4,99 €
Unheil breitet sich aus in Midgard. König Aslak verliert mehr und mehr den Verstand – und die junge Seherin Snehild ist die Einzige, die ihn retten kann. Doch dabei gerät sie selbst in Gefahr! Ihre Erzfeindin Ragnfried belegt sie mit einem Fluch aus Runenmagie, der Snehild das Leben kosten könnte. Um diesem Schicksal zu entrinnen, begibt sich die junge Kriegerin auf eine beschwerliche Reise, die sie durch das eiskalte Niflheim führt, das von dem mächtigen Drachen Nidhug bewacht wird. Ihr Ziel: das finstere Helheim. Denn nur in den dunklen Tiefen der Unterwelt kann sie die geheimnisvolle Kunst der Runen erlernen und damit den Fluch brechen. Für sich selbst, den König und für die Rettung Midgards! Die Erfolgsreihe geht weiter mit »Snehild – Der Ruf der Unterwelt«! Als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 469
Über dieses Buch:
Unheil breitet sich aus in Midgard. König Aslak verliert mehr und mehr den Verstand – und die junge Seherin Snehild ist die Einzige, die ihn retten kann. Doch dabei gerät sie selbst in Gefahr! Ihre Erzfeindin Ragnfried belegt sie mit einem Fluch aus Runenmagie, der Snehild das Leben kosten könnte. Um diesem Schicksal zu entrinnen, begibt sich die junge Kriegerin auf eine beschwerliche Reise, die sie durch das eiskalte Niflheim führt, das von dem mächtigen Drachen Nidhug bewacht wird. Ihr Ziel: das finstere Helheim. Denn nur in den dunklen Tiefen der Unterwelt kann sie die geheimnisvolle Kunst der Runen erlernen und damit den Fluch brechen. Für sich selbst, den König und für die Rettung Midgards!
»Snehild – Ruf der Unterwelt« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Die dänische Autorin Anne-Marie Vedsø Olesen gilt in ihrem Heimatland längst als Meisterin historischer und mythologischer Stoffe. Mit Snehilds Abenteuern – inspiriert von der Edda – stellt sie sich nun auch dem deutschen Publikum vor.
Bei dotbooks erscheint außerdem der erste Band der Reihe, »Snehild – Die Seherin von Midgard«, als eBook.
***
eBook-Ausgabe Januar 2025
Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Originaltitel »Vølvens Vej 2 – Misteltenen« bei Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.
Copyright © der dänischen Originalausgabe 2022 Anne-Marie Vedsø Olesen und Lindhardt og Ringhof
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2024 Anne-Marie Vedsø Olesen und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Paulina Ochnio unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-402-6
***
dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Anne-Marie Vedsø Olesen
Snehild – Der Ruf der Unterwelt
Roman
Aus dem Dänischen von Elfriede Rabenfeder
dotbooks.
Für Jakob
Dank für deine Liebe, deine Geduld und deine wichtigen Ideen,
die dazu beigetragen haben, die Erzählung
zum Strahlen zu bringen.
Ich sah Balder, dem blutenden Gott,
Odins Kind, das Schicksal bestimmt;
gewachsen war, überm Feld hoch,
schmal und sehr schön, der Mistelzweig.
Die Weissagung der Seherin
SLEIPNIR
Snehild schob sich vorsichtig unter den Fellen hervor, die schwer und wärmend über sie gebreitet waren. Sie wollte Aslak nicht wecken. Das gäbe nur Schwierigkeiten. Er hatte darauf bestanden, dass sie die Nacht über bei ihm blieb.
Sie schüttelte sich, blieb aber so nackt, wie sie war, einen Augenblick stehen. Sie trug lediglich wie immer ihre bronzene Wolfskette um den Hals. Sie war eine Erinnerung an ihre erste Liebe, den Wolfssohn Mánagarm, und sie würde sie stets in Ehren halten.
Eine zeitige Winterkälte hatte sich festgesetzt – obwohl das Herbstlaub noch an den Büschen und auf dem Waldboden flammte, war schon der erste Schnee gefallen –, sie erweckte ihre Haut zum Leben und brachte sie in Verbindung zum sinkenden Mond und den noch wachenden Nachttieren. Der Schnee war wieder geschmolzen, aber die Kälte ließ sie sich lebendig fühlen. Wenn sie zum Moorsee namens Urds Brunnen käme, würde sie all ihre Sinne brauchen.
Im schwachen Schein der Glut in der Feuerschale griff sie nach ihren Sachen. Die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt, im Königshof war alles still, doch sie hörte Sklaven, die sich draußen in der Halle an Herdfeuer und Töpfen zu schaffen machten.
Sie zog ihre Hose aus Wolfsfell und die wollene Tunika an, schnallte ihr Schwert um und warf sich den langen Wolfspelz über die Schultern. Nicht ohne Grund nannte man sie Snehild Grauwolf. Den Namen hatte ihr die Riesin Hyrrokin zusammen mit den Wolfskleidern gegeben.
Hyrrokin hatte ihr ebenso ein Kettenhemd und das schlanke Schwert Snehug aus einem besonders leichten, aber enorm starken Metall geschenkt. Das Schwert trug sie stets, die Ringbrünne nur, wenn nötig. Das war es zurzeit nicht. Aslak regierte sein Königreich Sialand mit harter Hand. Außerdem befanden sie sich im Königssitz Himlinge mit seiner ungewöhnlichen doppelten Befestigung aus einer Steinmauer und einer inneren Palisadenwand in Sicherheit.
Nachdem sie in die Stiefel geschlüpft war, schlich sie zur Tür, öffnete sie behutsam und schloss sie leise hinter sich. Aslak könnte verärgert sein, wenn er aufwachte und feststellte, dass sie das Bett verlassen hatte, aber auch wenn er König war und zu unbotmäßigen Untertanen sehr streng sein konnte, fürchtete Snehild sich nicht vor ihm. Ihr gegenüber verhielt er sich stets respektvoll. Und wenn sie miteinander ins Bett gingen, flüsterte er ihr sogar zu, sie solle bestimmen, wo’s langgehe.
Snehild ging durch die Königshalle. Eine junge Sklavin kniete vor der großen Feuerstelle und legte Holz nach. Das Feuer an der Stirnseite der Halle brannte den ganzen Tag über, und die Sklavin hatte es sicher die Nacht hindurch gehütet. Das Holz fing gleich Feuer, Flammen flackerten auf und beleuchteten das Gesicht der Frau.
Snehild sah, dass es Eldbjørg war. Der Feuerschein ließ blaue Flecken auf den Armen und eine geschwollene Braue über einem blauen Auge erkennen.
Aslak holte sich Eldbjørg öfter in sein Bett, wusste Snehild. Zuletzt erst vor ein paar Tagen.
»Bald öffnet Delling des Tages Pforte. Möge die aufgehende Sonne deinen Tag segnen«, sagte Snehild und versuchte freundlich zu klingen.
Eldbjørg hatte ein hartes Schicksal zu tragen. Sie war die Tochter eines reichen Baumeisters, doch Aslak hatte ihre Eltern vor ihren Augen getötet und sie selbst zur Sklavin erklärt. Das hatte sich im Rahmen der Hochzeit von Aslaks Bruder Roald mit der Kriegerin Berghild ereignet. Bei diesem Fest hatte es viele schlimme Vorfälle gegeben. Berghild hatte Aslaks und Roalds Vater, den regierenden König, erschlagen, und Aslak hatte Eldbjørgs Vater, den Baumeister, erstochen. Berghild hatte aus ihrer eigenen Hochzeit fliehen müssen und war auf dem darauf einberufenen Thing, auf dem Aslak Eldbjørg versklavt hatte, von ihm für vogelfrei erklärt worden.
Eldbjørg sah auf, sagte aber nichts. Früher war sie lebhaft und auf eine Art einschmeichelnd gewesen, mit der sie die meisten Männer für sich eingenommen hatte.
Unter Schmutz und den Prügelspuren war ihr Gesicht noch immer schön, aber sie hatte jetzt etwas Verbissenes an sich. Snehilds Erscheinung als Kriegerin in Wolfskleidern jagte ihr keinen Schrecken ein. Sie erwiderte ihren Blick so, wie sie allen begegnete, mit einem Anflug von Gleichgültigkeit.
Eldbjørg war nicht gebrochen, dachte Snehild. Tief in ihr steckte noch ein eigener Wille.
Snehild ging zu dem Kübel mit Trinkwasser am Ausgang. Sie füllte einen hölzernen Becher. Etwas Wasser war gut, doch essen wollte sie nichts, nicht bevor sie an Urds Brunnen eine Vision gesucht hatte. Ihr Körper sollte wach und hungrig sein, wenn sie Magie ausübte. Aslak wurde seit längerem von bösen Träumen heimgesucht, und er wollte wissen, was sie zu bedeuten hatten. Sie hatte ihm versprochen, in einer Vision nach Antworten zu suchen. So besessen war Aslak von seinen Albträumen, dass er bald an nichts anderes mehr denken konnte. Alle deuteten darauf hin, dass er bald sterben sollte.
Nachdem sie getrunken hatte, stellte sie den Becher auf dem Bord über dem Kübel ab und ging aus dem Haus.
Der anbrechende Tag traf sie mit einer Fülle von Eindrücken. Die Sterne der Nacht verblichen, sie fühlte die Zeit voranschreiten, Gersimi, der Morgenstern, leuchtete hell, der Bärenstern dagegen schwächer, Zukunft wurde zu Schicksalen, sie erahnte sie wie wirbelnde Schneeflocken im Sturm, denn sie war Snehild, von den Nornen gesegnet und im Schneesturm geboren.
Sie überquerte den Platz vor dem Königshof. Auch hier erwachte das Leben. Die wertvollen Reitpferde im östlichen Stall mussten gefüttert und gestriegelt werden, aus dem mit Eichenbohlen eingefassten Brunnen wurde Wasser geschöpft, aus Lagerhallen brachten Karren Versorgungsgüter zum Königshof und den angrenzenden Häusern.
Aus dem Haus der Wache marschierte die Ablösung zu den vier Toren von Himlinge, und König Aslaks Garde, die Thorswölfe, war bereits zum Morgenappell angetreten.
Vor ihnen stand Roald. Aslak hatte seinen Zwillingsbruder zum Anführer der Thorswölfe ernannt.
Die beiden hatten überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander, und keiner wäre darauf gekommen, sie für Zwillinge zu halten. Snehild wusste nicht, ob nicht trotz der Ernennung noch immer Hass in Roald glomm. Aslak hatte Roald bei einer Prügelei ein Auge ausgestochen, er hatte ihren Kampf um die Königsherrschaft für sich entschieden, und er hatte Roalds frühere Frau, Berghild, für vogelfrei erklärt. Doch Roald wirkte zufrieden und gefasst.
Er hob sein Schwert zum Gruß, als sie vorbeiging. Sie erwiderte den Gruß mit einer Handbewegung.
Sie mochte Roald. Während Aslak ein Mann der Worte war, der strategische Pläne schmiedete und Charakter und Lügen anderer durchschaute, war Roald geradeheraus, verlässlich und stark wie ein Bär. Beide waren ihr sehr zugeneigt gewesen, doch es war Aslak, der mit seinem Scharfsinn und seinem zupackenden Umgang mit der Macht ihr Begehren erregt hatte. Seitdem versuchte sie zusammen mit dem Ratgeber Brynjulf, Aslaks vorausschauende, aber zuweilen auch harte Regierung Sialands auszubalancieren.
Aslak herrschte seit einem halben Jahr, doch Snehild hatte den Verdacht, dass ihm die Dinge zunehmend entglitten. Sie war besorgt. Man bekam den Eindruck, die Macht würde Aslak zunehmend quälen und ihn schwächer statt stärker machen. Ihn verfolgten Träume von Thronräubern und Mördern, und jeden beäugte er misstrauisch.
Snehild setzte ihren Gang durch den Ort zum Nordtor fort. Am östlichen Horizont war ein graues Tageslicht zu erahnen, Menschen traten aus ihren Häusern, kippten Abfälle aus, machten Feuer, holten frisches Wasser. Die ersten Händler beluden ihre Karren, bald würden sich die Stände auf Himlinges großem Markt füllen.
Die Wächter am Nordtor öffneten ihr ohne Fragen das Tor. Snehild war aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und ihrer engen Verbindung zum König bekannt, und die meisten hatten sogar ein wenig Angst vor ihr. Viele waren der Meinung, dass sie zu den Zauberern gehöre, und Gerüchte über ihre seherischen Fähigkeiten waren im Umlauf. Vor allem das weiße Haar, das ihren Kopf umgab wie Pappelwolle, ließ Menschen raunen, sie stamme von Elfen ab.
Sie sah, wie das Tor hinter ihr geschlossen wurde, dann richtete sie den Blick nach Norden, wo der Moorsee Urds Brunnen lag. Nicht sehr weit vom Dorf entfernt. Sie hatte ihn beim ersten Schneefall nach Aslaks Thronbesteigung aufgesucht und dort die Bekanntschaft der Norne Urd gemacht. Grauenvolle Bilder aus der Vorzeit hatten sich ihr gezeigt, und sie hatte begriffen, dass dem Ort eine besondere Magie innewohnte.
Sie sah hinauf zu Gersimi. Während andere Sterne fast verschwunden waren, blinkte er noch immer am hell werdenden Himmel. Wenn sie am See eintraf, würde die Sonne gerade über den Horizont steigen. Genau der richtige Zeitpunkt, um eine Vision zu suchen. Nacht und Morgengrauen, die den Tag gebaren.
Sie folgte dem festgestampften Hauptweg bis zu seiner Gabelung in einen östlichen und einen westlichen Zweig, dort verließ sie ihn und ging über die Wiese weiter nach Norden. Die Erde war feucht, nicht von Regen, sondern weil sie von zahlreichen Wasserläufen durchzogen war, und um den Moorsee herum wurde sie sumpfig. Hinter dem Moor lag der große Nordwald, von dem es hieß, man brauche zwei Wochen, um ihn zu durchqueren. In den letzten Jahren hatte es niemand versucht. Auf der anderen Seite trieb Räuberhauptmann Gisli sein Unwesen.
Seine Bande war im Lauf der Jahre immer weiter angewachsen, regelmäßig fiel sie plündernd in Sialand ein und hatte sich vor einigen Jahren sogar erdreistet, den Königshof Himlinge anzugreifen. Der Angriff war zurückgeschlagen worden, aber es wurde berichtet, Gisli habe in Vallev Fuß gefasst und dort nach und nach ein ganzes Heer aufgestellt.
Snehild merkte, dass der Untergrund immer feuchter wurde, und überlegte, ob es nicht doch unklug gewesen war, kein Pferd zu nehmen. Hjalmars Sohn Vidar hatte ihr das Reiten beigebracht. Die Leute munkelten, mit Pferden könne er trotz seines jungen Alters ebenso gut umgehen wie mit Frauen. Snehild glaubte es sofort. Jedes Mal, wenn sie Vidar sah, musste sie an Mánagarm denken, der ihren Leib vor Lust zum Zittern gebracht hatte.
Derzeit wurde Vidar zum Krieger ausgebildet. Dabei musste er hohen Erwartungen gerecht werden, sein Vater war einer der besten Elitekrieger gewesen, und Snehild erinnerte sich noch dankbar an die Ausbildung, die sie von Hjalmar erhalten hatte.
Sie konnte jetzt Einzelheiten am Boden unterscheiden, fahles Zittergras, Schwingel, Ruchgras, verblühte Odermennige, Schlangenknöterich, Hornklee und dahinter Sumpfgebüsch, Faulbaum und Kriechweide, alle dabei, das winterliche Totenkleid anzulegen. Snehild dachte an ihre Mutter Asdis, die pflanzenkundig gewesen war und sie im Gebrauch der Heilpflanzen unterwiesen hatte, bevor sie umgebracht wurde.
Es bedeutete nach wie vor eine Qual für Snehild, Asdis’ Mörderin Ragnfrid fast täglich zu begegnen. Als Oberpriesterin hatte Ragnfrid jederzeit Zutritt zum Hof und beriet den König genauso wie sie selbst, und so musste sie so tun, als sei nie etwas vorgefallen, wenn sie auf Ragnfrid traf.
Asdis, ich bin dir eine Rache schuldig!
Es wurde heller, der Himmel färbte sich fahlgrau und der Stern Gersimi verblich. Am Horizont ließ sich ein Streifen rotgoldenes Licht erahnen.
Snehild ging an Wacholder und Gagelsträuchern vorbei. Der Boden war nun nass. Sie befand sich ganz in der Nähe von Urds Brunnen.
Wo auf dem jenseitigen Seeufer der Nordwald begann, wuchsen Kiefern und entlang des Ufers Weiden.
An einer Weide blieb Snehild stehen. Eine Mistel klammerte sich an den hellen Stamm des Baums. Sie betrachtete die ledrig dicken Blätter und die grünlichen Beeren des Schmarotzers. Sie befühlte eine der Beeren. Sie wurde schon weich. Im Lauf des Winters würde sie weiß und so durchsichtig werden, dass man die Samen darin sehen konnte.
Asdis hatte sie vieles über die Mistel gelehrt. Sie war etwas Besonderes, ja, fast heilig. Der Saft in allen Teilen der Mistel war giftig, wenn er ins Blut gelangte. Jäger bestrichen oft ihre Pfeilspitzen mit Mistelsaft. Wenn der Pfeil ein Tier nicht gleich tötete, tat es das Gift.
Aber der Saft war auch ein Heilmittel. Richtig zubereitet und als Flüssigkeit eingenommen, ohne mit Blut in Kontakt zu kommen, half er gegen Krämpfe und Epilepsie.
Ein Vogel zwitscherte, das Morgenrot wurde intensiver. Aber es blieb bei dem einen Singvogel. Die Jahreszeit war nicht günstig.
Snehild dachte an Misteldrossel und Nierenfleck-Zipfelfalter, die sich von den Beeren der Mistel ernährten. Sie vertrugen die Beeren, aber die gingen ja auch nicht ins Blut, sondern nur in den Magen.
»Was die Heiligkeit der Mistel angeht«, hatte Asdis in einem Frühjahr vor einer gelb blühenden Mistel auf einer Lärche erklärt, »so geht es um ein von Priestern und Goden gehütetes Geheimnis. Ich habe nur gerüchteweise gehört, dass es etwas mit den neun Welten der Weltesche Yggdrasil zu tun hat. Die einleuchtendste Vermutung ist, dass man mit ihrer Hilfe Geistreisen unternehmen kann wie mit bestimmten Pilzen. Aber das glaube ich nicht. Es geht um etwas Dunkleres und Tieferes. Ein halbblinder Gode, dessen Augenentzündung ich behandelte, hat mir gegenüber so etwas angedeutet.«
Aus einer Eingebung heraus pflückte Snehild eine Beere. Sie ließ den Blick über den Moorsee schweifen. Dann merkte sie, dass das Abpflücken der Beere mehr als eine spontane Eingebung gewesen war. Sie fühlte eine Vision kommen, und das hing mit dem Mistelzweig zusammen. Die Morgensonne glitzerte auf dem Seespiegel, das Licht nahm den Tod mit sich, Hel bereitete ein großes Fest im Totenreich von Helheim vor, denn der Schöne war auf dem Weg. Die Lebenden weinten, die Toten frohlockten, aber noch war der Jüngling nicht tot.
Snehild widerstand der Versuchung, die Augen zu schließen, und ließ ihren Blick sich im flirrenden Morgenlicht auf dem Wasser verlieren.
Kräftig verflechten sich die Fäden der Nornen ineinander, in einem Augenblick folge ich Skulds Zukunft, im nächsten fängt Verdandis Gegenwart meinen Blick. Ich fliege als weißer Falke über dem einäugigen Reiter, er reitet sein achtbeiniges Pferd und tut, als würde er mich nicht sehen, Heervater, Walvater, Wanderer, aber er lenkt meinen Blick ab, als Urds Vergangenheit mir zeigen will, woher er mich kennt. Das achtbeinige Pferd muss Sleipnir sein, das Fohlen, das ich einmal in einer Vision gesehen habe und das Loki vom Hengst Svadilfari empfangen hat.
Ich weiß, Walvater ist hier, in der Luft aus einer anderen Welt.
Ich fliege mit ihm in Reifnebel, es ist klamm und kalt, meine Falkenschwingen flattern nervös, kann mir das Gesicht hier überhaupt folgen? Ein Hund schlägt an, ich folge dem Geräusch, lasse das Bellen dann hinter uns.
Die Nebel weichen, eine goldene Brücke taucht auf. Darauf steht eine junge Frau, unter ihr strömt ein Fluss.
Die Welt ist grau, ohne Sonne, ohne Sterne, das grüne Laub der Wälder ist im Vergessen verschwunden, das Wasser des Flusses starrt ohne Spiegelungen leer zurück, kein Fisch schlägt mit der Schwanzflosse.
Der Reiter hebt seinen Speer und grüßt die Frau auf der Brücke.
»Ich bin Modgun«, sagt sie. »In dieser Richtung kannst du die Gjallarbrú überqueren, doch nie in der anderen. Ich wehre alle ab, die es versuchen. Helheim ist für immer und ewig.«
»Ich habe mich am Baum geopfert und lebe doch«, sagt der Reiter. »Über mich besitzt du keine Macht, Modgun. Durch Niflheims Nebel ritt ich auf Svadilfari, den nicht einmal Hel aufhalten kann.«
Dann überquert er Gjallarbrú, ich fliege mit ihm in die graue Welt. Die Farblosigkeit greift meine Schwingen an, ich muss mich anstrengen, um sie weiß zu halten.
Aus dem Nichts treten die schwarzen Bauten der Herrscherin Hel hervor, die Ausdehnung der Irrgänge ist unendlich. Furchtlos reitet er zum Tor und zwischen den Gräbern davor hindurch, ungeduldig, Sleipnir stampft unter den straffen Zügeln. Schließlich erreicht er sein Ziel und steigt ab.
Ich fühle mich, als würde alle Kraft aus meinem Vogelkörper gesaugt, und lande mutlos auf dem Torturm.
Dann spricht er Worte, Totenzauber, und die Kraft der Worte erfüllt mich mit Zuversicht, obwohl mir ihre Bedeutung entgeht, ich könnte sie nicht wiedergeben. Das werde ich mir merken: Zauberformeln, Runenmagie. Ich bin noch nicht tief genug in dieses Wissen eingedrungen.
Schwerfällig erhebt sich die Völva aus dem Grab, herbeigezwungen von seinem mächtigen Totenzauber. Haut und Gedärme sind verwest – im Tod sieht sie noch schrecklicher aus als im Leben, flüstert mir die Norne Urd durch Helheims schlammschwere Luft zu, und das besagt nicht wenig: Sie war die Mutter dreier Ungeheuer.
Die Völva sagt: »Was ist das für ein Wesen, mir unbekannt, das mir den beschwerlichen Weg auferlegt hat? Ich war mit Schnee beschneit und mit Regen beschlagen und mit Tau benetzt, tot war ich lang.«
»Wegtam heiße ich«, gibt er zur Antwort und erkundigt sich, für wen man so schön schmücke Helheims Säle.
»Gebraut steht der Met für Balder«, antwortet die Völva. Dann zaudert sie. Sie wisse, dass die Asen bange Befürchtungen hegten, meint sie und will nicht mehr sagen.
Durch meine Falkenfänge dringt schleichend Kälte in meinen Körper, Mattigkeit legt sich um mein kleines, pochendes Vogelherz. Viel länger kann ich es an diesem Totenort nicht mehr aushalten.
Wegtam setzt die Völva unter Druck. Balder verfolgten in der Tat böse Träume, und genau darum sei er gekommen. Er wolle herausfinden, wer an Balder zum Mörder werde. Odins Sohn bringe man nicht ungestraft um, und darum wolle er auch wissen, an wem Rache zu nehmen sein werde.
Die Völva erklärt: »Höder bringt den hohen Ruhmbaum Balder her.«
Wenn ich mich jetzt nicht bewege, sterbe ich. Ich fühle es. Der graue Tod haucht Schwäche auf mein Gefieder, Trostlosigkeit sickert in meine blinzelnden Augen. Ich muss fliegen. Ich halte es nicht so lange wie Wegtam in Helheim aus, nicht einmal in einer Vision. Mein Körper, der sich bei Sonnenaufgang am Moorsee nördlich Himlinge in Midgard befindet, würde umkommen, dessen bin ich mir sicher.
Mit Mühe stoße ich mich ab, steige auf. Unter mir geraten Wegtam und die Völva in Streit. Wegtam presst ihr noch ein wenig mehr ab. Doch keiner von beiden ist, wer zu sein er vorgibt, und das wissen beide auch voneinander. Sie reißen sich gegenseitig die Masken ab.
»Du bist nicht Wegtam, wie ich dachte«, ruft die Völva, »sondern du bist Odin, der alte Gaut.« Sie spuckt zwei Zähne aus, und ein vertrockneter Hautlappen fällt von ihrer Wange.
»Du bist keine Seherin noch eine weise Frau, sondern du bist dreier Riesen Mutter.«
Ich fliege davon. Mit äußerster Anstrengung erreiche ich die Brücke und sause über Modgun hinweg. Sie schaut nach oben, kann aber nichts tun, denn ich bin keine Tote, die sie zurückhalten könnte, und ich bin auch keine lebende Person, die sie abweisen müsste. Ich bin schlicht nicht da, sondern nur in meiner Vision, und so wirbele ich durch die kalten Nebelfetzen und richte meinen inneren Blick auf Urds Brunnen und die braungoldenen Winterfarben in Himlinge, auf die Weide mit dem Mistelzweig.
Das Zwitschern des einzelnen Singvogels erreicht mich.
Ich bin zurück.
»Höder bringt den hohen Ruhmbaum Balder her«, hat die tote Völva gesagt.
Ich betrachte die Beere, die ich gepflückt habe und die meine Vision ausgelöst hat. Hat sie etwa sagen wollen, Höder werde Balder durch einen Mistelzweig ins Totenreich schicken?
Mit einem Schlag trifft mich das Schwerwiegende meines Erlebnisses: Ich bin mit dem Einäugigen geflogen, mit dem Wanderer, mit Walvater, und er, Odin, hat mich bemerkt und erkannt!
Ich habe ein Gefühl, als würde mich der Sonnenaufgang verschlucken.
Ich reiße mich aus dieser Überwältigung los. Im Moment ist es wichtiger, dass ich keine Vision zu Aslak und seinen Albträumen hatte. Ich kann dem König keine Antwort geben. Er wird zornig werden und noch ängstlicher. Ich fürchte, Aslaks Gemütszustand wird sich verfinstern.
Die Sonne war aufgegangen und blitzte auf den Schwertern der Thorswölfe. Sie fochten paarweise gegeneinander, Aslaks Bruder Roald gegen den jungen Vidar, der noch immer einen Platz in der Schar der Elitekrieger hatte, obwohl sein Vater Hjalmar seines Postens als Anführer der Truppe enthoben worden war. Vidar fühlte sich etwas zu siegessicher und konnte eine Lektion vertragen, dachte Roald. So überheblich in ein Gefecht zu gehen konnte den Tod bedeuten.
Roald mochte das Keuchen der Männer und das Klirren aufeinanderprallender Eisenklingen. Im Chaos der Winkelzüge des Schicksals, wie Roald es empfand, hielten ihn die körperlichen Anstrengungen in einer Realität verankert, die dem Ganzen Sinn verlieh. Die Geräusche um ihn herum waren real, der Schweiß, die Schmerzen und sein heftigeres Atmen waren handfest.
Wenn er allein und ohne Beschäftigung war, konnte er in düstere Gedanken versinken, in denen er selbst als betrügerischer Loki auftrat. Ziellose Kreisläufe von Vorwürfen und Anklagen gegen sich selbst und andere, gegen Aslak, gegen seine frühere Frau Berghild, gegen seine Mutter Grid und sogar gegen Snehild, die immer wohlwollend war und ihm nichts Schlimmeres angetan hatte, als ihm seinen Bruder Aslak vorzuziehen. Wenn er die Reihe seiner Verluste Revue passieren ließ, fand er keinen Boden mehr unter den Füßen. Und wenn er dabei saß, musste er aufstehen und fest auf den Boden stampfen, um sich zu vergewissern, dass der Boden unter ihm wirklich solide war. Er hatte ein Auge verloren, er hatte seinen Vater verloren, König Tormod, und er hatte Berghild verloren, als sie bei der Hochzeit seinen Vater tötete und fliehen musste. Und zuletzt war auch die Königswürde nicht auf ihn übergegangen.
Dass Berghild König Tormod getötet hatte, war ihre Pflicht gewesen, das konnte Roald ihr nicht vorwerfen. Es hatte eine alte Blutfehde zwischen ihren Familien bestanden, und ihre Ehre hatte es erfordert, dass Berghild Blutrache nahm. Jetzt saß er in einem Netz hoffnungslos gegensätzlicher Gefühle gefangen: die nach wie vor bestehende Zuneigung zu Berghild einerseits, die Pflicht, Rache für seinen Vater zu üben andererseits, und dann auch noch der Unwille, seinem Bruder Aslak Gehorsam zu leisten, der auf legale Weise das Königtum an sich gebracht hatte.
Doch die harten Kampfübungen mit seinen Kriegern gaben ihm Sinnesruhe und einen Rahmen, in dem er sich zu verhalten wusste.
Mühelos parierte er Vidars ungestüme Attacken. Sein Übungsschwert fing dessen Hieb elegant ab, und er nutzte Vidars in den Schlag gelegte Kraft, indem er im Augenblick des Aufeinandertreffens ihrer Klingen leichtfüßig zur Seite glitt und Vidar nahezu ohne eigene Kraftanstrengung sein Schwert aus der Hand schlug. Zum Abschluss versetzte er Vidar einen kräftigen Schlag mit der Breitseite seiner Klinge.
Vidar stöhnte vor Schmerz auf. Er würde viele Tage einen blauen Fleck haben.
»Ich habe deine eigene Kraft gegen dich eingesetzt«, sagte Roald. »Lass den Feind seine Kraft verausgaben, und benutze deinen Verstand. Geh zu Ørn, und übe mit ihm weiter. Denk aber an das, was ich dir gerade gesagt habe, wenn du nicht die nächsten zwei Wochen grün und blau geschlagen im Bett verbringen willst.«
Ørn, der Adler, war der größte und härteste der Thorswölfe. Er hatte eine Nase wie ein Adlerschnabel, redete nur selten, und die anderen Thorswölfe hatten mehr als Respekt vor ihm.
Roald beobachtete sie eine Weile. Er ging zwischen ihnen umher, korrigierte Schwerthiebe und Beinstellungen und gab Einzelnen gute Tipps, wie sie ihr Üben verbessern konnten. Alle respektierten ihn. Nicht ohne Grund hatte er nach dem Angriff von Gislis Räubern auf Himlinge den Beinamen Kampfhöder erhalten.
Schließlich überließ er die Männer sich selbst und suchte Hjalmar auf, den Anführer von König Tormods Kriegern, der ihn und Aslak von Kindesbeinen unterwiesen hatte. Roald verdankte ihm alles, was er vom Kämpfen verstand. Die Freude darüber, dass Aslak Roald zum Anführer der Thorswölfe ernannt hatte, war ein wenig dadurch getrübt worden, dass es auf Hjalmars Kosten geschah. Von dessen ehemaliger Truppe war nur noch Ørn übrig.
Am Brunnen hielt Roald an, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dabei dachte er an Snehild, die sich jeden Tag wusch und sich so sauber und weiß vom Rest der Himlinger abhob. Er sah an sich hinab. Seine Kleidung und seine Hände waren schmutzig, unter den Nägeln saßen Trauerränder, und auf seinem Gesicht fühlte er noch den Schweiß. Er schöpfte mit den Händen etwas Wasser und wusch sich das Gesicht. Es fühlte sich kühl und angenehm an. Dann roch er an sich. Ein strenger Geruch von Leder, Urin und altem Schweiß stieg ihm in die Nase. Er war daran gewöhnt; alle anderen rochen genauso. Mit Ausnahme von Snehild.
An seinen eigenen Geruch hatte er nie einen Gedanken verschwendet, bis Snehild vor einem halben Jahr als Snehild Grauwolf zurückgekehrt war, eine strahlend helle, erwachsene Frau. Vielleicht sollte er sich auch häufiger waschen als die wenigen Male im Jahr, in denen er kurz im Fluss untertauchte.
Roald warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Nur dünne Wolkenfelder trieben vor der Sonne vorbei, kraftlos wie den Strohtod Gestorbene. Auch wenn es kühl war, war es ein guter Tag, um zum Fluss zu gehen. Hjalmar konnte warten; es war nicht so wichtig. Nur sein eigenes Gewissen hielt ihn dazu an, den abgesetzten Hjalmar weiterhin in militärische Überlegungen einzubeziehen.
»Ein schöner Tag, Roald Kampfhöder«, erklang eine ruhige Stimme in seinem Rücken. »Wenn Wind-Kari schläft, zieht Skinfaxi friedlich über den Himmel.«
»Brynjulf Rabenblick, ich habe dich gar nicht kommen hören.« Roald drehte sich um und betrachtete den älteren Mann. Brynjulfs Haar war grau geworden, er selbst magerer, doch sein Körper schien noch über eine zähe Kraft zu verfügen.
»Es sieht dir gar nicht ähnlich, unaufmerksam zu sein, Kampfhöder. Das pflegst du nur zu tun, wenn etwas erzählt wird. Wenn ich versuchte, euch in die Mysterien der Welt einzuweihen, gehörtest du nie zu meinen besten Schülern.«
»Nein, der Preis fiel Aslak zu. Weißt du, dass mein Bruder derzeit von bösen Träumen geplagt wird?«
»Ja. Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, nicht darüber zu sprechen. Derartige Gerüchte sind wie Unglücksvögel. Und jetzt, wo er Feldzüge gegen Gisli in Vallev und gegen Berghilds Bruder Une plant, dürfen die Menschen nicht in ihrem Vertrauen in ihn erschüttert werden.«
»Er ist viel zu viel mit sich selbst beschäftigt, um den Mund zu halten.« Roald wusste, dass er sich bitter anhörte. »Warum soll Une überhaupt für die Blutrache seiner Schwester büßen? Berghild hat nur getan, was die Ehre von ihr verlangte.«
»Umso wichtiger, dass er die richtigen Ratschläge und einen zuverlässigen Anführer seiner Krieger bekommt«, sagte Brynjulf mit Nachdruck und hielt Roalds Blick fest. »Grollst du noch immer? Der König braucht den Beistand seines Bruders.«
Roald zögerte. Er wusste, dass Brynjulf die Fähigkeit besaß, zu durchschauen, ob man etwas aufrichtig meinte. »Ich bin erfreut, dass er mich zum Anführer der Thorswölfe gemacht hat«, sagte er schließlich. »Dafür bin ich ihm dankbar. Die Königsmacht hat er auf rechtmäßige Weise erworben, auch wenn er es mehr mit Rednergabe als mit Stärke tat. Er hat mich zu Unrecht beschuldigt ...«
»Vergiss die Anschuldigungen des Königs! Sie gehören der Vergangenheit an, Roald.«
»Dass ich nur ein Auge habe, gehört aber sehr wohl in die Gegenwart. Doch ich habe gelernt, damit zu leben. Ich glaube nicht, dass ich noch grolle. Schicksal ist Schicksal.« Das stimmte. Roald spürte, dass sich Ruhe in ihm breitmachte. Er war klug genug, um sich in sein Schicksal zu fügen.
Roald merkte, dass Brynjulf auf einmal abgelenkt war, und er sah, dass Snehild seinen Blick auf sich gezogen hatte. Sie war auf dem Weg zurück zum Königshof.
Snehild ging ihrer eigenen Wege, und Roald wunderte sich nicht mehr über ihr Tun und Lassen. Sie war das erstaunlichste, unbegreiflichste und schönste Wesen, dem er je begegnet war. Dass sie dabei auch freundlich war, überraschte ihn jedes Mal aufs Neue. Sie kam ihm mehr wie eine Schneekönigin vor.
»Wohnt sie immer noch bei dir, Brynjulf?«, erkundigte er sich beiläufig und folgte ihr dabei mit seinem Auge.
»Ja. Aber sie verbringt viele Nächte mit Aslak. Sofern du noch einen Groll gegen deinen Bruder hegst, ist es wohl eher wegen dieser Frau als wegen irgend etwas anderem. Mach dir nichts vor. Man kann es dir ansehen.«
Damit ließ Brynjulf Roald stehen. Anscheinend wollte er Snehild zu seinem eigenen Haus folgen.
Roald nickte. Es war etwas Wahres an Brynjulfs Worten. Er war gerade schon eifersüchtig, dass Brynjulf so ohne alle Umstände mit ihr reden und in ihrer Nähe sein konnte.
Arn näherte sich Himlinge auf der Hauptstraße von Osten. Er ritt zügig und fiel erst in Schritt, als er zum Nordtor des Königssitzes abbog. Die Straße führte nördlich um Himlinge herum und weiter durch Sialand nach Terslev im Westen.
Am Tor inspizierten die beiden Wachen einen kleinen Karren und forderten Arn auf, zu warten, bis er an die Reihe käme.
Der eine – ein breitschultriger Mann – zog eine kleine Holzfigur aus dem Karren und betrachtete sie.
»Das soll wohl der Fenriswolf sein«, meinte er.
Die junge Frau, der der Karren gehörte, nickte.
»Wozu soll der gut sein?« Der Mann drehte ihn vorsichtig um.
»Zu nichts. Der ist dazu da, damit man sich eine Vorstellung machen kann, wer Fenrir ist.«
»Oha, das hört sich gefährlich an«, sagte der Mann und legte die Figur zurück.
»Woher kommst du?«, fragte der zweite Torwächter misstrauisch. Eine abstoßende Narbe verlief über sein Gesicht.
»Aus Pebringe«, antwortete die Frau. »Ich habe den ganzen Sommer lang Figuren geschnitzt, die ich hoffentlich in Himlinge auf dem Markt verkaufen kann. Glaubt ihr, die königliche Familie könnte an ihnen Interesse haben?«
Arn betrachtete die junge Frau neugierig. Pebringe lag nicht weit von seinem Heimatort Alflev entfernt, und er war öfter dort gewesen, die Frau aber war ihm nie aufgefallen, obwohl sie auffällig genug war, sie hatte ein hübsches Gesicht und trug das dunkle Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Auch unterwegs war er ihr nicht begegnet, und keiner der anderen Reisenden hatte sie erwähnt. Dabei waren Holzfiguren, die den Charakter magischer Wesen ausdrücken konnten, durchaus einer Erwähnung wert. Etwas ließ Arn vermuten, dass sie nicht die Wahrheit sagte.
»Wie heißt du?«, fragte der größere der beiden Wächter.
»Sibba.«
»Geh nur auf den Markt, Sibba. Es kann sein, dass du Glück hast. König Aslaks Mutter Grid kauft oft selbst dort ein, und vielleicht kann sie mit den Dingen, die du herstellst, etwas anfangen. Ich persönlich weiß nicht, was man mit Holzfiguren soll, die zu nichts zu gebrauchen sind.«
Sibba dankte und zog ihren kleinen Karren durchs Tor.
»Seit wann haltet ihr Reisende auf?«, fragte Arn verärgert, als die Wache ihn aufforderte, abzusteigen.
»Du bist wohl lange nicht hier gewesen«, sagte der mit der Narbe. »König Aslak will, dass jeder kontrolliert wird. Wir haben unsere Befehle. Wer bist du, und wo kommst du her?«
»Ich bin Arn aus Alflev, und ich überbringe eine Botschaft meines Herrn, Une von Alflev. Ihr kennt mich doch. Ich habe jahrelang hier gewohnt, als Unes Schwester Berghild mit Roald verlobt war. Ich kann mich jedenfalls gut an euch erinnern. Du heißt Tjalfe.« Damit zeigte er auf den groß gewachsenen Wächter. »Und jetzt lasst mich ein!«
Die beiden erstarrten und wechselten Blicke.
»Arn aus Alflev«, sagte Tjalfe brüsk. »Ich bringe dich zum Königshof. Niemand aus Alflev darf sich in Himlinge frei bewegen.«
Arn wollte protestieren, ließ es aber. Wenn man die Lage nicht kannte, war es besser, den Mund zu halten. Also führte Arn sein Pferd am Zügel durchs Tor und ging neben Tjalfe zum Königshof.
Es war ein schöner, aber kalter Tag. Arn hatte die Nacht in einem Gehöft an der Straße von Alflev verbracht, weil er nicht erst bei Einbruch der Dunkelheit in Himlinge ankommen wollte. Darüber war er jetzt froh.
Arn dachte an seine Zeit in dem geschäftigen Ort zurück. Es hatte ihm gefallen, der Liebhaber der Oberpriesterin Ragnfrid zu sein, und das lag erst ein halbes Jahr zurück. Ob er sie nach wie vor in ihrem Haus am Waldrand besuchen konnte? Ragnfrid war lebhaft im Bett, das mochte er, und außerdem hatte sie nicht dauernd seine Aufmerksamkeit beansprucht. Im Gegenteil hatte sie ihn gebeten, ihr Verhältnis geheim zu halten. Als Oberpriesterin hatte sie viele Aufgaben zu erfüllen, und er war als Berghilds Leibwächter gut beschäftigt gewesen. Wenn ihm der Sinn nach anderen Frauen gestanden hatte, war er ins Hurenhaus der Töchter Freyjas gegangen.
Als sie den Marktplatz überquerten, sah er, dass Sibba bereits einen Standplatz für ihren Karren gefunden hatte. Die ersten Neugierigen sammelten sich darum.
»Bringst du mich direkt zum König?«, erkundigte sich Arn, als sie beim Königshof anlangten.
Tjalfe brummte eine unbestimmte Antwort.
Auch wenn Arn zusammen mit der trauernden Gislaug Himlinge erst vor einem halben Jahr verlassen hatte, schien ihm eine völlig veränderte Atmosphäre zu herrschen. Es gab mehr Wachen auf dem Markt, und bei allen glaubte er eine innere Angespanntheit wahrzunehmen.
Nahe dem Königshof waren ein paar Krieger dabei, einem Dieb die Finger zu brechen, der heulte, dass er ihr Fleisch nicht gestohlen habe.
Arn blieb abrupt stehen.
»Was geht hier vor?« Er zeigte auf drei Köpfe, die auf drei hohe Stangen gespießt waren. »Was hatten die verbrochen?« Arne war entrüstet. Das manchmal ein Übeltäter hingerichtet werden musste, sah er ein, aber drei? Das sah nach Gewalttätigkeit aus. Und ihre Köpfe derart zur Schau zu stellen erschien ihm unwürdig und unnötig brutal.
»Der König mag keine Verräter«, meinte Tjalfe und winkte Arn ungeduldig weiter.
Sie betraten den großen Königsplatz, von Wachstuben, Lagerhäusern, Ställen und angrenzenden Wohnhäusern umgeben. Dort blieb Tjalfe stehen.
Arn sah die weißhaarige Snehild den Platz überqueren. Er erinnerte sich von Berghilds und Roalds Hochzeit an sie, und sie war im Übrigen auch niemand, den man wieder vergaß. Sie trug wieder ihre Wolfskleidung und das schlanke Schwert.
Arn drehte sich zu Tjalfe um.
»Warum halten wir? Ich muss zum König. Ich überbringe Nachrichten von Herrn Une.«
Tjalfe gab keine Antwort, sondern vier Lanzenträgern mit langen Messern im Gürtel ein Zeichen.
Ehe Arn sichs versah, was geschah, war er überwältigt und festgehalten.
»Was soll das?«, protestierte er, während ihm sein Schwert abgenommen wurde. »Ich verlange, mit dem König zu sprechen!«
»Befehle«, gab Tjalfe trocken zurück. »Nach all dem Zwist, der zwischen den beiden Familien herrschte, traut König Aslak Une nicht. Jeder aus Aflev ist ein möglicher Verräter und wird als solcher behandelt. Sperrt ihn ein!«
Ich sah nach unten,
sammelte Runen auf,
nahm sie schreiend an mich,
sank erneut zu Boden.
Ragnfrid sprach die Worte rhythmisch leise vor sich hin und ritzte dabei Zeichen in einen Buchenstab.
Die Oberpriesterin kniete auf dem Boden ihres Heims, der Eichenholzhütte außerhalb von Himlinges Mauern, dicht am Waldrand. Ein Feuer brannte und warf zuckende Schatten in den Raum. Ihr langes rotes Haar, das sie normalerweise streng geflochten trug, stand wie wirre Strohwische von ihr ab. Auf dem Boden lagen Reste von getrockneten Spitzen Elfenhüten, die sie gekaut hatte.
Ragnfrid merkte, dass ihre Konzentration nachließ. Die Pilze begannen zu wirken. Sie musste sich beeilen, um fertig zu werden, solange sie noch imstande war, Runen zu ritzen. Ein einziger Fehler, und der Runenzauber konnte sich in sein Gegenteil verkehren. Gefährliche Runen ritzte sie da gerade ins Holz, und die konnten sich auch gegen sie wenden.
Als die letzte Rune vollendet war, betrachtete Ragnfrid prüfend den Buchenstab. Sie nickte zufrieden und stand auf, ein bisschen unsicher auf den Beinen. Sie fühlte sich leicht wie ein Schmetterling, aber ihre Beine wollten ihr nicht recht gehorchen. Sie kannte die Wirkung der Pilze und war unbesorgt. Es war jetzt Zeit, den Stab in den Heiligen Hain zu bringen und laut die Zauberformel aufzusagen, damit die Runenbeschwörung wirkte.
Als sie die Tür öffnete, blendete sie die Sonne. In der Hütte hatte sie im Dunkeln gesessen, den Geist in die Magie der Götter versenkt, auf dunkler Reise zu den Geheimnissen des Lebensbaums. Die Wirklichkeit von Midgard erschien ihr nun hart und flach, eine kalte Sonne tief am Horizont, ein Waldrand mit einzelnen Resten herbstlicher Flammenfarben, als ob letzte Bäume noch gegen ihr Schicksal protestierten.
Benommen ging sie den Weg entlang, der an Grabhügeln vorbei in den Wald führte. Die Welten klangen wieder in ihr auf, der Herbst kehrte zurück, das fallende rote Laub der Eschen, die ausgedünnten Kronen der Buchen, auf dem Waldboden die Schicht goldbrauner Blätter. Das Herbstgold war der Segen der Wanen, die winterliche Kälte der Seufzer der Asen, das Frühlingsgras wisperte Echos aus dem Totenreich Helheim.
An einer Birkengruppe tänzelte Ragnfrid geradezu vorüber. Sie schwankten vor ihr, die Pilze hatten ihr den Weg geebnet, die weiße Birkenrinde verwies auf die weiße Snehild, für die sie die Runen werfen wollte. Der lebende Wald verhieß ihr, dass das, was sie vorhatte, das Richtige war.
Sie hasste alles an Snehild. Ihre Jugend, den Einfluss, den sie auf Brynjulf und den König hatte, und vor allem hasste sie Snehilds Fähigkeiten. Es stand außer Zweifel, dass sie das Zweite Gesicht besaß und auch Geistreisen in andere Welten unternehmen konnte. Für beides musste Ragnfrid schwer kämpfen. Sie war gerade einmal imstande, vereinzelte, diffuse Signale aufzufangen, und auch das nur, wenn sie die magischen Pilze zu sich nahm. Für Snehild war es ein Kinderspiel. Für das weißhaarige, elfengleiche Wesen ergaben sich Verbindungen zu anderen Welten an der Weltesche Yggdrasil ganz natürlich.
Der Gedanke an die gefahrbringende Macht des Runenzaubers hob Ragnfrids Laune. Es war das einzige Wissen, bei dem sie Snehild überlegen war. Und jetzt wollte sie es gegen sie einsetzen. Es war Zeit, etwas zu unternehmen.
Als sie den Heiligen Hain betrat, kam es ihr so vor, als sei das, was sie tun wollte, die einleuchtendste Sache der Welt. An Tatkraft hatte es ihr nie gemangelt. Warum hatte sie sich diesmal so lange schwergetan, einen Entschluss zu fassen?
Der Hain bot einen betrüblichen Anblick. In der Mitte der Lichtung stand der Opferstein, doch um ihn herum, wo vorher nur Gras und Gänseblümchen wuchsen, standen und lagen die Überreste des von dem toten Baumeister begonnenen Tempelbaus. Die tragenden Pfosten, hohe und solide Eichenholzpfeiler, standen aufrecht und fest in ihren Erdlöchern; aber weiter war der Baumeister nicht gekommen, bevor Aslak ihn niedergestochen hatte. Am Rand des Hains lagerten Stapel fertig behauener Pfosten und Bohlen, aus denen Dach, Wände und Turm erbaut werden sollten. Jetzt hatte die Natur das aufgegebene Bauwerk übernommen, um die Stapel wuchs hohes Gras, winterkahle Schlinggewächse rankten um die Pfosten. Ragnfrid sah Waldrebe, Osterluzei und Ackerwinde, und am Pfeiler vor dem Opferstein haftete eine Mistel.
Am liebsten hätte Ragnfrid alle Rankpflanzen abgerissen. Ein Tempel für die Götter war ihre Idee gewesen. Jetzt musste sie warten, bis Himlinge einen neuen Baumeister bekam und sie König Aslak überreden konnte. Auch wenn sie noch immer schön war, war sie nicht mehr jung genug, um ihn zu verführen. Mit seinem Vater, dem vorigen König Tormod, hatte sie leichteres Spiel gehabt, über ihn hatte sie Macht ausgeübt. Vor Aslak hatte sie hingegen ein wenig Angst, was sie nie zeigte. Aslak war gefährlich, er nutzte jedes Zeichen von Schwäche aus.
Auch als Oberpriesterin blieb Ragnfrid keine andere Wahl, als den Zustand des Hains hinzunehmen. Die Arbeiter des Baumeisters hatten den Opferstein versetzt, um auch an seinem Standort den Boden zu ebnen, doch mitten in den Rodungsarbeiten hatte sie angeordnet, ihn wieder an seinen alten Platz zu stellen. Das war alles, was sie derzeit tun konnte.
Sie gingen zu dem großen Stein, der von schlingpflanzenumrankten Pfeilern umgeben war. Da zu stehen gab ihr ein seltsames Gefühl, sie fühlte sich wie in einen Käfig aus Pfählen gesperrt. Die neun Welten des Weltenbaums schienen außer Reichweite zu sein.
Plötzlich hatte sie den Eindruck, die Waldreben und Winden an den Pfeilern würden nach ihr greifen, sie umschlingen und zu einer unbeweglichen Säule machen.
Das war nur eine Wirkung der Spitzen Elfenhüte, das war ihr klar. Aber in den von den Pilzen herbeigeführten Wahrnehmungen und Empfindungen lag auch Wahrheit. Die Natur wollte sie peinigen. So wie sie die Natur mit ihrem Tempel hatte züchtigen wollen.
»Ihr Wanen, eure Zeit ist abgelaufen!«, sagte sie zornig und laut. »Ihr seid von den Asen bezwungen und gezähmt worden.«
Sie legte den Stab mit den eingeritzten Runen auf den Opferstein vor sich. Pilzträume wirbelten in ihr und vor ihr, der Stein atmete, die Bäume bogen sich zu ihr hinab, Jahreszeiten sausten durch die Kronen der Buchen, skelettiert nackt hoben sich ihre Äste gegen einen weißen Winterhimmel ab, Skuld, die Norne der Zukunft, musterte sie voll Verachtung, zarte Frühlingsknospen, Wolken zogen in unnatürlicher Hast über den Himmel, Sternennächte brachen in Gesang aus, Tau sammelte sich auf dem Geweih der vier Hirsche, Duneyrr, Dáinn, Durathrór und Dwalinn. Sie befand sich also im Wipfel der Weltesche. Hier hatte Walvater gehangen, hier hatte Odin sich selbst geopfert, um Runenwissen zu erlangen.
Sie war bereit.
Ragnfrid nahm die braungoldenen Farbtöne des Frühwinters wieder in sich auf, sie stand auch in Midgard, gerade jetzt, sie befand sich im gesamten Kreislauf, in allen Welten und Zeiten, doch der Runenzauber wirkte nur in der Gegenwart, in der musste sie verbleiben.
Sie berührte den Runenstab auf dem Opferstein mit einer Fingerspitze. Dann sprach sie beschwörend seine Zauberformel.
Ich ritze
und ich male Runen,
Wurzeln eines Zauberbaums
durchbohren die Schneegeborene,
ich bringe sie dazu,
sich zu verirren,
weg von ihrer eigenen Haut und Gestalt,
weg von ihrem Geist und Verstand,
Snehild von den grauen Wölfen.
Jetzt werden des Hohen Sprüche
verkündet in der Halle des Hohen.
Ragnfrid wiederholte diese Formel neun Mal. Bei jedem Mal wurde der Himmel dunkler, sie sah Hels verwesten Arm nach ihr greifen, sie fühlte den eisigen Hauch des Drachen Nidhögg, sie hörte das Rauschen der Schwingen des Leichen verschlingenden Hræsvelgr.
Die Sprüche des Hohen, sagte sie abwehrend mit Nachdruck.
Bei der neunten Wiederholung kamen ihr Visionen. Snehild sank zu Boden und spuckte Blut, Snehild wurde verwirrten Sinnes zum Tor hinausgejagt, Snehild wurde von einem Pfeil durchbohrt. Zukünftiges lief ab, Verlust des Verstands, des Zuhauses, des Lebens. Noch war die Entscheidung nicht gefallen, aber Schicksal blieb Schicksal, und die Nornen hatten zu spinnen begonnen.
Ragnfrid gähnte und nahm den Finger vom Runenstab. Der Wald stand still, die Sonne war fast untergegangen. Bevor sie hinter den Baumwipfeln versank, fielen ihre letzten Strahlen zwischen zwei Pfeilern hindurch auf den Buchenstab. Die Runen glühten.
Eine eigentümliche Mischung aus Demut und Stolz erfüllte Ragnfrid. Da war Yggdrasils Kraft, und da war sie, Ragnfrid, die sie eingefangen hatte.
Als letzte Maßnahme musste der magische Stab bloß noch Snehild berühren und in ihrer Nähe sein. Also musste Ragnfrid versuchen, nah an sie heranzukommen und den Stab irgendwie in Snehilds Sachen einzuschmuggeln. Das Einfachste wäre, sich einen Anlass auszudenken, um Brynjulf aufzusuchen, bei dem Snehild wohnte. Brynjulf war Ragnfrids Liebhaber vor Arn gewesen, und sie unterhielt sich oft mit ihm.
Sie wusste nicht, ob es an den Pilzen lag oder ob eine alte Sehnsucht in ihr aufkam, jedenfalls ringelte sich auf einmal ein schmerzliches Verlangen um ihr Herz, eine Schlange der Liebe, deren Biss das Gift der Eifersucht absonderte. Die Nornen webten offenbar nach wie vor Brynjulf in ihr Begehren ein. Es war immer nur um Brynjulf gegangen.
Snehild betrat Brynjulfs Haus und ließ sich auf einen Hocker am Feuer nieder. Sie musste nachdenken. Ihr Besuch an Urds Brunnen war nicht so verlaufen, wie sie es erwartet hatte. Über Aslaks schlechte Träume hatte sie nichts in Erfahrung gebracht. Stattdessen war sie auf ihrer Geistreise zusammen mit Odin durchs reifneblige Niflheim in das Totenreich Helheim geflogen und hatte die Weissagung einer toten Völva über Odins Sohn Balder vernommen. Das war eine erschütternde Vorstellung. Sie fühlte sich noch immer äußerst schwach, als hätte Helheim ihr das Leben ausgesaugt.
Snehild dachte über die Sterbeschicksale nach. Fiel man in ehrenvollem Kampf mit der Waffe in der Hand, dann holten Odins reitende Kriegerinnen, die Walküren, den Gefallenen nach Asgard zu den Asen zu einem geehrten und freudvollen Nachleben in Walhalls Sälen. Das ruhmlose Ableben hingegen war der Strohtod, und auf die, die den Strohtod starben, wartete bloß ein schwaches Dahindämmern in Helheim. Wenn man der Weissagung und Balders eigenen Träumen glaubte, wartete auf ihn anscheinend der Strohtod.
Brynjulfs Haus war klein, aber gut gebaut, mit geraden Wänden und regelmäßigen Stützpfeilern. Es bestand aus einem Raum mit dem Herdfeuer und einer kleineren Seitenkammer. In der schlief Snehild, da Brynjulf es vorzog, nah am Feuer zu liegen.
Wie alle anderen hatten sie anfangs auf einer mit Fellen abgedeckten Schütte aus Stroh und Weidenzweigen auf dem Boden geschlafen. Dann hatte Snehild dem Zimmermann erklärt, auf was für Gestellen sie in Jötunheim genächtigt hatte, und nun hatten sie und Brynjulf je ihr eigenes Bett in einem der Räume. Das war ein Luxus, der Königen zukam, das wussten beide und sprachen darum nicht laut davon. Neid und Missgunst gab es reichlich in Midgard, und die hässliche Kröte des Neids konnte selbst in die besten Häuser kriechen.
Was machte sie jetzt mit Aslak? Er hatte sie gebeten, herauszufinden, ob er wirklich bald sterben solle. Er wurde von bösen Träumen heimgesucht, in denen er auf unterschiedliche Weise ermordet wurde, und in jedem erschien der von ihm getötete Baumeister Eik und erklärte hohnlachend, er werde ihn jetzt nach Helheim mitnehmen.
In der Türöffnung erschien Brynjulfs Gestalt und verdunkelte den Raum. Snehild hatte die Tür trotz der Kühle offen gelassen, weil sie Licht und Luft hereinlassen wollte, solange der Tag Skinfaxi über den Himmel ritt.
»Rabenblick, du verstehst es immer, wie gerufen zu kommen. Ich höre gern deine weisen Ansichten, sofern du jetzt Zeit hast.«
»Und ich die deinen, Grauwolf.«
Snehild bemerkte das leise Verziehen seiner Mundwinkel; das war das Äußerste, das bei Brynjulf einem Lächeln gleichkam. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn lachen gehört. Brynjulf achtete sehr darauf, dass man ihm nicht ansah, was in ihm vorging.
»Wir müssen über Aslak reden«, sagte sie.
»Über den König können wir uns jederzeit unterhalten«, antwortete Brynjulf und setzte sich auf den zweiten Schemel. »Dazu sind wir beide da. Dazu sind wir beide Aslaks Ratgeber. Du hast mich einmal Königsmacher genannt, aber der Gesamtplan ist größer als die Macht eines Einzelnen. Es geht um Frieden und Wohlstand und um die Zukunft. Und die ist deine Domäne, Grauwolf.«
»Der Weg dorthin aber geht über Macht. Man muss die Macht verstehen, und darin bist du der beste Lehrmeister.«
Snehild legte ein paar Zweige nach und begegnete Brynjulfs Blick über dem aufflackernden Feuer. Sie wollte, dass er ihre Offenheit sah, auch wenn es sie verletzbar machte.
»Du hast nie Angst vor der Macht gehabt, Snehild. Das sah ich dir schon an, als du noch ein kleines Mädchen warst. Die Macht sollte eher Angst vor dir haben.«
Etwas in seinen Worten traf sie. Die Norne Skuld hatte einmal gesagt, dass sie die Verworfenheit schon in sich trage. Dass sie der Preis für die Macht der kalten Vernunft sei. Wenn sie ehrlich war, umarmte sie Aslak im Bett wirklich aus Liebe? Er hatte ihr Begehren mit seinen bezaubernden Worten und seiner hohen Stellung entfacht. Aber war das Liebe? Ihre Hand streifte den Wolfsschmuck um ihren Hals. Über das Stillen des Begehrens hinaus ging es doch wohl mehr um Macht. Indem sie das Bett mit Aslak teilte, bekam sie Einfluss. Das musste sie sich ehrlicherweise eingestehen.
Der Gedanke behagte ihr gar nicht.
Sie schüttelte ihn ab.
»Aslak möchte Frieden und Wohlstand«, sagte sie. »Aber er geht auf dem Weg dorthin hart vor. Vielleicht zu hart. Ich mache mir deswegen Sorgen. Die drei Köpfe auf den Stangen draußen. Das macht dem Volk nur Angst, aber keine Freude. Wir müssen ihm ausreden, Une als Feind zu betrachten. Die Blutrache seiner Schwester Berghild hätte der Abschluss der Urfehde zwischen Alflev und Himlinge sein sollen.«
»Genau was ich denke. Die Feindschaft des Bandenführers Gisli reicht bis auf Weiteres. Ich habe gerade gesehen, wie ein weiterer Mann aus Alflev verhaftet wurde.«
Sie erörterten die Angelegenheit weiter. Draußen ging der Tag zur Neige. Sie wärmten einen Topf Gerstenbrei auf, aßen und redeten weiter. Sie verständigten sich darauf, zu versuchen, Aslaks Blick auf den eigentlichen Feind zu richten, auf Gisli in Vallev im Norden. Der König war nach all den Auseinandersetzungen zwischen ihren Familien wohl kaum zu bewegen, Une auf einmal in sein Herz zu schließen, aber sie konnten wenigstens versuchen, bei Aslak Verständnis dafür zu wecken, dass Une ein loyaler Vasall im Königreich Sialand war und dass es nur das Land spalten würde, ihn als Feind zu betrachten.
»Außerdem muss er von seinen bösen Träumen in Ruhe gelassen werden«, meinte Snehild schließlich. »Sie machen ihn zu feindselig. Solange er glaubt, man wolle ihn umbringen, sieht er überall nur noch Mörder. Er traut keinem. Hegt sogar Zweifel an Hjalmar.«
»Dir vertraut er, Grauwolf. Mehr als mir. Ich war der Ratgeber seines Vaters, des vorigen Königs Rabenblick. Sogar mich beäugt Aslak manchmal mit Skepsis.«
»Ja, das Misstrauen steckt mittlerweile tief in ihm. Ich werde mein Bestes versuchen, aber an Urds Brunnen habe ich heute Morgen keine Antwort gefunden.«
Snehild dachte über den Argwohn nach, der sich tief in Aslak eingenistet hatte. Er war das eigentliche Problem. All ihre vernünftigen Argumente, Une als loyalen Verbündeten zu betrachten, würden von Aslak abprallen, solange sich die Schlange des Misstrauens in ihm regte.
Ihr Nachdenken wurde vom Lärm eines draußen aufkommenden Tumults gestört.
Brynjulf stand auf und ging zur Tür.
»Der König verlässt den Königshof«, sagte er mit der ruhigen, beherrschten Stimme, die er, so hatte Snehild gelernt, immer dann verwendete, wenn sich etwas Aufregendes anbahnte. »Und der Mann aus Alflev, den die Wächter vor kurzem verhaftet haben, kniet auf dem Platz, die Hände auf den Rücken gebunden.«
Snehild stellte sich neben Brynjulf in die offene Tür. Die Sonne ging gerade unter, und ihre letzten Strahlen beleuchteten Aslaks glatten blonden Haare und sein schönes Gesicht. Mit seinem Körper und seiner Haltung sah er aus wie ein junger Gott. Snehild beobachtete, wie er mit geradem Rücken und entschiedenen Schritten auf den Mann zuging.
»Sein Name ist Arn«, merkte Brynjulf an. »Ich erkenne ihn jetzt wieder. Er war schon in Himlinge, als wir zur Hochzeitsfeier eintrafen. Er ist noch am selben Tag mit Berghilds am Boden zerstörter Mutter Gislaug abgereist. Er ist kein unwichtiger Mann.«
Snehild versetzte es einen Stich, dass der Mann Brynjulf aufgefallen war. Sie hatte noch viel zu lernen. Sie musste sich mehr anstrengen.
»Ich erinnere mich nicht an ihn«, bekannte sie, spürte aber mit einem leisen Prickeln, dass sie ihn sehr wohl kannte.
»Es gehört zu meinen Aufgaben, so etwas zu registrieren.« Brynjulf zog die Schultern hoch. »Ich habe den Blick dafür mein Leben lang geschult.«
Aslak baute sich vor Arn auf. Hinter dem knienden Gefangenen bildeten zehn Krieger einen Halbkreis. Arn sagte etwas zum König. Der schlug ihm die Faust gegen die Stirn, dass er umfiel. Ein paar Krieger richteten ihn wieder auf.
»Komm!«, sagte Brynjulf. »Wir müssen hören, was Arn zu sagen hat. Vielleicht hat der junge Herr Une ihn geschickt.«
Snehild folgte ihm. Das prickelnde Gefühl des Wiedererkennens nahm zu; ein Wissen verbarg sich noch hinter einem Schleier: Sie kannte den Mann oder sollte ihn kennen, von irgendwoher in der Vergangenheit oder der Zukunft.
Urds Schneeflocken, zeigt mir, was geschehen ist, Skulds Frühlingsquellen fließt voran!
Schneeflocken sind es.
Über Midgards Königsort geht die Sonne unter, während ewiges Schneetreiben durch vergangene Zeiten wirbelt. Im Zwielicht sehe ich Krieger und Misstrauen und Gerichtsurteile in der einen Welt – in ihr steht mein Körper, wo unter dem ersten Abendstern am dunklen Himmel Schwerter und Tod lauern –, und ich sehe vergangene Welten, der Schnee liebt mich mit eindringlicher Wildheit. Komm, Snehild!, ruft der Schneesturm. Eine einzelne Flocke bleibt in der Luft über den Winterwiesen schweben, sie glitzert und wird größer. In ihren Kristallen sehe ich Arn von Alflev, eisige Bilder von Berghilds treuem Krieger. In heimlichen Umarmungen teilt er arglos sein Wissen mit Ragnfrid. Es ist kein besonderes, nichts Gefahrvolles, aber jegliches Wissen vergrößert Ragnfrids Macht und Möglichkeiten, und die Oberpriesterin holt alles aus ihm heraus.
Arn war Ragnfrids Liebhaber. Das enthüllen die Schneekristalle mit glitzernder Deutlichkeit, bevor sie im Treiben violettschattierter Flocken weitertanzen.
Aslak zieht sein Schwert, Schnee des Winters ist im Anzug – befinde ich mich wieder in der Gegenwart? Nornen, verwirrt mich nicht! – Arn protestiert. Er bittet um sein Leben. Aslak kennt kein Erbarmen.
Brynjulf sagt: »Une ist nicht der Feind. Alflev ist ein wichtiger Ort in Sialand. Was glaubst du, wer der Feind ist, Snehild?« Brynjulfs Stimme hält mich in Verdandis Gegenwart fest. Allmählich verblassen meine Gesichte.
Ich habe Brynjulf versprochen, Gisli zur Sprache zu bringen. Ich habe Brynjulf versprochen, Aslaks Feindseligkeit gegenüber Une zu mildern.
Über Arn schwebt das Schwert.
»Hast du eine Vision gehabt?«, fragt Aslak aufgeregt, blutdürstig, fast leidenschaftlich.
Eisbilder von Ragnfrids Lust in Arns Umarmung. Welche Wonnen ihr vergönnt waren. Ragnfrid, die meine Mutter Asdis umgebracht hat.
»Schlag ihm den Kopf ab!«, sage ich.
Blutspritzer fliegen durch den dunkelnden Himmel, von fern höre ich Lokis Lachen und der Riesen Johlen, von fern höre ich Schreie der Nornen die Luft über Yggdrasil zerreißen. Ich habe meinen Weg gewählt, und er enthält List und Rache.
Aslak hält Arns Kopf an seinem Zopf. Das Blut hat ihn, Brynjulf und mich besudelt.
»Schneide ihm auch das Glied ab, und stopfe es ihm in den Mund. Und zeige den Kopf so der Oberpriesterin«, sage ich zu Aslak und zeige auf Ragnfrid, die gerade den Platz betritt. »Frag sie nach ihren Heimlichkeiten. Frag sie, wie oft sie in seinen Armen gelegen hat.«
Am Horizont steigt blass der Mond herauf, Krieger glotzen Ragnfrid nach, die noch immer gut aussieht, Sklaven treiben Vieh in die Ställe, Herdfeuer flackern auf, vom Brunnen wird Wasser geholt, Gefäße werden für den Abend und die Nacht gefüllt.
Aslak hebt den abgeschlagenen Kopf in die Höhe, aus dessen Mund die Geschlechtsteile ein Stück heraushängen, und schwenkt es am Zopf hin und her.
Ragnfrid bleibt stehen, als habe sie der eigentümliche nächtliche Geist des Mondes getroffen.
Was habe ich getan?
Erschrocken schaue ich in mich selbst hinein. Erschrocken starre ich Arns Kopf an.
Meine Schritte auf dem Pfad des Bluts können nicht zurückgenommen werden, sosehr ich es mir auch wünsche. Verdandi sitzt unter dem Baum, singt und spinnt, und der Faden ändert während ihrer Strophe die Farbe:
Weiße Snehild,
grau wie der Wolf,
rot wie die Sonne,
wenn die Welt endet.
Ragnfrid erkannte den Kopf sofort. Ihre erste Regung war ein Erschrecken über Aslaks unberechenbare Brutalität, dann ihre Sorge, was das abgeschlagene Haupt für sie bedeuten konnte. Trauer empfand sie keine. Sie hatte Arn nie geliebt, er war lediglich ein Ersatz für Brynjulf gewesen und eine Informationsquelle für ihr Wissen über die jetzt verbannte Berghild.