtlich«, sagt Kellyn. »Aber warum sollte sich der Prinz die Mühe machen, mit uns zu sprechen? In seinen Augen sind wir Flüchtige, nichts weiter. Wir sind nicht in der Position, um etwas zu bitten.«

Petrik dreht den Kopf zur Seite, blickt auf die vorbeiziehenden Bäume. »Ich dachte, du hättest es inzwischen begriffen.«

»Was meinst du damit?«

»Kymora ist meine Mutter. Kannst du dir nicht denken, wer mein Vater ist?«

Kymora war die Oberbefehlshaberin des Königs. Kurz nach Prinz Skiros Geburt starb die Königin. Ließ König Arund allein und trauernd zurück. Und dann bringt Kymora ein Kind zur Welt, das sie wegschickt, um es fern vom Palast unterrichten zu lassen …

Bei den Zwillingsschwestern! Petrik ist der uneheliche Sohn des Königs. Als nach dessen Tod das Reich geteilt wurde, bekam Skiro das Territorium, in dem sich die Große Bibliothek befindet. Wo Petrik studierte. Er ist also in der Nähe seines Halbbruders aufgewachsen.

Ich hätte schon viel früher zwei und zwei zusammenzählen sollen.

Als Kellyn es immer noch nicht kapiert, helfe ich ihm auf die Sprünge. »Er ist der Sohn des Königs.«

»Was?« Kellyns Stimme schraubt sich eine Oktave höher.

Petrik sagt: »Ich habe eine sehr enge Beziehung zu meinem Bruder. Wir sind zusammen aufgewachsen. Er würde so ziemlich alles tun, was ich verlange, und das auch für die Frau, die ich … auch für Temra. Er wird Temra helfen.«

Als Kellyn seine Stimme wiederfindet, sagt er: »Ernsthaft? Gibt es sonst noch etwas, das du uns mitteilen möchtest? Irgendwelche anderen Geheimnisse, die du mal eben loswerden möchtest?«

»Das war kein Geheimnis!«, widerspricht Petrik. »Jeder, der meinen Bruder Skiro kennt, weiß, wie wir zueinander stehen.«

»Kellyn«, sage ich. »Es spielt keine Rolle, wer sein Vater ist. Was unsere missliche Lage angeht, war das nie von Bedeutung.«

»Ach ja? Findest du nicht, es wäre hilfreich gewesen, zu wissen, dass er ein so gutes Verhältnis zu seinem Prinzenbruder hat? Damals, als Kymora hinter uns her war?«

»Wenn wir Skiro um Hilfe gebeten hätten, hätte Kymora ihm und allen unschuldigen Menschen in seinem Land den Krieg erklärt!«, entgegnet Petrik. »Hättest du dafür die Verantwortung übernehmen wollen? Wir können jetzt nur zu meinem Bruder gehen, weil Kymora keine Bedrohung mehr ist! Außerdem hätte Ziva uns niemals erlaubt, bei jemandem in einer solchen Machtposition Zuflucht zu suchen, solange das Problem mit Secret Eater noch nicht gelöst war.«

Damit hat er recht, und Kellyn weiß das auch, denn ihm fällt darauf keine Erwiderung ein.

»Unser Plan ist ganz einfach«, sagt Petrik und wendet sich wieder dem eigentlichen Thema zu. »Wir bitten meinen Bruder um Hilfe. Er gewährt sie uns. Wir sind unsere Sorgen los.«

Bis auf die Sorge, dass Temra tot sein könnte, bevor wir bei Skiro ankommen.

KAPITEL DREI

Nie zuvor war ich so froh, eine große Stadt zu erreichen.

Normalerweise finde ich solche Orte furchtbar. Zu viele Sinnesreize: Menschen, Tiere, Gerüche, Geräusche.

Aber als die Pferde uns den steilen Anstieg hinaufziehen, durch die Stadttore, mitten hinein in den Trubel des Stadtlebens, habe ich zum ersten Mal auf dieser Reise das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Kellyn treibt unsere Pferde an und die Menschen springen zur Seite, rufen uns Flüche hinterher.

Wir sind spät am Tag angekommen, die Straßen sind nicht mehr so voll, nur hier und da sind noch einige Leute dabei, ihre Läden zu schließen oder schnell letzte Besorgungen zu erledigen.

Die Hauptstadt liegt in den Bergen, es geht das Gerücht, Prinz Skiro habe seinen Herrschaftssitz so weit wie möglich von seinem älteren Bruder Ravis entfernt errichten wollen. Die Menschen sind in weite Pelze und dicke Stiefel gehüllt. Der Herbst scheint in der Stadt früh Einzug gehalten zu haben.

Petrik dirigiert Kellyn in Richtung des Palastes und führt uns dabei über kurvenreiche, immer steiler werdende Straßen. Ich habe unser Ziel schon vor Augen, wenn ich meinen Blick über die Dächer der Häuser schweifen lasse. Die Palasttürme sind die höchsten Gebäude der Stadt.

Als wir sie endlich erreichen, sehe ich, dass sie Teil einer hohen Mauer sind, die das Palastgelände umgibt. Die Zugbrücke ist heruntergelassen und gewährt uns Zugang.

Zwei riesige Statuen stehen auf beiden Seiten der Palasttore. Die eine ist aus weißem Marmor, die andere aus dunklem Granit gemeißelt. Ebanarra und Tasminya, die Schwesterngöttinnen.

Als der Wagen zum Stehen kommt, tritt eine patrouillierende Soldatin an uns heran. »Petrik, du bist wieder da!«

»Tut mir leid, Leona, aber ich habe keine Zeit für Höflichkeiten. Bitte melde dem Prinzen, dass ich hier bin. Ich habe eine hochrangige Gefangene für ihn und erbitte Seruthas Hilfe für unsere verwundete Gefährtin.«

Ich weiß nicht, ob Petrik alle Wachen kennt oder ob es nur Zufall ist, aber ich bin froh, dass die Dinge in Bewegung geraten. Leona ruft einigen Dienern am Tor etwas zu, woraufhin sie sofort im Inneren verschwinden.

Bereits nach wenigen Minuten wird eine Trage zum Wagen gebracht, gefolgt von einem kleinen Wachtrupp mit Ketten und Handschellen. Ich helfe den Bediensteten, Temra auf die Trage zu legen. Die Wachen zerren eine sehr widerborstige Kymora vom Wagen und fesseln sie ordentlich. Sie wehrt sich heftig, was ihr ein paar weitere Kratzer und blaue Flecken einbringt.

»Bitte«, sagt Petrik. »Seid so sanft wie möglich.«

Weitere Wachen eilen herbei, alle in tiefblauen Tuniken mit einer gelben Sonne auf der Brust.

Aus dem Inneren des Palastes ist leises Gemurmel zu hören, das immer lauter wird. Dann fordert jemand: »Lasst mich durch!«, und drängt sich an allen anderen vorbei.

Das muss Prinz Skiro sein. Er trägt eine tiefgoldene Tunika unter seiner offenen saphirblauen Robe. Seine braune Haut ist dunkler als die von Petrik, sein Kopf ist rasiert, und seine Gesichtszüge sind so glatt, dass Temra sie wahrscheinlich als hübsch bezeichnen würde. Er ist größer als Petrik, sogar fast so groß wie ich, wenn auch nicht ganz. Er trägt keinen besonderen Schmuck, der seine Stellung kennzeichnet, aber er hat einen mit Juwelen besetzten Dolch am Gürtel. Er ist der Jüngste unter den royalen Geschwistern, ich würde ihn keinen Tag älter als zwanzig schätzen.

Der Prinz mustert den Wagen, meine Schwester auf der Trage und Kymora in Ketten, bevor sein Blick auf Petrik fällt. Sein Gesicht erhellt sich zu einem strahlenden Lächeln. »Petrik!«, ruft er und umarmt seinen Bruder. »Täusche ich mich oder hast du schließlich doch noch Muskeln entwickelt? Und was hast du da an? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich dich das letzte Mal in etwas anderem als deinem Gelehrtengewand gesehen habe.«

»Verzeih mir, Skiro«, sagt Petrik, »aber wir sind in Eile. Wir brauchen sofort Hilfe. Eine Freundin von mir ist schwer verwundet. Ihr läuft die Zeit davon. Wir brauchen Serutha. Kannst du sie herholen?«

Skiros Blick fällt auf Temras leichenblasses Gesicht. »Kommt alle herein. Die Freunde meines Bruders sind auch meine Freunde.«

Jede Sekunde, die verstreicht, fühlt sich an wie ein Peitschenhieb auf meiner Haut.

Ich schaue zu, wie Heilkundige meiner Schwester mit warmen Tüchern den Schmutz der Reise abwischen. Sie gehen sehr behutsam mit ihr um, aber ich warte ungeduldig darauf, dass diese sagenumwobene Heilerin endlich kommt und ihre Magie wirkt. Einer von ihnen löst den Verband an Temras Arm, und ein fauliger Geruch steigt mir in die Nase. Die Wunde hat sich entzündet. Eine Helferin macht sich daran, die Fäden zu entfernen und die Wunde wieder zu öffnen, damit sie den Abszess aufschneiden kann.

Aber wo ist Serutha?

Als die Tür aufgeht, drehe ich mich erleichtert um, bereit, sie zu begrüßen und anzubetteln, alles zu tun, was nötig ist, um meine Schwester zu retten.

Aber es ist nur ein weiterer Bediensteter.

»Petrik schickt mich, um dich abzuholen. Ich soll dich auf dein Zimmer bringen, damit du dich waschen und ausruhen kannst. Der Prinz möchte, dass ihr beim Abendessen seine Ehrengäste seid.«

Ich blinzle verwirrt.

Abendessen? Waschen? Ausruhen?

Meine Schwester liegt im Sterben. Im Sterben. Und diese Leute erwarten von mir …

»Verzeihung«, sagt jemand hinter mir. Ich drehe mich abrupt um, bereit, ans Bett meiner Schwester zu eilen.

Es ist eine der Heilkundigen. »Sie ist in guten Händen. Sie wird die beste Pflege bekommen, die wir ihr geben können. Du solltest gehen.«

»Ich werde nicht von ihrer Seite weichen«, erwidere ich.

»Ich weiß nicht, wie ich es taktvoll ausdrücken soll, aber du gefährdest unsere sterile Umgebung.«

Bei ihren Worten schaue ich an mir herunter. Unter meinen Fingernägeln ist Dreck. Meine Kleidung ist zerrissen vom Kampf mit Kymora und schmutzig von der Reise. Auf meiner Haut kann ich Sommersprossen nicht vom Staub der Straße unterscheiden. Und wie ich rieche, will ich gar nicht erst überprüfen.

Eine peinliche Stille macht sich breit, aber der Wunsch, Temra wieder gesund zu sehen, gibt den Ausschlag. »Heißt das, es ist besser für sie, wenn ich gehe?«

Die Heilkundige nickt höflich.

»Ich kann wiederkommen, sobald ich sauber bin? Und diese« – ich zögere, da ich nicht weiß, ob die Gabe der magischen Heilerin allgemein bekannt ist – »Serutha wird bald da sein?«

»Du darfst wiederkommen und der Prinz gewährt dir großzügig all seine Unterstützung.«

Ich verstehe, was sie meint.

»Nun gut«, sage ich und atme tief durch. Der Diener sieht erleichtert aus, als ich mich ihm zuwende.

Der Raum, in den er mich führt, ist sauber und lässt viel natürliches Licht herein. Überall sind feine Teppiche und Draperien mit wunderschönen Mustern, die aussehen, als wären sie in jahrelanger Arbeit entstanden. Ein Bad ist bereits eingelassen, und ich beeile mich, denn ich weiß, je schneller ich sauber bin, desto schneller kann ich Temra wiedersehen und die magische Heilerin bei ihrer Arbeit bewundern.

Das Wasser fühlt sich angenehm auf meiner Haut an, und ich genieße es, den Schmutz einer ganzen Woche von meinem Körper abzuspülen. Als ich fertig bin, trockne ich mich ab, bürste mir schnell die Haare und lasse sie offen – sie sind sowieso viel zu kurz, um viel damit zu machen. Als ich angezogen bin und zur Tür hinauseile, stoße ich dort fast mit Petrik zusammen. Auch er hat ein Bad genommen und seine Kleidung gewechselt.

»Gibt es Neuigkeiten?«, frage ich. »Wie geht es ihr?«

»Unverändert.«

Was? »Warum? Warum geht es ihr nicht besser? Wo ist die viel gepriesene Heilerin, von der du gesprochen hast? Warum geht alles so langsam? Muss ich an die Türen des Thronsaals hämmern?«

Petrik unterbricht mich, bevor ich weiter in Rage gerate. »Ich kann dir deine Fragen noch nicht beantworten, aber Skiro möchte mit uns allen sprechen.«

Gut, dann kann ich selbst Antworten von ihm verlangen.

Ich lasse mich von Petrik durch einen Saal führen, der mit prunkvollen Wandteppichen dekoriert ist. Aus einem weit entfernten Raum dringt Musik zu uns herüber, allerdings kann ich das Instrument nicht ganz zuordnen. Irgendetwas mit Saiten. Petrik eilt ungerührt weiter, bis wir in einen Raum kommen, der ebenfalls mit gewebten Tapisserien und feinen Teppichen ausgestattet ist. Zwischen den Wandteppichen stehen Bücherregale, in denen schwere Folianten aufbewahrt werden. Die Musik ist hier lauter zu hören, aber es sind nirgendwo Musiker zu sehen. Vielleicht spielen sie nebenan.

Auf einem schlichten Tisch ist Essen angerichtet. Es gibt reichhaltige Soßen zu saftigem Fleisch und nicht weniger als fünf verschiedene Weinkaraffen. Die Leibwache des Prinzen hat sich an der Wand postiert, Skiro selbst sitzt am Kopfende des kleinen Tisches und neben ihm Kellyn, der gerade ein großes Stück von einem gebutterten Brot abbeißt.

Ich darf eigentlich nicht wütend auf die beiden sein, weil sie essen, während Temra im Sterben liegt, aber ich bin es trotzdem.

»Ah.« Skiro blickt auf. »Setzt euch bitte. Esst euch satt. Ihr habt sicher viel zu erzählen nach so einer Reise.«

Weder Petrik noch ich rühren uns vom Fleck, und in diesem Moment bin ich ihm unendlich dankbar, dass er an meiner Seite ist, wir geeint sind in unserem gemeinsamen Anliegen.

Mit einem Seufzer lässt Skiro die Hühnerkeule fallen, die er an seinen Mund geführt hatte. »Ich bin euch allen äußerst dankbar, dass ihr mir die Verräterin Kymora gebracht habt, auch wenn ich etwas überrascht bin, Bruder, dass du dich gegen sie wendest.«

»Ich habe von ihren Plänen erfahren, dich und die anderen zu töten und das gesamte Königreich an sich zu reißen. Das konnte ich nicht zulassen. Es war Ziva, die Kymoras finstere Absichten aufgedeckt und ihre Pläne zunichtegemacht hat.« Er deutet auf mich. »Ihre Schwester ist diejenige, die im Sterben liegt. Um ihretwillen bitten wir dich um Seruthas Hilfe.«

Skiro heftet seinen Blick auf mich. Seine Augen blitzen und ein übertrieben strahlendes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Doch dann schüttelt er den Kopf, als käme ihm gerade etwas wieder in den Sinn, und wendet sich an seinen Bruder. »Du hättest ihnen nicht von ihr erzählen dürfen, egal wie gut ihr befreundet seid.«

»Ich betrachte sie jetzt als Familie«, antwortet Petrik.

»Schuldest du ihnen dein Leben, bindet dich das an sie? Hast du deshalb das Vertrauen unserer Freundin Serutha missbraucht?«

»Es geht um Temra.«

»Das sterbende Mädchen.«

»Ich liebe sie, Skiro. Und ich brauche dich, um sie zu retten.«

Verlegen trete ich von einem Bein aufs andere. Ich hatte es natürlich geahnt, aber Petrik etwas so Persönliches laut aussprechen zu hören, ist mir ein wenig peinlich. Aber wenn es Skiro dazu bringt, endlich zu handeln, dann –

»Oh, ich verstehe.« Skiros Gesichtszüge entspannen sich. »Es tut mir so leid, Petrik, aber sie ist nicht hier.«

»Wer?«, fragt Petrik.

»Serutha.«

»Dann schick nach ihr! Wo ist sie?«

»Vor ein paar Wochen hat unser lieber Bruder Ravis Spione hier in den Palast eingeschleust. Sie erfuhren von Seruthas Fähigkeiten und schlichen sich mitten in der Nacht mit ihr davon. Inzwischen sind sie bereits in Ravis’ Territorium.«

Ein verzweifelter Schrei entringt sich meiner Kehle und ich sinke kraftlos auf die Knie. Nein, nein, nein, nein, neinneinneinneinneinnein …

Wir haben es geschafft. Wir haben Kymora hierhergebracht. Temra hat die Reise überlebt.

Aber die Heilerin ist nicht hier.

Meine Schwester wird sterben.

Ich spüre, wie mein Atem schneller geht, aber ich zwinge die Worte über meine Lippen. »Dann lasst den Wagen vorfahren. Wir reisen nach Ravis.«

»Du kannst das Mädchen nicht noch weiter transportieren«, sagt Skiro. »Das würde ihren sicheren Tod bedeuten, und deine Schwester hat nicht mehr die Zeit, die sie bräuchte, um dorthin zu gelangen.«

Auch Kellyn ist mittlerweile der Appetit vergangen. »Sicher habt Ihr Eurer Heilerin Männer hinterhergeschickt? Damit sie Serutha zurückholen?«

Ja, das klingt vernünftig. Verzweifelt klammere ich mich an den Gedanken.

»Ich habe Männer geschickt«, bestätigt Skiro. »Sie hätten schon vor Tagen zurück sein müssen. Wahrscheinlich hat man sie entdeckt und getötet.«

Mein letztes Fünkchen Hoffnung birst und mein Schrei zerreißt die eingetretene Stille. Kraftlos lasse ich mich ganz zu Boden sinken. Diesmal weicht Petrik von meiner Seite und geht zu seinem Bruder, während Kellyn sich neben mich kauert und es sogar wagt, seine Arme um mich zu legen.

Meine Verzweiflung ist zu groß, um ihn abzuschütteln.

Ich lehne mich nicht an ihn, erwidere die Umarmung nicht, bin nur vom Schmerz überwältigt. Es tut so weh. So muss sich Sterben anfühlen.

Abrupt stehe ich auf. Wenn Temra nur noch wenige Augenblicke zu leben hat, werde ich sie mit ihr verbringen. Sie darf nicht allein sein.

»Warte, Ziva.«

Ich drehe mich um, kann Petrik durch meine Tränen kaum sehen. Ich wische mir über das nasse Gesicht und versuche, mich zu konzentrieren.

»Skiro!«, appelliert Petrik barsch am Ende des Gesprächs, das sie gerade geführt haben.

»Es ist viel zu gefährlich«, sagt Skiro. »Wenn meine ausgebildeten Männer es nicht zurückgeschafft haben, wie soll es dann deinen Freunden gelingen? Für so ein riskantes Unternehmen werde ich die Portale nicht freigeben.«

»Tu es für mich, Bruder.«

»Sie werden sterben.«

»Nein, Temra wird sterben!«

»Du weißt, ich liebe dich, aber die Antwort ist Nein.«

Petrik stößt einen kehligen Laut aus und wirbelt zu mir herum. »Ziva, darf ich meinem Bruder sagen, wer du bist und warum wir perfekt für diese Rettungsmission ausgerüstet sind?«

»Nein«, antwortet Kellyn für mich.

Rettungsmission? Es steht doch längst fest, dass wir die Heilerin nicht rechtzeitig in die Hauptstadt zurückbringen können und Temra eine weitere Reise nicht überleben würde.

Bisher hat jeder Mächtige dieser Welt, der von meiner Gabe erfuhr, sie für seine Zwecke missbrauchen wollen. Also warum will Petrik sie jetzt offenbaren?

Als ich zögere, fügt Petrik hinzu: »Wir können damit vielleicht Temras Leben retten.«

Ich verstehe nicht, was er damit meint, aber ich nicke, denn was kann ich sonst tun? Und Kellyn hat kein Recht, für mich zu sprechen. Niemals.

»Sie ist Ziva Tellion. Eine Klingenschmiedin mit der Gabe der Magie. Wir tragen Waffen, die sie geschaffen hat. In Amanor haben wir es mit etwa vierzig Männern aufgenommen. Zu dritt haben wir die Kriegsherrin zu Fall gebracht. Wir können Serutha zurückholen. Ist die Rettung deiner Heilerin es nicht wert, die Portale freizugeben?«

Skiros Blick bleibt an mir hängen. Ich schaue zu Boden, weil ich mich unwohl fühle, aber meine Gedanken sind immer noch bei meiner Schwester.

»Wirklich?«, fragt der Prinz. »Wie funktioniert deine Gabe? Welche Waffen hast du hergestellt? Wie kannst du –«

»Skiro!«, unterbricht Petrik ihn.

»Entschuldigung.« Der Prinz überlegt. »Die Sache gefällt mir trotzdem nicht. Die Portale sind der einzige Vorteil, den ich habe, Petrik.«

»Was muss ich tun, um dich zu überzeugen?«, fragt Petrik verzweifelt.

»Wie wäre es mit einem vernünftigen Plan?«

Bei diesen Worten horcht Kellyn auf. Der Prinz spricht jetzt eine Sprache, die der Söldner versteht, während sich bei mir nur noch mehr Verwirrung breitmacht.

Petrik fragt: »Wie hast du deine Spione in den Palast gebracht?«

»Sie waren zu Fuß unterwegs und trugen Verkleidungen, mit denen sie unter Ravis’ Leuten nicht auffielen.«

»Hast du noch Kleidung, die man dort trägt?«

»Ja.«

»Dann ziehen wir uns um. Wir benutzen das Portal, verstecken unsere Waffen irgendwo und erkunden die Lage. Wir mischen uns unter die Dienerschaft des Palasts. Weißt du, wo Serutha festgehalten wird?«

»Nicht im Kerker. Meine Spione haben den Palast durchkämmt und alle Stockwerke abgesucht, bis auf jenes, in dem sich Ravis’ Privaträume befinden. Er hält die Heilerin in seiner Nähe gefangen. Das war das Letzte, was ich hörte, bevor meine Spione entdeckt wurden. Sie sind ihm auf die Spur gekommen und aufgeflogen.«

»Dann müssen wir nur noch dieses eine Stockwerk durchsuchen. Wir werden Serutha finden und zurückbringen.«

»Sie wird unter Bewachung stehen«, wendet Skiro ein. »Ihr werdet so ein wertvolles Faustpfand nicht einfach mitnehmen können.«

»Wir haben magische Waffen«, erinnert Petrik ihn. »Wenn nötig, lenken wir die Wachen ab und schalten sie nacheinander aus.«

Skiro will immer noch Nein sagen, das merke ich.

»Ziva wird dir zu Dank verpflichtet sein, wenn du das Leben ihrer Schwester rettest«, spielt Petrik seinen letzten Trumpf aus.

Skiro sieht mich an, blickt auf die Hämmer an meinem Gürtel. Er seufzt. »Gut, der Söldner kann gehen. Ziva und du, ihr bleibt hier.«

»Ich gehe mit«, protestieren Petrik und ich gleichzeitig.

»Du bist viel zu wichtig, um dich einem solchen Risiko auszusetzen«, sagt Skiro zu mir.

»Ihr habt gerade erst von meinen Fähigkeiten erfahren! Ihr kennt mich doch gar nicht. Es geht um meine Schwester. Sie stirbt. Ich will verdammt sein, wenn ich zurückbleibe, obwohl ich etwas tun könnte, um sie zu retten.«

Skiros Lippen umspielt ein kleines Lächeln. »Du gefällst mir«, sagt er.

Aus irgendeinem Grund veranlasst diese Antwort Kellyn dazu, etwas unbeholfen sein Gewicht zu verlagern.

»Ich gehe auch«, beharrt Petrik.

»Man wird dich erkennen.«

»Ich bin der Einzige, der den Grundriss des Palasts kennt. Ich muss sie begleiten.«

»Du warst seit Jahren nicht mehr dort.«

»Ich habe ein gutes Gedächtnis.«

»Ich will dich nicht verlieren, Bruder.«

»Wenn sie stirbt, wirst du mich ganz sicher verlieren.«

Der Prinz begreift nur zu gut, was sein Bruder damit sagen will. Wenn er nicht einlenkt, wird Petrik ihm nie verzeihen.

»Dann solltest du dein Gesicht bedecken«, sagt Skiro.

»Das werde ich.«

Skiro greift nach einem Kordelhalsband, das er unter seiner Tunika trägt. Mit einem Seufzer übergibt er es Petrik. Dann ruft er nach einem Diener, raunt ihm etwas zu und kehrt an den Tisch zurück. »Seid ihr sicher, dass ihr nicht erst noch etwas essen wollt?«, fragt er mich.

Ich antworte nicht. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was hier gerade passiert, und ich bin so durcheinander, dass ich vermutlich keinen vernünftigen Satz herausbekommen würde. Also begnüge ich mich mit einem Kopfschütteln.

Bei seiner Rückkehr hat der Diener Kleidung für drei Personen dabei. Petrik nimmt sie an sich, kommt zu mir, packt mich am Oberarm und zieht mich hinter sich her. Er rennt förmlich durch die schönen Säle, und ich stolpere fast bei dem Versuch, mit ihm Schritt zu halten. Kellyn stapft hinter uns her.

»Mir war klar, dass er Ziva nichts abschlagen würde, wenn er weiß, wer sie ist«, sagt Petrik. »Mein Bruder ist ein Liebhaber aller Künste. Musik. Bücher. Gemälde. Wandteppiche. Besonders interessiert er sich für die Kunst der Magie. Er sammelt Zauberkundige, könnte man sagen. Er lädt sie an seinen Hof ein und entlohnt sie großzügig. Er bietet ihnen Sicherheit und seine Verschwiegenheit.«

Wir biegen in den nächsten Gang ein, Petriks Stiefel quietschen auf dem Steinboden.

»Musstest du ihm unbedingt sagen, dass Ziva in seiner Schuld stehen wird?«, fragt Kellyn. »Was, wenn er etwas verlangt, das sie nicht geben will? Und was sind das für Portale, die du immer wieder erwähnst?«

»Wir sind fast da. Du wirst es gleich verstehen.«

Noch ein paar Biegungen. Dann eine Treppe.

Petrik holt das Kordelband hervor. Ich sehe einen bronzenen Schlüssel zwischen seinen Fingern aufblitzen.

Wir erreichen eine Tür, die von mindestens einem Dutzend Wachen umstellt ist. Der Mann an ihrer Spitze nickt Petrik zu, als dieser rasch die Tür aufschließt, uns hindurchführt und sie sofort wieder hinter uns versperrt.

Ich gehe in die Mitte des Raums, drehe mich langsam um die eigene Achse und betrachte die prächtigen Porträts an den Wänden. Es sind insgesamt fünf, die gleichmäßig daran verteilt sind. Jedes Gemälde hat die Form eines länglichen Ovals und ist überlebensgroß. Das erste zeigt eine Frau. Sie sieht älter aus als ich, wenn auch nicht viel. Ihre Haut ist dunkelbraun, ihre Wangen sind rosig und ihr Haar fällt in schmalen Zöpfen über ihre Schultern herab. Sie lächelt und zeigt dabei eine Reihe perfekter weißer Zähne. Ihr Blick ist verschmitzt, und auf die Betrachter wirkt sie so, als hätte sie ein Geheimnis zu verbergen.

Das zweite Bild zeigt einen Mann, vielleicht im gleichen Alter oder etwas älter als die Frau. Er ist ebenfalls dunkelhäutig, hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Blick leicht nach oben und in weite Ferne gerichtet, als suche er den Horizont ab. Er trägt die Haare lang, sie umrahmen sein Gesicht wie ein prächtiger Heiligenschein. In einem Ohr hat er einen Ohrring, an den Fingern prangen mehrere Ringe.

Nach dem Mann kommen zwei Mädchen, und dann ein weiterer Mann am Ende des Reigens. Alle haben braune Haut, zeigen unterschiedliche Mienen, weisen aber ähnliche Gesichtszüge auf.

»Sind das …?«, frage ich.

»Meine anderen Halbgeschwister«, sagt Petrik. Er dreht sich zu dem Porträt links von der Tür, durch die wir gerade eingetreten sind. »Hier seht ihr Ravis – und glaubt mir, ihr wollt ihm bestimmt nicht leibhaftig begegnen.«

Der älteste Nachkomme von König Arund scheint zugleich auch der kleinste zu sein. Sein Haar ist kurz geschoren – so wie bei Petrik. Aber im Gegensatz zu Petrik liegen seine Augen tief in den Höhlen, seine Nase ist kleiner und seine Lippen sind voller. Er schaut seinen Betrachtern direkt in die Augen, als wolle er sie herausfordern. Er muss so um die dreißig Jahre alt sein.

»Die Darstellung ist sehr lebensecht. Man könnte fast meinen, deine Geschwister wären mit uns im Raum«, sage ich zu Petrik.

»Das liegt daran, dass sie von einem magisch begabten Künstler gemalt wurden.«

Kellyn und ich drehen uns beide zu Petrik.

»Ich werde seinen Namen nicht nennen, weil ich mich auch ihm gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichtet habe. Aber das macht nichts. Wir brauchen nur seine Gemälde, denn dabei handelt es sich um magische Portale.«

»Portale«, wiederhole ich dümmlich.

»Ja, wenn er das gleiche Bild absolut detailgetreu an zwei verschiedenen Stätten malt, funktionieren sie als Brücke zwischen den beiden Orten.«

Ich schaue mir die Gemälde noch einmal ganz genau an und bleibe vor Ravis’ Porträt stehen. »Du meinst …«

»Mit diesen Bildern kann man innerhalb eines Herzschlags zu jeder Hauptstadt gelangen – einfach, indem man durch sie hindurchschreitet.«

Ich strecke eine Hand nach Ravis’ Gesicht aus, aber Kellyn reißt mich zurück.

»Wie praktisch«, sagt er. »Warum haben wir sie nicht benutzt, um hierherzukommen?«

»Wie ich schon sagte, die Portale verbinden die Hauptstädte miteinander. Man muss also in einer sein, um in eine andere zu gelangen. Wir waren jedoch in Amanor.«

»Und was war, als wir in Lisadys Hauptstadt vor der Kriegsherrin flohen? Wir hätten hierherreisen können und wären in Sicherheit gewesen!«

Petrik seufzt entnervt. »Ich weiß nicht, wo die anderen Portale sind. Ich bin noch nie durch dieses hier hindurchgegangen! Ich weiß nur, dass es sie gibt. Wenn wir durch dieses Gemälde steigen, werden wir uns den Rückweg ganz genau merken müssen, damit wir Serutha zurückbringen können.«

Ich atme tief durch. »Heißt das, wir können Temra noch retten?«

»Ja, das können wir.«

»Sag mir, was ich tun soll«, fordere ich ihn auf.

»Zuerst müssen wir uns tarnen.« Petrik verteilt die Kleidung, schüttelt die Falten aus seinem eigenen Gewand und macht Anstalten, sich auszuziehen.

Ich kann nirgends hin, um mich ungestört zu entkleiden, also folge ich seinem Beispiel und drehe mich einfach zur Wand, wobei ich versuche, nicht an die männlichen Körper hinter mir zu denken.

Ich ziehe das Kleidungsstück an und greife dann unter den Rock, weil ich sicher bin, dass sich der restliche Stoff irgendwo verfangen hat.

Aber das hat er nicht.

Was für eine kleinere Person ein knielanges Kleid ist, endet bei mir auf halber Höhe meines Oberschenkels. In Ravis’ Territorium ist es anscheinend warm, denn das Kleid lässt auch eine Schulter frei.

Ich ziehe meine Stiefel wieder an, aber zwischen dem Schaft und dem Saum meines Kleides ist immer noch zu viel Haut, als dass ich mich wohlfühlen könnte.

Ich tue es für Temra, rufe ich mir in Erinnerung.

Als ich mich wieder umdrehe, starren Kellyn und Petrik beide auf meine Beine.

Meine Wangen fangen an zu brennen.

»Hört auf!«, fahre ich die beiden an.

Petrik gibt sich einen Ruck. »Tut mir leid. Es ist nur so, dass ich mich frage, ob diese Kleidung wirklich als Tarnung geeignet ist.«

Kellyn hebt langsam den Kopf, seine Augen bohren sich in meine. »Du – ich – du hast wirklich lange Beine.« Er schluckt hörbar, bevor er sich abwendet.

»Deine sind länger!«, sage ich abwehrend. Wie kann er es wagen, sich gerade jetzt über mich lustig zu machen. Ausgerechnet jetzt.

Petrik räuspert sich. »Ich versichere dir, er hat das als Kompliment gemeint. Du hast sehr schöne Beine, Ziva.«

»Hör auf, über meine Beine zu reden!«

»Also gut.« Petrik räuspert sich unnötigerweise ein weiteres Mal.

Kellyn trägt eine knielange Hose mit einem locker sitzenden Hemd, Petrik eine Art Rock und ein ganz ähnliches Hemd. Der Gelehrte hat sich außerdem ein Tuch um den Kopf geschlungen, um sein Gesicht zu verbergen.

Ohne weitere Aufforderung presse ich meine Hand gegen Ravis’ Porträt. Statt auf Widerstand zu stoßen, tauchen meine Finger bis zu den Knöcheln ein.

Ich hole tief Luft, trete in das Gemälde ein und schließe die Augen.

KAPITEL VIER

Ich gehe durch das Porträt, als wäre es eine offene Tür, bis ich plötzlich gegen etwas stoße.

»Aua.«

Ich kann nichts sehen. Die Luft ist abgestanden und stickig, und vor mir befindet sich eine massive Wand. Bin ich in einer Kiste?

Autsch.

Etwas knallt gegen meinen Rücken.

Oder jemand.

Ein großer, warmer Körper – viel zu groß, um der von Petrik zu sein.

Ich werde gegen die harte Oberfläche vor mir gepresst und Kellyn erdrückt mich fast von hinten. Er stützt seine Arme zu beiden Seiten an der Wand ab und versucht, mich nicht zu zerquetschen, aber ich kann ihn überall spüren. Seine Hüfte knapp über meiner Hüfte. Seine Brust an meinem Rücken. Seine Knie an meinen Oberschenkeln. Seine Nase in meinem Haar.

Es dürfte sich nicht gut anfühlen. Es sollte mir unangenehm sein.

Das ist es auch.

Es ist …

»Ziva? Ist alles in Ordnung mit dir? Wo sind wir?«