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Wieder einmal müssen Skulduggery und Walküre die Menschheit retten. Oder besser: die Hälfte der Menschheit. Denn die Totenbeschwörer haben endlich ihren Todbringer gefunden, der ihnen allen das ewige Leben bescheren soll. Doch für diesen besonderen Zauber braucht der Todbringer sehr viel Energie. Magische Energie, die er nur durch den Tod von – sagen wir – 3,5 Milliarden Menschen gewinnen kann. Ganz klar, dass Skulduggery und Walküre sofort zur Stelle sind, um das zu verhindern. Aber da bekommen sie Gegenwind von einer ganz unerwarteten Seite. Mehr Infos rund ums Buch unter: www.skulduggery-pleasant.de
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Seitenzahl: 624
Dieses Buch ist meinen Nichten gewidmet. Als der erste Band von Skulduggery Pleasant erschien, war noch keines von euch Mädchen geboren. Aber seit ihr auf der Welt seid, will niemand in unserer Familie mehr über den Schriftsteller reden. Jetzt wollen alle nur noch über die blöden Babys reden. Niemand denkt mehr daran, mich zu knuddeln, und daran seid ihr schuld. Aber ich nehme mal an, ihr habt auch eure guten Seiten. Immerhin wart ihr der Auslöser, weshalb Walküre eine kleine Schwester bekommen hat. Ihr seid soweit alle ganz süß und einigermaßen niedlich und wenn ihr hinfallt, bringt ihr mich zum Lachen. Dieses Buch ist also euch gewidmet: Rebecca und Emily, Sophie und Clara und (Hier sind die Namen sämtlicher weiterer Nichten oder Neffen einzutragen, die möglicherweise irgendwann noch das Licht der Welt erblicken und dies lesen werden.)
„Gut und Böse sind sich so nah, als seien sie in der Seele aneinander gekettet.“
Dr.
PROLOG
Als die Tür sich schloss, ließ der Luftzug die Kerzenflamme tanzen. Das Licht zuckte flackernd über das auf dem Tisch festgeschnallte Mädchen. Sie wandte ihm den Kopf zu. Ihr Gesicht war, wie sämtliche anderen Körperteile auch, mit kleinen, hellen Narben übersät. Es waren Symbole, die ihr während der letzten paar Monate mit viel Sorgfalt in die Haut geritzt worden waren. Ihr Name war Melancholia St.Clair. Sie war sein Geheimnis. Sein Experiment. Sein letzter, verzweifelter Griff nach Macht.
„Es tut weh“, klagte sie.
Vandameer Craven, Kleriker ersten Ranges des Ordens der Totenbeschwörer, namhafter Gelehrter der Geheimsprachen und gefürchteter Gegner in Wortgefechten, nickte und tätschelte ihr die Hand. Sie hatte sich auf dieses Arrangement mit einem Enthusiasmus eingelassen, den nur Menschen aufbringen können, die aus tiefster Seele nach Anerkennung gieren. Doch in letzter Zeit überfielen sie immer häufiger diese lästigen Anfälle von Selbstmitleid.
„Ich weiß, meine Liebe, ich weiß, dass es wehtut. Aber Schmerz bedeutet gar nichts. Wenn unser Werk erst vollendet ist, wird es keinen Schmerz mehr geben. Du wirst für alle gelitten haben. Du wirst für alles Leben auf dieser Welt, in diesem Universum gelitten haben.“
„Bitte“, wimmerte sie, „mach, dass es aufhört. Ich habe meine Meinung geändert. Ich will es nicht mehr.“
„Das kann ich verstehen“, antwortete er traurig, „wirklich. Du hast Angst, weil du glaubst, du seist nicht stark genug. Aber ich weiß ganz sicher, dass du es schaffen wirst. Deshalb ist meine Wahl unter allen anderen ja auf dich gefallen. Ich glaube an dich, Melancholia. Ich glaube an deine Stärke.“
„Ich will nach Hause.“
„Du bist zu Hause.“
„Bitte …“
„Aber, aber, mein liebes Kind. Es gibt keinen Grund, so zu betteln. Das Aufwallen der Kräfte ist eine schöne, wundersame Sache und sollte ausgekostet werden. Du bist einen Schritt weiter gekommen. Du bist das geworden, wozu du von Anfang an bestimmt warst. Wir machen das alle durch. Jeder Zauberer macht es durch.“
Sie biss die Zähne zusammen, als eine Welle von Schmerz sie überrollte. Unwillkürlich bog sie den Rücken durch und keuchte. „Aber normalerweise dauert es nicht so lang. Du hast gesagt, du würdest mich zur mächtigsten Zauberin auf der ganzen Welt machen. Davon hast du nichts gesagt.“
Craven zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. Schwitzende Menschen verachtete er und über Melancholia floss der Schweiß in Strömen. Beim Anblick ihres tropfnassen, angstvollen Gesichts drehte sich ihm der Magen um. „Bei all der Macht, die ich dir versprochen habe, musstest du einfach ein bisschen mehr leiden als wir anderen“, erklärte er. „Aber alles, was wir getan haben, um dich vorzubereiten, wird sich auszahlen. Glaub mir. Die Symbole, die ich dir in die Haut geritzt habe, nehmen die aufwallenden Kräfte auf und speichern sie. Sie schicken sie durch deinen Körper und lassen sie wachsen und immer weiter zunehmen.“
„Lass mich gehen.“
„Nur noch ein oder zwei Tage.“
„Lass mich gehen!“, kreischte sie. Schatten ringelten sich um ihren Körper, stiegen auf und zuckten wie Tentakeln.
Er trat rasch einen Schritt vor und lächelte. „Aber selbstverständlich, meine Liebe. Du hast ganz recht – es ist soweit.“
Ihre Augen weiteten sich und die Schatten verschwanden. Er nahm an, dass sie sich ihrer nicht einmal bewusst war. Gefesselt und festgeschnallt, wie sie war, hätte sie eigentlich nicht in der Lage sein dürfen, irgendwelche Kräfte aufzurufen. Cravens Lächeln war ausnahmsweise echt. Das war ein gutes Zeichen.
„Es ist vorbei?“, fragte sie eingeschüchtert. „Du lässt mich gehen?“
„Ob ich dich gehen lasse?“, wiederholte er und lachte leise, während er ihre Gurte löste. „Du tust ja gerade so, als hätte ich dich gefangen gehalten! Ich bin dein Freund, Melancholia. Ich bin dein Mentor. Ich bin der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der garantiert immer ehrlich zu dir ist.“
„Ich … ich weiß, Kleriker Craven“, erwiderte sie.
Er zog ein Taschentuch aus seiner Robe und legte es ihr auf den klitschnassen Arm, bevor er ihr half, sich aufzusetzen. „Wir müssen den richtigen Moment abwarten, um dem Hohepriester von dir zu erzählen. Aber sobald er weiß, was wir hier unten die ganze Zeit über gemacht haben, wird sich alles ändern. Es wird sich herumsprechen, dass du der Todbringer bist, und viele Menschen werden um deine Gunst buhlen. Traue keinem.“
Sie nickte gehorsam.
„Es wird Leute geben, die es nicht verstehen, selbst innerhalb des Ordens der Totenbeschwörer. Wann immer du verunsichert bist oder Angst hast oder auch einfach nur mit jemandem reden willst – ich bin immer für dich da.“
„Ich habe jetzt Angst“, gab Melancholia zu. Ihre Finger umschlossen sein Handgelenk und es brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um bei der feuchten Berührung nicht angeekelt zurückzuzucken. Stattdessen lächelte er aufmunternd. „Es gibt nichts zu befürchten, nicht, so lange du bei mir bist. Freue dich, meine Liebe. Sehr bald wirst du die Welt retten.“
Kenny
Mit Autos kannte Kenny Dunne sich nicht aus. Er wusste das Nötigste, das musste man ihm fairerweise lassen. Er wusste, was Räder sind. Er wusste, wie man die Türen öffnet und schließt. Er wusste sogar, wo man das Zapfding reinstecken musste, wenn das Auto Benzin brauchte. Das Wesentliche beherrschte er, gerade so viel, dass er zurechtkam. Mehr aber auch nicht. Doch selbst ein Mann wie Kenny erkennt es als schlechtes Zeichen, wenn während der Fahrt Rauch unter der Motorhaube hervorquillt.
Das Auto stotterte und hustete und würgte und Kenny umklammerte das Lenkrad fester. „Nein“, flüsterte er. „Bitte.“ Als Antwort rülpste und ruckelte das Auto. Wabernder Rauch vor der Windschutzscheibe verdeckte ihm die Sicht. Vor seinem geistigen Auge sah er den Wagen schon in einem riesigen Feuerball explodieren. Hektisch löste er den Sicherheitsgurt und sprang auf die Straße. Ein Hupkonzert ertönte. Kenny machte einen Satz zur Seite, um einem fluchenden Radfahrer auszuweichen, der wie eine schlecht gelaunte Rakete an ihm vorbeischoss. An einem Sonntagmorgen war der Verkehr auf Dublins Straßen normalerweise nicht so schlimm. An einem Sonntagmorgen, an dem ein wichtiges Spiel angesetzt war, war der Verkehr auf Dublins Straßen fürchterlich. Autofahrer mit der Fahne ihrer Mannschaft am Wagen warfen ihm wütende Blicke zu, weil sie gezwungen waren, die Spur zu wechseln.
Kenny lächelte entschuldigend. Dann drehte er sich zu seinem Wagen um. Er war noch nicht explodiert. Kenny griff hinein, zog seine Tasche heraus und schaltete die Zündung aus. Das Auto keuchte und überließ sich dankbar seinem frühen Tod. Kenny ließ es auf der Straße stehen und winkte ein Taxi heran.
Er war spät dran. Er konnte es nicht fassen, dass er so spät dran war. Er konnte nicht fassen, dass er nach all den Jahren des Zuspätkommens zu allen möglichen Anlässen seine Lektion immer noch nicht gelernt hatte. Wie viele Interviews hatte er vermasselt, weil er unfähig war, pünktlich zu erscheinen. Schauspieler, Rockstars, Politiker, Geschäftsleute, Bürger, sowohl reiche und berühmte als auch arme und unbekannte – zu sämtlichen Treffen war er zu spät gekommen. Für einen Journalisten war dies keine empfehlenswerte Angewohnheit, das musste er zugeben, vor allem, da sämtliche Zeitungen Stellen abbauten. Printmedien seien tot, hieß es. Allerdings nicht so tot wie Kenny, wenn er den Artikel bis zum Ende des Monats nicht fertig hatte.
Die Geschichte war pikant. Sie war schillernd und bizarr und einzigartig – die Art von Geschichte, die von anderen Zeitungen rund um den Globus übernommen werden könnte, vielleicht sogar von ein paar Zeitschriften. Wenn Kenny sich diese Möglichkeit vorstellte, wurde ihm der Mund wässrig. Endlich mal wieder richtig Geld auf die Hand. Essen im Kühlschrank und eine Weile keine Sorgen um die Miete. Vielleicht sogar ein halbwegs anständiges Auto, wenn er wirklich Glück hatte.
Er schaute auf seine Uhr. Eine Viertelstunde zu spät. Er biss sich auf die Lippe, trommelte mit den Fingern auf seiner Tasche herum und versuchte, die Straße vor ihnen mit schierer Willenskraft leerzufegen. Er wusste nicht, wie lange sein Informant warten würde, und er bezweifelte, dass er eine zweite Chance bekommen würde, falls er diese vergurkte. Paul Lynch aufzustöbern, war schon nicht einfach gewesen. Aber sich in einer Stadt wie Dublin mit einem Obdachlosen zu verabreden, war in jedem Fall kompliziert. Lynch hatte schließlich kein Telefon oder so.
Das Taxi kroch zur nächsten Ampel und Kenny hätte fast gewimmert.
Wahrscheinlich war es ziemlich unvernünftig, so große Hoffnungen in einen einzigen Artikel zu setzen, der noch nicht einmal eine Auftragsarbeit war, aber er hatte einfach keine andere Wahl. Kenny brauchte einen Neuanfang. Seine Karriere hatte sehr vielversprechend begonnen. Er hatte einige viel beachtete Interviews und Artikel zustande gebracht, doch dann war ihm alles entglitten. Er hatte es kommen sehen, jedoch nichts dagegen tun können. Jetzt arbeitete er freiberuflich, bekam den einen oder anderen Auftrag, doch meist überließen die Herausgeber es ihm, die Geschichten aufzuspüren. Und genau das hatte er getan.
Als ihm die Gerüchte vor etlichen Jahren zu Ohren gekommen waren, hatte er nichts darauf gegeben. Natürlich nicht. Sie waren verrückt. Er schrieb ein paar Artikel über den neuen Trend in den modernen Großstadtlegenden, doch mehr hatte er nie darin gesehen. Aber sie hielten sich hartnäckig, diese Geschichten von merkwürdigen Leuten mit merkwürdigen Kräften, die merkwürdige Dinge taten. Unvorstellbare Dinge und nicht nur die fixen Ideen von Verrückten und Personen, die unter Wahnvorstellungen litten oder verwirrt waren. Solche Geschichten gab es überall. Immer wieder mal tauchten sie im Internet auf und verschwanden fast sofort wieder. Ein paar der Berichte, denen er nachgegangen war, hatten sich als Enten herausgestellt. Angebliche Zeugen taten auf einmal so, als hätten sie keine Ahnung, wovon er sprach. Er war kurz davor gewesen, die ganze Sache zu vergessen, als er Lynch traf. Lynch war Kennys Verbindungsmann. Nach all den Jahren, in denen er gelegentlich recherchiert hatte, war Lynch sein erster verlässlicher Hinweisgeber gewesen – so verlässlich ein nuschelnder Obdachloser jedenfalls sein konnte. Und Kenny hatte den Eindruck, dass er jetzt bereit war, alles preiszugeben, was er wusste. Schon drei Mal hatte Kenny mit ihm gesprochen und er glaubte, langsam sein Vertrauen gewonnen zu haben.
Heute war der Tag, das wusste er. Wenn er nur rechtzeitig da sein konnte.
Das Taxi hielt erneut und Kenny verlor die Geduld. Er bezahlte den Fahrer, stürzte aus dem Wagen, warf seine Tasche über die Schulter und rannte los.
Nach zwanzig Sekunden bereute er diesen Schritt bereits. Er war seit Jahren nicht mehr gerannt. Gütiger Himmel, rennen war ja richtig anstrengend! Und man kam ins Schwitzen dabei. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er war völlig außer Atem. Die Schienbeine taten ihm weh.
Er wankte zur nächsten Ecke und hielt ein Taxi an. Es war dasselbe, aus dem er eben ausgestiegen war.
„Ist Ihnen wohl nicht bekommen, was?“, fragte der Fahrer selbstgefällig.
Kenny japste und keuchte nur auf dem Rücksitz.
Endlich erreichten sie den Park, Kenny bezahlte den Fahrer ein zweites Mal und lief dann über den Rasen. Überall waren Leute. Sie lagen lang ausgestreckt in der Maisonne, lachten und redeten. Andere schlenderten umher und aßen Eis. Kleine Hunde flitzten hinter ihren Herrchen her. Irgendwo spielte Musik. Der Teich glänzte.
Kenny sah Lynch abseits von allen anderen im Schatten sitzen. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging hinüber, etwas langsamer jetzt. Er hob die Hand und winkte, doch Lynch winkte nicht zurück. Er saß einfach nur mit hängenden Schultern da, den Rücken an das Geländer gelehnt. Wahrscheinlich hatte er schlechte Laune.
Wenn er tatsächlich ein Medium gewesen wäre, hätte er Kennys Verspätung vorhergesehen und es gäbe jetzt keine Probleme. Aus Kennys Lächeln wurde ein Strahlen.
„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, als er in den Schatten trat. „Der Verkehr, Sie wissen schon. Dann hat das Auto auch noch den Geist aufgegeben und ich musste mir ein Taxi nehmen.“
Lynch sagte nichts dazu. Er hob nicht einmal den Kopf.
Kenny blieb noch einen Augenblick unschlüssig stehen, dann zuckte er mit den Schultern und setzte sich. „Ein herrlicher Morgen, nicht wahr? Kein Mensch kann vorhersagen, wie so ein irischer Sommer werden wird. Wollen Sie ein Eis oder sonst etwas? Ich hätte jetzt wahnsinnig Lust auf ein Eis.“
Wieder keine Antwort. Lynch hatte die Augen geschlossen.
„Paul?“
Kenny stupste seinen einzigen verlässlichen Hinweisgeber an. Stupste ihn noch einmal an. Dann sah er das Blut auf Lynchs Hemd und er packte und schüttelte ihn. Lynns Kopf fiel nach hinten und man sah die Kehle und den langen, glatten Schnitt. Wie ein rotes Auge, das sich öffnete.
ICH UND DAS MÄDCHEN
Kenny saß im Verhörzimmer und versuchte nicht herumzuzappeln. Er war einigermaßen enttäuscht, dass kein Einwegspiegel in die Wand eingebaut war, wie er das von Krimis her kannte. Aber vielleicht hatten sie solche Spiegel ja nur in Amerika. In Irland hatte die Polizei wahrscheinlich nicht einmal normale Spiegel.
Die Tür rechts von ihm ging auf und zwei Leute kamen herein. Der Mann war groß und schlank. Er trug einen dunkelblauen, perfekt sitzenden Maßanzug und einen Hut wie ein Privatdetektiv aus den 1940er Jahren. Er setzte sich Kenny gegenüber an den Tisch und nahm den Hut ab. Er hatte dunkles Haar und hohe Wangenknochen und schien Probleme mit den Augen zu haben. Sein Blick wanderte ständig hin und her. Seine Haut wirkte wächsern. Er trug Handschuhe.
Seine Kollegin stellte sich hinter ihm an die Wand. Sie war groß und hübsch und dunkelhaarig, konnte aber nicht älter als sechzehn sein. Sie trug eine schwarze Hose und eine schmal geschnittene schwarze Jacke, deren Reißverschluss zur Hälfte geschlossen war. Das Material war Kenny unbekannt. Sie blickte ihn nicht an.
„Hallo.“ Der Mann lächelte breit. Er hatte schöne Zähne.
„Hallo“, grüßte Kenny zurück.
Das Mädchen sagte nichts.
Die Stimme des Mannes war weich wie Samt. „Ich bin Kriminalinspektor Ich. Ein ungewöhnlicher Name, ich weiß. Meine Vorfahren waren unwahrscheinlich narzisstisch. Ich kann von Glück sagen, dass ich wenigstens ein gewisses Maß an Bescheidenheit mitbekommen habe. Andererseits ist es mir immer gelungen, Erwartungen zu übertreffen. Sie sind Kenny Dunne, nicht wahr?“
„Der bin ich.“
„Ich habe lediglich ein paar Fragen an Sie, Mr.Dunne. Oder Kenny? Darf ich Sie Kenny nennen? Ich habe das Gefühl, dass wir in den letzten paar Sekunden Freunde geworden sind. Kann ich Kenny sagen?“
„Klar“, antwortete Kenny einigermaßen ratlos.
„Danke. Vielen Dank. Es ist mir wichtig, dass Sie sich in meiner Gegenwart wohl fühlen, Kenny. Es ist mir wichtig, dass ein Vertrauensverhältnis entsteht. Dann treffe ich Sie nämlich vollkommen unvorbereitet, wenn ich Sie plötzlich wegen Mordes anklage.“
Kenny riss die Augen auf. „Wie bitte?“
„Du liebe Zeit“, seufzte Inspektor Ich. „Das hätte erst in ein paar Minuten kommen sollen.“
„Ich habe Paul Lynch nicht umgebracht!“
„Können wir zu dem angenehmen Vertrauensverhältnis zurückkehren, das wir entstehen ließen?“
„Hören Sie, ich war mit ihm verabredet. Ich wollte ein Interview mit ihm machen, doch als ich hinkam, war er schon tot.“
„Es würde Sie bestimmt überraschen, wenn Sie wüssten, wie oft wir bei unserer Arbeit dieses ‚Er war schon tot’ zu hören bekommen. Aber vielleicht wäre es auch keine Überraschung für Sie. Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass es nicht gut für Sie aussieht, Kenny. Wenn Sie uns alles erzählen, was Sie wissen, können wir unsere Kollegen vielleicht dazu bringen, dass sie ein Auge zudrücken.“
Kenny starrte den Mann an, dann ging sein Blick zu dem Mädchen. „Wer bist du?“
Sie erwiderte seinen Blick, hob eine Augenbraue, antwortete jedoch nicht.
„Sie macht hier ein Praktikum“, erklärte Inspektor Ich. „Machen Sie sich wegen ihr keine Gedanken, Kenny. Es genügt, wenn Sie sich um sich selbst Gedanken machen. In welcher Beziehung standen Sie zu dem Verstorbenen?“
„Hm. Ich bin Journalist. Ich habe ein paar Interviews mit ihm geführt.“
„Worüber?“
„Ach … nichts. Er ist oder besser – er war eine Art Verschwörungsfreak.“
„Verschwörungen? Sie meinen Vertuschung auf Regierungsebene, solche Sachen?“
„Nein, das nicht. Er war eher …“ Kenny seufzte erneut. „Hören Sie, das ist eine lange Geschichte.“
„Ich habe keine anderen Termine“, erwiderte Inspektor Ich. Und mit einem Blick auf das Mädchen fragte er: „Du?“
„Ja. Ich muss zu einer Taufe.“
„Oh. Natürlich.“ Ich wandte sich wieder an Kenny. „Wenn Sie beim Sprechen einen Zahn zulegen, können Sie uns vielleicht trotzdem alles erzählen.“
Kenny überlegte einen Augenblick. Er durfte auf gar keinen Fall wie ein Bekloppter klingen. „Okay“, begann er schließlich, „ich bin in den letzten paar Jahren einigen merkwürdigen Geschichten nachgegangen. Nichts Großartiges, nichts von Bedeutung, sondern Geschichten, die keine Beachtung finden, weil sie so verrückt klingen. Keine Zeitung wird solches Zeug jemals ernst nehmen, deshalb kann ich wirklich nur sehr wenig Zeit darauf verwenden. Angefangen hat es, als ich einen Artikel über Großstadtlegenden schrieb. Es war das Übliche, moderne Mythen und folkloristisches Erzählgut, einiges davon komisch, einiges schrecklich und einiges gruselig. Alles, was man eben so erwartet. Aber dann habe ich irgendwann neue Geschichten gehört.“
„Zum Beispiel?“
„Es waren eigentlich nur Gerüchte, Ausschnitte aus Geschichten. Jemand hat eine Schießerei beobachtet, bei der Leute Feuer warfen. Ein anderer hat gesehen, wie ein Mann über ein Gebäude sprang oder wie eine Frau einfach verschwand.“
Inspektor Ich legte den Kopf schief. „Dann handeln die modernen Großstadtlegenden also von Superhelden?“
„Das dachte ich anfangs auch, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Hinter vorgehaltener Hand habe ich von einer ganzen Subkultur gehört, in der solche Sachen abgehen. Lynch meinte, man könnte sie überall finden, wenn man nur wüsste, wonach man suchen muss.“
„Verstehe. Und hat Lynch behauptet, er sei ein solcher Superheld?“
„Lynch? Nein. Überhaupt nicht. Es ging ihm nicht gut, das war offensichtlich. Er sagte, er hätte Visionen. So hat er es genannt, Visionen. Die hatte er, seit er ein Teenager war. Sie haben ihn zu Tode erschreckt. Man hat ihn von einem Psychiater zum nächsten geschickt, ihn eine Pille nach der anderen schlucken lassen, aber nichts hat geholfen. Er hat mir seine Visionen beschrieben und es klang alles so anschaulich, so echt. Er hielt es in keinem Job aus, konnte keine Beziehung aufrechterhalten … Schließlich wurde er obdachlos, trank zu viel, hing in Hauseingängen herum und murmelte ständig vor sich hin.“
„Und das war Ihre Quelle?“, fragte Inspektor Ich.
„Ich weiß, er klingt unzuverlässig.“
„Nur ein kleines bisschen.“
„Aber ich blieb dran, habe mir angehört, was er zu erzählen hatte. Und irgendwann konnte ich das wirre Gequassel von den … na ja, ich nehme an, es waren Tatsachen, unterscheiden.“
„Was hat er alles gesehen?“, fragte das Mädchen.
Kenny runzelte die Stirn. Ihm war nicht klar, was einer Schülerin im Praktikum das Recht gab, ihn zu befragen. Da Inspektor Ich jedoch keine Einwände hatte, antwortete er widerstrebend: „Er hat die Apokalypse vorhergesehen. Eigentlich waren es mehrere. Die erste betraf die dunklen Götter oder die Gesichtslosen, wie er sie nannte. Irgendjemand – keiner weiß, wer – hat sie vor Urzeiten verbannt und seither versuchen sie wiederzukommen. Als Lynch siebzehn war, hatte er eine Vision, in der sie zurückkehrten. Er hat Millionen von Toten gesehen. Geschleifte Städte. Er hat die Welt auseinanderbrechen sehen. Diese Visionen kamen immer wieder und jedes Mal unter einem neuen Aspekt. Immer wieder war es ein anderer Blickwinkel, aus dem er das Ende der Welt beobachten konnte. Vor knapp drei Jahren war er überzeugt, dass wir alle in einer bestimmten Nacht sterben würden. Er behauptete, diese Dinger, diese Gottwesen würden durch ein glühendes gelbes Tor zwischen unterschiedlichen Wirklichkeiten zurückkommen. Natürlich hat ihm niemand geglaubt. Und dann kam die Nacht, in der die Welt untergehen sollte … und sie ging nicht unter. Und die Visionen hörten auf.“
„Ich liebe Geschichten mit einem Happyend“, bekannte Inspektor Ich.
„Es war damit nicht vorbei, zumindest nicht für Lynch. Er hatte jetzt andere Visionen. So sagte er zum Beispiel das Wahnsinnsvirus voraus.“
„Wie ich gehört habe, soll es kein Virus gewesen sein“, meldete sich das Mädchen zu Wort, „sondern ein Halluzinogen. Sie haben die Typen erwischt, die dafür verantwortlich waren.“
Kenny lachte. „Und du glaubst das tatsächlich?“
Inspektor Ich sah ihn ganz merkwürdig an. „Sie etwa nicht?“
„Es kommt alles ziemlich gelegen, nicht wahr? Eine Gruppe radikaler Anarchisten verseucht als Weihnachtsscherz überall im Land das Wasser – und Monate später bekennt sie sich dazu? Anarchisten, die Verantwortung für ihre Taten übernehmen? Das widerspricht doch dem Wesen des Anarchistseins komplett! Wissen Sie, wann die Verhandlung stattfindet? Wissen Sie, in welchem Gefängnis sie bis dahin festgehalten werden? Ich weiß es nämlich nicht.“
Inspektor Ich lehnte sich zurück. „Das klingt ganz nach einer Verschwörungstheorie, Kenny. Was ist wirklich passiert? Was glauben Sie?“
„Ich weiß es nicht, aber Lynch war überzeugt, dass es keine Anarchisten waren. Er hat von kleinen dunklen Schatten gesprochen, die herumgeflogen seien und die Menschen infiziert hätten.“
Kenny wunderte sich, dass weder der Inspektor noch das Mädchen feixten.
„Haben Sie eine Ahnung, wie viele Leute in diesen paar Tagen zu Protokoll gegeben haben, dass sie merkwürdige Dinge gesehen hätten?“, fuhr Kenny fort. „Ich habe Dutzende solcher Protokolle gelesen. In einem Nachtclub in Haggard wurden offenbar ganze Schwärme von diesen Dingern gesichtet, aber in der Lokalzeitung stand kein Wort darüber.“
„Für mich hört sich das so an, als hätten ein paar Leute halluziniert“, meinte das Mädchen.
„Lynch war da anderer Meinung. Er hatte eine Vision, hat gesehen, wie diese Dinger ausgeschwärmt sind, die Welt infiziert und alle dazu gebracht haben, verrückte Sachen zu machen, sich gegenseitig umzubringen, Bomben zu werfen …“
„Okay, okay“, unterbrach Ich. „Wir haben festgestellt, dass Lynch geistig verwirrt war, dass er überzeugt war, es gäbe eine Subkultur mit Superhelden und bösen Göttern. Aber weshalb wurde er umgebracht?“
Kenny blinzelte. „Äh. Es war Raubmord, oder?“
„Oder?“
„Oder etwa nicht? Das hat jedenfalls der … der Typ gesagt, der Wachmann, der mit mir gesprochen hat. Er hat gesagt, es sähe nach einem Raubüberfall aus.“
„Verstehe.“
Kenny runzelte die Stirn. „Sie glauben, dass es etwas mit den Visionen zu tun hat, habe ich recht?“
„Es wäre eine Möglichkeit“, antwortete Ich.
„Warum wollten Sie sich heute Morgen mit ihm treffen?“, fragte das Mädchen.
„Tut mir leid“, wehrte Kenny ab. „Ich will ja nicht unhöflich sein, aber warum stellt sie mir Fragen? Warum ist sie überhaupt hier?“
„Praktikum“, antwortete Ich.
„Sie haben mich des Mordes beschuldigt. Ist es bei Ihnen üblich, Schülerinnen mit in ein Verhörzimmer zu nehmen, in dem Mordverdächtige sitzen?“
Ich wedelte mit der Hand. „Ach, das war doch nur ein Scherz. Ich glaube nicht wirklich, dass Sie jemanden umgebracht haben. Es sei denn, Sie haben es doch getan. In diesem Fall nehme ich mir das Recht heraus zu behaupten, ich hätte es von Anfang an gewusst. Aber sie hat eine gute Frage gestellt, Kenny. Warum haben Sie sich mit ihm getroffen?“
„Seit ein paar Monaten hatte er wieder Visionen, und zwar von Schatten, die lebendig werden, von Leuten, die tot umfallen. Seine jüngste Apokalypse.“
„Was hat er darüber erzählt?“
„Warum ist das von Bedeutung?“
„Alles ist von Bedeutung.“
„Aber er hat niemanden erkannt. Er hat in seinen Visionen keine Namen gehört. Er hat jemanden in einer schwarzen Robe gesehen und das war es auch schon.“
„Frau oder Mann?“
„Das konnte er nicht sagen.“
„Hat er je etwas von einer Passage gesagt?“
Kenny schaute Ich an. Mit dem Gesicht des Inspektors stimmte etwas nicht. Nachdem Kenny das festgestellt hatte, blickte er rasch weg. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass es unhöflich sei, Leute anzustarren.
„Er hat dieses Wort nicht benutzt, aber von anderen habe ich es gehört. Wie ist es Ihnen zu Ohren gekommen?“
„Von wem haben Sie es gehört?“, fragte das Mädchen.
„Von anderen“, antwortete Kenny gereizt. „Von drei oder vier Leuten, die es in Pubs oder auf der Straße aufgeschnappt haben. Das klingt nach Hinrückung, wenn du mich fragst.“
Das Mädchen runzelte die Stirn. „Wonach?“
„Hinrückung ist ein Begriff aus der Bibel“, erklärte Inspektor Ich. „Die Christen glauben, dass Gott die Gläubigen um sich sammelt und in den Himmel bringt. ‚… und die Toten in Christus werden auferstehen zuerst. Danach wir, die wir leben und übrig bleiben, werden zugleich mit ihnen hingerückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in der Luft …’ Diejenigen, die für unwürdig befunden werden, bleiben mit dem Rest der Sünder hier auf der Erde zurück.“
„Die Passage klingt genau nach dieser Art von Deal“, fand Kenny. „Massenerlösung vor dem Ende der Welt. Ob irgendeine Art von Gott dabei am Werk ist, weiß ich nicht, aber für gewöhnlich ist da einer.“
„Hat Lynch Ihnen irgendeinen Zeitrahmen genannt?“, erkundigte Ich sich.
„Seine Visionen wurden deutlicher und kamen immer öfter“, antwortete Kenny. „In der Vergangenheit war es immer so, dass es auf dieser Ebene der Intensität noch sechs oder sieben Tage dauerte. Danach kam dann die Apokalypse und er konnte sich wieder entspannen.“
„Sieben Tage“, wiederholte Ich.
„So um den Dreh herum, ja. Wie haben Sie von der Passage gehört?“
„Wir sind Detektive“, erwiderte Ich. „Wir decken Dinge auf.“
„Ist sie auch Detektivin?“
„Sie ist eine Detektiv-Praktikantin.“
„Hören Sie, das ist alles ziemlich merkwürdig hier. Warum hacken Sie so auf Gerüchten und Großstadtlegenden herum? Sie haben mir noch keine einzige normale Frage gestellt.“
„Eine normale Frage? Welche zum Beispiel?“
„Zum Beispiel … ach, ich weiß auch nicht, zum Beispiel, ob Lynch Feinde hatte.“
„Hatte Lynch Feinde?“
„Nicht dass ich wüsste, nein.“
„Dann bestand doch absolut kein Grund, Sie das zu fragen, oder? Es sei denn, Sie wollten mich ablenken. Sie wollten mich doch nicht etwa ablenken, Kenny, oder?“
„Nein, darum geht es doch …“
„Führen Sie mich an der Nase herum, Kenny?“
„Ich weiß überhaupt nicht, was Sie …“
Inspektor Ich beugte sich vor. „Haben Sie ihn umgebracht?“
„Nein!“
„Es wäre okay, wenn Sie es getan hätten.“
Kenny fuhr entsetzt zurück. „Wie könnte so etwas okay sein?“
„Na ja.“ Ich ruderte zurück. „Vielleicht nicht okay, aber zu verstehen. Vielleicht hat er etwas gesagt, das Sie geärgert hat. Das kennen wir doch alle, nicht wahr?“ Er drehte sich zu dem Mädchen um. „Nicht wahr?“
„Ich schon“, antwortete das Mädchen.
„Wir kennen das alle“, wiederholte Ich und wandte sich wieder Kenny zu. „Wir wissen, wie es läuft. Dein Gegenüber sagt etwas, das dich ärgert, du wirst wütend und urplötzlich ist er tot und du fragst dich, wie so etwas passieren konnte.“
„Ich habe ihn nicht umgebracht! Ich habe keinen umgebracht!“
„Keinen? Soll das heißen, es gibt noch andere Tote?“
„Was?“
Ich lehnte sich wieder zurück und tippte sich mit der behandschuhten Hand ans Kinn. „Wissen Sie was, Kenny? Ich glaube Ihnen. Sie haben ein ehrliches Gesicht. Sie haben ehrliche Ohren. Wer also hat ihn Ihrer Meinung nach umgebracht?“
„Bisher war ich von einem einfachen Raubmord ausgegangen.“
„Und jetzt?“
„Jetzt … ich weiß auch nicht. Glauben Sie, dass ihn jemand wegen der Passage umgebracht hat? Laufen hier Leute herum, die wirklich an so etwas glauben?“
„People are strange“, sagte das Mädchen und summte ein paar Takte aus dem Song von den Doors.
„Hat Lynch mit noch jemandem über die Sache gesprochen?“, wollte Ich wissen. „Hatte er Freunde? Familienangehörige, mit denen er noch Kontakt hielt?“
„Nein, niemanden.“
„Dann hat er also nur mit Ihnen über seine Visionen gesprochen?“
Kenny zögerte.
„Er zögert“, stellte das Mädchen fest.
„Ist mir auch aufgefallen“, bestätigte Ich.
„Da ist diese alte Frau“, begann Kenny, „Bernadette irgendwas. Maguire, glaube ich. Sie hilft in einer dieser Obdachlosenunterkünften aus. Früher war sie mal Lehrerin oder so. Jetzt ist sie pensioniert und lebt irgendwo auf dem Land. Mit ihr hat er gesprochen. In letzter Zeit war sie nicht mehr so oft hier. Ich glaube, sie ist einfach zu alt. Vor ein paar Wochen habe ich sie nach Monaten zum ersten Mal wieder gesehen. Da hat sie sich mit Lynch unterhalten.“
„Und Sie glauben, dass er ihr von seinen Visionen erzählt hat?“
„Ja.“
„Sie glauben, dass Bernadette ihn umgebracht hat?“
„Äh … Nein. Wie gesagt, sie ist schon alt.“
„Auch alte Menschen können andere Menschen umbringen.“
„Ich weiß, aber …“
„Sie könnte eine Ninja sein.“
„Du liebe Zeit, sie ist keine Ninja! Sie ist die Urgroßmutter von irgendjemandem.“
„Ich möchte, dass Sie noch einmal ganz genau darüber nachdenken, Kenny. Haben Sie sie jemals mit einem Schwert gesehen?“
„Was?“
„Oder wie sie mit Sternen geworfen hat?“
„Das ist doch Quatsch.“
„Haben Sie sie jemals in einem Ninjakostüm gesehen? Das wäre dann der erste Anhaltspunkt.“
Das Mädchen zog die Wangen zwischen die Zähne, um nicht laut loszulachen.
„Was für eine Art Bulle sind Sie eigentlich?“ Kenny fand das alles gar nicht mehr lustig.
„Ich bin von der Art, die entschlossen ist, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen“, antwortete Ich.
Die Tür ging auf und ein junger Mann mit blondem Haar streckte den Kopf herein. Kenny war so irritiert von der wilden Frisur des jungen Mannes, dass er überhaupt nicht mitbekam, wie Inspektor Ich aufstand.
„Vielen Dank für Ihre Mitarbeit“, sagte Ich und verließ rasch hinter dem Mädchen den Raum. „Mein Kollege ist gleich bei Ihnen.“
Draußen auf dem Gang fasste das Mädchen nach dem Arm des jungen Mannes und streckte die andere Hand nach Inspektor Ich aus, als dieser die Tür hinter sich zumachte. Sie fiel ins Schloss und für einen sehr kurzen Augenblick war plötzlich alles still.
Die Tür ging wieder auf. Ein Mann mittleren Alters kam mit einem Notebook herein. Inspektor Ich und seine beiden jugendlichen Helfer waren verschwunden.
„Mr.Dunne?“, fragte der Mann. „Ich bin Kriminalinspektor Harris. Tut mir leid, dass Sie warten mussten.“
„Machen Sie sich deshalb mal keine Gedanken“, erwiderte Kenny etwas irritiert. „Der andere Inspektor hat mich auf Trab gehalten.“
Kriminalinspektor Harris lächelte gutmütig, als er sich setzte. „Der andere Inspektor?“
„Der eben hinausgegangen ist.“
„Hm. Wer mag das gewesen sein?“
„Kriminalinspektor Ich.“
„Kriminalinspektor Sie?“
„Nein, Ich. So heißt … Er sagte, das sei sein Name. Sie müssen ihm begegnet sein. Er hatte ein Mädchen bei sich, das hier ein Praktikum macht, und einen Jungen mit gegeltem Haar.“
Harris blinzelte. „Ich bin niemandem begegnet, Mr.Dunne, und im Moment bin ich der einzige diensthabende Kriminalinspektor hier.“
Kenny starrte ihn an. „Dann … Mit wem, zum Teufel, habe ich dann gerade gesprochen?“
DIE TAUFE
Walküre Unruh hielt ihre kleine Schwester auf dem Arm und hoffte inständig, dass sie den Tag überstehen würde, ohne eine Ladung ausgespuckter Babymilch abzubekommen. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig von dem Polizeiposten nach Hause geschafft, um sich umziehen zu können. Ein Top war bereits untragbar geworden, noch bevor sie das Haus überhaupt verlassen hatten. Und es war ein hübsches Top gewesen, das super gut zu ihrer Jeans gepasst hatte.
„Bitte“, flüsterte sie der kleinen Alison zu, „spuck mich nicht noch einmal voll.“
Alison blickte sie mit ihren großen blauen Augen an, versprach jedoch nichts.
Walküre kniff gegen das helle Sonnenlicht leicht die Augen zusammen und schaute noch einmal zurück in die Kirche. Alison war nicht das einzige Baby, das an diesem Tag getauft worden war. Die Kirche war voller lachender und plaudernder Familienangehöriger mit Camcordern, die jedes Gurgeln und jedes Geheul festhielten. Vielleicht war sie nicht ganz unvoreingenommen, aber Walküre war der festen Überzeugung, dass keines der anderen drei Babys auch nur halb so süß war wie ihre drei Monate alte Schwester. Sie konnten ihr einfach nicht das Wasser reichen. Eigentlich eine traurige Sache. Diese Babys waren im Niedlichkeitswettkampf bereits ausgeschieden, würden es aber erst in etlichen Jahren so richtig begreifen. Eine echte Tragödie.
Sie blickte auf ihre Schwester hinunter. „Du tust noch nicht wirklich viel, oder? Für die meisten Dinge sind deine Fähigkeiten noch ziemlich eingeschränkt. Mum sagt, dass ich mit dir reden muss, damit du dich an meine Stimme gewöhnst. Wenn sie das meint, rede ich eben mit dir. Damit du es gleich weißt: Mich gibt es in zweifacher Ausführung. Da bin einmal ich, die echte Walküre, und dann gibt es noch mein Spiegelbild. Das Spiegelbild sieht aus wie ich, redet wie ich und verhält sich wie ich, aber es ist nicht ich. Es tritt aus meinem Spiegel, geht für mich zur Schule und macht die Hausaufgaben für mich und, ja, manchmal passt es auch auf dich auf. Aber das ist mir eigentlich nicht recht. Ich lasse dich ungern in der Obhut von etwas, das keine Gefühle hat, aber ich bin ein viel beschäftigtes Mädchen. So ist das nun mal.
Wenn du etwas älter bist, werden wir dir Geschichten von Prinzessinnen und Zauberern und magischen Kräften vorlesen und ein paar Jahre lang lassen wir dich in dem Glauben, dass es Magie tatsächlich gibt. Und dann– und das ist wirklich übel – erklären wir dir, dass es den größten Teil der Magie doch nicht gibt. Wir werden dir sagen, dass Menschen nicht fliegen und sich nicht gegenseitig in Frösche verwandeln können und dass es keine magisch-mystischen Monster gibt. Aber unter uns: Das ist eine riesengroße Lüge! Es Magie, Menschen fliegen und es Monster … Bei der Einander-in-Frösche-verwandeln-Geschichte bin ich mir allerdings nicht ganz sicher. Aber wer wollte das schon? Das wäre ja echt krass.“
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