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Eine Kleinigkeit wie der Tod wird ihn nicht aufhalten! Er ist kein gewöhnlicher Detektiv. Er ist Zauberer und Meister der kleinen schmutzigen Tricks, und wenn die Umstände es erfordern, nimmt er es mit dem Gesetz nicht so genau. Er ist ein echter Gentleman. Und ... er ist ein Skelett. Als Stephanie Skulduggery Pleasant das erste Mal sieht, ahnt sie noch nicht, dass sie ausgerechnet mit ihm eines ihrer größten Abenteuer erleben wird. Denn um den mysteriösen Tod ihres Onkels aufzuklären, muss sie Skulduggery in eine Welt voller Magie begleiten – eine Welt, in der mächtige Zauberer gegeneinander kämpfen, Legenden plötzlich zum Leben erwachen und in der das Böse schon auf Stephanie wartet ... "Witzig, charmant und mit leicht zynischem Humor: Der skelettierte Detektiv Skulduggery Pleasant empfiehlt sich als Erbe von Harry Potter - und hat bessere Kleidung und mehr Humor, als es für ein Kinderbuch üblich ist." WAZ "Ein köstlicher und hoch-unterhaltsamer Detektivroman!" NDR 2. Platz bei der 11. Moerser Jugendbuch-Jury
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Seitenzahl: 351
Dieses Buch ist meinen Eltern John und Barbara gewidmet. Dad – dir danke ich für deine abwegig konsequente Unterstützung und deinen unbeirrbaren Glauben an mich. Barbs – dein Name steht hier wegen deines Gesichtsausdrucks, als ich dir die gute Nachricht überbrachte. Euch verdanke ich ausnahmslos alles und ich denke, es könnte sehr gut sein, dass ich so etwas wie, na ja, Zuneigung für euch empfinde …
STEPHANIE
Gordon Edgleys plötzlicher Tod war ein Schock für alle – nicht zuletzt für ihn selbst. Gerade saß er noch in seinem Arbeitszimmer beim siebten Wort des 25. Satzes vom letzten Kapitel seines neuen Buches Und Dunkelheit brach über sie herein und im nächsten Augenblick war er tot. Ein tragischer Verlust – dieser Gedanke schoss ihm noch durch den Kopf, als er bereits abtauchte.
Zur Beerdigung kamen Familienangehörige und Bekannte, aber kaum Freunde. Gordon war nicht sonderlich beliebt gewesen in der Verlagswelt, denn obwohl die Bücher, die er schrieb – sie handelten von Horror, Zauberei und unerklärlichen Vorkommnissen –, regelmäßig auf den Bestsellerlisten landeten, hatte er die beunruhigende Angewohnheit, Leute zu beleidigen, ohne es zu wollen, und dann über ihre geschockte Reaktion zu lachen. Und es war auf Gordons Beerdigung, als Stephanie den Gentleman in dem braunen Überzieher zum ersten Mal sah.
Er stand abseits von den anderen Trauergästen unter einem großen Baum, und obwohl es warm war an diesem Nachmittag, hatte er den Mantel bis oben hin zugeknöpft und einen Schal um die untere Hälfte seines Gesichts gewickelt. Selbst aus der Entfernung – Stephanie stand auf der anderen Seite des Grabes – konnte sie die gigantische Sonnenbrille erkennen und die wilde Lockenmähne, die unter seinem breitrandigen Hut hervorquoll. Sein Äußeres machte sie neugierig und sie schaute immer wieder zu ihm hin. Als spürte er, dass er beobachtet wurde, drehte er sich um und ging durch die Grabsteinreihen davon.
Nach der Trauerfeier fuhr Stephanie mit ihren Eltern zum Haus ihres toten Onkels. Der Weg führte über eine Bogenbrücke und dann eine schmale Straße hinunter, die sich durch einen dichten Wald schlängelte. Das mächtige, prunkvoll verzierte Tor zu dem Grundstück stand einladend offen. Das Anwesen war riesig und das Haus darauf geradezu lächerlich groß.
Im Wohnzimmer gab es eine besondere Tür, eine, die als Bücherregal getarnt war, und als kleines Mädchen hatte Stephanie sich immer vorgestellt, dass niemand von dieser Tür wusste, nicht einmal ihr Onkel. Es war eine Geheimtür, wie sie in den Geschichten vorkam, die sie gelesen hatte, und sie dachte sich selbst die größten Abenteuer aus. Die Geheimtür ermöglichte ihr die Flucht vor Geistern und Piraten und die Bösewichte waren jedes Mal total fertig, wenn Stephanie so plötzlich auf unerklärliche Weise verschwand. Doch jetzt stand diese Tür, ihre Geheimtür, offen – ein stetiger Strom von Menschen wälzte sich durch und sie war traurig, dass ihr dieses kleine Geheimnis genommen worden war.
Es gab Tee, Drinks wurden ausgeschenkt und kleine Sandwiches auf Silbertabletts gereicht und Stephanie beobachtete die Trauergäste, wie sie die Räumlichkeiten beim Herumschlendern genauestens unter die Lupe nahmen. Hauptthema der gedämpften Unterhaltung war das Testament. Gordon war nicht der Typ gewesen, der abgöttisch geliebt oder jemandem starke Zuneigung bezeugt hatte und so konnte niemand voraussagen, wer das nicht unbeträchtliche Vermögen erben würde. Stephanie sah, wie dem anderen Bruder ihres Vaters, einem unangenehmen Menschen namens Fergus, die Gier in die wässrigen Augen schwappte, während er traurig nickte, mit ernster Miene Beileidsbekundungen entgegennahm und Teile des Silberbestecks einsackte, wenn er sich unbeobachtet fühlte.
Fergus’ Frau Beryl war eine zutiefst unsympathische Person mit kantigen Gesichtszügen. Sie schob sich in nicht gerade überzeugend gespieltem Schmerz durch die Menge, saugte jeden Klatsch auf und stocherte nach Skandalen, die sie selbst weitertratschen konnte. Ihre Töchter bemühten sich nach Kräften, Stephanie zu übersehen. Carol und Crystal waren Zwillinge, fünfzehn Jahre alt und genauso mürrisch und nachtragend wie ihre Eltern. Sie waren wasserstoffblond, stämmig und trugen Kleider, die ihre Rundungen an genau den falschen Stellen betonten. Stephanie dagegen war dunkelhaarig, groß und schlank. Wenn die braunen Augen nicht gewesen wären, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die Zwillinge mit ihr verwandt sein könnten. Ihr war das recht, denn die Augen waren wirklich das Einzige, was ihr an ihnen gefiel. Sie ignorierte die geringschätzigen Blicke und das abfällige Getuschel ihrer Cousinen und machte sich zu einem Rundgang durchs Haus auf.
Die Flure im Haus ihres Onkels waren lang und mit Bildern geschmückt, die Parkettböden auf Hochglanz gebohnert, und das ganze Haus roch irgendwie alt. Nicht unbedingt modrig, eher … erfahren. Diese Wände und die Böden hatten schon allerhand erlebt und Stephanie war lediglich ein gehauchtes Flüstern für sie. Eben noch hier, im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden.
Gordon war ein guter Onkel gewesen. Arrogant und verantwortungslos, klar, aber er konnte auch albern und ungeheuer witzig sein, und er hatte dieses Leuchten in den Augen, ein schalkhaftes Glitzern. Wenn alle anderen dachten, er meinte es ernst, sah Stephanie das Zwinkern und Nicken und das versteckte Lächeln, das er ihr zuwarf, wenn niemand guckte. Obwohl sie erst zwölf war, hatte sie das Gefühl, ihn besser zu verstehen als die meisten Erwachsenen. Ihr gefielen seine intelligente Art und sein Witz und dass er sich nicht darum scherte, was die Leute von ihm hielten. Doch, er war ihr ein guter Onkel gewesen. Sie hatte eine Menge von ihm gelernt.
Stephanie wusste, dass ihre Mutter und Gordon kurze Zeit miteinander gegangen waren – er hatte ihr „den Hof gemacht“, wie ihre Mutter es ausdrückte –, doch als er sie seinem jüngeren Bruder vorgestellt hatte, war es bei den beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen. Gordon hatte sich danach immer gern beklagt, dass er von ihr nie mehr als einen flüchtigen Kuss auf die Wange bekommen hätte. Trotzdem hatte er großzügig das Feld geräumt und sich ganz zufrieden damit abgefunden, auch weiterhin zahlreiche heiße Affären mit zahlreichen schönen Frauen zu haben. Er hatte oft gesagt, dass es zwar ein recht fairer Tausch gewesen sei, er aber vermutlich doch den Kürzeren gezogen habe.
Stephanie ging die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu Gordons Arbeitszimmer und trat ein. An den Wänden teilten sich die eingerahmten Schutzumschläge seiner Bestseller den Platz mit allen möglichen Auszeichnungen. Eine Wand bestand nur aus vollgestopften Bücherregalen. Es gab Biografien und historische Romane und wissenschaftliche Abhandlungen und psychologische Schinken und dazwischen zerfledderte Taschenbücher. Auf einem der unteren Regalbretter lagen Zeitschriften, Buchbesprechungen und Magazine. Stephanie ging an dem Regal mit den Erstausgaben von Gordons Romanen vorbei zu seinem Schreibtisch.
Sie betrachtete den Stuhl, auf dem er gestorben war, und versuchte, ihn sich dort zusammengesunken vorzustellen.
Und dann war da plötzlich eine Stimme, so weich, dass sie aus Samt hätte sein können.
„Wenigstens starb er mitten in seiner geliebten Arbeit.“
Überrascht drehte sie sich um und sah den Mann mit dem braunen Mantel und dem Hut, der ihr bei der Beerdigung aufgefallen war, im Türrahmen stehen. Er hatte den Schal noch um, die Sonnenbrille noch auf und die wilden Locken schauten noch genauso unter dem Hut hervor. Außerdem trug er Handschuhe.
„Ja“, sagte sie, weil ihr nichts anderes einfiel, „wenigstens das.“
„Du bist eine seiner Nichten, stimmt’s?“, fragte der Mann. „Da du nichts klaust und nichts kaputt machst, nehme ich an, du bist Stephanie.“
Sie nickte und ergriff die Gelegenheit, ihn sich genauer anzuschauen. Zwischen Schal und Sonnenbrille war nicht das kleinste Stückchen Gesicht zu sehen.
„Waren Sie ein Freund von ihm?“, erkundigte sie sich. Der Mann, der da vor ihr stand, war groß, groß und schlank, auch wenn es schwierig war, seine Figur unter dem Mantel genau auszumachen.
„Das war ich“, erwiderte er und nickte. Durch diese kleine Bewegung fiel ihr auf, dass der Rest seines Körpers unnatürlich steif wirkte. „Ich kannte ihn viele Jahre. Wir lernten uns in einer Bar in New York kennen, als ich drüben war, damals, nachdem er gerade seinen ersten Roman veröffentlicht hatte.“
Stephanie konnte hinter der Sonnenbrille nichts erkennen. „Sind Sie auch Schriftsteller?“
„Ich? Nein, ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte. Aber ich konnte meine schriftstellerischen Fantasien durch Gordon ausleben.“
„Sie hatten schriftstellerische Fantasien?“
„Hat die nicht jeder?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.“
„Oh. Dann würde man mich deshalb für einen merkwürdigen Kauz halten, ja?“
„Na ja“, meinte Stephanie, „es wäre eine Merkwürdigkeit mehr.“
„Gordon hat oft von dir gesprochen und mit seiner kleinen Nichte regelrecht angegeben. Er hatte Charakter, dein Onkel. Du auch, wie mir scheint.“
„Sie sagen das so, als würden Sie mich kennen.“
„Willensstark, intelligent, scharfzüngig, hat keine Geduld mit Dummköpfen … erinnert dich das an jemanden?“
„Ja. An meinen Onkel.“
„Interessant“, sagte der Mann. „Denn ganz genau so hat er dich immer beschrieben.“
Er griff mit seinen behandschuhten Fingern in seine Manteltasche und zog eine prächtige Taschenuhr an einer feinen Goldkette heraus.
„Ah“, sagte er, „ich muss los. Schön, dich kennengelernt zu haben, Stephanie. Viel Glück bei was immer du aus deinem Leben machst.“
„Danke“, erwiderte Stephanie verlegen, „Ihnen auch.“
Sie hatte den Eindruck, als lächle der Mann, obwohl sie keinen Mund erkennen konnte. Dann drehte er sich um und ging. Sie konnte den Blick nicht von der Stelle wenden, an der er gestanden hatte. Wer war er? Er hatte ihr nicht einmal seinen Namen genannt.
Mit ein paar raschen Schritten war sie an der Tür und trat auf den Flur, doch er war weg. Wie hatte er nur so schnell verschwinden können? Sie lief die Treppe hinunter in die große Eingangshalle, doch dort war er auch nicht. Als sie die Haustür öffnete, sah sie gerade noch einen alten schwarzen Wagen durch das Tor auf die Straße einbiegen. Sie schaute ihm nach, blieb noch einige Augenblicke stehen und ging dann wieder zu ihrer Verwandtschaft ins Wohnzimmer, wo sie Fergus dabei ertappte, wie er einen silbernen Aschenbecher in seiner Brusttasche verschwinden ließ.
DAS TESTAMENT
Das Leben im Haus der Edgleys verlief meist ziemlich ereignislos. Stephanies Mutter arbeitete in einer Bank, ihr Vater besaß eine Baufirma. Stephanie hatte keine Geschwister und so herrschte im täglichen Miteinander ein freundlicher Umgangston. Und dennoch war da immer diese Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr sagte, dass das Leben ihr eigentlich mehr bieten müsste als das kleine Küstenstädtchen Haggard. Doch Stephanie kam nicht darauf, was dieses Mehr sein könnte.
Ihr erstes Jahr in der weiterführenden Schule war gerade zu Ende gegangen und sie war froh, endlich Ferien zu haben. Sie ging nicht gern zur Schule. Es war nicht einfach für sie, mit ihren Klassenkameraden klarzukommen – nicht, weil die nicht nett gewesen wären, sie hatte einfach nichts mit ihnen gemein. Und Lehrer mochte sie auch nicht. Sie mochte die Art und Weise nicht, wie sie Respekt einforderten, den sie nicht verdient hatten. Stephanie hatte kein Problem damit, zu tun, was man von ihr verlangte, solange man ihr einen guten Grund dafür nannte.
In den ersten Ferientagen hatte sie ihrem Vater in der Firma geholfen, hatte Anrufe entgegengenommen und Schreibkram abgeheftet. Gladys, seine Sekretärin, hatte nach sieben Jahren beschlossen, dass sie genug hatte vom Baugewerbe und ihr Glück als Performance-Künstlerin versuchen wollte. Stephanie war es immer irgendwie peinlich, wenn sie auf der Straße an ihr vorbeiging, an dieser 43Jahre alten Frau, die eine moderne Tanzversion von Goethes Faust darbot. Gladys hatte sich auch ein Kostüm für ihre Auftritte genäht, ein Kostüm, das, wie sie sagte, Fausts inneren Kampf symbolisierte, und anscheinend ging sie nicht mehr ohne dieses Kostüm aus dem Haus. Stephanie bemühte sich stets, ihrem Blick auszuweichen.
Wenn Stephanie nicht im Büro half, war sie entweder zum Schwimmen am Strand, oder sie hörte in ihrem Zimmer Musik.
Sie suchte gerade nach dem Ladegerät für ihr Handy, als ihre Mutter anklopfte und hereinkam. MrsEdgley trug immer noch die dunklen Kleider, die sie zur Beerdigung angehabt hatte. Doch Stephanie hatte bereits zwei Minuten, nachdem sie nach Hause gekommen waren, das lange dunkle Haar zurückgebunden und war in die üblichen Jeans und Turnschuhe geschlüpft.
„Gerade kam ein Anruf von Gordons Rechtsanwalt“, sagte die Mutter. Sie schien etwas überrascht. „Wir sollen zur Testamentseröffnung kommen.“
„Oh. Da bin ich aber gespannt, was er dir hinterlassen hat! Was meinst du?“
„Das werden wir morgen erfahren. Du auch, denn du kommst mit.“
„Ach ja?“ Stephanie runzelte leicht die Stirn.
„Dein Name steht mit auf der Liste, mehr weiß ich auch nicht. Wir fahren um zehn hier los. Okay?“
„Eigentlich sollte ich Dad morgen helfen.“
„Er hat Gladys gefragt, ob sie ihm den Gefallen tut und für ein paar Stunden ins Büro kommt, und sie hat Ja gesagt – unter der Voraussetzung, dass sie ihr unsägliches Kostüm tragen darf.“
Am nächsten Morgen verließen sie um Viertel nach zehn das Grundstück, um zur Testamentseröffnung zu fahren, eine Viertelstunde später als geplant. Das lag an Stephanies Vater, der Pünktlichkeit mit lockerer Missachtung strafte. Er taperte durchs Haus mit einem Gesicht, als hätte er etwas vergessen und warte nur darauf, dass ihm wieder einfiel, was es war. Wenn seine Frau ihn bat, sich zu beeilen, nickte und lächelte er und sagte: „Ja, selbstverständlich“, und kurz bevor er dann tatsächlich das Haus verließ, um zu ihnen ins Auto zu steigen, drehte er noch einmal ab und schaute sich mit nachdenklichem Blick um.
„Das macht er extra“, sagte Stephanies Mutter, als sie schon eine Weile angeschnallt und bereit zum Losfahren im Auto saßen. Sie beobachteten, wie er endlich aus dem Haus kam, in sein Jackett schlüpfte, sein Hemd in die Hose stopfte, einen Schritt machte – und innehielt.
„Er sieht aus, als würde er gleich niesen“, bemerkte Stephanie.
„Falsch“, erwiderte ihre Mutter, „er überlegt nur.“ Sie steckte den Kopf aus dem Fenster. „Desmond, was ist denn jetzt noch?“
Er schaute ratlos auf. „Ich glaube, ich hab noch was vergessen.“
Stephanie beugte sich vor, betrachtete ihn kurz und sagte dann etwas zu ihrer Mutter. Die steckte wieder den Kopf aus dem Fenster. „Wo sind deine Schuhe, Schatz?“
Er blickte auf seine Socken hinunter – eine braun, die andere marineblau – und sein umwölkter Gesichtsausdruck klärte sich. Erleichtert gab er ihnen das Okay-Zeichen und verschwand erneut.
„Dieser Mann!“ Stephanies Mutter schüttelte den Kopf. „Wusstest du, dass er einmal einen Einkaufsmarkt vergessen hat?“
„Er hat was?“
„Habe ich dir das nie erzählt? Es war der erste große Auftrag, den er bekam, und seine Firma hat alles wunderbar hingekriegt. Als der Markt fertig war, wollte er ihn seinen Auftraggebern zeigen, aber er hatte vergessen, wo er ihn gebaut hatte. Er fuhr fast eine Stunde herum, bis er etwas sah, das ihm bekannt vorkam. Er mag ja ein ausgesprochen begabter Bauingenieur sein, aber er hat das Konzentrationsvermögen eines Goldfischs. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. So ganz anders als Gordon.“
„Sie waren sich nicht sehr ähnlich, oder?“
Ihre Mutter lächelte. „Das war nicht immer so. Früher haben sie alles gemeinsam unternommen. Die drei waren unzertrennlich.“
„Was, selbst Fergus?“
„Selbst Fergus. Erst als deine Großmutter starb, sind sie getrennte Wege gegangen. Gordon hat sich danach mit seltsamen Leuten eingelassen.“
„Seltsam in welcher Hinsicht?“
„Ach, vielleicht kamen sie uns auch nur seltsam vor“, erwiderte ihre Mutter mit einem leisen Lachen. „Desmond stieg ins Baugeschäft ein und ich war am College – wir waren das, was man so normal nennt. Gordon wollte nicht normal sein und seine Freunde machten uns irgendwie Angst. Wir wussten nie, was sie eigentlich taten, aber wir wussten, dass es nichts …“
„… Normales war.“
„Genau. Deinem Vater machten sie am meisten Angst.“
„Warum?“
Stephanies Vater kam aus dem Haus, mit Schuhen an den Füßen, und schloss die Tür hinter sich.
„Ich denke, er glich Gordon mehr, als er zugeben wollte“, antwortete die Mutter leise. Dann stieg der Vater ins Auto.
„Alles klar“, verkündete er stolz, „ich bin fertig.“
Ausgesprochen zufrieden mit sich nickte er, schnallte sich an und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor sprang an. Stephanie winkte Jasper zu, einem achtjährigen Jungen mit gewaltigen Segelohren, als ihr Dad rückwärts auf die Straße fuhr, den Vorwärtsgang einlegte, losbrauste und dabei fast die Mülltonne mitnahm.
Die Fahrt zum Anwaltsbüro in der Stadt dauerte eine knappe Stunde und sie erreichten es mit zwanzig Minuten Verspätung. Sie wurden eine knarrende Treppe zu einem kleinen Büro hinaufgeführt, in dem es zu warm war, das aber ein großes Fenster mit einem wundervollen Blick auf die Backsteinmauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte. Fergus und Beryl waren bereits da und sie zeigten ihren Unmut darüber, dass man sie hatte warten lassen, durch finstere Blicke und demonstratives Auf-die-Uhr-Schauen. Stephanies Eltern setzten sich auf die freien Stühle und Stephanie stellte sich hinter sie. Der Anwalt betrachtete sie durch eine Brille mit einem gesprungenen Glas.
„Können wir jetzt anfangen?“, fauchte Beryl.
Der Anwalt, ein kleiner untersetzter Mann namens Fedgewick, der aussah wie eine schwitzende Bowlingkugel, versuchte sich an einem Lächeln. „Eine Person fehlt noch“, sagte er.
Fergus riss die Augen auf. „Wer denn?“, wollte er wissen. „Es gibt niemanden mehr, wir sind die einzigen Verwandten, die Gordon hatte. Es ist doch niemand von der Wohlfahrt, oder? Ich hab der Wohlfahrt noch nie getraut. Ständig wollen sie was von einem.“
„Es … es handelt sich nicht um einen Wohlfahrtsverband“, erwiderte MrFedgewick. „Der Herr sagte allerdings, dass es ein wenig später werden könnte.“
„Wie heißt der Herr denn?“, fragte Stephanies Vater, worauf der Anwalt auf den Aktenordner hinunterschaute, der aufgeschlagen vor ihm lag.
„Er hat einen ganz und gar ungewöhnlichen Namen. Wie es scheint, warten wir auf einen MrSkulduggery Pleasant.“
„Du liebe Güte, wer ist das denn?“ Beryl wirkte verunsichert. „Dieser Name klingt wie …, er klingt wie … Fergus, wie klingt er denn?“
„Er klingt, als würde er zu jemandem gehören, der nicht ganz dicht ist“, meinte Fergus, wobei er Fedgewick einen finsteren Blick zuwarf. „Ist dieser MrSkulduggery Pleasant etwa nicht ganz dicht?“
„Das kann ich wirklich nicht beurteilen.“ Fedgewicks klägliche Imitation eines Lächelns verging ihm unter den bösen Blicken von Fergus und Beryl vollends. „Aber ich bin sicher, dass er bald kommt.“
Fergus runzelte die Stirn und kniff seine Knopfaugen so weit es ging zusammen. „Wie können Sie so sicher sein?“
Fedgewick wurde verlegen, weil ihm offensichtlich kein Grund einfiel, den er hätte nennen können. Da ging die Tür auf, und der Mann im braunen Mantel betrat das Büro.
„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, entschuldigte er sich und schloss die Tür hinter sich. „Es ging nicht früher.“
Alle im Raum starrten ihn an, starrten auf den Schal und die Handschuhe und die Sonnenbrille und das wilde Kraushaar. Es war ein wunderschöner Tag, und es gab absolut keinen Grund, sich so einzumummeln. Stephanie schaute sich das Haar genauer an. Aus der Nähe betrachtet sah es nicht einmal echt aus.
Der Anwalt räusperte sich. „Ähem. Sind Sie MrSkulduggery Pleasant?“
„Zu Ihren Diensten“, erwiderte der Mann. Stephanie hätte der Stimme den ganzen Tag zuhören können. Ihre Mutter hatte dem Fremden in ihrer Unsicherheit zugelächelt, doch ihr Vater musterte ihn so eindeutig ablehnend, wie sie das bei ihm noch nie erlebt hatte. Der Ausdruck verschwand nach einer Weile von seinem Gesicht. Er nickte höflich und wandte sich wieder MrFedgewick zu. Fergus und Beryl konnten den Blick nicht von dem Fremden abwenden.
„Stimmt mit Ihrem Gesicht etwas nicht?“, erkundigte sich Beryl.
Fedgewick räusperte sich erneut. „Okay, dann wollen wir mal, jetzt, wo alle da sind. Hervorragend. Sehr gut. Es geht selbstverständlich um den Letzten Willen und das Testament von Gordon Edgley, dessen jüngste Änderung fast ein Jahr zurückliegt. Gordon war die letzten zwanzig Jahre mein Klient und ich habe ihn in dieser Zeit recht gut kennengelernt. Lassen Sie mich Ihnen, der Familie und … und seinem Freund mein tief empfundenes …“
„Ist ja schon gut“, unterbrach ihn Fergus und wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Können wir diesen Teil nicht überspringen? Wir sind ohnehin schon spät dran. Sagen Sie uns einfach, wer was bekommt. Wer bekommt das Haus? Und wer die Villa in Frankreich?“
Beryl beugte sich auf ihrem Stuhl vor. „Wer bekommt das ganze Geld?“
„Die Tantiemen?“, meldete sich Fergus wieder. „Wer bekommt die Tantiemen von seinen Büchern?“
Stephanie schaute aus den Augenwinkeln zu Skulduggery Pleasant hinüber. Er stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände in den Manteltaschen, und blickte den Anwalt an. So sah es zumindest aus; hinter dieser Sonnenbrille hätte er aber auch sonst wohin schauen können. Sie wandte sich wieder Fedgewick zu, als dieser ein Blatt von seinem Schreibtisch nahm und vorzulesen begann.
„,Meinem Bruder Fergus und seiner wunderbaren Frau Beryl‘“, las er, und Stephanie musste sich ein Grinsen verkneifen, „,hinterlasse ich meinen Wagen, mein Boot und ein Geschenk.‘“
Fergus und Beryl blinzelten. „Seinen Wagen?“, hakte Fergus nach. „Sein Boot? Wie kommt er auf die Idee, mir sein Boot zu hinterlassen?“
„Du kannst Wasser nicht ausstehen“, sagte Beryl wütend. „Du wirst seekrank.“
„Ich werde tatsächlich seekrank“, fauchte Fergus, „und er wusste es!“
„Und wir haben bereits einen Wagen“, sagte Beryl.
„Und wir haben bereits einen Wagen!“, wiederholte Fergus.
Beryl war auf ihrem Stuhl so weit nach vorn gerutscht, dass sie halb auf dem Schreibtisch lag. „Das Geschenk“, sagte sie mit leiser, drohender Stimme, „ist es das Vermögen?“
MrFedgewick hüstelte nervös, holte ein kleines Kästchen aus seiner Schreibtischschublade und schob es ihr und Fergus zu. Sie schauten das Kästchen an. Sie schauten es noch eine Weile länger an. Dann griffen beide gleichzeitig danach und Stephanie sah, wie sie sich gegenseitig auf die Hände schlugen, bis Beryl es sich schnappte und rasch den Deckel öffnete.
„Was ist drin?“, zischte Fergus. „Der Schlüssel zu einem Tresor? Eine … eine Kontonummer? Frau, was ist es?“
Aus Beryls Gesicht war alle Farbe gewichen und ihre Hände zitterten. Sie blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten, und drehte das Kästchen dann so, dass alle es sehen konnten. Und alle sahen die Brosche in der Größe eines Glasuntersetzers, die auf dem Samtkissen lag. Fergus starrte sie an.
„Es sind nicht einmal Edelsteine drin“, stellte Beryl mit erstickter Stimme fest. Fergus riss den Mund auf wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, und wandte sich Fedgewick zu.
„Was bekommen wir noch?“, fragte er, einer Panikattacke nah.
MrFedgewick versuchte es noch einmal mit einem Lächeln. „Die, äh, die Zuneigung Ihres Bruders?“
Stephanie hörte ein hohes Jaulen und es dauerte eine Sekunde, bis ihr klar war, dass es von Beryl kam. Fedgewick war sichtlich bemüht, die schockierten Blicke zu ignorieren, die Fergus und seine Frau ihm zuwarfen, und wandte sich wieder dem Testament zu.
„,Meinem guten Freund und Berater Skulduggery Pleasant hinterlasse ich folgenden Rat: Dein Weg ist ganz allein deiner und ich will dich nicht davon abbringen, doch manchmal finden wir den größten Feind in uns selbst und führen die größten Schlachten gegen die Dunkelheit in uns. Ein Sturm zieht auf und manchmal bleibt uns der Schlüssel zum sicheren Hafen verborgen. Manchmal dagegen liegt er direkt vor unseren Augen.‘“
Wie alle anderen starrte auch Stephanie MrPleasant an. Sie hatte gewusst, dass irgendetwas an ihm anders war, hatte es vom ersten Augenblick an gewusst – er hatte etwas Exotisches an sich, etwas Geheimnisvolles, etwas Gefährliches. Er senkte jedoch nur leicht den Kopf, das war seine einzige Reaktion. Eine Erklärung bezüglich der Bedeutung von Gordons Botschaft gab er nicht ab.
Fergus tätschelte seiner Frau das Knie. „Schau, Beryl, ein Wagen, ein Boot, eine Brosche – das ist gar nicht so schlecht. Er hätte uns auch irgendeinen blöden Rat geben können.“
„Ach, halt die Klappe!“, fauchte Beryl und Fergus machte sich auf seinem Stuhl ganz klein.
MrFedgewick las weiter. „,Meinem Bruder Desmond, dem Glückspilz der Familie, hinterlasse ich seine Frau. Ich denke, sie gefällt dir.‘“ Stephanie sah, wie ihre Eltern sich an den Händen fassten und traurig lächelten. „,Nachdem du mir erfolgreich meine Freundin ausgespannt hast, würdest du ihr vielleicht gerne mal meine Villa in Frankreich zeigen, die ich dir ebenfalls hinterlasse.‘“
„Sie kriegen die Villa?“, kreischte Beryl und sprang auf.
„Beryl“, sagte Fergus, „bitte …“
„Weißt du überhaupt, wie viel diese Villa wert ist?“, zeterte Beryl weiter. Sie sah aus, als wollte sie gleich auf Stephanies Eltern losgehen. „Wir bekommen eine Brosche, sie eine Villa? Sie sind nur zu dritt! Wir haben Carol und Crystal! Wir sind mehr! Wir könnten den zusätzlichen Platz gut gebrauchen! Womit haben sie die Villa verdient?“ Sie schob das Kästchen mit einer heftigen Bewegung zu ihnen hinüber. „Los, wir tauschen!“
„MrsEdgley, bitte setzen Sie sich wieder, sonst können wir nicht weitermachen“, sagte MrFedgewick und nach einem finsteren Glupschaugenrollen setzte Beryl sich wieder hin.
„Danke.“ Fedgewick machte den Eindruck, als hätte er genug Aufregung gehabt für einen Tag. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, rückte seine Brille zurecht und schaute wieder ins Testament. „‚Wenn es etwas in meinem Leben gibt, das ich bedaure, dann die Tatsache, dass ich keine Kinder gezeugt habe. Es gibt natürlich Augenblicke, in denen ich mich aus demselben Grund glücklich schätze, zum Beispiel wenn ich sehe, was Fergus und Beryl produziert haben, aber es gibt auch Zeiten, wo es mir das Herz bricht. Und so will ich endlich zu meiner Nichte Stephanie kommen.‘“
Stephanie riss die Augen auf. Was? Sie sollte auch etwas bekommen? Dass er ihren Eltern die Villa vermacht hatte, genügte Gordon nicht?
Fedgewick las weiter. „‚Die Welt ist größer, als du weißt, und unheimlicher, als du es dir vielleicht vorstellen kannst. Die einzige Währung, die etwas wert ist, besteht darin, sich selbst treu zu bleiben, und das einzige Ziel, nach dem es zu streben lohnt, ist herauszufinden, wer man wirklich ist.‘“
Stephanie spürte die finsteren Blicke von Fergus und Beryl und bemühte sich, sie zu ignorieren.
„‚Mach deine Eltern stolz und sorge dafür, dass sie froh sind, dich zu haben, denn ich hinterlasse dir meinen gesamten Besitz, meine Vermögenswerte und meine Tantiemen. Sie sollen mit dem Tag, an dem du achtzehn wirst, auf dich übertragen werden. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und sagen, dass ich euch auf meine Art alle liebe, selbst die, die ich nicht sonderlich leiden kann. Damit bist du gemeint, Beryl.‘“
Fedgewick nahm seine Brille ab und sah auf.
Stephanie merkte, dass alle sie anstarrten, doch sie hatte keinen Schimmer, was man von ihr erwartete. Fergus gab noch einmal seine Fisch-in-Atemnot-Nummer und Beryl zeigte mit einem langen, knochigen Finger auf sie und wollte etwas sagen, brachte es aber nicht heraus. Ihre Eltern schauten sie in sprachlosem Erstaunen an. Nur Skulduggery Pleasant rührte sich. Er trat hinter sie und legte ihr leicht eine Hand auf den Arm.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte er und ging dann weiter zur Tür. Kaum war sie hinter ihm ins Schloss gefallen, fand Beryl ihre Stimme wieder.
„SIE?“, kreischte sie. „SIE?“
SO KLEIN UND GANZ ALLEIN
Am Nachmittag fuhren Stephanie und ihre Mutter die Viertelstunde von Haggard hinaus zu Gordons Landgut. Die Mutter öffnete die Haustür und trat dann einen Schritt zurück.
„Die Hausbesitzerin zuerst“, sagte sie mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung und Stephanie trat ein. Sie sah sich nicht als Eigentümerin des Hauses, die Vorstellung war zu gewaltig, zu bescheuert. Wie konnte sie, selbst wenn ihre Eltern rein technisch gesehen die Verwalter waren, bis sie 18 wurde, ein Haus besitzen? Wie viele Kinder in ihrem Alter besaßen Häuser?
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