Sisters of the Sword - Wie zwei Schneiden einer Klinge - Tricia Levenseller - E-Book
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Sisters of the Sword - Wie zwei Schneiden einer Klinge E-Book

Tricia Levenseller

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Beschreibung

Ein Student der Magie, eine heiße Herzensbrecherin, ein verwirrend gut aussehender Söldner und eine weltfremde Schmiedin auf der Flucht vor einer mörderischen Kriegstreiberin

Die 18-jährige Ziva ist berühmt für ihre Kunst, Klingen und Waffen zu schmieden, denen eine ungeheure Magie innewohnt. Doch Ziva leidet unter Panikattacken, sodass sie den Verkauf ihrer 16-jährigen Schwester Temra überlässt. Als sie von einer Kriegsherrin den Auftrag erhalten, ihr das mächtigste Schwert von allen zu schmieden, gibt Ziva alles. Das Schwert ist ihr Meisterwerk. Als die Auftraggeberin es jedoch abholen will, erfährt die junge Schmiedin von dessen eigentlicher Macht: Es enthüllt ihr die tiefsten Geheimnisse des Gegenübers. Und Ziva erkennt, dass dieses magische Schwert dieser Machtbessenen nie in die Hände fallen darf. Bei Nacht und Nebel fliehen die beiden Schwestern mit der Waffe im Gepäck, begleitet von einem draufgängerischen Söldner und einem jungen Studenten der Magie. Auf dieser wilden Flucht fliegen alsbald die Funken zwischen den ungleichen Schicksalsgefährten.

Der packende Auftakt der Dilogie von der TikTok-Sensation und New-York-Times Bestsellerautorin von »The Shadows Between Us« und »Daughter of the Pirate King«: Großartige Action, Witz sprühende Dialoge und die zauberhaft nerdigste Heldin der Fantasy-Welt!

Die »Sisters of the Sword«-Dilogie:
Sisters of the Sword – Wie zwei Schneiden einer Klinge (Band 1)
Sisters of the Sword – Die Magie unserer Herzen (Band 2)

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Seitenzahl: 426

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Aus dem Amerikanischenvon Petra Koob-Pawis

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Erstmals als cbt Taschenbuch April 2022

© 2021 Tricia Levenseller

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Blade of Secrets« bei Feiwel and Friends, einem Imprint der Macmillan Publishing Group LLC, New York

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Petra Koob-Pawis

Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock (Nimaxs; michelaubryphoto; TheStockLair; iiiphevgeniy; Alan Paulson Photography)

MP · Herstellung: IH

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28115-1V003

www.cbj-verlag.de

Dieses Buch ist für dich, Dad. Pass auf, dass es dir nicht zu Kopf steigt

KAPITEL EINS

Ich ziehe Metall den Menschen vor, deshalb ist die Schmiede mein sicherer Rückzugsort.

Die Hitze dort ist unerbittlich, selbst wenn alle Fenster geöffnet sind. Der Schweiß perlt auf meiner Stirn und rinnt mir den Rücken hinunter, aber ich würde nie etwas anderes sein wollen als eine Schmiedin.

Ich liebe das Gefühl, einen Hammer in der Hand zu haben; ich liebe das Geräusch, wenn Metall auf Metall trifft, das leichte Nachgeben des erhitzten Eisens, den Geruch des lodernden Feuers und die Befriedigung, wenn eine neue Waffe fertig ist.

Ich bin stolz darauf, dass jede Waffe aus meiner Hand ein Einzelstück ist. Meine Kunden wissen, wenn sie eine Ziva-Klinge in Auftrag geben, dann erhalten sie etwas Einzigartiges.

Ich lasse den Hammer fallen und begutachte meine Arbeit.

Das klingenscharfe Schlagblatt, das diese keulenartige Waffe ziert, hat die richtige Form. Es ist das sechste und letzte der identischen Teile, die am Kopf des Streitkolbens angebracht werden sollen. Nachdem ich das Schlagblatt in kaltes Wasser getaucht habe, gehe ich damit zum Schleifstein, um die Außenkanten zu schärfen. Mit Hammer und Meißel habe ich zuvor bereits die Rillen in den Streitkolben geschlagen. Jetzt muss ich nur noch alle Teile zusammenfügen. Mithilfe einer speziellen Zange lege ich alles in den Schmiedeofen und warte.

In der Zwischenzeit gibt es viel zu tun. Die Werkzeuge müssen gereinigt werden. Metallreste müssen beseitigt werden. Ich betätige den Blasebalg, damit das Feuer immer über 1300 Grad bleibt.

Da stört lautes Geschrei die Ruhe an meinem Arbeitsplatz.

Meine Schwester Temra führt den Laden an der Vorderseite der Schmiede, wenn sie mir nicht gerade bei den größeren Waffen zur Hand geht. Dort können die Kunden schlichtere Waren kaufen wie Hufeisen, Schnallen und Ähnliches. Meine magischen Hufeisen bewirken, dass die Pferde schneller laufen, und die von mir gefertigten Schnallen gehen nie kaputt oder verlieren je ihren Glanz. Dafür reicht einfache Magie – nichts im Vergleich zu dem, was beim Klingenschmieden nötig ist.

»Ziva empfängt jetzt keine Kunden mehr!«, ruft Temra energisch auf der anderen Seite der Tür.

Ja, das ist richtig. Keiner betritt die Schmiede. Die Schmiede ist heilig. Sie ist mein Raum.

Als das Eisen so ist, wie ich es haben will, ziehe ich den Keulenkopf mit dem ersten Klingenblatt aus der Esse und rücke das Blatt in der Kerbe zurecht.

»Und ob sie mit mir sprechen wird!«, poltert eine Stimme. »Sie muss sich für ihre fehlerhafte Arbeit verantworten.«

Das Wort lässt mich hochschrecken. Fehlerhaft? Was für eine Unverschämtheit! Wenn es mir leichtfiele, anderen die Stirn zu bieten, würde ich jetzt vielleicht rausgehen und diesem Rüpel meine Meinung sagen.

Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, meine Schwester übernimmt das schon für mich.

»Fehlerhaft? Wie kannst du es wagen? Geh zu einem Heiler und hör auf, uns die Schuld für deine eigene Dummheit in die Schuhe zu schieben!«

Ich zucke zusammen. Jetzt ist sie vielleicht ein bisschen zu weit gegangen. Aber Temra war noch nie gut darin, ihr Temperament zu zügeln. Manchmal kann sie sogar richtig Furcht einflößend sein.

Ich tue mein Bestes, um den Streit nicht an mich heranzulassen und mich stattdessen auf meine Arbeit zu konzentrieren.

Dies ist der Moment, in dem sich die Magie entfalten wird. Das Metall wird erhitzt, grundiert. Ich habe lange da­rüber nachgedacht, wie ich diese Waffe zu etwas Besonderem machen kann. Ein Streitkolben wird zum Schlagen und Zertrümmern benutzt, etwas, das rohe Kraft erfordert. Aber was, wenn ich die Kraft verstärken könnte? Was, wenn die Waffe bei jedem Angriff, den sie abfängt, diese Energie in den nächsten eigenen Schlag lenken könnte?

Ich schließe die Augen und denke darüber nach, was ich mit der Magie erreichen will, richte mich aber sofort wieder auf, als zu meinem Entsetzen die Tür der Schmiede aufgestoßen wird.

Ich spüre die zusätzliche Person im Raum wie ein Gewicht, das auf meine Schultern drückt. Einen Moment lang vergesse ich, woran ich gerade arbeite, ich kann an nichts anderes denken als an das Unbehagen, das sich in mir ausbreitet.

Ich hasse dieses Gefühl, nicht in meine eigene Haut zu passen, das sich gerade in mir ausbreitet. Die Angst scheint allen Raum einzunehmen und mich beiseitedrängen zu wollen.

Als die Schritte näher kommen, versuche ich, meine Fassung zurückzugewinnen. Ich denke ganz bewusst nur an den Streitkolben, als hinge mein Leben davon ab. Vielleicht wird der Eindringling den Wink verstehen und wieder verschwinden.

Aber ich habe kein Glück.

Wer auch immer er ist, er stapft auf die andere Seite meines Ambosses, in mein Blickfeld, und hält mir seinen Arm unter die Nase.

»Sieh dir das an!«

Ich betrachte die große Wunde am Unterarm des Mannes. Mein Magen fängt an zu kribbeln, weil der Fremde viel zu nah vor mir steht.

»Verschwinde, Garik. Ziva arbeitet!«, fordert Temra ihn vergeblich auf. Sie hat hinter ihm die Schmiede betreten.

»Das hat deine Klinge angerichtet. Es ist mein Schwertarm! Ich verlange eine Rückerstattung!«

Mein Gesicht fängt an zu glühen, ich kann nicht denken, kann nichts tun als den Mann anstarren, dessen Blut auf meinen Amboss tropft. Garik ist vielleicht Anfang dreißig. Eher schlaksig als gut gebaut, mit einer krummen Nase und viel zu großen Augen. Temra kümmert sich um die meisten Kunden, damit ich mich auf das eigentliche Schmieden konzentrieren kann. Es ist also kein Wunder, dass ich ihn nicht erkenne.

Garik sieht mich an, als wäre ich schwer von Begriff. »Deine Waffe ist fehlerhaft. Sie hat mich geschnitten!«

»Du hast dich selbst geschnitten!«, fährt Temra ihn an. »Also versuch gar nicht erst, die Waffe für deine eigene Unachtsamkeit verantwortlich zu machen.«

»Unachtsamkeit? Ich bin ein meisterhafter Schwertkämpfer. Der Fehler liegt ganz sicher nicht bei mir.«

»Wirklich? Wie sonst schafft es ein Mann, sich mit der eigenen Waffe den Schwertarm zu verletzen? Wie hast du das angestellt? Hast du Wirbeln geübt? Hast du die Waffe in die Luft geworfen und versucht, sie wieder zu fangen? Und das womöglich vor einem großen Publikum, das deine Blamage miterleben konnte?«

Garik stottert eine ganze Minute lang und sucht nach Worten, was darauf hindeutet, dass Temra mit ihrer Vermutung richtigliegt.

»Vielleicht solltest du dich statt aufs Kämpfen lieber auf Akrobatik verlegen, wenn du dein Schwert auf diese Art und Weise benutzen willst«, sagt Temra spöttisch.

»Halt du dich da raus, du dummes Gör! Ich regle das mit der Schmiedin persönlich. Oder kann sie nicht für sich selbst sprechen?«

Das ist der Moment, in dem ich mein Werkzeug fallen lasse und dem widerlichen Mann meine volle Aufmerksamkeit widme. Hier reinzuplatzen und mich zu beschuldigen, ist das eine, aber meine Schwester wüst zu beschimpfen, das geht entschieden zu weit.

»Garik«, sage ich mit einer Selbstsicherheit, die ich nicht empfinde. »Du gehst jetzt besser, wenn du nicht willst, dass wir die Stadtwache rufen. Ab sofort bist du weder in der Schmiede noch im Laden oder sonst wo auf unserem Grund und Boden willkommen.«

»Mein Arm ...«, versucht er es erneut.

»Ist nicht annähernd so verletzt wie dein Stolz, sonst wärst du bei einem Heiler und nicht hier.«

Röte schießt ihm ins Gesicht, während sein Blut weiter auf den Boden tropft.

Ich kann ihn nicht länger ansehen. Es ist zu viel für mich. Stattdessen richte ich den Blick auf die Schnüre an seinem Hemd und konzentriere mich ganz darauf. Vielleicht habe ich gerade eine Dummheit begangen. Haben meine Worte überhaupt irgendeinen Sinn ergeben? Wäre jedes weitere Wort nicht nur unnützes Geschwätz?

Ich ringe mich zu einer letzten Bemerkung durch. »Ich kann mir die Waffe gerne einmal ansehen und mich von ihrer Wirksamkeit überzeugen. Vielleicht vor deinen versammelten Freunden? Aber wenn ich mir den präzisen Schnitt an deinem Arm so anschaue, scheint sie durchaus funktionstüchtig zu sein.«

Das war’s. Er stürmt zur Tür, kann es sich aber nicht verkneifen, dem Arbeitstisch einen Stoß zu versetzen, sodass meine Werkzeuge auf den Boden poltern.

Dann ist er fort.

»Schrecklicher Kerl«, sagt Temra und schiebt den Arbeitstisch wieder zurück an seinen Platz.

Ich höre ihr nicht richtig zu. Ich schaue auf mein Werkzeug, dann auf die Stelle, an der Garik sich drohend vor mir aufgebaut hatte. In meinem Kopf läuft die grässliche Szene immer wieder ab, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Er war hier. In meiner Schmiede. Ich musste mit ihm sprechen. Ich musste zulassen, dass ich infrage gestellt werde. Und währenddessen erstarrt mein Inneres, als würde ich jeden Moment zu Eis werden. Mein Verstand sagt mir, dass weder meine Schwester noch ich wirklich in Gefahr waren, dass solche Konfrontationen kein Weltuntergang sind, aber mein Körper ist trotzdem nicht davon überzeugt.

Ich kann nicht atmen. Oder vielleicht atme ich zu schnell.

»Ziva? Oje. Es ist alles in Ordnung.«

Es ist nicht alles in Ordnung. Temra will auf mich zugehen, aber ich weiche einen Schritt zurück und falle dabei fast über meine Füße. Meine Hände zittern und meine Körpertemperatur jagt nun wieder nach oben, mir bricht der Schweiß aus.

»Ziva, er ist weg. Du bist in Sicherheit. Schau dich um. Es sind nur wir. Hier, nimm deinen Hammer.« Sie drückt mir das Werkzeug in die Hand. »Jetzt hör auf meinen Atem und folge dem Rhythmus.« Sie holt übertrieben tief Luft, atmet langsam ein und wieder aus.

Den Hammer kraftlos in der Hand, sinke ich vor dem Amboss auf die Knie, den Kopf in Höhe des unvollendeten Streitkolbens.

Du gehst jetzt besser.

Ich kann nicht glauben, dass ich ihm tatsächlich gesagt habe, dass er nicht mehr willkommen sei. Ich habe ihn beleidigt. Er wird anderen potenziellen Kunden davon erzählen. Alle werden erfahren, dass ich dummes Zeug geredet habe. Sie werden sich eine andere Schmiede suchen. Das wird mein Ruin sein. Und eine Demütigung.

Alle werden wissen, dass mit mir etwas nicht stimmt.

»Atme. Du bist in Sicherheit. Atme«, dringt Temras Stimme durch meine verworrenen Gedanken zu mir durch.

»Was, wenn das Schwert fehlerhaft war und ich einfach –«

»Das Schwert war perfekt«, unterbricht sie mich. »So darfst du nicht denken. Komm schon, Ziva. Du bist eine Meisterin deines Handwerks. Atme einfach.«

Die Zeit vergeht, während ich versuche, unter dem Gewicht meiner eigenen Panik hervorzukriechen.

Ich kann nicht genau sagen, wie lange es dauert, bis die Panik nachlässt und mein Verstand begreift, dass es noch etwas anderes gibt als den drohenden Untergang. Die Angst weicht, quillt aus mir heraus wie der Saft einer zerquetschten Frucht.

Ich war schon immer von Natur aus ängstlich, aber die Gegenwart von anderen Menschen macht alles noch viel schlimmer. Und manchmal kommen dann diese Anfälle – infolge einer besonders unangenehmen Begegnung oder einfach wenn ich mich überfordert fühle.

Ich bin müde und gereizt, aber ich freue mich trotzdem über die Umarmung meiner Schwester. Bei ihr kann ich selbst entscheiden, wann ich mich zurückziehe.

»Danke«, sage ich und lege meinen Hammer wieder auf eine der vielen Werkbänke in der Schmiede.

»Es tut mir leid, Ziva. Ich habe wirklich versucht, ihn abzuhalten.«

»Ja, ich habe es gehört. Aber wenn jemand sich unbedingt Zugang zur Schmiede verschaffen will und es brenzlig werden könnte, dann musst du ihn reinlassen. Ich möchte nicht, dass du dich in Gefahr begibst.«

Sie schnaubt. »Wie gefährlich kann ein Mann sein, der es schafft, sich an der eigenen Waffe zu verletzen?«

Wir lachen gemeinsam, bevor ich mich wieder dem unvollendeten Streitkolben zuwende und dabei überlege, ob ich weiterarbeiten oder mich zuerst ein wenig ausruhen soll.

Aber die Waffe ... ist bereits voller Magie.

Es ist keine physische Veränderung zu erkennen und doch spüre ich sie. Da ist dieses leichte, heiße Pulsieren.

Ich packe den Streitkolben am Metallgriff, halte den Kolbenkopf ganz nah an mein Gesicht und betrachte das Klingenblatt, das noch am Abkühlen ist.

»Irgendetwas ist passiert«, sage ich.

»Hat Garik die Waffe kaputt gemacht?«

»Nein, aber sie ist bereits von Magie durchdrungen.«

»Was hast du getan?«

»Nichts. Ich war gerade dabei, das erste Blatt einzusetzen, als Garik hereinkam. Ich habe den Kolben auf den Amboss gelegt und dann ...«

»Und dann?«, fragt Temra.

»Dann konnte ich nicht mehr richtig atmen.«

Ich eile nach draußen und Temra folgt mir. Unsere Stadt liegt mitten in einem Nadelwald. Es regnet jeden zweiten Tag und die Sonne kämpft ständig mit den Wolken um die Vorherrschaft am Himmel. Heute scheint sie hell und wärmt meine Haut trotz der leichten Brise.

Als ich klein war, hielten unsere Eltern Hühner und eine Ziege im Garten. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter jeden Morgen die Eier eingesammelt habe. Aber weder Temra noch ich haben noch große Lust auf derlei tägliche Pflichten, daher dient das an die Schmiede angrenzende Stück Land hauptsächlich dazu, meine Waffen auszuprobieren.

Als ich mich in sicherer Entfernung vom Haus befinde, umklammere ich den Streitkolben und hole zum Schlag gegen eine alte Zeder aus.

Von Magie ist allerdings nichts zu sehen.

Es kommt zwar nur selten vor, aber tatsächlich habe ich schon ein paar Mal unwissentlich eine Waffe mit Magie ausgestattet und musste erst im Nachhinein herausfinden, wie sie funktioniert.

Das ist jedes Mal ziemlich frustrierend.

Ich stoße den Schaft auf den staubigen Boden, aber auch das bringt nichts. Spontan hauche ich den Streitkolben an, denn mir ist eingefallen, dass mein Gesicht während meines Anfalls ganz nah an der Waffe war.

Immer noch nichts.

»Lass mich mal«, sagt Temra.

»Auf keinen Fall. Du könntest dich verletzen.«

»Ich habe schon mehr als einmal mit deinen Waffen hantiert.«

»Aber meine Waffen haben oft eine große Reichweite. Solange ich mir nicht sicher bin, wie sie wirkt, lasse ich dich nicht –«

Im selben Moment fällt Temra auf die Knie, fasst sich mit beiden Händen an den Hals und fängt an zu keuchen. Ich hatte beim Sprechen den Streitkolben über meinem Kopf geschwungen. Erschrocken halte ich inne und eile zu ihr.

»Was ist passiert? Hast du etwas verschluckt?«

Sie schnappt gierig nach Luft und starrt verwundert auf die Waffe. »Ich habe nichts verschluckt. Der Streitkolben ist schuld. Mach das noch mal.«

»Was?«

»Schwing ihn über deinem Kopf.«

Ich vollführe eine volle Drehung mit der Waffe, aber diesmal ist Temra darauf vorbereitet. »Ich kriege keine Luft, wenn du das machst.«

Entsetzt betrachte ich den Streitkolben, dann reiche ich ihn an sie weiter.

»Versuch du es mal.«

Sie tut es und ich spüre die Wirkung sofort. Der Streitkolben saugt die Luft aus mir heraus und zu sich hin. Erst als ich etwa zehn Fuß von ihm entfernt bin, kann ich wieder frei atmen.

Temra lässt den Streitkolben sinken. »Unglaublich!«

»Ich bin froh, dass meine Panik zur Abwechslung mal für etwas gut ist.«

Temra sieht mich traurig an. »Keine Sorge, Ziva. Wann immer sie dich überfällt, werde ich für dich da sein.«

Als große Schwester sollte ich für sie da sein. Aber meistens ist Temra diejenige, die mich rettet. Die Gabe der Magie hätte wohl besser von unserer Mutter auf sie übergehen sollen. Meine Schwester ist so viel stärker und mutiger, als ich es je sein werde, aber ich glaube nicht, dass sie begreift, wie sehr meine Gabe mir meine Kindheit geraubt hat.

Ich bin froh, dass Temra mit ihren sechzehn Jahren das Glück hat, sich um ganz normale Dinge zu kümmern – mit Jungs flirten und jeden Tag zur Schule gehen. Anders als ich. Ich habe für uns gesorgt, seit ich zwölf war. Ich frage mich oft, ob die vielen, vielen Stunden, die ich in meinen frühen Jahren in der Schmiede verbrachte, dazu geführt haben, dass ich mich jetzt vor allem anderen fürchte. Dass ich jetzt, mit achtzehn, nur höchst ungern das Haus verlasse und unter Menschen gehe.

Vielleicht ist es aber auch nur eine Art Nebenwirkung meiner magischen Begabung. Ich habe niemanden, der mir Antworten auf diese Fragen zur Magie geben kann. Meine Mutter wurde getötet, als ich fünf war, lange bevor sich meine Gabe manifestierte.

»In ein paar Monaten findet das örtliche Turnier statt«, sagt Temra. »Ich bin sicher, dass wir bis dahin noch viele Kunden in der Stadt haben werden. Und jeder wird eine Ziva-Klinge haben wollen.«

Sie versucht, mich aufzumuntern. Ich weiß ihre Bemühungen zu schätzen, aber ich leide immer noch unter den Nachwehen meiner Panikattacke.

»Es ist nur eine Phase«, sagt Temra, die meine Gedanken zu lesen scheint. »Und irgendwann ist sie vorbei.«

»Ja, so wird es wohl sein.«

Aber ich glaube keine einzige Sekunde daran.

KAPITELZWEI

Es ist Dienstag, und das heißt, wir gehen zum Abendessen weg.

Ich hasse es, auswärts zu essen.

Aber wenigstens ist unser üblicher Tisch frei. Ich eile sofort hin und belege den hinteren Stuhl. Das ist mein Lieblingsplatz, weil ich mit dem Rücken an der Wand sitze. Niemand kann unbemerkt an mich herantreten und ich kann den ganzen Raum überblicken.

Ich mag es nicht, wenn die Leute mich anstarren, aber genau dieses Gefühl habe ich, wenn ich den Rücken einem großen Raum zuwende.

Temra und ich greifen nach den Speisekarten, aber das ist nur ein Ritual, denn wir wissen bereits, was wir wollen.

Die Bedienung begrüßt uns beide mit Namen, bevor sie unsere Bestellungen aufnimmt.

»Ich nehme die Blumenkohlsuppe und frisches Brot«, sagt Temra. »Sie nimmt das Lamm mit gedünstetem Gemüse.«

Ich nicke der Bedienung zu und ringe mir ein Lächeln ab. Temra und ich haben eine Vereinbarung getroffen. Wir sind beide schreckliche Köchinnen. Und wenn wir es trotzdem einmal versuchen, ist das Essen entweder verbrannt oder matschig. Aber ich würde das mieseste Essen in der Sicherheit unseres Zuhauses einem Festmahl außerhalb vorziehen, wo Fremde mich bei jedem Bissen beobachten können. Temra hingegen liebt es, auswärts zu essen, daher haben wir eine Abmachung. Die Hälfte der Woche essen wir auswärts, die andere Hälfte kochen wir abwechselnd zu Hause. Und Temra bestellt immer für mich mit, also muss ich mit niemandem reden außer ihr.

Ich stütze die Hände auf den Tisch und verschränke die Finger, eine Angewohnheit, die ich seit meiner Kindheit habe. Ein leichtes Kribbeln breitet sich unter meiner Haut aus. Um mich von dem unangenehmen Gefühl abzulenken, sage ich zu Temra: »Heute Nachmittag, als du noch in der Schule warst, ist der Gouverneur vorbeigekommen, um seine Waffe abzuholen.«

»Er persönlich?«

»Ja.«

»Er konnte es wohl kaum erwarten, den Streitkolben in die Hand zu bekommen. Was hat er dazu gesagt?«

Ich zucke zusammen, versuche es jedoch zu verbergen – was mir offenbar nicht gelingt, denn Temra fragt sofort: »Hat er ihm nicht gefallen?«

»Doch, doch. Er hat ihm sehr gut gefallen.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Er ... hat uns zu sich eingeladen.«

Ein strahlendes Lächeln erhellt das schöne Gesicht meiner Schwester. Sie macht es einem manchmal wirklich schwer, sich richtig aufzuregen.

»Das ist wunderbar. Ziva! Weißt du nicht, was das bedeutet? Wir müssen einen guten Eindruck machen.«

»Ich habe versucht, die Einladung auszuschlagen«, erwidere ich. »Aber der Mann wollte kein Wort davon hören.«

»Oh, das wird ein Spaß! Ein Fest ist genau das, was wir brauchen.«

»Von einem Fest kann keine Rede sein. Er hat mir versichert, dass es ein gemütliches Abendessen in kleiner Runde sein wird.«

»Das ist in Ordnung. Der Sohn des Gouverneurs wird trotzdem da sein.«

Ihr verschmitztes Lächeln kann nur eines bedeuten. »Also sieht er gut aus, hm?«, frage ich.

Ihre Antwort ist ein Seufzer.

Ich wünschte, das Essen käme schneller, dann hätte ich etwas mit meinen Händen zu tun. Meine Finger sind schon vom vielen Kneten gerötet und ich verstecke sie unter dem Tisch.

Ich merke, dass Temra ausführlich über den Sohn des Gouverneurs sprechen will, habe aber keine Lust darauf. Sich zu jemandem hingezogen fühlen, ist etwas, das mir fremd ist. Ich bin mir nicht sicher, ob Angst mich davon abhält, Menschen näherzukommen, oder etwas anderes. Wie dem auch sei, es ist mir einfach noch nicht passiert.

Es ist ja nicht so, als würde ich nicht mit Menschen in Kontakt treten wollen, ganz im Gegenteil. Aber vor allem möchte ich mich in Gegenwart eines anderen sicher fühlen. Und das ist bisher nur bei Temra der Fall.

Ich schaue mich kurz in der Gaststube um. Nur vier andere Tische sind besetzt. Zwei Paare sitzen an getrennten Tischen: zwei Frauen mittleren Alters, die sich an den Händen halten, und ein Mann und eine Frau, die sich streiten und dabei versuchen, leise zu sprechen. Die Frau springt auf und stürmt aus dem Lokal. Der Mann wirft ein paar Münzen hin, bevor er ihr folgt.

Wie peinlich.

Dann ist da noch eine Frau, die allein am Fenster sitzt und an einem Glas Wein nippt.

Und der vierte Gast –

Starrt mich an.

Ich senke instinktiv den Blick, und meine Wangen werden heiß, weil ich beim Hinschauen erwischt worden bin. Aber eigentlich hat er mich ja zuerst angesehen, oder?

Temra redet über irgendetwas, aber ich höre ihr kaum zu, denn ich bin damit beschäftigt, aus den Augenwinkeln einen erneuten Blick auf den Mann zu werfen.

Er beobachtet mich immer noch.

»Temra«, flüstere ich. »Jemand starrt uns an.«

»Wie oft muss ich es dir noch sagen? Keiner starrt dich an.«

»Nein, diesmal meine ich es ernst. Schau doch, der Kerl hinter dir.«

Sie dreht sich so, dass sie dem Mann neben der Tür direkt in die Augen sehen kann. Er hat noch nichts gegessen, und er schaut auch nicht auf die Speisekarte, die er in der Hand hält.

Temra winkt dem Fremden kurz zu, bevor sie sich wieder umdreht. »Er sieht gut aus, wenn man mal davon absieht, was er anhat. Vielleicht sollte ich hingehen und ihn ansprechen?«

»Wage es ja nicht, mich hier allein zu lassen«, murmle ich zwischen den Zähnen hindurch.

»Ich würde ihn einladen, sich zu uns zu setzen.«

»Nein!«

»Ich mache nur Spaß! Ich warte bis nach dem Essen, bevor ich ...«

Zuerst denke ich, dass die Bedienung mit unserem Essen gekommen ist, aber dann sehe ich, dass der Tisch an der Tür nun leer ist und der Mann neben uns steht. Ich betrachte betont interessiert die Holzmaserung des Tisches, während Temra sich erfreut dem Fremden zuwendet.

»Hallo«, sagt sie mit dieser Stimme, die sie nur für Männer reserviert hat.

»Guten Tag«, sagt er. »Entschuldigt die Störung, aber hättet ihr etwas dagegen, wenn ich mich zu euch setze?«

Temra sieht mich an, aber ich bringe kein Wort he­raus. Ich schaffe es nicht einmal, den Kopf zu heben. Also antwortet sie für uns beide. »Bitte«, sagt sie und zeigt auf den freien Stuhl.

Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, weil der Fremde direkt neben mir steht. Ich habe das Gefühl, als würde mein Inneres wie Teig geknetet. Ich möchte überall, nur nicht hier sein.

»Ich bin Temra«, sagt meine Schwester.

»Ich bin Petrik«, stellt der Fremde sich vor.

»Petrik«, wiederholt Temra, wie um dem Klang seines Namens noch einmal zu genießen. »Dich habe ich noch nie gesehen.«

»Ich bin auch nicht von hier. Ich komme aus der Gegend von Skiro.«

»Und was machst du dort in Skiro?«

Wie schafft sie das nur? Sie weiß einfach mühelos, was sie sagen muss und wie sie es sagen muss. Ich bin schon froh, wenn ich ein Gespräch mit meinen Kunden hinkriege. Über Waffen, mit denen ich mich auskenne und über die ich etwas sagen kann. Aber alles, was darüber hinausgeht?

Da bin ich hilflos.

Ein Gefühl der Sehnsucht rührt sich in mir. Es ist der Wunsch, so zu sein wie meine Schwester. Sie ist weltgewandt und fühlt sich so wohl in ihrer Haut.

»Ich bin ein Gelehrter aus der Großen Bibliothek«, fährt Petrik mit seiner tiefen Stimme fort. »Ich bin auf alte Magie spezialisiert.«

Meine Augen huschen wie von selbst nach oben. Mit diesem einen Satz hat er mein Interesse geweckt.

»Magie?«, frage ich nach.

Der Mann grinst, und plötzlich finde ich den Mut, ihn richtig anzuschauen. Er ist ungefähr in meinem Alter und hat sein Haar so kurz geschoren, dass man unter dem feinen schwarzen Flaum seine Kopfhaut sieht. Er hat volle Lippen, eine breite Nase, dunkelbraune Haut und die dazu passende Augenfarbe.

Seine Kleidung ist ungewöhnlich. Die meisten Männer bevorzugen Tuniken und eng anliegende Hosen, aber der hier trägt ein saphirblaues Gewand, das seine Hände und Fußknöchel bedeckt. Alles, was man von ihm sieht, sind die Spitzen seiner Stiefel und sein Kopf. Das Gewand hat eine Kapuze, aber er hat sie zurückgeschlagen, sodass ich sein Gesicht sehen kann.

»Ja, von den Seherinnen auf dem nördlichen Kontinent bis zu den Tierflüsterern auf den westlichen Inseln – ich habe mich in alles eingelesen. Ich bin dabei, ein Buch darüber zu schreiben. Eine Art Kompendium, in dem alle magischen Fähigkeiten versammelt sind, die es im Lauf der Geschichte je gegeben hat.«

Temras Augen verengen sich und sie sieht mich vielsagend an. Sie hebt die Brauen, wie um mir etwas mitzuteilen. Nach einem Moment gibt sie auf und verdreht die Augen. »Und dieses Vorhaben hat dich also zu Ziva geführt«, stellt sie fest.

»Genau«, sagt Petrik. »Ich hatte gehofft, Ziva würde mir erlauben, ihr einige Fragen zu stellen und ihre Arbeiten zu begutachten.«

Im ersten Moment bin ich erfreut. Ein junger Mann in meinem Alter will mit mir über meine Arbeit sprechen? Ist das die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe? Eine Möglichkeit, in sicheren Gesprächsgewässern zu bleiben und dabei jemand Neues kennenzulernen?

Aber dann wird mir klar, dass er mich nur befragen will, weil er ein Buch schreibt.

Und andere Leute werden es lesen. Petrik wird mich zitieren. Mich und meine Arbeit beschreiben. Ich werde unter die Lupe genommen werden. Was, wenn ich etwas Falsches sage? Was, wenn er meine Magie langweilig findet und mich ablehnt und wieder geht? Was, wenn jeder, der das Buch liest, mich für eine Schwindlerin hält und ich alle meine Kunden verliere?

Auch wenn ich weiß, dass dies höchst unwahrscheinlich ist, kann ich die Angst nicht abschütteln. Ein Gespräch mit ihm ist viel zu riskant.

»Nein danke«, sage ich und betrachte interessiert meine Hände in meinem Schoß.

Die Bedienung kommt und bringt unser Essen. Sie sieht Petrik fragend an. »Hast du dich für etwas entschieden?«

»Noch nicht«, sagt er.

Sie geht und lässt Stille und dampfende Teller an unserem Tisch zurück.

»Also, Petrik«, sagt Temra und wirft ihr Haar über die Schulter. Ihre mahagonischimmernden Locken fangen bei der Bewegung das Licht ein. »Erzähl mir von Skiro. Ich bin noch nie dort gewesen.«

Ich weiß, dass er mich anstarrt. Ich spüre es. Temra gibt ihr Bestes, um die Aufmerksamkeit des Gelehrten auf sich zu lenken, aber Petrik ignoriert sie einfach.

»Ich bin wohl etwas voreilig gewesen, Ziva. Ich bitte um Verzeihung. Es war eine lange Reise und ich hätte dich nicht so einfach beim Abendessen überfallen dürfen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich dir ausgerechnet in diesem Gasthaus begegne. Ich wollte dich in deiner Werkstatt aufsuchen. Ich wollte einen Termin vereinbaren und dir alles erklären. Ich würde dich natürlich für deine Zeit entschädigen. Vielleicht könnte ich einmal in deiner Schmiede vorbeikommen, damit wir die Angelegenheit weiter besprechen?«

»Nein danke«, wiederhole ich.

»Darf ich den Grund erfahren?«

»Die Schmiede ist Zivas sicherer Hafen«, erklärt Temra. »Sie mag es nicht, wenn jemand eindringt. Sie lebt sehr zurückgezogen. Ich bin sicher, du verstehst das. Vielleicht könnte ich dir bei deinem Buch helfen. Ich gehe Ziva häufig in der Schmiede zur Hand. Ich bin mit ihrer Arbeitsweise vertraut und habe ein umfangreiches Wissen über alle Waffen, die sie hergestellt hat. Vielleicht könnten wir beide uns irgendwann treffen. Wir könnten zusammen essen gehen.«

Ja, diese Idee gefällt mir. Ich bleibe außen vor und Temra kann mit einem vermutlich gut aussehenden Jungen flirten.

»Gibt es wirklich nichts, was ich tun kann, um dich vom Gegenteil zu überzeugen?«, fragt Petrik, der mich unverwandt ansieht.

Ich muss deutlicher werden. Selbstbewusst sein. Wenn ich auch nur den Hauch von Unsicherheit erkennen lasse, wird er mich wahrscheinlich weiter bedrängen. Also hebe ich den Kopf und sehe dem Gelehrten fest in die Augen. »Ich bin mir sicher. Ich habe kein Verlangen danach, befragt zu werden oder mein Leben mit der Lupe inspizieren zu lassen.«

Dann nehme ich Gabel und Messer zur Hand und schneide den Lammbraten in Stücke. Ich zwinge mich dazu, in Gedanken nicht noch einmal die Worte zu wiederholen, die ich gesagt habe. Ich will mich nicht darauf fixieren. Ich will mir keine Sorgen machen. Ich will einfach nur mein Essen genießen.

Petrik steht wortlos auf. Aber er kehrt nicht zu seinem Tisch zurück, sondern geht zur Tür und verlässt den Raum.

Gut, dass wir ihn los sind.

»Ist das zu fassen?«, sagt Temra.

»Ich weiß«, sage ich. »Wie oft muss ich noch Nein sagen, damit er es versteht?«

»Was? Oh, natürlich. Aber ist dir aufgefallen, dass er mich völlig ignoriert hat! Wie unhöflich! Er hat mich am Anfang des Gesprächs nur benutzt, um an dich heranzukommen.«

Das ist das erste Mal. Normalerweise versuchen die Leute, mit mir zu reden, in der irrigen Annahme, dass sie auf diese Weise an meine hübsche Schwester herankommen.

»Jetzt ist er weg«, sage ich und nehme endlich einen Bissen von meinem köstlichen Essen. Es schmeckt hervorragend, wie immer.

Temra taucht ihren Löffel in die Suppe, führt ihn aber nicht zum Mund. In Gedanken ist sie immer noch bei der seltsamen Begegnung.

»Mach dir keine Sorgen,« sage ich zu ihr. »Bald habe ich genug Geld beisammen, dann können wir Ghadra verlassen und uns auf dem nördlichen Kontinent zur Ruhe setzen. Dort kann er uns nicht aufspüren.«

Seit Jahren sprechen wir über diesen Plan. Seit ich mein eigenes Geschäft eröffnet habe. Der nördliche Kontinent ist wunderschön, und nur wenige können es sich leisten, da zu leben. Dort weiß niemand, wer ich bin. Keiner wird mich aufsuchen, um Waffen in Auftrag zu geben. Ich liebe meine Arbeit, aber ich würde am liebsten nur für mich selbst schmieden. Wenn ich endlich genug zusammengespart habe, dass Temra und ich ein gutes Leben führen können, werden wir von hier weggehen und uns irgendwo auf dem Land niederlassen. Nur wir beide. Mehr will ich gar nicht. Ich möchte mich sicher fühlen und mir keine Sorgen machen müssen, dass unangemeldet Besucher auftauchen, auf die ich mich gedanklich nicht eingestellt habe.

Mein Geschäft als einzige magische Schmiedin weit und breit gedeiht – zumindest habe ich nie von einer anderen gehört.

Menschen aus der ganzen Welt suchen mich wegen meiner Waffen auf. Darunter auch einige Adlige, die mit ihrem Reichtum und ihrer Überlegenheit prahlen wollen. Oder hochrangige Offiziere der Söldnerheere. Stadt- und Burgwachen erhalten nur einen geringen Lohn, daher hat auch noch nie einer von ihnen an meine Tür geklopft.

Der Großteil meiner Kunden sind Söldner. Lohnkrieger.

Kämpfer, die sich anheuern lassen.

In den letzten Jahren gab es eine große Nachfrage nach ihnen.

Unser früherer Herrscher, König Arund, hatte immer wieder Ärger mit seinem jüngeren Bruder, der ihn entmachten und seinen Thron stehlen wollte. Dem König, so heißt es, sei nach einem missglückten Attentat nichts anderes übrig geblieben, als seinen jüngeren Bruder zum Tode zu verurteilen. Er liebte seinen Bruder innig und litt sehr darunter, dass die Krone zu ihrem Zerwürfnis geführt hatte.

Um weitere familiäre Feindseligkeiten zu vermeiden, beschloss Arund, das Königreich Ghadra unter seinen sechs geliebten Kindern aufzuteilen.

Neue Grenzen wurden gezogen. Es entstanden sechs Territorien, jedes benannt nach dem Prinzen oder der Prinzessin, die es regieren. Ghadra bestand von da an aus mehreren Teilen.

Und das rief manch zwielichtige Gestalt auf den Plan.

Es ist erst ein Jahrzehnt her, dass die Teilung stattfand, aber es gibt viele, die daraus ihren Vorteil ziehen wollen. Banditen, zahlreicher als Fliegen, tummeln sich seither auf den Straßen. Sie ziehen von einem Land zum nächsten und machen es den einzelnen Herrschern unmöglich, ihnen das Handwerk zu legen. Niemand will Männer oder Geld für die Ergreifung der Verbrecher bereitstellen, wenn sie sich schon längst nicht mehr im eigenen Hoheitsgebiet befinden. Nicht zu vergessen die Herausforderung, die es für die sechs neuen Regenten bedeutete, ihren jeweiligen Hofstaat einzurichten, eine eigene Wirtschaft aufzubauen und ihre Herrschaft zu finanzieren.

Die Bevölkerung hat sehr unter dem Machtwechsel gelitten.

Es heißt, nicht alle sechs Königskinder seien mit ihrem kleinen Stück vom Kuchen zufrieden. Die Rede ist von Aufständen und Übernahmeplänen, aber es sind Gerüchte, mehr nicht. Raunen im Wind.

Wie auch immer, mein Geschäft floriert und ich verdiene gutes Geld damit. Unzählige haben versucht, mich als persönliche Schmiedin anzuheuern. Da ich die meisten Menschen verabscheue, habe ich stets abgelehnt. Doch in letzter Zeit häufen sich die Anfragen. Das Wissen um meine Fähigkeiten hat selbst die fernen Grenzen von Ghadra erreicht. Vermutlich weil ich in letzter Zeit mehr Aufträge annehme, um unser Ziel schneller zu erreichen.

Temra und ich brauchen nur noch etwa zwei Jahre, bevor wir unseren Plan endlich umsetzen zu können. Wenn ich in den Ruhestand gehen und die im Laufe der Jahre steigenden Lebenshaltungskosten für mich und meine Schwester für den Rest unserer Tage bezahlen können will, müssen wir noch Geld ansparen.

»Das ist großartig, Ziva«, sagt Temra und reißt mich aus meinen Träumen von ihr und mir allein im Paradies.

Sie hat ihr Essen immer noch nicht angerührt.

»Hast du noch einmal darüber nachgedacht, welchen Beruf du nach der Schule ausüben willst?«, frage ich in der Hoffnung, sie abzulenken.

»Nicht so richtig. Ich liebe es, bei den Aufführungen in der Stadt mitzuspielen, also vielleicht könnte ich mich einer Wandertruppe anschließen.«

Ich verstehe nicht, wie sie mit mir im Norden bleiben und gleichzeitig durchs Land ziehen will. Darüber hat sie offensichtlich nicht sehr gut nachgedacht.

»Oder ...«, überlegt sie laut, »ich mache etwas mit Waffen. Im Grunde genommen bin ich schon mein ganzes Leben lang bei dir in die Lehre gegangen.«

Ja, diese Idee gefällt mir. »Aber natürlich! Es gibt immer einen Platz für dich in meiner Schmiede.«

»Das habe ich nicht gemeint. Ich kann nicht mein ganzes Leben in deinem Schatten stehen, Ziva.«

In meinem Schatten? Wie seltsam, dass sie es so ausdrückt, wo doch in Wahrheit ich es bin, die immer wieder versucht, sich hinter ihr zu verstecken.

»Du wirst etwas finden, das dich glücklich macht«, versichere ich ihr.

»Ich bin glücklich, aber ich werde auch für die Zukunft etwas für mich finden. Was ist mit dir?«

»Mit mir?«

»Bist du glücklich?«

Instinktiv möchte ich mit Ja antworten, aber ich zögere. Ich lebe in ständiger Angst vor anderen. Manchmal fällt es mir unfassbar schwer, das Haus zu verlassen.

»Ich bin glücklich«, sage ich schließlich entschlossen. »Ich habe alles, was ich brauche. Dich und meine Schmiede. Ich wünschte nur, alle anderen Menschen würden sich in Luft auflösen.«

»Das wäre eine furchtbar leere Welt.«

»Eben.«

»Wozu bräuchtest du mich dann noch, wenn ich keine Kunden mehr vergraulen muss?«

»Ich würde mich einsam fühlen, wenn es nur mich gäbe«, erwidere ich scherzhaft.

»Und was ist mit mir?«

»Wie meinst du das?«, frage ich.

»Was soll ich tun, während du in deiner Schmiede Waffen herstellst für Leute, die es nicht gibt? Theaterspielen ohne Publikum ist sinnlos.«

»Du könntest dir ein Hobby suchen.«

»Das habe ich schon!«

»Ich glaube nicht, dass Flirten als Hobby zählt. Außerdem gibt es keine Männer in meiner Welt.«

Temra schüttelt verblüfft den Kopf. »Eines Tages wirst du dich unsterblich verlieben. Du wirst jemanden kennenlernen, der es schafft, dich aus deiner Schmiede zu locken. Es wird dich wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen.«

»Der Tag, an dem der Welt das Eisenerz ausgeht, wird der Tag sein, an dem ich meine Schmiede verlasse. Aber selbst dann könnte ich es mit Kupfer versuchen.«

Temra schnippt mir ein paar Tropfen von ihrem Löffel ins Gesicht.

KAPITELDREI

Es gibt nichts Schrecklicheres als ein gut besuchtes Fest.

»Ein Essen in kleiner Runde«, hatte Gouverneur Erinar gesagt. »Nur meine Familie und ein paar Freunde, um Ghadras talentierteste Schmiedin zu feiern. Ihr müsst kommen. Ein Nein akzeptiere ich nicht.«

Und in meiner Eile, den Gouverneur möglichst rasch wieder loszuwerden, nachdem ich seinen Streitkolben fertiggestellt hatte, stimmte ich zu.

Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, unhöflich sein. Stattdessen bin ich nun gezwungen, auf einem Fest mit mehreren Hundert Gästen auszuharren. Entweder ist Erinar mit jedem in der Stadt verwandt oder jemand muss ihm mal erklären, dass er eine völlig falsche Vorstellung davon hat, was man allgemein unter »kleiner Runde« versteht.

So oder so sitze ich in der Falle. Als Ehrengast kann ich mich nicht einfach davonschleichen.

Selbst in dieser Menge spüre ich die Blicke der Anwesenden auf mir, sie sind wie Löwen, die eine einsame Antilope beäugen. Ich verschränke die Hände und fange an, meine Finger zu kneten.

Ich werde nicht in Panik geraten.

Ich werde nicht weglaufen.

Ich werde vermutlich auch nicht sterben.

Hat soziales Verhalten in der Geschichte der Welt schon einmal jemanden das Leben gekostet? Sicherlich nicht, aber das scheint dem Bleigewicht in meinem Herzen oder den summenden Insekten in meinem Magen egal zu sein. Mein ganzer Körper kribbelt vor Unbehagen, weil so viele Augen auf mich gerichtet sind und so viele Menschen sich um mich scharen.

Meine Schwester – dem Himmel sei Dank! – taucht unvermittelt vor mir auf.

»Was hast du da an?«, fragt Temra und mustert mich von Kopf bis Fuß, bevor ich fragen kann, warum sie so spät gekommen ist.

»Ein Kleid«, sage ich verächtlich und zupfe daran herum. Ich sehne mich nach dem leichten Stoff meiner lockeren Tunika und der Hose, die ich für gewöhnlich trage – beides bestens geeignet, um die Hitze in der Schmiede auszuhalten, und hier im Haus des Gouverneurs ist es gerade heißer, als es in meiner Werkstatt je sein könnte.

Die Menschen um mich herum bringen mich zum Schwitzen.

Temra blinzelt langsam, als müsse sie um Fassung ringen. »Warum hast du nicht etwas Schöneres angezogen? Wo ist das Kleid, das ich dir anlässlich des Zweischwesterngedenktags gekauft habe?«

»In meinem Kleiderschrank.« Irgendwo tief vergraben, aber es ist noch da.

»Es ist so hübsch. Und es bringt das Blau deiner Augen erst so richtig zur Geltung.«

Ich erinnere mich nicht an die Farbe des Kleides, aber ich lächle, als würde ich es tun und wäre immer noch erfreut darüber. Mein derzeitiges Gewand ist hellbraun. Unscheinbar. Ohne ausgefallene Verzierungen. Perfekt als Tarnung, die keinem auffällt.

Dachte ich.

»Ziva, alle anderen anwesenden Mädchen sind in fröhlichen Farben gekleidet. Du trägst mehr oder weniger deine Arbeitskleidung in veränderter Form.«

»Mach dich nicht lächerlich. Meine Arbeitskleidung hat Flecken«, sage ich, aber als ich mich umschaue, wird mir klar, dass sie recht hat. Mit meinem langweiligen Kleid falle ich auf wie eine Distel in einem Blumengarten.

Tatsächlich war ich schon so lange nicht mehr bei einem gesellschaftlichen Ereignis, dass ich die neueste Mode gar nicht kenne. Ich sehe wahrscheinlich so aus, als wollte ich den Gouverneur auf seinem eigenen Fest brüskieren.

Dabei sollte es ja angeblich gar kein Fest sein.

Also, wer hat hier den größeren Fehler begangen: ich oder der Gouverneur?

Ich nehme meine Schwester genauer in Augenschein. »Dein Haar ist zerzaust.«

Ihre Hände fliegen zu ihren wirren Locken, um sie zu glätten.

»Du warst mit einem Jungen zusammen«, sage ich anklagend.

Temra ist nicht leicht in Verlegenheit zu bringen. Da ist keine verräterische Röte auf ihren Wangen, kein schuldbewusster Blick zu Boden, aber ich weiß, dass ich trotzdem ins Schwarze getroffen habe.

»Die Zeit ist mir einfach davongelaufen«, sagt sie.

Ich möchte sie weiter ausfragen, aber es fällt mir schwer, ärgerlich zu sein, wenn ich gleichzeitig alle meine Energie darauf verwenden muss, die Flut an Reizen um mich herum auszublenden.

Der Ehemann des Gouverneurs scheint eine Vorliebe für Blau zu haben, denn der ganze Raum erstrahlt in dieser Farbe. Azurblaue, handgenähte Teppiche bedecken den Boden, der Speisetisch ist mit saphirblauen Blumen geschmückt, deren Namen ich nicht kenne, und selbst die dekorativen Kerzen auf den Tischen schimmern in einem sanften Himmelblau.

Prachtvolle Marmorsäulen säumen den Saal und reichen hinauf bis zur verzierten Decke. An der gegenüberliegenden Wand prangt ein Gemälde der Schwesterngöttinnen, damit sie über uns alle wachen können.

Und da kommt auch schon das glückliche Ehepaar auf mich zu, Arm in Arm, mit freudestrahlenden Gesichtern.

Ich umklammere Temras Arm wie ein Schraubstock. »Versteck mich.«

»Mach dich nicht lächerlich. Du wirst dich brav bei unseren Gastgebern bedanken und die ganze Zeit lächeln, als wärst du in bester Stimmung.«

»Das kann ich nicht.«

»Dann sag das nächste Mal nicht zu, wenn du auf ein Fest eingeladen wirst.«

»Es war nie die Rede von einem –«

Ich halte inne, als die beiden in Hörweite sind, und ringe mir ein Lächeln ab, das hoffentlich nicht allzu gezwungen wirkt.

»Ziva Tellion!«, begrüßt mich der Gouverneur. »Ich bin so erfreut, dass du mein Haus beehrst!«

»Wir sind sehr dankbar für die großzügige Einladung!«, sagt Temra. »Ich bin Temra Tellion, Zivas Schwester, und ich darf Euch versichern, dass sie entzückt war und sich geehrt fühlte, für Euch eine Waffe schaffen zu dürfen.«

»Es ist mir ein Vergnügen, deine Bekanntschaft zu machen. Darf ich vorstellen: Reniver, mein Mann. Und unser Sohn Asel muss auch irgendwo hier sein.«

»Da ist er«, sagt Reniver.

Wir folgen seinem ausgestreckten Finger hin zu einem jungen Mann unseres Alters, der von Mädchen umringt ist. Er ist groß, muskulös und hat ein ebenmäßiges Gesicht, das wahrscheinlich der Grund für die vielen Verehrerinnen ist.

»Er ist ein sehr geselliger Junge«, sagt der Gouverneur und stellt sich direkt vor mich, um mir die Sicht auf seinen Sohn zu versperren. »So beliebt.«

»Genau wie sein Vater«, sagt Temra höflich.

»Oh, herzlichen Dank.«

Schweigen macht sich breit. Vielleicht fragt sich das Paar, warum ich bisher noch kein Wort gesagt habe. Jeder fragt sich, warum ich keine höfliche Konversation führen kann. Das gehört einfach nicht zu meinen Stärken.

Ich versuche es trotzdem. »Gouverneur, soweit ich mich erinnere, sollte die Waffe ein Geschenk für Euren Gatten sein. Musstet Ihr lange üben, um den Streitkolben richtig führen zu können, Reniver?«

So, das ist eine ganz normale Frage, oder?

»Oh, ich habe nicht vor, den Streitkolben zu benutzen«, erklärt Reniver, »aber das Geschenk hat alle meine Erwartungen übertroffen! Wir werden es den Gästen präsentieren, sobald das Abendessen vorbei ist. Und natürlich nach einem Trinkspruch zu deinen Ehren!«

»Präsentieren?«, greife ich seine Formulierung auf. Wo befindet sich die Waffe denn?

»Aber natürlich willst du noch vor allen anderen einen Blick darauf werfen! Du bist sicher sehr stolz auf dein Werk! Asel?«

Ich zucke zusammen, als Reniver den Namen des jungen Mannes ruft, aber Asel gehorcht und löst sich von der Schar junger Frauen.

»Vater?«, antwortet er.

»Würdest du Ziva Tellion zeigen, wo wir ihr Werk ausgestellt haben?«

Asel wendet sich Temra zu und beim Anblick meiner schönen Schwester huscht ein erfreutes Lächeln über sein Gesicht. Ihre dunklen Locken schwingen verführerisch bei jeder Bewegung. Sie hat eine herrliche Sommerbräune und mit knapp fünfeinhalb Fuß hat sie die perfekte Größe.

Als der Gouverneur sieht, wie die Augen seines Sohnes aufblitzen, deutet er auf mich und sagt: »Dies hier ist Ziva, die magisch begabte Schmiedin.« Asels Lächeln erlischt.

Im Vergleich zu meiner Schwester bin ich eine Riesin. Mit meinen gut sechs Fuß bin ich größer als die meisten jungen Männer und Asel ist da keine Ausnahme. Mein braunes Haar ist glatt wie ein Brett, und ich stecke es immer hoch, damit es mir nicht ins Gesicht fällt. Ich mache mir nie die Mühe, Schminke aufzutragen wie die meisten Mädchen in meinem Alter (wozu auch, ich würde sie bei der Arbeit ganz schnell wegschwitzen), daher heben sich meine Sommersprossen auf Nase, Stirn, Kinn und Wangen umso deutlicher ab. Also überall.

Ich will, dass Asel endlich mit seiner Musterung aufhört. Nicht etwa, weil ich mich schäme, sondern weil ich es nicht mag, aus der Nähe angestarrt zu werden. Ich möchte nicht zum Umgang mit anderen Menschen genötigt werden. Ich habe Angst, ich könnte etwas Dummes sagen oder tun. Angst, Asel könnte meine Schwächen erraten, wenn er mich nur ansieht.

Asel fasst sich schnell wieder. »Es ist mir ein Vergnügen. Wollen wir?« Er streckt den Arm aus, also sollte ich ihn wohl ergreifen. Die Farbe muss aus meinem Gesicht gewichen sein – Fremde berühren zu müssen, ist für mich eine echte Herausforderung –, denn Temra hakt sich rasch bei mir unter und sagt: »Geh voran, Asel. Wir folgen dir.«

Gesegnet sei meine schöne, wunderbare Schwester.

Aber der Gouverneur sagt zu ihr: »Eigentlich hätte ich gerne, dass du mich in die Küche begleitest. Ich möchte unbedingt deine Meinung über das Menü für heute Abend hören.«

Temra sieht mich fragend an. Nicht etwa, weil sie mich um Erlaubnis bittet, sondern um von mir die Bestätigung zu erhalten, dass ich allein zurechtkomme. Das bezweifle ich, aber vor dem mächtigsten Mann der Stadt kann ich ihr das nicht sagen.

Ich nicke, als mir klar wird, was das hier ist.

Ein abgekartetes Spiel.

Der Gouverneur und sein Mann wollen, dass ich mich in ihren Sohn vergucke. Wäre es nicht großartig, eine der wenigen Magieträgerinnen der Welt zur eigenen Familie zählen zu können?

Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Asel, der den Wink schon beim ersten Mal verstanden hat, tritt neben mich, diesmal allerdings, ohne mir den Arm zu reichen, und führt mich aus der Empfangshalle. Schweigend gehen wir eine Treppe hinauf. Die Geräusche aus dem Festsaal werden leiser, als wir alles hinter uns lassen und ein Studierzimmer betreten. Mein Blick fällt zuerst auf einen Schreibtisch aus dunkelrotem Holz und die vielen Regalreihen mit Büchern, die fast alle Wände bedecken. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befindet sich ein Kamin, in dem jedoch weder ein Feuer brennt noch Holzscheite gestapelt sind. An einem polierten Metallhaken über dem Sims ist mein Streitkolben angebracht.

Zur Schau gestellt.

»Was ist das?«, fauche ich empört, bevor ich mich zurückhalten kann.

»Dein Werk, wie man mir gesagt hat«, antwortet Asel.

»Dieser Streitkolben raubt angreifenden Feinden den Atem! Er kann töten, ohne den Gegner auch nur zu berühren, und doch hängt er über dem Kaminsims wie eine ... eine ...Dekoration!«

Kaum sind die Worte heraus, wird mir klar, was ich gesagt habe, und ich drehe mich erschrocken zu Asel um. Er wird seinen Vätern davon berichten und ich werde –

Er fängt an zu lachen. Dann, als ob er mich nun doch beachtenswert fände, wendet er sich mir zu. »Dachtest du, mein Vater will damit in die Schlacht ziehen? Einen Krieg gegen die Widersacher meines anderen Vaters führen?«

Ich blicke zu Boden, muss jedoch unwillkürlich lächeln. »Vielleicht. Oder er trägt ihn bei sich, als Drohung, falls jemand meint, dem Gouverneur Böses zu wollen.«

»Ich fürchte, die Waffe soll nur ein Symbol sein und vielleicht für Gesprächsstoff sorgen, wenn andere Politiker zu Besuch sind.«

»Ein Symbol wofür?«

»Wer diesen Streitkolben besitzt, besitzt auch großen Reichtum«, sagt Asel mit tiefem, spöttischem Ton.

Ich muss lachen und finde den Mut, ihn anzuschauen. »Du verrätst mich also nicht?«

»Wieso sollte ich?«

»Wegen meines Gefühlsausbruchs, als mir klar wurde, wo der Streitkolben seinen Platz hat.«

»Keineswegs. Ich finde es allerdings seltsam, dass sein Aufbewahrungsort so wichtig für dich ist. Du hast deinen Lohn erhalten, also was kümmert es dich?«

»Ja, aber ...«

Asel macht einen Schritt auf mich zu. Es scheint, als würde ihn meine Antwort wirklich interessieren. »Aber?«

»Ich will die Welt sicherer machen. Und meine Waffen sollen dazu beitragen.«

»Aber das können sie nicht, wenn sie an einer Wand befestigt sind.«

»Genau.«

Asel presst nachdenklich die Lippen zusammen. »Wenn ich verspreche, deine Waffe zu benutzen, sollte jemand einbrechen, wärst du dann glücklich?«

»Ja, das wäre ich«, antworte ich genauso scherzhaft.

»Dann verspreche ich es«, sagt er und kommt noch einen Schritt näher.

In diesem Moment werden mir mehrere Dinge auf einmal klar. Erstens: Ich stehe mal wieder krumm da, sonst wären Asel und ich nicht auf Augenhöhe. Zweitens: Er ist viel näher als gewollt, nahe genug, um mich zu berühren. Und drittens hat er das, was ich getan habe, womöglich als Flirtversuch missverstanden, obwohl ich eigentlich nur versucht habe, ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu führen.

Er beugt sich vor, mit geschürzten Lippen.

Ich weiche zurück und richte mich zu meiner vollen Größe auf. »Was machst du da?«

»Ich möchte nur, dass du nicht mehr so bekümmert wegen des Streitkolbens bist.«

Oh nein. Was soll ich tun? Wegrennen? Oder etwas sagen? Was wäre in diesem Moment weniger peinlich?

»Nein danke«, sage ich. Gleich darauf möchte ich mich am liebsten ohrfeigen. Was für eine dämliche Bemerkung. Aber was sagt man zu jemandem, der einen Kuss will? Ich war noch nie in dieser Situation. Auf diese Art der Konfrontation bin ich nicht vorbereitet.

»Was ist denn?«, fragt er.

Ich zucke zusammen. Wahrscheinlich habe ich mich nicht verständlich genug ausgedrückt. »Du musst dich nicht bemühen, damit ich mich besser fühle. Mir geht’s gut.«

»Küss mich trotzdem«, flüstert er mit einer kehligen Stimme, wie ich sie bisher noch nicht bei ihm gehört habe. Er beugt sich vor.

Bei allen Göttinnen. Was passiert hier?

Ich kann nicht noch einmal Nein danke sagen.

»Ich will nicht«, sage ich stattdessen. Ist das besser? Warum ist es hier drin so heiß? Ich habe das Gefühl, in diesem Kleid keine Luft zu bekommen.

»Niemand wird es je erfahren«, verspricht er und folgt mir durch den Raum, als ich versuche, ihn auf Abstand zu halten.

»Aber ich werde es wissen.«

Asel erstarrt. Er kneift die Augen zusammen und sieht mich an, als würde er sich fragen, was mit mir nicht stimmt.

Ich weiß selbst, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist, aber wenn er mich so anschaut, hilft mir das bei meinem jetzigen Gemütszustand auch nicht weiter.

»Was ist bloß los mit dir?«, fragt er und bestätigt damit meine Vermutung. »Ich habe dich zweimal zum Lachen gebracht.«

»Du hast mitgezählt?«, frage ich verblüfft. Zugegeben, ich habe tatsächlich mitgezählt, aber nur, weil mich niemand außer Temra jemals zum Lachen gebracht hat. Warum hat er sich wohl diese Mühe gemacht –

Ach so.

Jetzt verstehe ich. Es ging nie darum, mich zu besänftigen oder zu unterhalten, vielmehr sollte alles darauf hinauslaufen, ihm den Abend ein bisschen zu verschönern.

Er ist ein windiger Schürzenjäger und sonst nichts.

Die Panik weicht und an ihre Stelle tritt Wut.

»Du glaubst, wenn du ein paar nette Worte säuselst, kriegst du einen Kuss? So funktioniert das nicht.«

Er blinzelt einmal, dann reckt er sich, um auf Augenhöhe mit mir zu sein, aber dazu ist er nicht groß genug. »Die meisten Frauen wären zu einem Mord bereit, nur um mit mir allein zu sein.«

»Das bezweifle ich sehr. Die meisten Frauen sind viel zu vernünftig, um einen so schlechten Geschmack zu haben.«

Er schnaubt empört und macht drohend einen Schritt auf mich zu. Ich verschränke die Arme vor der Brust, um meine zitternden Hände zu verbergen, und präsentiere ihm meine muskulösen Oberarme.

Asel ist schlau genug, es auf keinen weiteren Versuch ankommen zu lassen. Er stürmt an mir vorbei zur Tür hinaus.