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Dieses eBundle beinhaltet die Bände 7 bis 9 der Spiegel-Bestsellerreihe um den Skelett-Delektiv Skulduggery Pleasant: "Duell der Dimensionen", "Die Rückkehr der Toten Männer" und "Das Sterben des Lichts". Außerdem ist eine exklusive Kurzgeschichte von Derek Landy in diesem Bundle enthalten.Duell der DimensionenWarum haben ganz normale Sterbliche plötzlich magische Fähigkeiten? Die wenigsten können damit umgehen. Wie zum Beispiel Jerry, der sich für einen Schmetterling hält. Aber einige dieser Neu-Magier entwickeln so starke Kräfte, dass sie eine blutige Spur der Verwüstung durch das ganze Land ziehen.Nur ein sehr mächtiger Zauberer kann ihnen diese unglaubliche Macht gegeben haben. Einer, der seinen wahren Namen kennt. So wie Walküre selbst. Und er muss unbedingt gestoppt werden!Die Rückkehr der Toten MännerEs herrscht Krieg! Doch diesmal stellen sich die Sanktuarien der Welt gegen das irische Sanktuarium. Denn Irland ist eine Wiege der Magie und das weckt Begehrlichkeiten. Und so kämpfen nun Zauberer gegen Zauberer, während im Verborgenen Hexen und Warlocks nur darauf warten, die Gemeinschaft an ihrer verwundbarsten Stelle zu treffen. Aber Irland hat eine Geheimwaffe – die Toten Männer. Und mitten unter ihnen ein neues Mitglied: Walküre Unruh. Niemand ahnt, dass Walküre selbst die größte Zerstörung bringen wird.Das Sterben des LichtsDer Krieg der Sanktuarien ist beendet. Doch der Kreis der Freunde um Skulduggery Pleasant ist kleiner geworden, und Walküre Unruh ist verschwunden. An ihrer Stelle kämpft nun Walküres Spiegelbild. Aber es hat etwas entwickelt, das ein Spiegelbild niemals verspüren darf: Gefühle. Derweil steht die ganze Zaubererwelt unter Spannung, denn es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann Darquise zurückkehrt. Die mächtigste und schrecklichste Zauberin, die mit der Welt spielt wie ein Kind, das sein liebstes Spielzeug zerstört und dann achtlos wegwirft. Nur wenige kennen ihre Identität: Denn in Darquise steckt niemand anderes als Walküre.
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Seitenzahl: 2396
Dieses Buch ist der Werbeabteilung von HarperCollins Children’s Books gewidmet. Werbeleute sind ein merkwürdiger Haufen. Teils Manager, teils Bodyguard, teils Dienstleister, seid ihr nur glücklich, wenn ihr das Leben eines Autors komplett bestimmen könnt. Ich würde euch dazu gerne mal meine Meinung sagen, aber einen aus eurer Branche, der lange genug den Mund hält, damit ich auch mal zu Wort komme, muss ich erst noch finden. In der irischen Niederlassung heißt die Legende Moira O’Reilly und der Teddyboy Tony Purdue. In der englischen Niederlassung waren und sind es (in Zukunft leider nicht mehr, aber zukünftige Werbeleute dürfen diese Widmung gerne auch auf sich beziehen): Emma Bradshaw – für die Zeit, als ich mich über die Wahl deines iPods lustig gemacht habe. Was habe/n wir/ich gelacht. Catherine Ward – für diesen gemeinsamen Moment, als wir uns über „Die Braut des Prinzen“ verbündeten. Was soll das heißen, du erinnerst dich nicht daran? Tiffany McCall – du hattest den „Imperial March“ aus Star Wars als Klingelton. Keine Frage, dass wir miteinander klarkamen. Sam White – ich bilde mir ein, es lag auch ein bisschen an mir, dass du einen Iren geheiratet hast. Gern geschehen. Mary Byrne – Gilmore Girls. Ich sage nur … Gilmore Girls. Geraldine Stroud – für das englisch-polnische Wörterbuch, das du mir besorgt hast. Es hat mir beim Auschecken zwar kein Stück weitergeholfen, aber du hast es immerhin versucht …
PROLOG
Es war ein wunderschöner Frühlingstag, und sie standen auf dem Dach.
„Tu es“, sagte Kitana. Sie sprach leise, aber drängend, und in ihrem Ton schwang Erregung mit, deren Quelle tief in ihr drin lag. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe, und man sah, dass sie schöne weiße Zähne hatte. Ihr Gesicht war gerötet. Ihre Augen blitzten. Was gab es Schöneres, als auszuprobieren, wie man Leuten auf eine neue Art und Weise wehtun konnte.
Doran drehte sich zum Kamin um und streckte die Hand aus. Er ächzte, sein Gesicht lief rot an, und die Halsmuskeln traten deutlich hervor. Er sah ziemlich lustig aus, bis seine Hand zu leuchten begann. Das Licht unter seiner Haut wurde immer heller, je stärker er sich konzentrierte.
„Oh, super“, bemerkte Sean. „Wir können jetzt als Taschenlampen gehen. Nimm dich in Acht, Welt!“
„Still“, schimpfte Kitana. „Er muss sich konzentrieren.“
Es gefiel Sean gar nicht, wenn Kitana so mit ihm umsprang. Elsie sah es ihm an. Er war wütend, verlegen, verletzt. Hätte Elsie in diesem Ton mit ihm gesprochen, wäre es ihm wahrscheinlich nicht mal aufgefallen. Nicht dass sie jemals so mit ihm umgesprungen wäre. Sie war nicht wie Kitana, die sich einen ganzen Tag über ihn lustig machen konnte und ihn am nächsten mit einem Lächeln wieder unter ihrer Fuchtel hatte.
Elsie war nicht gemein wie Kitana, aber sie war auch nicht hübsch wie sie oder blond wie sie oder schlank wie sie. Sie war dick und hässlich, und daran änderten auch die gefärbten Haare und ihre schwarzen Klamotten und gepiercten Lippen nichts.
Aus Dorans Hand schoss ein Lichtstrahl. Es knisterte und zischte, als er ein Loch in den Kamin sprengte.
Kitana stieß einen Freudenschrei aus, und Sean starrte mit offenem Mund auf den Kamin. Doran ließ die Hand sinken und grinste.
„Diesmal war es einfacher“, stellte er fest. „Je öfter man es tut, desto einfacher wird es.“
Kitana lief zu ihm. „Zeig es mir! Oh mein Gott, zeig mir sofort, wie das geht!“
Doran lachte und stellte sich hinter sie. Mit einer Hand führte er ihren Arm, die andere hatte er auf ihre Hüfte gelegt. Er redete leise, direkt in ihr Ohr, und sie lauschte und nickte. Elsie schaute zu Sean hinüber. Von Begeisterung keine Spur mehr. Jetzt schien er nur noch eifersüchtig zu sein. Elsie war enttäuscht. Doran war doch nur ein Angeber und Idiot, der wie fast alle siebzehnjährigen Jungs an ihrer Schule hinter Kitana herhechelte. Eigentlich hatte Elsie gedacht, Sean sei anders. Sie ging zu ihm hinüber.
Kitanas Hand leuchtete auf, und der Kamin explodierte. Sie schrie erneut vor Freude und fiel Doran um den Hals.
„Das war cool“, sagte Elsie zu Sean. Er murmelte etwas. Sie lächelte. „Vielleicht sollten wir es auch mal probieren.“
„Tu dir keinen Zwang an“, erwiderte er und machte ein paar Schritte zur Seite.
Ihr Herz ging wieder auf Sinkflug. Manchmal hatte Elsie den Eindruck, dass es nur kurz leichter wurde, um danach wieder bleischwer absacken zu können. Sie folgte Sean und hörte mit halbem Ohr zu, was Doran ihnen erklärte. Doch er verlor bald die Geduld mit ihr und beschimpfte sie, und Kitana lachte und stachelte ihn weiter an. Sean hingegen war ganz mit dem neuen Trick beschäftigt. Wahrscheinlich bekam er nicht mal mit, dass die beiden sich schon wieder über sie lustig machten. Vielleicht war es auch das Beste so. Würde er es mitbekommen und nichts dagegen unternehmen, wäre es doch noch schlimmer, oder?
Nach vielen Flüchen und Beleidigungen merkte Elsie schließlich die Energie in ihrer Hand, fühlte, wie sie heiß wurde. Sean stand neben ihr. Sein Arm zitterte.
„Spürt ihr die Hitze?“, fragte Doran. „Lasst es noch heißer werden. So heiß, dass es fast wehtut.“
Sie standen sich zwei und zwei gegenüber, die Arme zum Himmel gereckt. Kitana hatte es bereits zwei Mal geschafft.
„Spürt ihr es?“, fragte Doran noch einmal.
„Ja“, antwortete Sean ungeduldig. „Und jetzt?“
„Jetzt drückst du sie einfach aus dir raus“, meinte Doran. „Die ganze Energie einfach rausdrücken. So.“
Ein knisternder Strahl reiner Energie schoss aus seiner Hand. Einen Augenblick später kam Kitanas Strahl dazu. Er war eine Schattierung dunkler und vermischte sich mit seinem.
„Das ist so cool“, flüsterte sie.
Sean biss die Zähne zusammen. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Doch dann blitzte das Licht in seiner Hand heller als alle anderen auf, sein Energiestrahl schoss in den Himmel, und er lachte zittrig.
Elsie spürte Kitanas Blick auf sich.
„Jetzt du, Elsie. Du schaffst das.“
Elsie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich versuch’s.“
„Streng dich ein bisschen an.“ Der neckische Unterton, der in Kitanas Stimme lag, wenn sie mit den Jungs redete, fehlte jetzt. Wenn sie mit Elsie sprach, hatte ihre Stimme immer einen härteren Beiklang. „Du kannst nicht die Einzige sein, die das nicht hinkriegt. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied – schon mal gehört?“
Natürlich kannte Elsie den Spruch. Wer kannte ihn nicht? Aber Kitana behandelte sie wie eine Schwachsinnige, und dazu gehörten eben auch solche Sachen. Elsie erwiderte nichts darauf. Stattdessen packte sie ihren Frust auf die Hitze in ihrer Hand. Es brannte jetzt richtig, und sie hatte das Gefühl, als explodierte ihre Hand gleich.
„Beeil dich“, drängte Doran. Er klang nicht mehr ganz so locker. „Ich kann das nicht ewig so halten.“
Elsie spürte die Hitze und drückte. Sie spannte jeden Muskel an und drückte sie nach oben, durch die Haut, weg von sich. Und dann brach er sich Bahn, ein Strahl orangefarbener Energie, der hoch aufloderte und sich mit den anderen verband. Elsie konnte nicht anders, sie lachte. Es war alles so hübsch. So wunderschön.
Doran kappte seinen Strahl als Erster. Keuchend senkte er die Hand. Kitana folgte seinem Beispiel kurz darauf, dann Sean und schließlich Elsie. Sie war müde, so als hätte sie ihre gesamte Kraft in den Strahl gelenkt. Doch ihr ganzer Körper prickelte. Auch Sean und Doran lächelten. Nur Kitana hatte die Augen zusammengekniffen, als wäre es ihr lieber gewesen, wenn Elsie es nicht geschafft hätte.
Unten auf der Straße hielt ein Wagen, aus dem ein Mann stieg. Er sah wütend aus. „Kommt da runter!“, brüllte er.
„Wir dürfen hier oben sein“, rief Kitana. „Wir haben die Erlaubnis des Eigentümers. Es sei denn, du bist der Eigentümer. Wenn das so ist, verpiss dich, oder wir bringen dich um.“
„Wir könnten ihn doch als Zielscheibe benutzen“, flüsterte Doran.
Bevor Elsie widersprechen konnte, wedelte der Mann mit den Armen. Plötzlich kam ein starker Wind auf, und der Fremde erhob sich in die Luft, als würde er fliegen. Sean fluchte, sie machten alle einen Satz nach hinten, und der Mann landete vor ihnen.
„Habt ihr eigentlich eine Vorstellung davon, wie riskant das ist?“, tobte er. „Alle Welt kann euch sehen. Wie blöd kann man eigentlich sein? Ich fasse es nicht!“
„Sie … Sie sind wie wir?“, fragte Kitana.
„Ich hab eure verdammte Lightshow aus etlichen Meilen Entfernung gesehen. Was wolltet ihr damit bezwecken? Wolltet ihr, dass man auf euch aufmerksam wird?“
„Wir wussten nicht, dass es noch jemanden gibt“, erwiderte Kitana.
Der Mann blickte sie irritiert an. „Noch jemanden? Was soll das? Was meinst du damit?“
„Ich meine andere Leute so wie wir, mit Superkräften.“
„Was? Was redest du da? Jetzt hört mir mal zu, ja? Ihr seid keine Superhelden, ihr seid Zauberer, und Zauberer setzen ihre Kräfte nicht dort ein, wo gewöhnliche Leute es sehen können. Ihr müsst sehr vorsichtig sein. Von jetzt an muss Geheimhaltung euer oberstes Gebot sein.“
„Es tut uns sehr leid, Herr …“, entschuldigte sich Kitana.
Er seufzte. „Ich heiße Patrick Xebec.“
„Das ist ein dämlicher Name“, meldete sich Doran.
„Doran“, schalt Kitana.
„Wir haben keine Zeit, um näher auf die Sache einzugehen“, sagte Xebec, „aber ihr müsst neue Namen annehmen, sonst können andere Zauberer euch kontrollieren.“
„Im Ernst?“
„Ich bin immer ernst. Viel Humor hatte ich noch nie, und mit Kindern konnte ich auch noch nie besonders gut umgehen.“
„Wir sind keine Kinder“, widersprach Doran und zog seine Kapuze über den Kopf. „Wir sind siebzehn.“
„Alle unter neunzig sind für mich Kinder“, erwiderte Xebec. „Zauberer leben länger als Sterbliche.“
„Cool“, meldete sich Sean.
„Dann haben Sie nicht immer Xebec geheißen?“, fragte Kitana.
„Den Namen habe ich angenommen. Er hat sich richtig angefühlt, also hab ich ihn genommen, und seither ist es mein Name.“
„Wenn ich mich statt Kitana Kellaway, sagen wir, Kitana Killherway nennen würde, könnte mich niemand kontrollieren?“
„Wenn das dein angenommener Name sein soll, sicher.“
Doran grinste. „Ich bin von jetzt an Doran Kickass.“
„Der Name ist so bescheuert, dämlicher geht es gar nicht.“ Kitana kicherte. „Sean, wie steht es mit dir?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht Sean Chill? Oder Sean Destiny oder etwas in der Richtung?“ Er lachte. „Nö, von jetzt ab bin ich King Sean.“
Alle drei lachten. Kitana fragte nicht, wie Elsie sich nennen wollte.
„Sucht euch einfach irgendwelche Namen aus, die euch gefallen“, meinte Xebec. „Mir ist das egal. Ich bin nicht berechtigt, euch auszubilden. Mit diesem ganzen Sanktuariumskram will ich nichts zu tun haben. Ich lebe mein Leben und sehe zu, dass ich klarkomme.“
„Was ist das Sanktuarium?“
„Das ist so etwas wie unsere ganz private Regierung. Es gibt Polizisten und Soldaten, und ständig retten sie die Welt oder lassen sich umbringen. Ihr müsst da hin, und sie erzählen euch alles, was ihr wissen müsst. Aber wenn ich euch einen guten Rat geben darf: Macht euch vom Acker, sobald das vorbei ist. Lasst euch da nicht reinziehen. Ihr endet nur als Leichen.“
„Zauberer als Bullen.“ Kitana schüttelte den Kopf. „Irgendwie gefällt mir das nicht. Haben sie dieselben Fähigkeiten wie wir?“
„Es gibt viele verschiedene Zweige der Magie“, erklärte Xebec. „Ich bin zum Beispiel ein Elementemagier. Was könnt ihr?“
„Das wissen wir noch nicht“, antwortete Kitana. „Wir finden immer neue Sachen heraus. Zu Beginn waren wir einfach nur stark, aber dann konnten wir Sachen hin und her bewegen, ohne dass wir sie berührt haben. Und seit heute können wir Energiestrahlen aus unseren Händen abfeuern.“
„Ich hab rausgefunden, wie es geht“, meldete Doran sich stolz.
Xebec runzelte die Stirn. „Das alles könnt ihr?“
„Wahrscheinlich noch mehr“, prahlte Doran. „Jeden Tag kommt was Neues dazu.“
„Dann habe ich keine Ahnung, was ihr seid“, gab Xebec zu. „Eigentlich solltet ihr nur eine von diesen Fähigkeiten haben, maximal zwei. Aber selbst die müsstet ihr jahrelang üben.“
„Vielleicht sind wir Naturtalente.“ Kitana lächelte. „Dann können die Bullen also nicht so viel wie wir?“
„Nein. Soweit ich weiß, kann das niemand.“
Kitana biss sich auf die Lippe. „Das höre ich gern.“
„Ich rufe im Sanktuarium an“, meinte Xebec. „Sie kriegen schon raus, was mit euch los ist. Kommt mit.“
Er drehte sich um und ging zum Rand des Daches. Sean wollte ihm folgen, doch Kitana tippte ihm auf den Arm und bedeutete ihm, stehen zu bleiben.
„Ich fände es besser, Sie würden nicht anrufen“, rief sie.
Xebec drehte sich um. „Hör zu, Kleine, ich weiß nicht, wie das alles geht. Ich könnte euch nicht weiterhelfen.“
„Oh, Sie haben uns schon sehr geholfen. Vielen Dank für alles. Aber wir können nicht zulassen, dass Sie den Polizeizauberern von uns erzählen.“
Doran hob den Arm, und seine Hand leuchtete. Xebec riss die Augen auf und machte einen Schritt nach hinten. Er konnte nicht einmal mehr etwas sagen, bevor ein Energiestrahl sich durch sein Bein brannte. Mit einem Aufschrei fiel er aufs Dach.
Kitana holte tief Luft und kniff die Augen zusammen. Xebec zuckte, sackte in sich zusammen und war mausetot.
Sean schaute Kitana an. „Was hast du getan?“
„Mit der Kraft meiner Gedanken sein Gehirn zerquetscht“, antwortete Kitana und lachte.
Tiger! Tiger! Feuerpracht
in der Wälder Nacht entfacht.
Welch unsterblich Aug’ und Hand
hat dich in dein Maß gebannt?
DER SCHMETTERLING UND DER WOLF
„Ich bin ein Schmetterling!“, schrie der Dicke. Er rannte umher und schwang dabei die Arme wie zwei total schlaffe, total unbrauchbare Flügel.
„Nein, das bist du nicht“, widersprach Walküre Unruh zum achten Mal. Der Dicke lief im Mondlicht in einem großen Kreis um sie herum, und sie stand einfach nur mit gesenktem Kopf da. Er trug kein Hemd, und sie hatte den Blick von seinem wabbelnden Busen abwenden müssen, sonst wäre ihr schlecht geworden. Jetzt, da seine Hose unaufhaltsam auf Sinkkurs gegangen war, durfte sie gar nicht mehr hinschauen. „Bitte zieh deine Hose hoch“, flehte sie.
„Schmetterlinge brauchen keine Hose“, kreischte er. Im nächsten Moment landete die Hose zu ihren Füßen.
Walküre zog ihr Handy heraus und wählte. „Er ist nur noch in Unterhose“, zischte sie wütend.
Skulduggery Pleasants angenehme Stimme klang zögerlich, was ganz und gar untypisch war. „Wie bitte? Wer ist nur noch in Unterhose?“
„Jerry Houlihan. Er hält sich für einen Schmetterling, und die tragen bekanntlich keine Hose.“
„Und – ist er ein Schmetterling?“
„Nein.“
„Bist du ganz sicher?“
„Ganz.“
„Er könnte einer sein, der träumt, er sei ein Mann.“
„Ist er aber nicht. Er ist ein dicker fetter Mann, der träumt, er sei ein dicker fetter Schmetterling. Was zum Teufel soll ich machen?“
Wieder ein Zögern. „Keine Ahnung. Du hast nicht zufällig ein großes Netz griffbereit?“
„Am liebsten würde ich ihm eine reinsemmeln. Und dir würde ich auch am liebsten eine reinhauen.“
„Du darfst ihm keine reinhauen. Er ist ein gewöhnlicher Sterblicher, der irgendeinem magischen Einfluss unterliegt. Er kann nichts für sein Verhalten. Ich gehe davon aus, dass sich das Ganze wenigstens unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielt, oder? – Walküre? Walküre, bist du noch da?“
„Ich bin da“, antwortete sie dumpf. „Er hat angefangen, bei jedem dritten Schritt einen Hüpfer zu machen. Es ist irgendwie faszinierend.“
„Ich kann es mir nur vorstellen. In etwa einer halben Stunde sollten die Sensenträger bei dir sein. Kannst du ihn bis dahin unter Kontrolle halten?“
Sie umfasste ihr Handy fester. „Das ist nicht dein Ernst. Das kann nicht dein Ernst sein. Wir haben die Welt gerettet. Ich persönlich habe die Welt gerettet. Das hier gehört nicht zu den Dingen, die ich normalerweise tue. So etwas tun andere Leute, und wir beide lachen später darüber.“
„Wir tun, was getan werden muss, Walküre. Sobald du ihn den Sensenträgern übergeben hast, treffen wir uns in Phibsborough.“
Sie seufzte. „Wieder eine arbeitsreiche Nacht?“
„Sieht ganz so aus. Ich muss jetzt wirklich auflegen. Sally Yorke hat gerade ihre Knie in Brand gesteckt.“
Die Verbindung wurde unterbrochen. Walküre biss die Zähne zusammen und steckte das Handy wieder in die Tasche ihrer schwarzen Hose. Ein siebzehnjähriges Mädchen sollte ihre Abende nicht so verbringen müssen. Schuld war der Ältestenrat, der den Fall auf der Dringlichkeitsliste ganz nach oben gesetzt hatte. Ja, sie gab ja zu, dass es ein größeres Problem darstellte, wenn bisher unauffällige Sterbliche plötzlich magische Fähigkeiten entwickelten – ganz abgesehen von der Bedrohung, die sie für sich und andere darstellten, bestand durch sie auch das Risiko, dass der breiten Öffentlichkeit die Existenz von Magie gewahr wurde, und das durfte ganz einfach nicht geschehen. Aber inzwischen tauchten in ganz Irland solche Fälle auf. Weshalb musste Walküre sich ausgerechnet mit den völlig Abgedrehten befassen, die sich für Schmetterlinge hielten? Im Sanktuarium waren etliche Dutzend ruhiggestellter Sterblicher, aber nicht einer war so verrückt und verstörend wie Jerry Houlihan in seiner Unterhose.
Walküre runzelte die Stirn und fragte sich, warum sie nichts mehr von Jerry hörte. Dann blickte sie auf und sah ihn durch die Nacht fliegen. Er bewegte die Arme auf und ab und kreischte vor Vergnügen.
„Jerry!“, rief sie. „Jerry Houlihan, komm sofort da runter!“
Doch Jerry kicherte nur und wackelte unsicher in der Luft herum. Aber er flog. Er flog ganz eindeutig. Dann machte er kehrt und flatterte zu ihr zurück. Dummerweise schaute sie auf, als er direkt über sie hinwegflog. Das Bild brannte sich in ihr Gedächtnis ein, und sie spürte, wie ein kleines Stück von ihr starb.
Jerry wich von seinem Kurs ab und steuerte aus der Sicherheit des Dubliner Parks hinaus auf die hell erleuchtete Innenstadt zu. Walküre griff nach oben, spürte die Luft und wie die Räume sich verbanden. Der Windstoß, der Jerry traf, schickte ihn wieder zu ihr zurück. Sie brauchte ein Seil oder wenigstens ein Stück Schnur, irgendetwas, womit sie ihn fixieren konnte wie einen dicken Drachen in Männergestalt.
„Kannst du mich hören, Jerry?“, rief sie.
„Ich bin ein Schmetterling“, keuchte er glücklich.
„Das sehe ich. Und du bist sogar ein sehr hübscher Schmetterling. Aber wirst du nicht langsam müde? Jeder Schmetterling wird irgendwann müde, Jerry. Sie müssen landen, nicht wahr? Sie müssen landen, weil ihre Flügel ermüden.“
„Meine Flügel werden tatsächlich müde.“ Er atmete schwer.
„Ich weiß. Ich weiß, dass sie müde werden. Du solltest sie ausruhen. Du solltest landen.“
Jerry flog tiefer, und sie sprang hoch und versuchte, seinen Fuß zu fassen zu kriegen, doch er bewegte seine Arme schneller und stieg wieder höher hinauf. „Nein! Schmetterlinge fliegen! Sie fliegen hoch hinauf in den Himmel!“
Er rang inzwischen nach Luft, kam aus dem Rhythmus und konnte es trotz aller Anstrengung nicht verhindern, dass er erneut sank. Walküre sprang, erwischte ihn, schloss die Augen und versuchte ihren Geist an einen friedlichen Ort zu schicken. Jerry schwitzte von der ganzen Anstrengung, und seine Haut war warm und klebrig und haarig. Walküre dachte an die guten Zeiten in ihrem Leben, als sie ihn Stück für Stück vom Himmel holte. Er machte noch einen letzten verzweifelten Versuch, ihr davonzufliegen, und sie musste in die Fleischfalten an seiner Hüfte greifen, um ihn festzuhalten. Dann gab Jerry auf. Er stellte das Wedeln mit den Armen ein, und Walküre wurde schreiend unter ihm begraben.
„Ich bin kein Schmetterling“, schluchzte Jerry, als Walküre sich unter ihm wand.
Die Sensenträger erschienen pünktlich, wie üblich. Sie führten Jerry Houlihan zu ihrem unauffälligen Lieferwagen, und für anonyme Drohnen mit Sicheln auf dem Rücken sprangen sie erstaunlich sanft mit ihm um. Walküre winkte einem Taxi und ließ sich nach Phibsborough bringen. Der Fahrer hielt neben Skulduggerys glänzendem schwarzem Bentley.
Skulduggery wartete im Dunkeln auf sie. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen. An diesem Abend hatte er das Gesicht eines Mannes mit langer Nase und Schnauzbart. Er wies mit dem Kinn auf ein dunkles Fenster im obersten Stock eines Mietshauses.
„Ed Stynes“, sagte er. „Vierzig Jahre alt. Nicht verheiratet, keine Kinder. Hat sich kürzlich von seiner Freundin getrennt. Arbeitet als Toningenieur. Möglicherweise ein Werwolf.“
Walküre bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Du hast mir gesagt, es gibt keine Werwölfe.“
„Ich habe dir gesagt, es gibt keine Werwölfe mehr“, korrigierte er. „Sie sind im neunzehnten Jahrhundert ausgestorben. Im Gegensatz zu gewissen anderen Kreaturen der Nacht, die ich dir aufzählen könnte, es aber nicht tue, waren Werwölfe in der Regel in ihrer menschlichen Gestalt gutmütig. Sie waren von ihren Mondscheinaktivitäten als Fleischfresser so entsetzt, dass sie aktiv gegen ihr dunkles Selbst vorgingen. Sie suchten nach Heilmitteln, gingen in die selbst gewählte Verbannung und taten alles, um den Fluch nicht an andere weiterzugeben.“
„Im Gegensatz zu Vampiren“, knurrte Walküre.
„Die hast du ins Spiel gebracht, nicht ich.“
„Wie kommst du darauf, dass Ed Stynes ein Werwolf ist, wenn Werwölfe doch ausgestorben sind?“
„Gestern Abend haben Leute aus der Gegend berichtet, sie hätten einen großen Hund oder einen als Bär verkleideten Mann gesehen. Er hat niemanden verletzt – das tun Werwölfe bei ihrem ersten Ausgang selten, es sei denn, sie werden in die Enge getrieben. Beim zweiten Mal allerdings wird die ganze Sache dann sehr viel gewalttätiger.“
„Aber wenn Werwölfe doch ausgestorben …“
„Das Virus hat sich im Lauf der Generationen immer mehr verloren, ist aber in einem winzigen Teil der Weltbevölkerung weiterhin vorhanden. Zu schwach, um einen echten Gestaltwandel zu bewirken – es sei denn, die Träger des Virus gelangten plötzlich und auf unerklärliche Weise zu magischen Kräften.“
„Dann gehört Ed also in dieselbe Kategorie wie mein Schmetterlingsmann von eben.“
„Genau. Der Letzte in einer beängstigend langen Reihe von Sterblichen, die magische Fähigkeiten entwickeln. In Eds Fall hat dies einen lange im Verborgenen schlummernden Aspekt seiner Physiologie geweckt. Du wirst das hier brauchen.“ Er gab ihr eine Pistole mit langem Lauf.
Sie bekam große Augen. „Das Ding ist für mich? Du gibst es mir? Cool.“
„Es ist ein Betäubungsgewehr.“
„Oh.“ Die Enttäuschung war ihr anzusehen.
„Es ist immer noch cool“, versuchte er sie zu trösten. „Aber ich will es danach wiederhaben. Es ist Teil eines Sets. Ich habe das andere, und ich bewahre sie gern zusammen auf. Es ist bereits mit einem Betäubungspfeil geladen, du brauchst also nur zu zielen und abzudrücken. Das Betäubungsmittel in dem Pfeil reicht zum Sedieren …“
„Eines kleinen Elefanten?“
Er schaute sie an. „Was?“
„Du weißt schon, wenn sie im Film hinter irgendetwas Gefährlichem her sind, sagen sie immer, dass in ihren Betäubungsgewehren genügend Stoff sei, um einen kleinen Elefanten stillzustellen.“
„Was haben die Leute gegen kleine Elefanten?“
„Eigentlich nichts, aber …“
„In diesen Pfeilen ist genügend Betäubungsmittel, um einen Werwolf zu sedieren, und genau hinter so einem sind wir her. Weshalb sollten wir einen Elefanten betäuben wollen, wenn wir gar nicht hinter Elefanten her sind?“
„Das sagen die Leute halt so in Filmen.“
„In Filmen über Elefantenjagd?“
„Nicht unbedingt.“
„Wenn wir hinter einem Werelefanten her wären, könnte ich den Bezug herstellen.“
„Es gibt keine Werelefanten.“
„Natürlich gibt es sie. Es gibt praktisch alles in Wer-Form. Werhunde, Werkatzen, Werfische.“
„Es gibt Werfische?“
„In der Regel leben sie nicht sehr lang, es sei denn, sie sind in der Nähe von Wasser.“
„Das glaube ich jetzt nicht. Ich bin schon zu oft auf so was reingefallen.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Damit ging er über die Straße.
Walküre folgte ihm. „Tatsächlich nicht? Das Spiel läuft doch so: Du versicherst mir, dass sie existieren, und irgendwann kommen mir Zweifel, und ich hake nach und frage: Gibt es Werfische wirklich? Dann schaust du mich an und sagst: Gütiger Himmel, Walküre, natürlich nicht. Das wäre ja zu dämlich. Und ich stehe da und komme mir blöd vor. So war es auch bei der Kolonie Oktopus-Menschen.“
„Bei was?“
„Du hast mal behauptet, es gäbe Oktopus-Menschen.“
„Und das hast du mir geglaubt?“
„Ich war zwölf damals!“
Sie standen vor der Tür des Mietshauses. „Aber die wenigsten Zwölfjährigen glauben an Oktopus-Menschen.“
„Ich war zwölf und leicht zu beeindrucken und habe alles geglaubt, was du mir erzählt hast.“
„Ah, ich erinnere mich an diese Zeit“, erwiderte Skulduggery sehnsüchtig. Dann zog er seinen Revolver aus dem Holster. „Aber Werfische gibt es tatsächlich.“
Sie schaute zu, wie er seine Waffe lud. „Die sehen aber nicht aus wie Betäubungspatronen.“
„Das liegt daran, dass es keine sind. Sie sind aus Silber. Nur damit kann man einen Werwolf garantiert töten. Oder durch Köpfen. Aber das …“
„Köpfen bringt die meisten Gegner um.“
„Genau.“
„Außer Zombies.“
Skulduggery steckte den Revolver wieder in sein Schulterholster. „Dieses Ding ist nur für den Notfall, als letzte Absicherung. Ed Stynes ist ein guter Mensch – ich will ihn nicht umbringen, nur weil er sich jeden Monat für ein paar Nächte in einen Werwolf verwandelt.“ Er holte einen Dietrich aus der Jackentasche und machte sich an der Tür zu schaffen.
„Wäre es nicht gescheiter, bis morgen früh zu warten?“
„Damit er heute Nacht rausgehen und töten kann?“
„Es ist dunkel und Vollmond, und ich höre kein Geheul. Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie du glaubst.“
„Er hat sich nur noch nicht verwandelt. Bestimmt war er den ganzen Tag grantiger als sonst. Gegen Abend werden dann die Kopfschmerzen eingesetzt haben. Und mit Anbruch der Dunkelheit haben die Krämpfe begonnen. Wenn ich mir den Stand des Mondes so anschaue, haben wir noch ungefähr zehn Minuten, bevor er sich verwandelt. Er wird dann circa drei Stunden Wolf sein, und wenn der Mond weiterzieht, verwandelt er sich zurück.“
„Dann lullen wir ihn ein, solange er noch Mensch ist?“
„Das funktioniert nur selten.“ Skulduggery öffnete die Tür und steckte den Dietrich wieder ein. „Manchmal klappt es, aber meistens tritt die Verwandlung trotzdem ein, und der Adrenalinstoß neutralisiert das Betäubungsmittel. Der Wolf wacht wütend auf, und man braucht die doppelte Dosis, um ihn wieder ruhigzustellen.“
„Das heißt, wir müssen warten, bis er sich in ein Monster verwandelt, bevor wir etwas tun können?“
„So ist es.“
„Scheint mir sehr viel gefährlicher.“
„Ist es auch.“ Er zog dasselbe Betäubungsgewehr heraus, das er auch Walküre gegeben hatte. „Fertig?“
„Hm …“
„Das ist die richtige Einstellung.“
Sie nahmen die Treppe zum dritten Stock. Im Haus war es still, nichts rührte sich. Es war, als hielte es den Atem an. Sie gingen zu Ed Stynes Tür, und Skulduggery knackte das Schloss geräuschlos. Er drückte die Tür ein kleines Stück weit auf. In der Wohnung brannte kein Licht. Er hob die Hand und drückte auf die in seine Schlüsselbeine eingeritzten Symbole. Das künstliche Gesicht schmolz weg, und zum Vorschein kam der Schädel.
Er trat ein, Walküre schlich sich hinter ihm in die Wohnung und schloss die Tür mit einem leisen Klick. Das Betäubungsgewehr war schwer. Sie hielt es mit beiden Händen, so wie Skulduggery es ihr gezeigt hatte.
Bis jetzt war noch kein Knurren zu hören.
Sie gingen ins Wohnzimmer, schwenkten die Gewehre in sämtliche Ecken und vergewisserten sich, dass Ed Stynes sich nicht zum Schlafen auf die Couch gelegt hatte. Im Dämmerlicht war kaum etwas zu erkennen, aber da Skulduggery auf nichts schoss, nahm Walküre an, dass die Couch leer war. Obwohl er keine Augen hatte, sah er bei Nacht immer noch besser als sie. Sie schlichen über den Flur und schauten in die kleine Küche. Das Mondlicht beschien die Kopfschmerztabletten auf dem Tresen. Plötzlich kam aus dem Schlafzimmer ein Stöhnen, und Walküre hätte fast abgedrückt. Skulduggery drehte sich zu ihr um, und sie blickte ihn finster an.
Vollkommen lautlos bewegte er sich über den Flur. Eine Katze hätte mehr Geräusche gemacht. Walküre folgte ihm. Sie hielt sich dicht an der Wand, wo die Dielen unter dem Teppich gewöhnlich weniger knarrten. Skulduggery ging an der Schlafzimmertür vorbei und stellte sich auf der anderen Seite in Position.
Walküre schlich vorwärts. Über den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand schaute sie in Stynes Schlafzimmer. Sie hörte einen Fluch und sah, wie sich in der Dunkelheit etwas bewegte. Dann ging die Nachttischlampe an. Sie erstarrte, Adrenalin rauschte durch ihren Körper, doch Stynes schob lediglich die Decke zurück und setzte sich im Bett auf. Er war blass und unrasiert, er schwitzte und sah aus, als hätte er Schmerzen. Stöhnend stand er auf. Walküre schaute Skulduggery an und formte mit den Lippen: Verstecken? Doch er schüttelte nur den Kopf, und so blieb sie, wo sie war, den Blick auf den Spiegel gerichtet.
Stynes machte einen Schritt und krümmte sich.
„Oh Gott …“, hörte sie ihn murmeln.
Mit einem Schrei richtete er sich so plötzlich wieder auf, dass Walküre zusammenzuckte. Seine Finger bogen sich, als würden seine Muskeln auf einer unsichtbaren Folterbank zusammengezogen. Er hörte nicht auf zu schreien. So etwas hatte sie noch nie gehört.
Das Licht der Lampe fiel gelb auf seine Haut, als aus allen Poren dichtes schwarzes Haar wuchs und auf Brust und Rücken, Armen und Beinen verklebte und verfilzte. Er sank auf die Knie, seine Beine veränderten ihre Form, die Knochen wurden schmaler und setzten sich neu zusammen. Entsetzt und voller Abscheu blickte er auf seine Hände, als seine Fingernägel abfielen und ihm an ihrer Stelle längere, schärfere Krallen wuchsen.
„Hilfe“, keuchte er. „So helft mir doch …“
Er kippte vornüber und kauerte auf allen vieren. Tief in ihm löste sich der nächste Schrei und drängte aus seiner Kehle, als seine Kieferknochen aus den Gelenken sprangen. Es knackte und knirschte, als sie länger wurden. Die Haut spannte sich über der neu entstandenen Schnauze. Reißzähne durchbrachen sein Zahnfleisch, und sein Schrei wurde zum Wut- und Schmerzgeheul eines Tieres.
Skulduggery hielt vier Finger hoch. Walküre sah, wie er herunterzählte – drei, zwei, eins –, dann die Pistole hob und in die Tür trat. Es dauerte einen Moment, bis sie seinen Anweisungen folgen konnte. Sie war noch zu gebannt von dem, was sie gerade gesehen hatte, um sich schnell bewegen zu können, und so streifte der Wolf sie nicht einmal, als er aus dem Schlafzimmer hechtete.
Walküre wich in der Dunkelheit zurück, stürzte und versuchte zu erkennen, was sich da wenige Meter von ihr entfernt abspielte. Etwas fiel und zerbrach, und der Wolf knurrte und Skulduggery fluchte, und alles, was sie erkennen konnte, war eine gewaltige Fellmasse auf zwei Beinen. Sie schaute auf ihre leere Hand und fragte sich, wo zum Teufel das Gewehr hingekommen war. Sie strich mit dem Arm in einem Halbkreis über den Teppich. Ihre Finger stießen gegen Metall. Sie warf sich nach vorn, packte den Griff, stand auf, drehte sich um, den Finger am Abzug …
… und wurde rückwärts ins Wohnzimmer gestoßen. Sie drückte, was immer es war, von sich weg, und Skulduggery rappelte sich auf, und der Wolf sprang ihn wieder an, und sie krachten ins Sofa. Es fiel um, und sie landeten dahinter auf dem Boden.
Walküre ging auf die Knie und blickte sich erneut nach dem verdammten Gewehr um.
Skulduggery brüllte, als er durchs Zimmer geschleudert wurde. Er prallte auf den Fernseher, Glas splitterte, er riss die Jalousien vom Fenster, und der Wolf sprang und drückte ihn auf den Teppich. Das Tier schlug zu, immer wieder, und Skulduggery schrie. Im Mondlicht sah Walküre, mit welch roher Gewalt der Wolf auf Skulduggery eindrosch. Seine Krallen schlitzten seine Kleider auf und kratzten über seine Rippen.
Sie machte eine Bewegung aus dem Handgelenk. Schatten legten sich um den Hals des Werwolfs und zogen ihn nach hinten. Aber sie spürte, mit welcher Kraft er sich wehrte, und konnte nicht verhindern, dass er sich losriss. Seine gelben Augen nahmen sie ins Visier.
Walküre sprintete los und rannte ins Schlafzimmer, den Wolf dicht auf den Fersen. Mithilfe der Luft katapultierte sie sich durchs Fenster, das Glas riss an ihren Kleidern, aber wenigstens war sie jetzt draußen, im freien Fall, und der Wolf …
… der Wolf krachte in sie hinein, und sie verlor die Kontrolle über die Luft, und beide wirbelten im Fallen herum, der Wolf schnappte nach ihr und versuchte, mit seinen Krallen ihre Jacke aufzuschlitzen. Er schlug mit einem Jaulen auf dem Boden auf, Walküre kam von ihm los und rollte über den Hof. Der Wolf stand auf und schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Bis er Walküre entdeckte, rannte sie bereits.
DER WERWOLF VON DUBLIN
Walküre führte beide Arme seitlich nach oben, und die Luft hob sie hoch. Ohne Probleme überflog sie die Mauer, landete auf der anderen Seite und stolperte ein paar Schritte vorwärts, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Sie rannte über die Straße, ließ sich von der Luft erst auf ein niedriges und dann auf ein höheres Dach tragen. Sie übersprang eine Lücke zwischen den Häusern, suchte nach einem Halt und kletterte weiter hinauf. Sie ächzte vor Anstrengung, als sie sich auf ein Flachdach hievte, sich abrollte und in Kauerstellung auf die Füße kam. Dann hielt sie den Atem an, und ihr Herz hämmerte, während sie auf ein Geräusch lauschte, das ihren Verfolger ankündigte.
Sie hörte keines. Stattdessen hörte sie Musik.
Gebückt rannte sie zur anderen Seite des Dachs. Ein Stück weiter vorn wartete eine Menschenschlange auf den Einlass in einen hell erleuchteten Nachtclub. Das Lachen der Leute vermischte sich mit dem Dröhnen der Musik. Auf einen blutrünstigen Werwolf, der um seine erste Mahlzeit an diesem Abend betrogen worden war, mussten die Wartenden wie eine unwiderstehliche Einladung zum Schlemmen wirken.
Und da war er auch schon, verbarg sich im dunklen Eingang einer Gasse auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Immer wieder erhaschte sie einen Blick auf ihn, als er sich langsam von Schatten zu Schatten schlich. Walküre rannte zum Rand des Daches, und der Wind hob sie weit über die fahrenden Autos hinweg. Sie brauchte eine weitere Bö, um ganz über die Straße zu kommen, landete aber genau an der angepeilten Stelle des Daches auf den Füßen. Sie rannte zum Rand und schaute hinunter. Der Wolf war direkt unter ihr. Von dieser Position aus wäre das Betäubungsgewehr jetzt genau das Richtige gewesen.
Ihr Finger zuckte. Wenn sie von hier oben aus die Schatten einsetzen wollte, müsste sie sich gleich für einen tödlichen Schlag entscheiden. Alles andere würde den Wolf nur reizen und vielleicht dazu anstacheln, ein paar Leute abzuschlachten. Doch sie wollte ihn nicht umbringen. Nicht so. Nicht, wenn es auch noch eine andere Möglichkeit gab.
Und dann stürmte der Wolf über die Straße.
Walküre fluchte, warf sich hinter ihm her und änderte ihren Kurs in der Luft um neunzig Grad, sodass sie ihn im rechten Winkel anfliegen konnte. Die ersten Leute schrien schon. Sie schraubte sich nach unten und rollte sich zusammen, nur einen Augenblick bevor sie in den Wolf donnerte. Der Aufprall nahm ihr den Atem, und sie landete lang ausgestreckt auf der Straße. Sie hörte Schreie und Rufe, rappelte sich auf, sah Gesichter und Scheinwerfer, und dann krachte ein Bus in den Wolf. Als er bremste, brach das Heck aus, schwang herum und traf Walküre. Zum zweiten Mal an diesem Abend wurde sie von den Füßen gerissen und flog nach hinten. Die Welt um sie herum wurde still.
Sie schlug auf dem Boden auf. Geräusche drangen an ihr Ohr, und sie kullerte viel zu schnell über die Straße, als dass sie sich hätte stoppen können. Ihr war bewusst, dass sie das Kinn auf die Brust drückte und mit den Armen ihren Kopf schützte.
Das war gut. Es bedeutete, dass sie noch nicht tot war.
Das Kullern wurde langsamer, und sie nutzte den noch vorhandenen Schwung, um auf die Füße zu kommen. Zum Glück war der Bus nicht umgekippt. Er stand quer über der Straße, und Leute rannten herum und riefen durcheinander. In der dunklen Gasse war sie außer Sichtweite. Langsam wurde ihr Kopf wieder klarer, und die Erinnerungen kamen zurück. Erinnerungen an Fell und Reißzähne. Etwas knurrte vor ihr.
Ach ja, der Wolf.
Sehen konnte sie ihn nicht. Alles zwischen ihr und den Lichtern des Nachtclubs und des Busses war undurchdringliche Dunkelheit. Und dort war der Wolf. Sie beschattete die Augen, doch es nützte nichts. Die Lichter waren zu grell. Die Dunkelheit zu kompakt.
Das Knurren wurde lauter. Kam näher.
Immer noch benommen, wandte Walküre sich nach links, rannte zwischen zwei Autos durch und hörte, dass der Wolf ihr folgte. Sie rannte – nur weg von dem Nachtclub und den Leuten. Ein paarmal wäre sie fast gegen Laternenpfähle gelaufen. Und dann sprang der Wolf sie von hinten an. Sie rollten über die Straße, der Wolf und sie. Seine Kiefer umschlossen ihren rechten Arm. Die Zähne konnten das reißfeste Gewebe ihrer Jacke nicht durchdringen, dennoch schrie sie. Der Wolf schüttelte den Kopf, und sie trat nach ihm, doch er kauerte über ihr und war zu schwer, als dass sie ihn hätte wegdrücken können.
Lass mich raus, verlangte die Stimme in ihrem Kopf.
Gleich würde ihr Arm brechen. Der Wolf war dabei, ihn aus dem Schultergelenk zu reißen. Ohne die nötige Bewegungsfreiheit zum Dirigieren der Schatten nützte ihr der Totenbeschwörerring nichts. Sie versuchte, gegen die Luft zu drücken, doch der Schmerz benebelte ihr Gehirn. Mit dem Gewicht des Wolfes auf sich konnte sie nicht einmal richtig atmen.
Lass mich raus.
Der Wolf ließ ihren Arm los und wollte ihr an die Kehle gehen, doch sie warf sich zur Seite, packte die Schatten, machte sie messerscharf und fuhr damit über seine Brust. Er bäumte sich auf und jaulte, sie drückte gegen die Luft, und der Wolf kam ins Wanken. Keine Sekunde später hatte er sich wieder in der Gewalt und griff erneut an. Sie warf sich rückwärts über die Kühlerhaube eines geparkten Wagens. Der ganze Wagen wackelte, als der Wolf hineinkrachte. Walküre kletterte aufs Wagendach und holte den Wind herbei, damit er sie über den Kopf des Gegners wegtrug. Sie landete hinter einer Mauer und rannte sofort wieder los. Da sah sie Skulduggery im Mondlicht auf sich zufliegen.
Sie duckte sich, er schoss über sie hinweg und stieß mit dem Wolf hinter ihr zusammen. Das Tier warf ihn durch die Luft, Skulduggery rollte sich ab und stand wieder, das Betäubungsgewehr in der Hand. Doch dann rutschte er in der Dunkelheit auf etwas aus. Er stürzte, der Wolf sprang, und etwas schlitterte über den Boden.
Das Betäubungsgewehr – total verbeult.
Flammen loderten auf, der Wolf heulte vor Schmerz, und Skulduggery wankte aus der Dunkelheit. Sein Hut und sein Gesicht waren weg. Sein Anzug hing in Fetzen an ihm, und selbst bei dem schlechten Licht sah Walküre die Kerben in seinen Rippen. Er hatte seinen Revolver in der Hand.
Der Wolf knurrte. Skulduggery drehte sich um.
Die Bestie kam direkt auf ihn zu, und Skulduggery stabilisierte seinen Schussarm mit der anderen Hand.
„Schieß!“, brüllte Walküre. „Schieß!“
Doch im letzten Augenblick ließ Skulduggery den Revolver fallen, senkte beide Arme und ging leicht in die Knie. Eine Wand aus Luft fiel von oben auf die Bestie und schickte sie zu Boden. Sie rollte jaulend ein Stück weg. Skulduggery richtete sich sofort wieder auf, schwang die Arme über den Kopf und ließ den Wolf durch die Luft segeln. Als er sich krümmte und wand und wieder herunterfiel, machte Skulduggery einen Schritt nach vorn und führte einen Schlag. Eine Luftsäule traf den Wolf in die Seite und trieb ihn zurück.
„Der Pfeil!“, brüllte Skulduggery. Er kauerte sich hin, strich mit einer Hand über den Boden um seine Füße, sodass dieser Risse bekam und sich aufwarf. Skulduggery verlor fast das Gleichgewicht, als das Stück, auf dem er stand, wie ein Surfbrett nach vorn schoss. Der Boden verformte und wellte sich, und als der Wolf sich von dem Schlag erholt hatte, stürmte er auf ihn zu. Walküre schnappte sich das kaputte Gewehr, riss den Pfeil aus der Kammer und ließ ihn mithilfe der Luft direkt in Skulduggerys ausgestreckte Hand fliegen. Einen Wimpernschlag später stieß er mit dem Wolf zusammen und rammte der Bestie den Pfeil in die Schulter.
Der Wolf heulte auf und kickte um sich, sodass Skulduggery wieder durch die Luft flog, aber das Betäubungsmittel zeigte bereits Wirkung. Der Wolf schwankte, schüttelte den Kopf und torkelte gegen die Mauer. Er blickte zu Walküre hinüber und setzte sich in Bewegung, doch schon nach drei Schritten machten seine Beine nicht mehr mit, und er brach zusammen. Da lag er, die Zunge hing ihm aus dem Maul, er keuchte und seine Glieder waren so schwer, dass er sich nicht mehr aufrichten konnte. Die Augen fielen ihm zu, die Atmung wurde langsamer, und er schlief ein.
Skulduggery rappelte sich auf. „Gewonnen“, ächzte er.
Als Ed Stynes aufwachte, lag er angeschnallt auf einem Bett in einem seltsamen Raum, und seltsame Menschen blickten auf ihn herunter. Walküre tat er fast leid.
„Hallo“, begrüßte ihn eine blauhaarige junge Frau. „Ich bin Clarabelle. Willst du mein Freund sein?“
Eds Miene zeigte Verwirrung.
„Hallo, Ed“, mischte Walküre sich ein, bevor die Sache noch peinlicher wurde. „Ich heiße Walküre, und das ist Clarabelle. Clarabelle ist eine Art Krankenschwester und wird sich um dich kümmern.“
Clarabelle nickte. „Mit medizinischen Sachen kenne ich mich supergut aus. Letzte Woche kam ein Patient zu uns. Ich habe ihn untersucht, und er zeigte alle Anzeichen von Beulenpest, doch ich hab ihn geheilt.“
Walküre schaute sie an. „Er hatte wirklich Beulenpest?“
„Oh ja. Na ja, als Dr.Nye ihn sich angesehen hat, meinte er, er hätte nur einen Splitter im Finger, aber ich war diejenige, die ihn rausgezogen hat, und deshalb … Das zählt ja wohl. Warte, bis du Dr.Nye kennenlernst, Ed. Wenn du große, Furcht einflößende Sachen magst, wirst du es mögen.“
Ed wimmerte und drehte den Kopf in Walküres Richtung. „Was … was passiert mit mir?“
„Woran erinnerst du dich?“
„Ich erinnere mich an dich. Ich erinnere mich …. Oh, Gott, ich erinnere mich, dass ich dich fressen wollte …“
„Stimmt“, bestätigte Walküre. „Aber lassen wir das lieber.“
„Ich bin dabei, verrückt zu werden, oder?“
Clarabelle lachte. Sie hatte ein so hübsches Lachen. „Ach Ed, wir sind hier doch alle verrückt!“ Damit hüpfte sie davon.
Skulduggery kam herein. Über seinem ruinierten Anzug trug er einen grauen Trenchcoat und über seinen Schädelknochen ein neues Gesicht. Er wollte Ed nicht mehr als absolut notwendig erschrecken. „Hallo, Ed. Geht es dir besser? Du siehst auf jeden Fall schon sehr viel besser aus.“
„Wer seid ihr alle?“
„Wir sind Experten auf dem Gebiet. Wir wollen dir helfen“, antwortete Skulduggery.
„Mir helfen? Ich bin ein Werwolf!“
„Das habe ich gemerkt. Es besteht jedoch die Hoffnung, dass es nur eine Phase ist, die du durchläufst. Stell dir das Ganze meinetwegen wie eine Krankheit vor. Wie ein Leiden. Dass dein ruhendes Werwolf-Gen plötzlich erwacht, ist lediglich ein Symptom des eigentlichen Problems. Und auch wenn deine Situation einigermaßen ungewöhnlich ist, bist du nicht der einzige Befallene. Es gibt noch andere, ganz normale Menschen wie du, die plötzlich vollkommen ungewöhnliche Kräfte entwickeln. Allerdings bist du einer der wenigen Zurechnungsfähigen. Die meisten anderen haben den Verstand verloren. Ich glaube, du kannst uns helfen. Dazu musst du uns nur ein paar Fragen beantworten. Kannst du das?“
„J-ja.“
„Wunderbar. Ist in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches mit dir passiert?“
„Ja.“
„Und was war das?“
„Ich habe mich in einen Werwolf verwandelt.“
„Sonst noch etwas? Hast du neue Leute kennengelernt? Warst du außer Landes oder zum ersten Mal an einem bestimmten Ort …?“
Ed schüttelte den Kopf. „Es war alles wie immer. Alles lief seinen normalen Gang. Na ja, bis auf die Tatsache, dass ich mich vor ein paar Monaten von meiner Freundin getrennt habe. Meinst du … meinst du, sie hat mich verhext?“
„Sie hat die Beziehung beendet, oder?“
„Nein“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Es geschah in gegenseitigem Einverständnis. Wir haben beide … es wurde beschlossen, dass … wir sind beide übereingekommen, dass sie einen Besseren finden könnte, und deshalb …“
„In diesem Fall“, unterbrach ihn Skulduggery, „bezweifle ich, dass sie dich verhext hat. Ist sonst noch etwas Außergewöhnliches passiert? Und sei es noch so nebensächlich?“
„Nein. Alles ganz normal. Bis auf die Träume.“
Skulduggery legte den Kopf schräg. „Weiter.“
„Es war nur … ich habe angefangen, von einem Mann in weißen Kleidern zu träumen. Argeddion hieß er. Das ist ungewöhnlich, weil ich mich sonst nie an meine Träume erinnere. Aber Argeddion habe ich noch ganz deutlich vor Augen.“
„Was wollte er?“
„Er hatte ein Geschenk für mich. Das hat er zumindest gesagt. Er war so freundlich und warmherzig und versprach mir ein wunderbares Geschenk. Wochenlang erschien er in meinen Träumen und sagte mir, ich sollte mich auf den Sommer des Lichts vorbereiten. Und als ich das letzte Mal von ihm geträumt habe, hob er die Hand, und darin hielt er diese helle, leuchtende Energie und legte sie in meine Brust. Dann lächelte er und meinte, er würde sie später wieder abholen. Seither habe ich nicht mehr von ihm geträumt. Meint ihr, das hat irgendetwas mit dem zu tun, was passiert ist?“
„Wenn ein Fremder dir Energie schenkt und du dich kurz darauf in ein ausgestorbenes Wesen mit übernatürlichen Kräften verwandelst? Da könnte meiner Ansicht nach durchaus ein Zusammenhang bestehen, Ed.“
Sie ließen ihn in Clarabelles zweifelhaft kompetenter Obhut und verließen die Krankenstation. Kaum waren sie auf dem Flur, ließ Skulduggery seine Fassade verschwinden. Sein Schädel wies immer noch Spuren der Nacht auf, als er mehrfach im Dreck und Abfall der Dubliner City gelandet war.
„Wie steht es mit den Sterblichen auf der Beobachtungsstation?“, fragte Walküre.
„Nichts Neues. Sie wurden bereits sämtlichen verfügbaren Tests unterzogen, und sie werden sie auch ein zweites Mal machen. Bis jetzt ohne Ergebnis. Kein einziger Hinweis, der erklären könnte, was hier vor sich geht.“
„Wird Ed auch dorthin verlegt?“
„Er wird ruhiggestellt, genau wie die anderen. Sein Bett wartet schon auf ihn.“
„Wenigstens haben wir jetzt eine Spur – auch wenn es nur ein Traum ist. Hm … Wenn man das laut ausspricht, klingt es sehr fadenscheinig, oder?“
„Dass unsere einzige Spur der Traum eines Werwolfs ist? Ja, wir hatten schon aussagekräftigere Indizien. Aber wir arbeiten mit dem, was man uns gibt, und wir können es uns wahrhaftig nicht leisten, wählerisch zu sein, nicht in diesem Stadium. Trotz allem, was passiert ist, haben wir es gerade noch geschafft, dass nichts in den Nachrichten aufgetaucht ist. Wenn wir der Sache keinen Riegel vorschieben, sehen die Sterblichen eher früher als später etwas, das sich nicht wegerklären lässt. Und dieser geheimnisvolle Mann aus Eds Traum, dieser Argeddion, könnte genau der sein, den wir suchen.“
„Irgendeine Idee, was mit dem Sommer des Lichts gemeint ist? Glaubst du, er meint diesen Sommer?“
„Keine Ahnung. Doch wenn wir nach dem traditionellen irischen Kalender gehen, beginnt der Sommer am ersten Mai. Bleibt uns genau eine Woche, um dahinterzukommen.“
„Klingt jedenfalls nett, der Sommer des Lichts“, fand Walküre. „Vielleicht läuft das ja alles auf richtig gutes Wetter hinaus. In dem Fall sollten wir es dann einfach laufen lassen, damit ich sonnenbaden kann.“
„Was für eine wundervolle Idee. Gehen wir doch einfach davon aus.“
Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sich die Seite hielt. „Dir tut etwas weh“, stellte sie fest.
Er schaute sie an. „Wir wurden von einem Werwolf angegriffen, schon vergessen?“
„Aber du bist richtig verletzt.“
„Du auch.“
„Das hat nichts zu bedeuten. Nur blaue Flecke und Zerrungen und Schnittwunden, und ich habe einen Arzt, der sich darum kümmert. Deine Knochen haben was abbekommen, Skulduggery. Lass dich doch von jemandem heilen. Es dauert nicht lang.“
Skulduggery straffte im Weitergehen die Schultern. „Im Krieg mit Mevolent hat Dr.Nye meine Freunde zu Tode gefoltert. Von dem lasse ich mir nicht helfen.“
„Nye ist nicht der einzige Arzt hier.“
„Aber er ist der Einzige, der meine Verletzungen richtig heilen könnte. Außerdem ist es gar nicht so schlimm. Ich werd’s überleben, genau wie du.“
„Du weißt schon, dass du möglicherweise dickköpfiger bist, als dir guttut, ja? Aber ich will dich nicht drängen. Du tust, was du für richtig hältst.“
„Oh, danke für dein Verständnis.“ Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Dafür bringe ich dich jetzt nach Hause. Die letzten paar Tage waren lang. Heute Nacht schläfst du in deinem eigenen Bett.“
„Na, wunderbar.“ Sie seufzte. „Ich habe meine Leute schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Alison kann inzwischen wahrscheinlich schon laufen. Sie ist jetzt fünfzehn Monate alt. In welchem Alter fangen Babys an zu laufen?“
„Hängt vom Baby ab.“
„Sagen wir, ein ausgesprochener Frühentwickler wie meine Schwester?“
„Oh, dann kann es sich nur noch um Tage handeln.“
Walküre grinste. Sie verließen das Sanktuarium und gingen zum Bentley.
„Hast du sie noch einmal gehört? Darquise?“, fragte Skulduggery leise.
Sie wurde ernst und nickte. „Sie wollte, dass ich sie rauslasse. Ein Jahr ist es jetzt her, seit sie das letzte Mal die Kontrolle über mich hatte, und ihre Stimme wird immer lauter. Wir brauchen einen Plan. Etwas, das sie aufhält, falls sie das Kommando übernimmt.“
Er verschränkte die Arme auf dem Wagendach und trommelte leicht mit seinen behandschuhten Fingern darauf herum. „Du meinst, etwas, das dich aufhält“, sagte er schließlich.
„Es wäre mir sehr viel lieber, du würdest mich aufhalten, als dass du mich tun lässt, was ich sonst tun werde. Was das ist, wissen wir beide. Ich will niemanden umbringen, und schon gar nicht meine Eltern oder meine Schwester oder dich. Wenn es so weit ist und Darquise die Kontrolle über mich übernimmt …“
Er hob die Hände. „Ich lasse mir etwas einfallen. Keine Sorge.“
Walküre schaute zu einer in der Nähe geparkten Limousine hinüber, neben der zwei Männer in Anzügen standen. Ein guter Grund, das Thema zu wechseln. „Haben wir hohen Besuch, oder was?“
„Sieht so aus“, knurrte Skulduggery. „Sie haben etwas mit dem Rat zu besprechen. Alles streng geheim. Nur die Ältesten dürfen wissen, worüber sie zurate sitzen.“
„Aber Grässlich verrät es uns doch?“
„Davon gehe ich unbedingt aus!“
RÄTETREFFEN
Grässlich war noch nie in diesem Raum gewesen. Es herrschte dieselbe betongraue Eintönigkeit wie in allen anderen Räumen des Sanktuariums, nur dass hier in der Mitte ein Tisch in Form einer Kröte stand. Wahrscheinlich sollte er nicht aussehen wie eine Kröte, viel eher sollte er etwas Großartiges und Inspirierendes darstellen, doch in Grässlichs Augen ähnelte er lediglich einer großartigen, inspirierenden Kröte, und damit war die Sache für ihn erledigt.
Er saß rechts neben Großmagier Erskin Ravel auf einem unbequemen Stuhl. Links von Ravel saß Madam Misty. Sie trug die Ältestenrobe wie die anderen beiden auch und einen schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Was für ein Anblick: Großmagier Ravel, der aussah, als müsste er eigentlich einen Frack tragen, flankiert von einem vernarbten Mann und einer verschleierten Frau.
Grässlich fragte sich, ob auch nur einer der anderen Räte rund um den Globus so merkwürdig aussah wie sie. Er bezweifelte es.
Im Augenblick saß er zwei Vertretern zweier anderer Räte gegenüber, und die sahen beide total normal aus – wenn auch ziemlich ernst. Man unterhielt sich, aber Grässlich hörte gar nicht hin. Small Talk war nicht seine Stärke. Seine Mutter war Boxerin gewesen und sein Vater Schneider – was wusste er schon vom Small Talk der Politiker und Bürokraten? Ungeduldig wartete er darauf, dass sie endlich zum Grund ihres Besuchs fanden, und als sie endlich dazu kamen, war er kein bisschen überrascht.
„Wie wir gehört haben, gab es Probleme mit Ihren Zauberern“, sagte Quintin Strom, Großmagier des englischen Sanktuariums. Wie die meisten Großmagier – mit Ravel als offensichtlicher Ausnahme – war er alt und grauhaarig und faltig. Allerdings immer noch unglaublich mächtig und ziemlich humorlos.
„Da sind Sie leider falsch informiert“, entgegnete Ravel. „Bei unseren Magiern gibt es nichts zu beanstanden.“
Stroms Augenbrauen rutschten ein kleines Stück nach oben. Er war ein guter Schauspieler. „Oh! Dann bitte ich vielmals um Verzeihung. Es ist nur so, dass uns von Unruhen in praktisch jedem Winkel des Landes berichtet wurde. Soll das heißen, diese Berichte sind unzutreffend?“
„Das soll es ganz gewiss nicht heißen“, entgegnete Ravel unbeeindruckt. „Aber das Problem sind nicht unsere Zauberer.“
Strom nickte. „Ah ja, auch davon haben wir gehört. Etwas beeinflusst die sterbliche Bevölkerung hier, richtig? Eine ganz schlimme Geschichte. Falls Sie Hilfe brauchen …“
Ravel lehnte ab. „Danke nein, wir haben alles unter Kontrolle.“
„Sind Sie ganz sicher? Es soll nicht herablassend klingen, Großmagier Ravel, aber ich habe sehr viel mehr Erfahrung in der Führung eines Sanktuariums als Sie, und es ist keine Schande, Hilfe anzunehmen, wenn sie einem angeboten wird.“
„Danke für die Klarstellung“, erwiderte Ravel.
Der Mann neben Strom räusperte sich höflich. Er war jung und kam aus Amerika, so viel wusste Grässlich. „Leider ist die Sache vielleicht doch nicht so einfach“, meldete er sich. „Sinn und Zweck eines Sanktuariums ist es, die magischen Gemeinschaften zu überwachen und die Sterblichen vor der Wahrheit zu schützen. Kommt auch nur ein Sanktuarium seinen Verpflichtungen nicht nach, liegt der Erfolg sämtlicher anderer bei null. Um einen stark überstrapazierten Spruch zu zitieren: Die Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.“
Madam Misty räusperte sich. „Und Sie wollen damit sagen, dass wir dieses schwache Glied sind?“
„Um Himmels willen, nein. Ich sage nur, dass dieses Sanktuarium schon überdurchschnittlich viele Krisen zu meistern hatte. Der Druck, unter dem Sie gestanden haben, belastet selbst das stärkste Glied.“
„Dann sind wir in Ihren Augen doch das schwächste Glied“, bemerkte Ravel. „Tut mir leid – wie war Ihr Name noch mal?“
„Bernard Sult“, stellte der Mann sich vor. „Ich bin der Assistent von Großmagier Renato Bisahalani.“
„Und wozu sind Sie hier?“
„Sult ist hier, um zu helfen“, antwortete Strom. „Sie kennen doch die amerikanischen Älteren. Sie halten sich immer für viel zu beschäftigt, um sich persönlich um solche Angelegenheiten kümmern zu können. Aber was er sagt, stimmt. Wir reden nicht gern darüber, aber es steht nun einmal fest, dass Irland überall auf der Welt für eine Menge Beunruhigung gesorgt hat. Selbstverständlich tun wir es nur in der besten Absicht, wenn wir sicherstellen wollen, dass Sie mit was immer auf Sie zukommt, umgehen können.“
„Wir brauchen keine Unterstützung“, wehrte Ravel energisch ab.
Sult schüttelte den Kopf. „So ist das auch gar nicht gemeint. Doch wenn alles, was in den vergangenen zehn Jahren hier passiert ist, irgendwo anders passiert wäre, sagen wir in Deutschland, würden Sie denen zutrauen, dass sie allein eine Lösung finden? Oder hielten Sie es nicht für notwendig, ihnen Ihre Unterstützung anzubieten?“
Ravel erwiderte nichts darauf.
„Die anderen Sanktuarien machen sich Sorgen“, fuhr Strom fort. „Sie wollen Sicherheiten, dass Sie auf alles vorbereitet und in der Lage sind, damit umzugehen. Und ich gehöre zu den dreien, die sie als ihre Vertreter gewählt haben, um …“
„Bitte was haben Sie da gerade gesagt?“, hakte Grässlich nach.
Ravel runzelte die Stirn. „Man hat Sie gewählt? Wann? In welchem Gremium?“
„Es handelte sich um ein privates Treffen“, erklärte Strom. „Wir kamen zusammen, um unserer Besorgnis Ausdruck zu verleihen.“
„Ohne uns einzuladen.“
„Es sollte nicht wie ein Angriff aussehen. Wir wollten unsere Meinungen äußern, nicht Sie einschüchtern. Bei dem Treffen wurde der Beschluss gefasst, Ihnen unsere Sorge vorzutragen. Großmagier Renato Bisahalani vom amerikanischen Sanktuarium, Großmagier Dedrich Wahrheit vom deutschen Sanktuarium und ich wurden gewählt, und es wurde beschlossen, dass ich hierherkommen sollte, die Interessen des Obersten Rats vortragen und …“
Ravel lachte. „So nennt ihr euch also? Der Oberste Rat? Das empfinden wir jetzt überhaupt nicht als Einschüchterungsversuch, Grässlich, wie?“
„Klingt doch eindeutig kuschelig“, erwiderte Grässlich. „Dann sind Sie also als Sprecher des Obersten Rats hergekommen, um was genau von uns zu verlangen?“
„Wir wollen überhaupt nichts von Ihnen verlangen“, antwortete Sult. „Wir wollen Ihnen lediglich unsere Hilfe anbieten, sollte es sich herausstellen, dass Sie diese benötigen. Wie Großmagier Strom bereits angedeutet hat, die anderen Sanktuarien brauchen Sicherheiten.“
„Kein Problem“, meinte Ravel. „Sie gehen zurück und versichern ihnen, dass alles bestens ist.“
Strom lächelte traurig. „Wenn es nur so einfach wäre, Erskin. Wir haben den Auftrag, sicherzustellen, dass Sie und Ihr Sanktuarium auf alle Eventualitäten vorbereitet sind, und zwar ohne Wenn und Aber. Und ich muss leider sagen, dass diese Geschichte mit den Sterblichen unser Vertrauen in Sie nicht gerade stärkt. Soviel ich weiß, lief letzte Nacht ein Werwolf frei herum. Ein Werwolf. Wir fürchten, und auch dies hat nichts mit Geringschätzung zu tun, dass sich in Zeiten wie diesen eure relative Unerfahrenheit zeigt.“
Ravel nickte. „Dennoch bin ich mir noch nicht hundertprozentig sicher, welchem Zweck der Oberste Rat dient. Sie wollen Sicherheiten, scheinen aber nicht zufrieden, wenn wir sie Ihnen geben. Was wollen Sie noch?“
„Wir müssen uns persönlich von Ihrer Kompetenz überzeugen.“
Ravel schaute Grässlich an. „Wonach klingt das in deinen Ohren?“
„Klingt so, als wollten sie uns überwachen und uns sagen, was wir zu tun haben. Was vollkommen unsinnig ist, da jedermann weiß, dass jedes Sanktuarium sein eigener Wachhund und nur sich selbst verantwortlich ist.“
„Die Zeiten haben sich geändert“, erwiderte Strom. „Die Risiken von früher können wir heute nicht mehr eingehen. Allein in den letzten sechs Jahren haben Serpine und Vengeous sowie die Diablerie hier versucht, die Gesichtslosen zurückzuholen. Es gab Skarabäus’ Versuch, achtzigtausend Leute während einer Liveübertragung umzubringen. Nach einem Ausbruch von Restanten bestand die Gefahr, dass sie sich über den gesamten Globus ausbreiten, und vor gerade mal einem Jahr tauchte der Messias der Totenbeschwörer auf in der Absicht, drei Milliarden Menschen umzubringen. Sollte diese Wahnsinnige, diese Darquise, ihr Armageddon wirklich hier in Irland starten, wäre dies das siebte weltverändernde Ereignis in Folge. Wie sollen wir nach alldem Ihrer Meinung nach reagieren? Die Sanktuarien fürchten, dass Ihre Leute es irgendwann nicht mehr rechtzeitig schaffen.“
„Bevor Sie protestieren“, meldete Sult sich zu Wort, „möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Wären Sie ohne Skulduggery Pleasant und Walküre Unruh an Ihrer Seite überhaupt noch am Leben? Könnten wir diese Unterhaltung überhaupt noch führen?“
„Die Detektive Pleasant und Unruh arbeiten mit der vollen Unterstützung dieses Sanktuariums und seiner Zauberer“, erwiderte Ravel leise. „Wir sind ein Team.“
„Sie unterstützen die beiden, aber die Arbeit machen sie“, entgegnete Sult. „Und sie werden nicht immer zur Stelle sein und auch nicht immer schnell genug sein. Sie werden einen Fehler machen, sich verkalkulieren. Und wenn das passiert …“ Er beendete den Satz nicht, und Strom fuhr an seiner Stelle fort.
„Sanktuariumsfunktionär Sult will damit lediglich sagen, dass Sie die Sicherheit der Welt nicht von zwei Menschen abhängig machen können. Diese Verantwortung wird irgendwann zu viel für sie. Wir bieten unsere Hilfe an, Erskin, mehr nicht. Wenn wir den Eindruck haben, dass Ihr Sanktuarium stark genug ist, werden wir das so weitergeben, und die Sache ist vergessen.“
„Und wenn Sie nicht den Eindruck haben, dass wir stark genug sind?“, fragte Misty.
„Dann werden wir Ihnen helfen. Wir werden Ihnen bei Bedarf Sensenträger und Zauberer schicken. Ich nehme an, dass auch eine Mitverantwortung möglich wäre.“
Grässlich schaute ihn durchdringend an. „Was bedeuten würde, dass Sie das Sagen haben.“
„Nein, natürlich nicht. Du liebe Güte, wir sind hier, um zu helfen. Ganz ohne Hintergedanken.“
„Und wenn wir Sie hier nicht haben wollen?“
Strom machte ein beleidigtes Gesicht.
„Dann müssten wir leider darauf bestehen“, entgegnete Sult. „Ich will nicht respektlos erscheinen, wenn ich das sage, aber dem Obersten Rat wurden gewisse Rechte eingeräumt wie ein Vetorecht und die Vertretungsvollmacht, über die wir zu einem späteren Zeitpunkt sicher ausführlicher sprechen können.“
„Gewisse Rechte“, wiederholte Misty, „denen wir nicht zugestimmt haben.“
„Das ist richtig“, gab Sult zu. „Wenn Sie uns eine Einmischung verwehren möchten, ist das Ihr gutes Recht. Ein solcher Schritt könnte Sie allerdings vom Rest der Welt abschneiden. Sie wären vollkommen isoliert. Allein. Und hätten niemanden, den Sie um Hilfe bitten könnten, sollten Sie welche brauchen.“
„Das klingt nach einer unterschwelligen Drohung, MrSult.“
„So war es nicht gemeint. Entschuldigung. Ich wollte nur den Ernst der Lage unterstreichen.“
„Ich glaube, wir kapieren es langsam“, meinte Ravel. „Wir müssen Ihren … Vorschlag diskutieren, bevor wir eine Antwort geben können.“
„Selbstverständlich“, sagte Strom, und die beiden Männer erhoben sich. „Zauberer und Sensenträger stehen auf Abruf in rein unterstützender Funktion bereit. Allerdings können wir dieses Angebot nur eine Woche aufrechterhalten, länger nicht.“
„Und dann?“, fragte Grässlich.
„Dann werden wir drastischere Maßnahmen ergreifen müssen.“
Strom und Sult verbeugten sich leicht und verließen den Raum.
„Sie drohen uns also nicht nur, sie setzen uns auch eine Frist“, stellte Grässlich fest, nachdem sie gegangen waren.
Ravel sank zurück auf seinen Stuhl. „Das gibt Ärger.“
ELIZA
Der Pfeil durchbohrte das Bein des Flüchtenden. Er stürzte schreiend zu Boden.
„Ein guter Schuss“, lobte Eliza Scorn.
Christoph Nocturnal legte den nächsten Pfeil in seinen Bogen ein. Die beiden gingen nebeneinander durch den dunklen Wald. „Es heißt, der Mensch sei die gefährlichste Beute. Tatsache ist jedoch, dass Kaninchen viel schwerer zu treffen sind. Aber es gibt eben fast nichts Schöneres als das panische Kreischen eines Sterblichen, wenn er weiß, dass er dem Tod ins Auge sieht. In gewisser Weise wirkt das so richtig entspannend.“
„Ich hatte gehört, dass du ein guter Jäger sein sollst. Jetzt sehe ich, dass alles, was man sich so über dich erzählt, zutrifft.“