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Nur sie kann das Reich noch retten: Der bildgewaltige Fantasy-Roman »Snehild – Die Seherin von Midgard« von Anne-Marie Vedsø Olesen als eBook bei dotbooks. Snehild, die während eines blutigen Kriegs zur Welt gekommen ist, wächst in der Stadt Himlinge auf. Im Alter von zwölf Jahren wird sie von immer stärkeren Visionen heimgesucht. Snehilds Mutter erkennt in ihr die Fähigkeiten einer Seherin. Zusammen mit Roald und Aslak, den Zwillingssöhnen des Königs, soll Snehild zur Runenleserin und Kämpferin ausgebildet werden. Dies erregt den Zorn von Ragnfried, der mächtigsten Seherin der Stadt, die um ihre Position fürchtet. Für Ragnfried steht fest: Snehild muss aus dem Weg geräumt werden. Koste es, was es wolle … Die Geschichte einer jungen Frau, die sich gegen übermächtige Feinde behaupten muss, um ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das große Fantasy-Highlight »Snehild – Die Seherin von Midgard« von Anne-Marie Vedsø Olesen verwebt magische Welten mit starken Frauen in der Mythologie - Fans von Rebecca Yarros werden begeistert sein! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 489
Über dieses Buch:
Snehild, die während eines blutigen Kriegs zur Welt gekommen ist, wächst in der Stadt Himlinge auf. Im Alter von zwölf Jahren wird sie von immer stärkeren Visionen heimgesucht. Snehilds Mutter erkennt in ihr die Fähigkeiten einer Seherin. Zusammen mit Roald und Aslak, den Zwillingssöhnen des Königs, soll Snehild zur Runenleserin und Kämpferin ausgebildet werden. Dies erregt den Zorn von Ragnfried, der mächtigsten Seherin der Stadt, die um ihre Position fürchtet. Für Ragnfried steht fest: Snehild muss aus dem Weg geräumt werden. Koste es, was es wolle …
Die Geschichte einer jungen Frau, die sich gegen übermächtige Feinde behaupten muss, um ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können.
»Snehild – Die Seherin von Midgard« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Die dänische Autorin Anne-Marie Vedsø Olesen gilt in ihrem Heimatland längst als Meisterin historischer und mythologischer Stoffe. Mit Snehilds Abenteuern – inspiriert von der Edda – stellt sie sich nun erstmals dem deutschen Publikum vor.
Die Website der Autorin: amvo.wordpress.com/forfatteren/
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/wwwAMVOdk/
Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/amvodk/?hl=de
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eBook-Neuausgabe August 2023
Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2023 unter dem Originaltitel » Vølvens Vej« bei SAGA Egmont, Kopenhagen.
Copyright © der dänischen Originalausgabe 2023 by Anne-Marie Vedsø Olesen
Copyright © der deutschen Originalausgabe 2023 by Anne-Marie Vedsø Olesen und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)
ISBN 978-3-98690-863-8
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Anne-Marie Vedsø Olesen
Snehild – Die Seherin von Midgard
Roman
Aus dem Dänischen von Elfriede Rabenfeder
dotbooks.
Ich erinnre mich der Riesen,
der ehedem gebornen,
die mich einst aufgezogen haben;
neun Welten gedenk ich,
neun Ästen,
des herrlichen Weltbaums
unter der Erde.
Die Weissagung der Seherin
Asdis fühlt, wie sich das Kind bewegt, dann eine Schwere, ein Drücken Richtung Erde, wie ein Saugen von den Wurzeln Yggdrasils. Die Frucht in ihrem Bauch war seit Monaten wie ein Wolfsjunges, unbändig und stark.
Jetzt will das Kleine raus. Das spürt sie. Es ist auch Zeit.
Draußen fällt Schnee. Wind ist aufgekommen, und seine Stöße rütteln an der Tür, aber der Wind findet keinen Einlass, sie hat die Hütte den ganzen Herbst über sorgsam abgedichtet.
Dann hört sie es. Erst wie eine Unruhe in der Luft, eine wirbelnde Schar Elfen, denkt sie, bevor das Geräusch so real wird, dass sie die Bedrohung erkennt.
Es ist keine Zeit zu verlieren, sie hat nie gezögert, tut es auch jetzt nicht, greift nach dem Pelzumhang und dem Messer, stürzt hinaus ins abendliche Dunkel und beginnt zu laufen.
Um sie herum Rufe, Lärm, Schreie.
Asdis läuft an Hütten vorbei, weicht bewaffneten Männern aus, sie will raus aus dem Dorf, den Waldrand erreichen. Hinter sich bemerkt sie Feuer, Knistern und Lodern von Flammen, sie hört Kriegsgeschrei und das Aufeinanderklirren von Klingen.
Ein Pfeil zischt an ihrem Kopf vorbei, aber sie schreit nicht auf und dreht sich nicht um. Zum Überleben muss man zielgerichtet und ohne Zweifel oder Gefühle handeln, das hat sie immer gewusst. In Momenten der Gefahr gibt es keinen Raum für Elfenträume.
Das Schneetreiben nimmt zu, ein dichtes, kaltes Sausen wie ein Hauch aus Niflheim, aber das ist gut, die wirbelnden Schneeflocken schützen vor Feindesblicken.
Sie bedankt sich bei dem fallenden Schnee, als sie endlich zwischen die Fichten tauchen kann.
Die Rufe hinter ihr sind leiser geworden und haben sich verändert, weniger Gebrüll von Männern, dafür mehr Schreie von Frauen.
Sie muss tiefer in den Wald hinein. Sie muss weiterlaufen, bis sie den Kampflärm nicht mehr hören kann.
Ein Schmerz durchzuckt sie, wie Feuer und Eis, wie die Ursuppe im Abgrund von Ginnungagap, die ihr jetzt die Schenkel herabläuft. Sie krümmt sich und fällt auf die Knie.
Der Schnee ist tief, ihre Hände versinken darin und werden viel zu kalt, aber sie kann noch nicht wieder aufstehen. Sie stöhnt vor Schmerzen, ihr Körper ist so gespannt wie die Bögen der Feinde, die sie noch immer in der Ferne hören kann, und sie weiß, dass sie aufstehen und weitergehen muss. Sie kann das Kind nicht hier zur Welt bringen. Sie würden beide sterben.
Aber sie hat Wehen, und sie hat bereits Fruchtwasser verloren. Viel Zeit bleibt ihr nicht, um ein geeignetes Lager zu finden.
Als die Wehe abklingt, rafft sich Asdis mühsam auf. Sie behaucht ihre Hände und wickelt sich den Pelzmantel dichter um den Leib. Er ist aus vielen kleinen Fuchspelzen zusammengenäht und hat ihr schon gute Dienste geleistet.
Der Schnee liegt schwer auf den Ästen der Fichten. Hier im Wald rieselt der Schneefall leise herab, der Wind braust oben in den Wipfeln, doch nicht hier unten auf dem Boden; mit schweren, knirschenden Schritten stapft sie durch den tiefen Schnee. Auf ihren Wimpern landen kalte Flocken und schmelzen auf ihren Wangen.
Am Fluss gibt es eine von den Fischern genutzte Schutzhütte. Bei Tageslicht würde sie sie leicht finden, aber die Dunkelheit ist von flirrenden Flocken erfüllt, und am Nachthimmel sind weder Mond noch Sterne zu sehen, die ihr den Weg zeigen könnten.
Sie fragt sich, warum die alten Riesen und die strengen Götter in dieser Nacht so rasen.
Sie muss diesen Unterstand finden. Er ist ihre einzige Hoffnung.
Das Kind drückt wieder, sie keucht, der Schnee stiebt auf sie herab. Das ist der Riese Fornjótr, der auch seine Abkömmlinge Frosti, Snæ und Wind-Kári gerufen hat. Die Welt besteht nur noch aus schneebedeckten Fichten, Schmerzen im Leib und Kälte in Händen und Füßen.
Tränen laufen ihr über die Wangen, sie möchte so gern erleben, ihr Kind in den Armen zu halten, aber sie ist keine Riesin, sie kann Fornjótrs Geschlecht nicht besiegen, den Wind, die Kälte und den Schnee. Sie verfügt nicht über göttliche Stärke. Zum ersten Mal denkt sie, es könnte ihre Todesnacht werden. Gegen das Schicksal kann man nicht ankämpfen.
Die Wehen nehmen wieder zu, sie fällt erneut auf alle viere wie ein Tier.
Ein Hund könnte sie sein, ein Rabe oder ein Wolf; sie könnte eine kleine Katze in der Wärme am Feuer sein, denkt sie und ärgert sich über sich selbst und solche Elfenträume. Sie bringen nur den Tod.
Am liebsten wäre sie ein Wolf. Der Schmerz füllt sie aus, sie ist wieder Feuer und Eis, die Qual wird unerträglich, ihr ist übel, kalter Schweiß bricht ihr aus, ihre Finger sind blau, und ihr Blick richtet sich auf den Tod, während ihr Tausende Klingen durch den Schoß schneiden.
Schneerauch hüllt sie ein, das Blickfeld flimmert, füllt sich mit dunklen Flecken, sie sieht den Tod auf einem riesigen Wolf heranreiten.
Sie heißt ihn willkommen: »Süßer Tod«, stöhnt sie, als die nächste Wehe kommt.
Die Riesin steigt vom Wolf, seine Zügel gleiten von allein zurück, sie gleichen Schlangen, sind glatte, schuppige Schlangenzügel, die sich dem Wolf um den Hals legen.
Asdis spürt eine tödliche Erschöpfung. Sie treibt Helheim entgegen, dem grauen Land der Toten, und das ist in Ordnung so, sie kann nicht mehr.
Sie greift nach der Frau.
Kräftige Arme heben sie auf.
Dann schwebt sie in Schneeflocken, in Nacht, in Nichts.
»Ruhig«, sagt die Riesin.
Asdis liegt auf einem Bündel trockenen Tannenreisigs. Der Unterstand hat nur drei Wände, und sie kann in die Dunkelheit hinaussehen. Vor dem Eingang flackert ein kleines Feuer. Der Wolf mit den Schlangen ist nicht zu sehen, nur der Schneesturm, der an Stärke noch zuzunehmen scheint. Er rauscht unablässig, aber sie liegt unter dem Windschutz. Vielleicht war der Wolf nur ein Traumgesicht.
»Bist du nicht der Tod?«, fragt Asdis und schaut in ein faltiges, von graubraunen Strähnen umrahmtes Gesicht.
»Aber nein«, grient die Frau. »Ich bin Hyrrokkin aus dem Geschlecht der Riesen. Du brauchst nichts zu fürchten. Das hier habe ich schon öfter gemacht. Ich kann jetzt den Kopf des Kindes ertasten. Gleich musst du pressen, so fest du kannst.«
Die Riesin Hyrrokkin hat Asdis’ Beine gespreizt und ihre Finger in sie eingeführt.
Das Heulen des Windes nimmt zu, und als die nächste Wehe einsetzt, kommt es Asdis vor, als würde der Wind Worte formen, die sie verstehen kann.
»Die Nornen«, stellt Hyrrokkin verwundert fest und wirft einen Blick in die Dunkelheit. Dann schaut sie wieder auf Asdis und befiehlt ihr zu pressen.
»Da, da, es sind drei!«, ruft Asdis, während sie Verzweiflung und Schmerzen aus sich herausstößt.
Die drei schemenhaften Wesen draußen ducken sich im Schneegestöber unter die Esche. Sie spürt sie und kann sie hören, dabei presst und presst sie, die Stimmen der Nornen sind der Wind selbst, ihre Worte sind Schneeflocken im Sturm, und das Kind rutscht heraus.
Die Nornen rufen gen Schneekampfs Himmel
Urd sagt:
Einäugig war dein Vater,
Du hast aus demselben Brunnen getrunken.
Verdandi sagt:
In Frostis tobendem Sturm
Findest du dein Wesen und deinen Namen, Snehild.
Skuld sagt:
Reiche und Könige werden dir Blut zu danken haben,
Wäge deine Worte, trage Eisen in deinem Herzen.
Die Nornen rufen in dreifacher Wonne:
Unsichtbar für Askrs und Emblas Geschlecht,
doch nicht für Snehild:
Die tötende Axt,
Das gebrochene Wort,
Das besudelte Land,
Der Atem des Wolfs und der Götter Verrat.
Folg deinem Pfad, du Tochter des Gesichts,
Halt fest deine Ehre, damit nicht du verschwindest,
mit der Finstersonne in Wolfes Grab.
Verdandi
Ein gerader Strich nach oben, an seiner Spitze saß etwas, das wie eine spitze Nase aussah. Snehilds Finger glitten über die Zeichen. Das nächste glich einem Haus, dessen Dach im Begriff war einzustürzen.
Asdis hatte den Stab von Brynjulf geliehen. Er war aus Buchenholz und mit eingeritzten Zeichen bedeckt. Brynjulf Rabenblick war etwas Besonderes: Er verstand sich darauf, Runen zu deuten, und er war der Erste Ratgeber des Königs. Alle fürchteten sich ein wenig vor ihm, mit Ausnahme von Asdis, die sich oft und lange mit ihm unterhielt und anschließend immer in guter Stimmung war.
Snehild begriff, was das bedeutete. Als sie klein war, hatte sie sich oft ausgemalt, wie es wohl wäre, einen Vater zu haben. Neuerdings überlegte sie, ob Brynjulf wohl ein guter Vater sein könnte. Er war klug und mächtig, allerdings zeigte er kein Interesse an der halbwüchsigen Snehild. Wenn er ihre Mutter besuchte, sah er sie weder an noch richtete er jemals das Wort an sie. Asdis meinte, Runen wohne göttliche Kraft inne. Und sie sagte, eines Tages werde Snehild Runen deuten können. Jetzt aber wolle sie als ihre Mutter das Runenlesen lernen.
»Snehild, komm!« Der Tonfall in Asdis’ Stimme war nicht misszuverstehen.
Widerwillig stand Snehild auf und ging zur Tür. Sie wollten los und Kräuter sammeln.
Als sie aus der dunklen Hütte trat, blendete sie der Spätsommer. Die Sonne schien grell, der Himmel war weiß, und auch wenn hier und da am Waldrand die ersten goldenen Herbstfarben aufflammten, hatten die meisten Bäume noch dunkelgrüne Kronen. Die Wiesen blühten wie ein Meer bunter Pflanzen, die Büsche bogen sich vor Beeren, und am Horizont dehnten sich die goldgelben Felder der Großbauern.
Sie wohnten am Rand von Himlinge, einem reichen Dorf an der Ostgrenze des Königreichs Sialand. Der Königshof von König Tormods und Königin Grids in Himlinge war weit bekannt. Händler rollten mit ihren Karren über den Marktplatz, Bauern boten ihr Wurzelgemüse feil, Jäger verkauften Pelze, und vor dem Gerber hatte sich ein Bierwirt aufgebaut und pries laut sein Gebräu an.
Sie verließen Himlinge auf der ebenen Landstraße. Asdis fragte Snehild ab, welche Heilkräuter sie um diese Jahreszeit finden könnten.
»Taubnesseln«, antwortete Snehild nach einigem Zögern. »Hirtentäschel, Große Klette.«
»Asdis, warte!«, erscholl ein Ruf hinter ihnen.
Snehild drehte sich um und sah die oberste Priesterin Ragnfrid mit raschen Schritten näher kommen.
Sie blieben stehen und warteten auf sie.
»Was kann ich für dich tun?«, erkundigte sich Asdis, als Ragnfrid sie einholte.
Snehild trat etwas beiseite. Ihr war schwindelig, und Sterne tanzten ihr vor den Augen. Es war, als sei die Luft zwischen den beiden Frauen von Blut aus einem Kampf gefärbt.
»Freyas Frieden«, grüßte Ragnfrid. »Stimmt es, dass du dich in Runen unterweisen lässt? Asgar hat gesehen, wie Brynjulf dir einen Stab gab.«
»Dinge zwischen mir und Brynjulf gehen nur die Götter etwas an«, sagte Asdis. »Bist du eifersüchtig? Ich habe gesehen, mit welchen Honigaugen du ihm nachsiehst.«
»Ich bin der Mund der Götter in Midgard«, antwortete Ragnfrid und sah aus, als müsste sie einen Wutausbruch unterdrücken. »Du weißt sehr genau, dass Runenzauber nur Auserwählten vorbehalten ist. Wie uns Priesterinnen oder Brynjulf, dem Ratgeber und Botschafter des Königs. Du bist weder das eine noch das andere, Asdis.«
Darauf gab Asdis keine Antwort und verzog keine Miene, als sie sich abwandte und Snehild rief: »Komm, Snehild, ich habe Königin Grid mehr Weidenrinde versprochen.«
Damit gingen sie und ließen die wütende Ragnfrid stehen. Snehild verstand, dass ihre Mutter die Königin mit Absicht erwähnt hatte, weil Ragnfrid versucht hatte, sie herabzusetzen. Mit der Königin bekannt zu sein verlieh Macht.
Als das Dorf hinter ihnen lag, fragte Snehild, warum sich ihre Mutter und Ragnfrid nicht ausstehen konnten.
»So ist es nun mal unter Erwachsenen.«
»Mutter, ich bin zwölf. Ich verstehe das mit Brynjulf.«
Asdis sah sie an. Eine Amsel sang, und Tausendschönchen blühten. Es schien Snehild, dass sich hinter dem sonnigen Sommertag etwas Unangenehmes verbarg, etwas, das von dem Zusammentreffen mit Ragnfrid ausgelöst worden war.
»Pestwurz«, sagte Asdis, bückte sich und riss einen rot blühenden Stengel mit der Wurzel aus. »Du erkennst sie am Geruch. Versuch, den Stengel zu brechen. Die Wurzel heilt Wunden.«
Snehild fühlte Ärger aufsteigen. Ihre Mutter wich ihr zu oft aus, und Snehild fühlte sich dann machtlos.
»Und die da?«, fuhr Asdis fort und deutete auf ein blauviolettes Blütenpolster, das Snehild bis zum Schienbein reichte. »Sag mir, was das ist!«
»Das ist Gemeine Ochsenzunge«, antwortete Snehild schnippisch. »Wird gegen Husten und Traurigkeit verwendet.«
Asdis bemerkte Snehilds unterschwellige Verärgerung.
»Du bist tüchtig geworden«, bemerkte sie sanft und musterte Snehild eingehend. »Eines Tages wird man dich auch um Rat fragen. Es dauert nicht mehr lange bis zum Herbstopfer. Du hast es dir verdient, mich zum Fest zu begleiten. Bald solltest du auch erwachsen genug dazu sein.«
Ragnfrid war unterwegs zum Dorf. Sie wollte einen neuen Dolch verwenden, und in seinen Griff mussten Runen geritzt werden. Wenn sie das Opfer vollzog, sollte er eine besondere Kraft besitzen, und sie wollte sichergehen, dass er vor dem kommenden Herbstopfer fertig würde.
Ragnfrids Haus stand am Waldrand außerhalb von Himlinge. Man hatte ihr das Haus der früheren Oberpriesterin Freydis zugewiesen, das in praktischem Abstand zum Heiligen Hain im Wald lag, und jeden Morgen begrüßte Ragnfrid bei Sonnenaufgang die Götter, bevor sie sich zum Königshof begab, um zuzuhören und Rat zu erteilen.
Wie gewöhnlich schritt sie schnell aus, denn zielloses Bummeln konnte sie nicht ausstehen, und ihr gefiel der Anblick der Bauern, die sich auf den Feldern im Westen mit dem Ernten beeilten. Alle freien Hände fassten mit an. Ein Unwetter war im Anzug. Karren rollten auf dem Weg zum Dorf, und sie sah eine kleine Truppe von König Tormods Lanzen tragenden Kriegern bei der Wachablösung vor der Palisade.
Ragnfrid dachte an den gestrigen Wortwechsel mit Asdis zurück. Sie musste unterbinden, dass Asdis den Gebrauch der Runen erlernte. Die Beherrschung der Runen war nicht für jedermann. Ragnfrid durfte nicht zulassen, dass die Macht der Priesterschaft verwässert wurde.
Seit Ragnfrid ein kleines Mädchen mit Sommersprossen und roten Zöpfen war, hatte sie davon geträumt, einmal Priesterin zu werden. Die Einzige zu sein, die den Willen der Götter verstand und sie um Hilfe bitten konnte. Schon als Kind hatte sie aufmerksam die jährliche Abfolge der Opferfeste verfolgt: Disenopfer, Siegesopfer und Elfenopfer; sie hatte den Stimmen des Waldes und des Flusses gelauscht und bei der Berührung von besonderen Steinen und Baumstämmen die Gegenwart der Götter gespürt. Sie hatte geübt, in Trance zu fallen, und sie hatte kleine Tiere wie Mäuse und Nattern gefangen und sie mit Steinen geopfert, die sie selbst scharf geschliffen hatte. Auch hatte sie sich an wirkliche Priesterinnen gehängt und sie so lange bedrängt, bis sie ihr schließlich ihre heiligen Schalensteine und den einbalsamierten Hengstschlauch zeigten. Ihre Hartnäckigkeit war aufgefallen, und am Ende hatte man sie in die Lehre genommen.
Ragnfrid kam an den Sklaven vorbei, die unter Aufsicht von Baumeister Eik rund um Himlinge Palisaden errichteten. Bald würde sie zur Schmiede und in die Nähe des Königshofs gelangen, wo Brynjulf den König beriet. Bei dem Gedanken wurde ihr warm. Sie musste ein Anliegen finden, um nach der Schmiede den Königshof aufzusuchen.
Die Runen waren nicht der einzige Grund, aus dem sie Asdis nicht leiden konnte. Sie vertrug es nicht, dass Asdis Brynjulfs Aufmerksamkeit gestohlen hatte.
Brynjulf hatte Unruhe in ihr Leben gebracht. Dreimal hatten sie sich in den Armen gelegen, und jedes Mal hatte es sich wie eine Reise über Midgard hinaus angefühlt. Sie hatte eine Ekstase erlebt, wie sie es sich nie erträumt und von der sie geglaubt hatte, sie allein in der Begegnung mit den Göttern erleben zu können, aber nicht im gewöhnlichen Beischlaf mit einem sterblichen Mann.
Sie dachte über diese Ekstase nach. Ihr Körper kribbelte, wenn sie an Brynjulf dachte, gleichzeitig weckte es in ihr Zweifel an ihren Gaben als Priesterin. Waren ihre Riten lediglich Einbildung? Reiste sie in der durch Zauber herbeigeführten Trance wirklich über die Regenbogenbrücke Bifröst nach Asgard, dem Wohnsitz der Götter? Sie war sich nicht mehr sicher.
Ragnfrid ging weiter durchs Dorf zum Schmied. Er konnte faul sein, und sie hatte sich ein paar scharfe Worte zurechtgelegt, um ihm Beine zu machen und ihn die Arbeit am Dolch vollenden zu lassen. Das Herbstopfer war von großer Bedeutung, und sie war die Hauptperson bei dessen Durchführung. Aller Augen würden auf der obersten Priesterin ruhen, die von König und Königin und auch die von Brynjulf.
Das Bild eines blonden Mädchens drängte sich in den Vordergrund. Asdis’ Tochter. Snehild hatte sie so seltsam angesehen, als könne sie sie vollständig durchschauen. Als wäre sie ein Elfenkind.
Ragnfrid wurde von Unruhe ergriffen. Dieses Mädchen hatte etwas Besonderes an sich, und sie mochte dieses Gefühl nicht. Am liebsten wäre ihr, Mutter und Tochter aus Himlinge vertreiben zu können.
Snehild griff sich noch einmal in die Haare und fühlte, ob man wohl sehen könne, dass sie sich links ein Stück abgeschnitten hatte. Zum Glück hatte sie üppiges und unbändiges Haar. Jetzt bereute sie ihre giftige Reaktion.
Sie wollten zum Herbstopfer, und Asdis hatte ihr verfilztes, helles Haar mit dem Kamm traktiert, obwohl Snehild darauf beharrt hatte, es selbst zu tun. Sie war schließlich kein kleines Kind mehr, und als Asdis ihr einmal den Rücken zukehrte, hatte Snehild in ihrer Verärgerung selbst nach der Schere gegriffen.
Glücklicherweise war ihr Zorn inzwischen verraucht, jetzt war sie nur noch voll gespannter Erwartung. Nach dem Opfer im Heiligen Hain durfte sie mit zum Fest im Königshof.
»Aber nur kurz«, hatte Asdis betont. »Die Gäste werden trinken wie Thor aus Ægirs Kessel, und du wirst dich nach Hause verkrümeln, bevor der Met sie wild macht.«
Ihre Mutter sah fantastisch aus. Rot war eine seltene und kostbare Farbe, und die Tunika von Königin Grid ließ sie vornehm und edel aussehen. Daneben sah Snehild in ihrer groben braunen Tunika wie ein gewöhnliches Dorfmädchen aus. Aber sie war sauber, und mit ihrem frisch gekämmten Haar meinte sie trotzdem eine gute Figur zu machen.
Viele hatten sich auf dem Weg vom Dorf zu dem Hain hinter den Grabhügeln gemacht. Die Herbstsonne schien zwischen Bänken dünner Wolken, der Tag war warm, und überall um sie herum erklangen fröhliche Stimmen. Die abgeernteten Felder von Sialand erstreckten sich mit goldenen Stoppeln von Gerste und Weizen nach Norden und Osten bis zum Horizont, so weit das Auge reichte, und vor ihnen im Süden stand der Buchenwald, von dem es hieß, er breite sich bis zum Fluss Tryggveld aus und jenseits davon womöglich bis zum Elfenland.
Asdis erzählte, wie sie einmal einem Menschenopfer beigewohnt hatte. Da war sie frisch nach Himlinge gezogen, Snehild war noch ganz klein gewesen und von einer Nachbarin gehütet worden. Als Kräuterkundige hatte Asdis der Priesterschaft mit einem Beruhigungstrank für das Opfer assistiert. Es hatte sich um einen jungen Mann gehandelt, dem sie eine wirksame Mischung aus Baldrian, Bilsenkraut und Mohnkapseln eingeflößt hatte. So war er ruhig seinem Tod entgegengegangen. Man hatte ihn auf den Opferstein gelegt und seine Halsschlagader geöffnet, damit das Blut in den heiligen Odinskessel floss.
»Ich hoffe, die Priester brauchen meine Hilfe nie wieder«, sagte Asdis. »Es war ein schlimmer Tag, es hat heftig geregnet, und die Menschen fürchteten sich. Aber Tormod siegte in jenem Krieg. Die Götter nahmen das Opfer an.«
Snehild überlegte, wie es sich wohl anfühlte, sich einem solchen Schicksal zu überantworten. Es hieß, das sei eine Ehre. Sie selbst würde sich nie ohne Widerstand so ausliefern. Und wenn sie dazu gezwungen würde, wollte sie keine beruhigenden Kräuter haben. Dann würde sie mit Anstand im Vollbesitz ihrer Sinne selbst in den Tod gehen.
Doch heute war ein freudiger Tag, die Jahresernte war gut ausgefallen, und zum Dank sollten nur Tiere geopfert werden.
Etwas weiter vorn ging der kleine Krimbjørn an der Hand seiner Mutter Birla. Snehild winkte ihm zu. Er guckte betreten, als sie sich den Grabhügeln in einem sumpfigen Gelände am Waldrand näherten.
Trotz ihres Altersunterschieds gehörte Krimbjørn zu Snehilds wenigen Freunden. Etwas an ihr hielt die meisten auf Abstand. Vielleicht lag es an ihrem auffällig blassen Äußeren. Sie sehe aus wie eine durchsichtige Lichtelfe, hatte Krimbjørn einmal gesagt und andächtig ihre weiße, krause Haarpracht berührt, die ihren Kopf umgab wie der Fruchtstand einer Pusteblume.
Die Grabhügel waren sieben an der Zahl, und es hieß, darin lägen die ersten Könige und Königinnen Himlinges aus früheren Zeiten bestattet, ihre Knochen verliehen der Erde Kraft, und in der Not könnten sie aus Walhall zurückgerufen werden, um den königlichen Ort vor Feinden zu schützen. Es erschien passend, dass der heilige Hain gleich in der Nähe lag.
Sie folgten dem Pfad zwischen den Hügeln hindurch, die Leute dämpften die Stimmen, und etwas Andächtiges legte sich über die Versammlung.
Ob es von dem Gedanken an die Knochen kam oder von dem bevorstehenden Opfer, jedenfalls erschien es Snehild plötzlich, als höre sie das gelbliche Gras im Wind wispern:
Ganz recht, starke Schneegeborene, mit Eisen im Herzen und Blut im Blick betrittst du Bifröst, die Regenbogenbrücke. Deine Flammenzunge spricht die Sprache der Nornen, dein Auge fandst du im Brunnen.
Die Esche, die am höchsten Punkt des größten Hügels wuchs, reckte ihre Äste in den Himmel. Ein prächtiger Regenbogen erschien, lila, grüne, rote und gelbe Bögen wölbten sich wie Himmelspfade zum Asgard der Götter empor. Schilf und Rohrkolben schwankten, sie wiegte sich mit ihnen, die fallenden Blätter der Esche blitzten wie Sternschnuppen des Tageslichts, und sie fiel, vom Himmel zur Erde, von Asgard nach Midgard.
Asdis hielt sie fest. »Lass diese Elfenträume fahren, sie tun dir nicht gut.«
Der Regenbogen war verschwunden. Die Esche reckte sich nirgends hin.
»Aber ich habe den Regenbogen gesehen«, beharrte Snehild. Es konnte unmöglich ein schlechtes Omen sein, Bifröst zu erblicken.
Sie folgten den anderen zwischen die Kiefern am Waldrand, vorbei an Gruppen schlanker Birken, und erreichten schließlich den Buchenhain.
Ragnfrid stand neben dem heiligen Stein. Ihr Gesicht war mit roten Kreisen um die Augen und weißen Streifen auf Stirn, Wangen und Kinn bemalt. Hinter ihr standen zwei Priester und zwei Priesterinnen, alle auf die gleiche Weise bemalt. Jeder von ihnen bewachte sein gefesseltes Opfertier – ein Schaf, eine Ziege, ein Schwein und ein Hund. Der Hund winselte, das Schwein riss mit großer Kraft an seinen Fesseln. Nur das Schaf und die Ziege lagen still.
Die Menschen stellten sich unter den Bäumen im Kreis auf. Der Boden war übersät mit abgefallenem Laub. Über ihnen wölbten sich die Kronen der Buchen in frühherbstlicher Pracht, die Schatten ihrer Blätter legten sich über den Hain wie eine mit Flecken von Sonnenlicht gesprenkelte Kuppel.
Die letzten Gespräche verstummten, als König Tormod und Königin Grid mit Aslak und Roald eintrafen. Man gab ihnen den Weg frei, damit sie ihre Plätze unmittelbar gegenüber Ragnfrid und den anderen Priestern einnehmen konnten.
Neugierig betrachtete Snehild die Jungen. Dass sie sie zum letzten Mal gesehen hatte, lag ein Jahr zurück, und sie waren, genau wie sie, ein ordentliches Stück gewachsen und sahen jetzt wie junge Männer aus. Aslak hatte etwas Strahlendes an sich. Er sah so hinreißend gut aus, dass man ihn fast für einen Sohn des Gottes Balder halten konnte, der als der Schönste von allen galt. Jeder in Himlinge pries Aslaks Schönheit. Sein Bruder Roald sah völlig anders aus. Er glich eher einem Bären, trat wild und angeberisch auf, und man konnte die beiden unmöglich für Zwillinge halten. Noch war nicht entschieden, wer von beiden einmal die Königswürde bekommen sollte, die Erbfolge war ein dauerhaftes Spekulationsthema in Himlinge.
Als erstes Opfer bekam Ragnfrid die Ziege auf den Stein gelegt. Mit singender Stimme rief sie die Götter an, einen nach dem anderen: Odin und Frigg, Thor und Sif, Tyr und Njörd, Balder und Freyja und zu guter Letzt, aber nicht als Geringsten, Frey. Sie trank aus einem großen Bronzekelch, hob den Dolch und weihte Frey das Tier, das sie ihm zum Dank für die Früchte des Feldes schickte.
Der Dolch senkte sich tief in die Kehle des Tieres, das Blut schoss in kurzen, pulsierenden Stößen heraus, und die danebenstehende Priesterin fing so viel wie möglich davon in einem Kessel auf.
Tormod trat an den Opferstein, und Ragnfrid zeichnete ihm mit dem Blut einen Strich auf die Stirn. Anschließend hängte man die Ziege kopfüber an einen Ast, damit auch das letzte Blut in den Kessel tropfte.
Alle jubelten. Das erste Opfer war auf den Weg gebracht.
Als Nächstes kam das Schwein an die Reihe. Als die Ziege getötet worden war, hatte es zu schreien begonnen und quiekte nun zum Steinerweichen. Es riss und zerrte an seinen Fesseln, und vier weitere Männer mussten mit anpacken, um das schreiende Tier auf dem Stein festzuhalten.
Ragnfrid ließ sich nicht beeindrucken. Mit fester Stimme bat sie Odin um Weisheit, während sie dem Schwein den Dolch in den Hals stach. Es zuckte und stieß noch einige röchelnde Schreie aus, vor denen sich manche die Ohren zuhielten, dann lag es still.
Grid trat vor und empfing ihren blutigen Strich.
Gleiches wiederholte sich mit dem Schaf und dem Hund, und diesmal waren die Zwillinge an der Reihe, die Stirn mit Blut bestrichen zu bekommen. Roalds Augen glänzten vor Aufregung, während Aslak teilnahmslos guckte. Bei dem Schaf bat Ragnfrid Thor um Sieg, beim Hund Njörd um einträglichen Handel.
Als der Hund zurechtgelegt wurde, dachte Snehild an ihren eigenen Hund Kræ, den sie geliebt und so verwöhnt hatte, dass der Kleine in der Hütte seine eigene Klapptür bekommen hatte, sodass er ein und aus gehen konnte, wie es ihm passte. Der Hund auf dem Stein winselte und wedelte gleichzeitig mit dem Schwanz. Er tat Snehild leid, und sie hätte ihn gern gestreichelt und getröstet.
Eisen im Herzen und Blut im Blick. Sie durfte nicht weich werden. Nur dem gehört die Zukunft, der an Körper und Geist stark ist, dachte sie und zwang sich, jedes Detail der Opferung zu beobachten.
Auf dem Weg zurück zum Königshof herrschte ausgelassene Stimmung. Das ganze Dorf würde bis tief in die Nacht hinein feiern.
»Die Tunika kleidet dich«, stellte Birla die Weberin fest.
Als Dank für Asdis’ Behandlung von Königin Grids Monatsschmerzen hatte das Königspaar ihr die Tunika in prunkvollem Rot verehrt. Und mit der Tunika war auch eine Einladung zur Feier des Opferfests im Königshof verbunden.
»Andere von uns müssen sich mit dem Fest auf dem Marktplatz begnügen«, sagte Birla. »Dagegen kommst du jetzt ganz nach oben. Aber das hast du auch verdient. Seit Jahren arbeitest du hart zu unser aller Wohl hier in Himlinge. Was gibst du Grid? Weidenrinde? Endlich machen die Leute es dir nicht mehr zum Vorwurf, dass du als Einzige entkommen bist, als die Gesetzlosen dein Dorf angriffen. Jetzt haben sie auch Vallev überfallen. Ich verstehe nicht, warum König Tormod nichts gegen Gisli und seine Egedalsräuber unternimmt.«
»Es gibt immer noch einige, die mich schief ansehen und glauben, ich würde lügen oder sei verrückt«, sagte Asdis.
»Das hat nichts zu bedeuten. Menschen sind nun einmal neidisch. Aber deine Geschichte war ja auch eine außergewöhnliche. Ich dachte, alle hätten sie vergessen, und du hast in den letzten Jahren auch nicht mehr davon gesprochen. Für mich spielt das keine Rolle. Man darf schlafen, mit wem man will, und dass zwischendurch einmal das Magische auftaucht und sich ein wenig Unterhaltung unter uns Sterblichen gönnt, das ist sicher richtig.«
Sie erreichten den Marktplatz. Dort standen Kessel mit Met, über offenen Feuern wurden Schweine gebraten. Die Ersten füllten ihre Becher und Trinkhörner.
Sobald sie den Markt überquert hatten, steuerte Asdis auf Brynjulf zu.
»Für den Anfang nehme ich Snehild mit«, sagte sie. »Das ist doch in Ordnung?«
Brynjulf streifte Snehild mit einem flüchtigen Blick.
»Wie alt ist sie?«
»Zwölf. Aber vernünftig für ihr Alter. Sie wird wissen, wie sie sich zu verhalten hat.«
»Vernünftig.« Er musterte sie eingehender. »Aber hat sie auch Begabung?«
»Ja«, sagte Snehild, bevor ihre Mutter antworten konnte. Endlich hatte sie eine Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen.
»Ich kenne schon sämtliche Kräuter, ich will Runen erlernen, und ich will Yggdrasils neun Welten kennenlernen. Und außerdem will ich lernen, wie man mit Waffen kämpft.«
Brynjulf starrte sie verblüfft an. Dann brach er in Lachen aus.
»Ich würde es nicht gerade vernünftig nennen, wenn du glaubst, du könntest mit deinem schmächtigen Mädchenleib ein Schwert schwingen. An Mut scheint es dir zumindest nicht zu fehlen.« Sein Lachen ebbte ab. »Nun gut, du bist ein Jahr jünger als die Zwillinge, du kannst dich zu ihnen setzen. Sie dürfen auch bis Sonnenuntergang am Fest teilnehmen. Vielleicht kannst du sie dazu bringen, dir ihre Schwerter zu zeigen.«
»Entschuldige«, sagte Snehilds rot angelaufene Mutter. »Sie ist manchmal etwas eigenwillig. Aber es stimmt schon, ich habe ihr in Aussicht gestellt, etwas über die neun Welten des Lebensbaums zu erfahren und die Kunst zu lernen, Runen zu lesen.«
»Eigenwilligkeit ist kein Nachteil«, meinte Brynjulf und betrachtete Snehild zum ersten Mal mit Interesse. »Wir werden sehen. Vielleicht ...« Er sah nachdenklich aus.
Doch sein Gedankengang wurde unterbrochen. Sie hatten den Königshof erreicht. Die Priester, die den Zug angeführt hatten, standen vor dem Tor und nahmen das Königspaar und sein zahlreiches Gefolge in Empfang. Ragnfrid hatte sich die Farbe aus dem Gesicht gewaschen und ihre roten Haare zu zwei dicken Zöpfen geflochten. Ein Herbstkranz krönte ihre Stirn. Mit strahlendem Blick kam sie auf Brynjulf zu.
Der beugte sich zu Snehilds Mutter und raunte ihr etwas zu. Sie lächelte und nickte. Mit zufriedener Miene zog sie Snehild mit sich.
Die königliche Halle war dunkel, die Luft darin abgestanden, und die Menge der Gäste ließ Snehild sich unwohl fühlen. Aus Fässern wurden Trinkhörner gefüllt, und es ging schon hoch her, obwohl sich die Leute noch nicht einmal an die Langtische gesetzt hatten.
Mutter und Tochter schritten mit der Menge zum Königspaar, und Asdis erklärte, dass es sich bei den neben ihnen Stehenden um Grids Schwester Gislaug und ihren Mann Bjørn handele. Bjørn herrschte über das Dorf Alflev südlich von Himlinge. Roald und Aslak standen hinter den Erwachsenen und äfften die Unterwürfigkeit der Besucher nach, die ihre Aufwartung machten. Roald mit einem breiten Grinsen, Aslak mit einem lebhaften, scharfen Blick, der jede Einzelheit im Wesen der Besucher zu erfassen schien.
Asdis verbeugte sich. Mit einem »Freyas Friede« grüßte sie das Königspaar und seine edlen Gäste, woraufhin Roald mit einer ebenso feierlichen Grimasse den Kopf neigte.
Snehild musste innerlich lachen und schenkte Roald ein Lächeln.
Zu ihrer Verwunderung war es König Tormod, der zurücklächelte, mit einem warmen, einnehmenden Ausdruck, als würden sie einander kennen. Aus irgendeinem Grund war ihr der Blick des Königs unangenehm.
Königin Grid sah das Lächeln ihres Mannes und warf einen kritischen Blick auf Snehild.
»Das ist also deine Tochter?«, fragte sie Asdis. »Hübsch. Sie heißt Snehild? Brynjulf Rabenblick hat vorgeschlagen, sie könne mit den Jungen an der hohen Tafel sitzen. Aber bei Sonnenuntergang haben sie zu gehen.«
Asdis dankte, und Snehild konnte ihr ansehen, wie sie sich freute. Es war eine große Auszeichnung.
»Kommt, Jungen«, rief Grid. »Begrüßt Snehild! Und dann könnt ihr sie herumführen.«
Sie verbeugten sich artig, aber Snehild sah, dass Roald sich kaum ein Grinsen verkneifen konnte.
»Lasst uns von hier verschwinden«, sagte er, »noch mehr ›Freyas Friede‹ halte ich nicht aus. Wie wäre es denn mit ›Thors Sieg‹ und ›Odins Auge‹? Was sollen wir mit diesen schlappschwänzigen Wanengöttern, wenn wir doch die Asen haben?«
Die Zwillinge führten sie durch die Halle zur Kochstelle. Aslak meinte, sie könnten der Köchin vielleicht etwas Honig oder Beerenkompott abschwatzen.
»Dann kannst du Freya sein, Roald ist Thor, und ich bin Odin.«
»Ich finde, du siehst eher wie Baldur aus«, sagte Snehild zu Aslak.
»Baldur ist ein Schlappschwanz«, meinte Roald. »Außerdem sind wir zu groß für solche Kinderspiele.«
»Baldur kann singen und dichten«, wandte sein Bruder ein.
»Sage ich doch, ein Schlappschwanz.«
»Die Macht des Wortes hast du nie begriffen«, sagte Aslak. »Und du bist zu dumm, um sie jemals zu verstehen.«
Aslaks harsche Äußerung überraschte Snehild.
Als Aslak klar wurde, dass er eine Seite von sich enthüllt hatte, die er lieber für sich behalten hätte, wurde er sofort wieder nett und freundlich.
In der Küche bekamen sie Brot mit Honig, und Roald bestand darauf, Snehild die Waffenkammer zu zeigen.
»Da wirst du es mit der Angst bekommen«, sagte er. »Es gibt da gewaltige Schwerter, richtige Kriegerschwerter. Bald werden wir groß und stark genug für sie sein.«
»Warum sollte ich mehr Angst haben als ihr?«, fragte Snehild. »Es gibt auch Kriegerinnen, und Odin hat seine Walküren. Ich habe Männer heulen gesehen wie kleine Kinder, wenn meine Mutter ihre gebrochenen Knochen zusammenflickte, und ich habe Jägerinnen gesehen, die ohne Angst ein Wildschwein angegriffen haben. Außerdem will ich lernen, wie man kämpft. Das wollte ich schon immer. Bei mir gibt es keinen Platz für Angst.«
Ihre Antwort verschlug Roald die Sprache, aber sie spürte seine Bewunderung. Er sah sie lange aus den Augenwinkeln an, als ginge ihm erst jetzt auf, wen er vor sich hatte, und als gefiele ihm, was er sah.
»Du willst also eine Kriegerin werden?« Auch Aslak betrachtete sie neugierig. »Na, vielleicht kannst du ja mit uns üben.«
Er entzündete eine Fackel am Herdfeuer und ging ihnen zur Waffenkammer voraus. Roald öffnete die massive Tür.
Das Licht der Fackel beleuchtete einen mit Waffen aller Art vollgestopften Raum: Lanzen, Äxte, Speere, Dolche, Schilde, Bögen und Pfeile und ganz hinten die kostbaren Schwerter.
»In der Regel tragen nur die wichtigsten Krieger und besondere Wachen Schwerter«, erklärte Roald und hob nicht ohne Mühe eines der schweren Eisenschwerter hoch. Dann stellte er es ab und nahm zwei kleinere Schwerter daneben. »Das hier sind unsere Übungsschwerter. Gehen wir nach draußen, damit wir dir zeigen können, wie man kämpft.«
Sie verließen die Waffenkammer und gingen zu dritt hinaus auf den Hof.
Vor der Halle standen vier Krieger mit Langschwertern. Es seien Gislaugs und Bjørns Leibwächter, erklärte Roald, die dürften während der Wache nicht trinken.
»Gislaug und Mutter trauen einander nicht«, fuhr Aslak fort. »Und Vater und Bjørn ebenso wenig. Darum haben Gislaug und Bjørn ihre Leibwache mitgebracht, obwohl es doch bloß um die Einladung zu einem Fest ging.«
Er und Roald stellten sich zum Zweikampf auf. Sie umkreisten einander, und alles Spielerische war verflogen. Sie waren zwei junge Krieger voller Angriffslust. Snehild erkannte, dass ihre Anwesenheit nicht ohne Bedeutung war, beide wollten ihr imponieren.
Die Wachen sahen mäßig interessiert zu.
Die Sonne stand tief, der Horizont färbte sich rot. Snehild wurde von Unruhe ergriffen. Wolken ballten sich zusammen, ein Windstoß fegte über den Platz. Worte und Bilder stiegen in ihr auf, gegen die sie sich nicht wehren konnte.
Zwei Brüder mit Schwertern in Händen,
zwei lebenskräftige Bäume,
eine schlanke, weiße Birke,
eine knorrige, braune Eiche.
Zäh biegt sich die Birke, die niemals bricht,
fest steht die Eiche in mächtiger Fülle,
die eine gespannt, singend im Wind,
die andere wild, tötend im Kampf,
der Sieg fällt beiden zu,
gewiss ist der Untergang.
»Snehild«, rief Roald. Sein Ruf riss sie aus ihrem Schicksalssumpf.
Sie hatten ihr nichts angemerkt. Das Ganze hatte offenbar nur so lange gedauert wie ein Augenzwinkern.
Roald reichte ihr ein Übungsschwert und erklärte, die Schneide sei nicht ganz so scharf wie bei einem richtigen Schwert, aber blaue Flecken könne es einem schon schlagen.
Sie ergriff das Schwert, obwohl sie innerlich schauderte. Als sie es in die Hand nahm, hatte sie eine Ahnung vom Weg des Todes beschlichen.
»Du bist eine Mischung von uns beiden«, sagte Aslak, als er sich zu einem Gefecht mit ihr in Position stellte. »Kannst du das nicht sehen? Dein Haar zeigt es doch: Es ist hell wie mein feines und dick und üppig wie Roalds. Ich glaube, du bist auch in deinem Wesen wie wir.«
Dazu lächelte er. Im selben Moment schlug er ihr so fest das Schwert aus der Hand, dass der Schmerz durch ihren ganzen Arm zuckte. Er behielt sein Lächeln auch bei, als sie vor Schmerz aufstöhnte, ein scheinbar unschuldiges Lächeln, das sie zugleich anzog und abstieß.
Baumeister Eik war für seine Platzierung an der langen Tafel dankbar. Die kräuterkundige, gutaussehende Asdis saß neben ihm, und da seine Frau und sein Kind noch immer nicht nach Himlinge geholt worden waren, hatte er seit langem nicht mehr die Gesellschaft einer Frau genossen. Asdis war zudem eine gescheite Frau. Sie hörte seinen Erläuterungen zu Palisaden und Mauerwerk interessiert zu und stellte kluge Fragen zu seinen Ansichten zum Schiffsbau. Er verstand nicht, warum man sich in Himlinge über sie lustig machte. Er hatte die mystische Geschichte über die Empfängnis ihrer Tochter gehört, und vielleicht erzählte sie ein solches Lügenmärchen, um sich interessant zu machen, aber wenigstens handelte es sich um eine fantasievolle Lüge, was eine gewisse Begabung voraussetzte.
»Himlinge kann sich glücklich schätzen, dich hier zu haben«, sagte Asdis. »Deine Mauer schützt uns vor den Egedalsräubern. Es heißt, ihr Anführer Gisli ziehe immer mehr Gesetzlose an sich und habe bald ein ganzes Heer zusammen.«
»Wenn ich erst fertig bin, wird Himlinge sicher sein. Die Palisaden sind schnell aufgerichtet, und wenn erst einmal die Steinmauer steht, wird Himlinge uneinnehmbar sein. Aber wir werden noch sehr viel mehr Steine benötigen. Wo ich herkomme, gibt es mehrere Steinbrüche. Hier brauchte ich einige Zeit, um eine geeignete Stelle zu finden.«
»Ich höre, dass du von Burgundarholm kommen sollst und der dortige Herrscher dich sehr geschätzt habe.«
»König Tormod hat mir einen noch größeren Schatz versprochen«, erwiderte Eik trocken. Und das traf zu. König Tormod hatte zunächst mit Gold und Silber, mit Waffen und mit Land um Eik geworben, doch das alles besaß Eik auf Burgundarholm bereits, wo man nicht auf seine Fähigkeiten als hervorragender Schiffsbauer verzichten konnte. Doch eins konnte Eik bei Tormod erreichen, das ganz Burgundarholm ihm nicht bieten konnte: dass Eiks Nachkommen einmal das Königreich Sialand erben sollten. Eik hatte ein Eheversprechen zwischen seiner Tochter Eldbjørg und einem von Tormods Zwillingen gefordert und es auch erhalten. Bis auf Weiteres war die Verabredung noch geheim. Doch sobald auch die steinerne Mauer um Himlinge vollendet wäre, sollte die Verlobung öffentlich bekanntgegeben werden. Zuerst das schnell aufgeführte Palisadenwerk, anschließend eine solide Mauer, und dann sollte Eik zur königlichen Familie gehören.
»Derzeit begeben sich viele von Burgundarholm auf Reisen«, musste er Asdis fast zurufen, weil der Lärm von Geschrei und Gesang so zugenommen hatte, dass man sich nur schwer verständigen konnte. »Sie versuchen ihr Glück und segeln nach Süden. Aber Himlinge hörte sich verlockend an.« Dazu grinste er, legte seine Hand auf Asdis’ Schenkel und schob sie höher in ihren Schritt.
Asdis tat das Gleiche bei ihm, und mit der Selbstzufriedenheit eines Betrunkenen beglückwünschte er sich selbst zu seinem guten Händchen im Umgang mit Frauen.
Dann durchschoss ihn ein Schmerz, ihm wurde schlecht, und das wollüstige Stöhnen, das er schon von sich geben wollte, wurde zu einem Aufheulen. Das Weib hatte ihn an den Eiern. Dann stieß er einen weiteren Schmerzensschrei aus, als ein Stich seinen Schenkel traf.
Asdis zog ihren Dolch wieder heraus und wischte seine blutige Klinge ungerührt am Ärmel der roten Tunika ab. Die Umsitzenden platzten vor Lachen.
Eik fluchte und fasste sich an den Oberschenkel. Er war feucht von sickerndem Blut.
»Die Farbe der Tunika ist praktisch, sehe ich jetzt«, stellte Asdis fest und trank einen Schluck aus ihrem Becher.
Die Tischgenossen johlten nur noch mehr, tranken Asdis zu und knallten ihre Becher auf die Tischplatte.
»So beißt eine Wölfin!«, rief einer.
»So macht es eine Walküre!«, rief ein anderer.
Eik warf Asdis einen scheelen Blick zu und sah sich nach etwas um, womit er sein Bein verbinden konnte. Schließlich riss er von seinem Rock einen Streifen Stoff ab und stoppte die Blutung.
Brynjulf kam an ihren Tisch. Eik hatte längst mitbekommen, dass Brynjulf Rabenblick König Tormods einflussreichster Ratgeber war, und als Brynjulf nun Asdis eine Hand auf die Schulter legte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, ärgerte Eik sich nur noch mehr über seinen Annäherungsversuch.
Es sollte doch auch andere Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts geben, an denen er seine Lust stillen konnte.
Er sah sich um. Er war auf eine angenehm hochgestimmte Art betrunken, der Met dämpfte den Schmerz in seinem verwundeten Bein, und ging es beim Herbstopfer etwa nicht genau darum, dachte er, während sein Blick die erhöhte Tafel streifte, an der Grid und Tormod Met aus fremdländischen ornamentverzierten Glaspokalen tranken. Solche Gegenstände kamen von einem Volk weit im Süden und waren Zeichen großen Reichtums, das wusste er.
Sein Blick landete auf der rothaarigen Oberpriesterin, die aus einem teuren Silberbecher trank und eine Kette aus grünen Steinen trug. Sie sah blendend aus, und als sie in seine Richtung blickte, lächelte er ihr sogleich zu. Dann stellte er fest, dass sie nicht ihn beobachtete.
Jegliche Lust verließ ihn. Ragnfrids ganze Aufmerksamkeit war auf Brynjulf Rabenblick und Asdis gerichtet, und Eik erkannte sofort, welch gefährliche Eifersucht in ihr tobte.
Mehr Met, weniger Frauen, beschloss er und erhob sich leicht schwindelig, um seinen Becher in das Fass am Eingang zu tauchen.
Er füllte das Gefäß und nahm ein paar Schlucke. Die Luft in der Halle war nun sehr warm und stickig von Qualm und Schweiß, der Lärm pochte in seinem Schädel. Er brauchte frische Luft, dachte er und schlüpfte ins Freie.
Inzwischen war die Sonne untergegangen, Abenddämmerung lag über dem Platz vor der Halle, und es war kühl geworden. Eik schwankte zu einigen Fässern, die stabil genug zum Anlehnen aussahen. Man ahnte das erste, schwache Sternengeflimmer, und der Mond stand blass am dunkelnden Himmel.
Eik blickte hinauf und grinste. Wenn er wollte, könnte er auch den Mond haben, er war der tüchtigste Baumeister in ganz Midgard, und kein Königreich konnte auf ihn verzichten. Tormod schuldete ihm jetzt seinen Thron – oder wenigstens einen Schwiegersohn, sobald er ihm seine Mauer gebaut hatte. Das Versprechen eines Königs war das mächtigste, auf diesem Fundament lebten sie alle. Die Versprechen von Göttern und Königen sollten den Weg zeigen, so wie Eiks Mauer Frieden schaffen sollte.
Er war übers Meer gefahren, um in Tormods fruchtbares Bauernland zu kommen, aber jetzt vermisste er seine Felsinsel, die Küsten und das Salzwasser. Hier gab es Seen und Moore, Wälder und Felder, doch vor allem war Sialand platt wie eine Flunder. Vom Meer war er in den großen Fluss Tryggveld eingelaufen. Erst später hatte er erfahren, dass nur die tüchtigsten und erfahrensten Seeleute diesen Fluss zu befahren wagten. Das auf dem rechten Ufer sich zum Meer erstreckende Land galt als verzaubert und gefährlich.
Eik hatte die Fässer fast erreicht und betrachtete noch immer den Mond, als sein Fuß gegen etwas Schweres stieß. Er blickte zu Boden und sah ein Bein zwischen den Fässern hervorsehen.
»Noch so ein Schafskopf, der glaubt, wie ein Riese saufen zu können«, murrte er und versetzte dem Bein einen leichten Tritt. Was für ein Schwächling, so wenig zu vertragen!
Dann riss er die Augen auf: Zwischen den Fässern lagen nicht weniger als vier Männer. Alle wie Krieger gekleidet, und sie waren mausetot. Eik sah, dass zweien von ihnen die Kehle durchgeschnitten worden war.
Aslak, Roald und Snehild hatten sich unter ein Vordach bei der Schmiede gesetzt. Von dem Aufeinandereindreschen mit den Übungsschwertern waren sie auf eine angenehme Art ermattet. Aslak erzählte von den Versuchen des Schmieds, anstelle der üblichen Schwerter mit nur einer scharf geschliffenen Seite solche mit zweischneidigen Klingen herzustellen.
»Dann bräuchte man nicht mehr darauf zu achten, mit der richtigen Seite zuzuschlagen«, meinte Aslak. »Es kommt mehr darauf an, einen guten Schmied zu haben, als stark zu sein. Weiterentwicklung ist das Wichtigste.«
»Entwicklung ist nichts ohne Kraft«, wandte Roald ein.
Die beiden Brüder starrten sich an. Keiner wandte den Blick ab. Snehild bemerkte ihr stummes Duell.
»Wer von euch ist eigentlich der Ältere?«, fragte sie vor allem, um das Schweigen zu durchbrechen.
Aslak und Roald schwiegen.
»Das weiß keiner«, sagte Roald schließlich. Er wirkte unangenehm berührt.
»Wir sprechen nicht mehr davon«, sagte Aslak mit Nachdruck und sah Snehild an, als er fortfuhr: »In unserer Familie spricht man nicht gern über komplizierte Dinge.«
Roald nickte. »Die Nacht unserer Geburt war, so heißt es, sehr schwer für unsere Mutter. Sie wäre fast gestorben. Und als wir endlich kamen, ging es sehr schnell. Man hatte alle Hände voll zu tun, ihre Blutung zu stillen, und als es endlich gelang, wusste keiner, wer von uns als Erster herausgekommen war.«
Sie sahen Snehild abwartend an.
»Wer von euch wird der Thronfolger?«
Aslak hob die Arme und entblößte eine Narbe an einem Unterarm. Roald strich über dem rechten Ohr sein Haar zurück und zeigte ein fehlendes Ohrläppchen.
»Deshalb sprechen wir nicht mehr davon«, grinste er.
»Irgendwann wird der Kampf ernst werden«, sagte Aslak. Er lächelte nicht.
»Tja, ich würde mich nicht zwischen euch entscheiden können«, meinte Snehild mit einem schiefen Lächeln und sah, wie ihre Gesichter aufleuchteten.
Roald lehnte sich an einen Pfosten, und Aslak brachte das Gespräch auf Reitpferde und eine neue Pferderasse, von der Tormod gerüchteweise gehört habe.
Aus dem Schatten des Vordachs sahen sie am Horizont die Sonne untergehen. Sie wussten, das bedeutete, sie würden das Fest bald verlassen müssen, wozu keiner von ihnen Lust hatte. Obwohl sie nicht einmal zum Essen in der großen Halle gekommen waren, hatten sie Spaß zusammen gehabt. Snehild spürte deutlich eine Anziehungskraft zwischen sich und den Brüdern, eine belebende Spannung, die sie vorher nicht gekannt hatte.
Auf der anderen Seite des Platzes standen Gislaugs und Bjørns vier Leibwächter bei den Fässern und sahen gelangweilt aus.
Roald wies darauf hin, wie stark man sein müsse, um solche Schwerter zu führen, wie sie die vier Männer trugen. Man muss seine Muskeln trainieren, sagte er und zeigte Snehild, wie man Liegestütze machte.
Sie probierte es. Aber es war zu schwer, sie kam nicht wieder in die Höhe, ihr Rücken bog sich, und Roald lachte. Sie nahm sich vor, zuhause zu üben. Sie wollte kein Schwächling sein.
Aus der Halle kam eine Gruppe Männer. Sie sahen betrunken aus, lachten, schwankten und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern.
Aslak meinte, er sei froh, dass sie dem Rest des Opferfests nicht mehr beiwohnen sollten. Er verachtete es, sich zu besaufen. Man verlor dabei die Kontrolle und damit die Macht. »Seht ihr den Käfer da?« Er zeigte auf einen Mistkäfer, der neben ihm über den Boden krabbelte. »Ich habe die Macht, ihn totzuschlagen, aber nicht, wenn ich besoffen bin. Dann riskiere ich, danebenzuschlagen.« Er hämmerte eine Faust auf den Käfer.
Snehild schaute zu den Männern hinüber. Irgendetwas stimmte nicht an der Art, wie sie sich scheinbar zufällig auf die Fässer zubewegten, auf denen die Leibwächter standen.
Und plötzlich fiel eine völlig nüchterne Bande über die Wächter her. Sie waren sechs gegen vier und hatten heimlich bereits ihre Messer gezückt, die nun im Schein der letzten Sonnenstrahlen aufblitzten.
Schreie wurden laut, die Leibwächter wollten ihre Schwerter ziehen, doch die Angreifer waren zu schnell. Einem schlitzten sie die Kehle von einem Ohr zum andern auf, sodass der Kopf in einem rot spritzenden Lächeln nach hinten fiel, ein anderer erhielt einen Messerstich in die Luftröhre, rote Luftblasen liefen ihm den Hals hinab.
Roald sprang auf und wollte hinlaufen.
»Bleib hier, du Schwachkopf!«, zischte Aslak. Er und Snehild erhoben sich.
»Aber das ist doch ein feiger Angriff aus dem Hinterhalt!«, sagte Roald.
»Siehst du denn nicht, dass das Vaters Männer sind? Der da ganz hinten ist Hjalmar. Da werden wir uns nicht einmischen. Das ist Politik.« Aslak zog Roald wieder in den Schutz des Vordachs zurück. Hjalmar und ein weiterer Mann stürzten sich auf den dritten Leibwächter. Mit einer kräftigen Aufwärtsbewegung schlitzte Hjalmar ihm den Bauch auf, sodass die Eingeweide aus dem Schnitt quollen. Der Mann versuchte, sie mit beiden Händen drinnen zu halten, was dem zweiten Angreifer die Chance gab, dem Leibwächter ohne Gegenwehr sein Messer in den Nacken zu rammen. Der Wächter fiel tot zu Boden.
Der vierte und letzte der Leibwächter schaffte es, sein Schwert zu ziehen und einen einzigen Hieb auszuteilen, bevor er gleichzeitig Stiche in Rücken und Bauch erhielt. Der Mann fiel hin, und Hjalmar beugte sich über ihn und schnitt ihm sicherheitshalber in einer ruhigen Bewegung den Hals durch.
Roald schüttelte den Kopf. »Was sollen wir tun?«, fragte er leise.
Snehild sah die Zwillinge an. Auf der anderen Seite des Platzes verschwanden die sechs Mörder wieder in der Festhalle. Snehild ging langsam auf, was für ein Plan hier ablief.
»Begreift ihr nicht, dass das hier erst der Anfang ist?«, fragte sie.
»Die Leibwächter wurden aus dem Weg geräumt, damit man umso leichter an Gislaug und Bjørn herankommt. Gleich werden sich auch in der Halle Gewalttätigkeiten abspielen. Ich möchte sehen, was da vor sich geht.«
Kurz dachte sie an ihre Mutter, die sich noch drinnen in der Halle aufhielt. Aber sie durfte kaum gefährdet sein.
»Richtig«, sagte Aslak, »jetzt können wir etwas lernen. Ich möchte auch da rein. Snehild und ich denken auf dieselbe Weise.«
Etwas an Aslaks Ruhe irritierte Snehild. Er war wie ein Stein, eine stille, unumgängliche Kraft, in Schönheit verpackt. In dem Moment wusste sie nicht, ob sie ihn bewundern oder fürchten sollte. Vielleicht beides. Er hatte gesagt, dass sie auf dieselbe Weise dächten.
Roald sah es auch so. Auch er fürchtete sich nicht, aber ihn erfüllte eine innere Unruhe, ein Drang zu physischem Handeln. Er hatte bereits sein Schwert gezogen und ging auf die Halle des Königshofs zu.
Aslak und Snehild sahen sich an. Dann folgten sie ihm in stummem Einvernehmen über den Platz und öffneten die Tür zur Festhalle.
Blutrache hat immer einen auslösenden Ursprung, und Brynjulf Rabenblick, klüger als die meisten, erkannte die Bedeutung dieses Moments. Er hatte das Ganze gründlich durchdacht, Für und Wider abgewogen, und auch wenn der Plan König Tormod keine Sorgen bereitete, wusste Brynjulf, dass es um eine Entscheidung ging, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Die Folgen könnten sie noch viele Jahre später einholen.
Tormod wollte Bjørn tot sehen. Und Brynjulf wusste, dass es Punkte gab, an denen man eine Wahl treffen und dann auch zu ihr stehen musste.
Folglich wurden Gislaug und Bjørn eingeladen, und Hjalmar und seine Krieger wetzten die Messer. Bjørn hatte schon viel zu lange eine Bedrohung für Tormods Königtum dargestellt.
Die Halle sollte der Ort sein, an dem sie ihr Schicksal ereilte, das Opferfest ihr Tanz mit den Nornen. Alles, was sich daraus ergab, wussten nur die Götter. Brynjulf streifte der Gedanke, dass sie an Tormods Hof gut eine Seherin gebrauchen konnten. Vor so entscheidenden Taten wie der jetzt bevorstehenden, sollte man vorher einen Seher befragen. Kein Totschlag ohne Blutrache. Sah Tormod das nicht? Doch Seherinnen waren rar gesät, in Sialand hatte es noch nie eine gegeben.
Hjalmar und seine Männer traten durch die Tür. Brynjulf erwiderte Hjalmars bestätigendes Nicken. Dann setzte er sich von Asdis in Richtung der erhöhten Tafel in Bewegung. Er fand es gut, sie gewarnt zu haben. Er mochte sie, mehr als die meisten anderen Frauen. Jetzt musste die Angelegenheit nur noch durchgestanden werden.
Die hölzerne Halle dröhnte von Lachen und Geschrei, verschwitzte Männer und Frauen grapschten nach einander, nach Brocken von Schweinefleisch und nach Metbechern. Der Flötenspieler brachte sogar einen der Großbauern dazu, auf den Tisch zu klettern und zu tanzen, wozu seine Kumpane den Takt auf die Tischplatte klopften.
Brynjulf erreichte die Tafel. Tormod erhob sich. Er stand neben Bjørn, auf dessen anderer Seite seine Gemahlin Gislaug saß. Bjørn war betrunken und merkte kaum, dass der König ihn verließ.
Aber es kam nicht so, wie Brynjulf es geplant hatte, und er musste lernen, den Willen des Schicksals demütig anzuerkennen.
Hjalmar und seine Männer zückten die Messer. Bjørn und Gislaug sprangen auf, als sie die Krieger mit den blanken Klingen erblickten, und Bjørn rief nach seiner Leibwache.
Doch Tormod hielt Hjalmar auf.
Er wollte es nicht, nicht auf die Art, auch wenn Brynjulf meinte, er habe dem König vorab dargelegt, wie es vor sich gehen sollte. Ein so heimtückischer Überfall sei eines Königs unwürdig, war jetzt Tormods Meinung dazu.
»Ihr rührt meine Schwester nicht an«, rief Königin Grid.
Tormod zog sein Schwert.
»Bjørn, Herr über Alflev«, sagte er, »heute Abend wirst du sterben.«
Es wurde still in der Halle. Bjørn versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er hatte sehr viel Met getrunken.
»Du willst das Königtum an dich reißen«, fuhr Tormod fort, »du willst Sialand spalten. Aber du sollst nicht wie ein Lump sterben. Ich schicke dich eigenhändig nach Walhall. Gebt ihm ein Schwert!«
Hjalmar warf Brynjulf einen ratlosen Blick zu. Der konnte lediglich nicken. »Haltet währenddessen Gislaug fest«, befahl er.
Als Bjørn ein Schwert entgegennahm, brach das Schweigen. Die Leute johlten und wichen aus der Mitte der Halle zurück, um Platz für die beiden Kämpfer zu machen. Natürlich feuerten sie ihren eigenen König, Tormod, an, doch war es auch eine großartige Unterhaltung, zuzusehen, wie zwei Herrscher sich gegenseitig totschlugen. Das versprach ein Herbstopfer zu werden, von dem man noch lange singen sollte.
Brynjulf überlegte blitzschnell, obwohl es vieles zu bedenken gab. Der Ausgang war ungewiss, auch wenn der Umstand, dass Tormod nüchtern und Bjørn betrunken war, Tormod einen Vorteil verschaffen sollte.
Brynjulf verabscheute diese Art von Ungewissheit. Jetzt musste jeder erdenkliche Ausgang erwogen und alle möglichen Folgen bedacht werden, damit er je nach Ausgang die angemessenen Maßnahmen ergreifen konnte.
Sollte Tormod fallen, durfte Bjørn nicht am Leben bleiben. Das musste er Hjalmar so schnell wie möglich signalisieren. Außerdem musste er sich für einen der beiden Zwillinge als Thronfolger entscheiden.
Sollte Bjørn im Zweikampf getötet werden, wäre alles gut, abgesehen davon, dass Grid ihre Schwester Gislaug retten wollte. Konnte man Gislaug nach Alflev zurückschicken? Was war mit ihrem Sohn und ihren beiden Töchtern? Würden sie nicht Blutrache fordern, besonders jetzt, wo Tormod persönlich den Totschlag übernehmen wollte. Wie alt war ihr Sohn Une eigentlich?
Mehr Zeit zum Überlegen blieb Brynjulf nicht. Laute Schreie und das Klirren aufeinanderprallender Schwerter zogen seine Aufmerksamkeit auf sich.
Tormod und Bjørn umkreisten einander. Tormod mit sicheren Bewegungen und einem Ausdruck von Überlegenheit. Brynjulf musste anerkennen, dass es ihm jetzt zugutekam, ein so tüchtiger Kämpfer zu sein.
Bjørn war auch kein schlechter. Er war kleiner als Tormod, aber kompakt und muskulös. Außerdem war er gereizt, was ihn gefährlicher machte. Er hatte nun den Verrat durchschaut, der hinter der Einladung zum Fest steckte.
Als Tormod sein Schwert für einen weiteren Schlag hob, erkannte Bjørn die Gelegenheit für einen Stich in Tormods Bauch. Tormod wich aus, und Bjørns Schwert streifte seinen Schenkel. Ein Streifen Blut erschien. Die Zuschauer feuerten Tormod an.
Für Brynjulf fühlte es sich an, als bliebe die Zeit stehen. Er verstand dieses Gefühl nicht, doch alles schien zu stocken, und für einen Augenblick dachte er, er sei vielleicht tot und beobachte das Ganze schon aus Walhall. Oder Midgard sei in Niflheim eingefroren. Doch um ihn herum war es warm und lebendig, Rufe und Blicke flogen hin und her, Schwerter schlugen aufeinander, und er sah die Schwestern Grid und Gislaug, die besorgt dem Zweikampf zusahen. Gislaug wurde noch immer von Hjalmars Männern festgehalten. Eine der beiden Schwestern würde an diesem Abend zur Witwe.
Neue Schreie wurden laut, zuerst ängstliche, dann wütende, am Ende Gelächter.
Brynjulf machte sich Gedanken. Nicht nur über das gerade stattfindende Duell. Grundlegenderes stand auf dem Spiel: Wie konnte ein Königreich die eigene Zukunft von betrunkenen Männern und ihren Vorstellungen von Ehre und Rache abhängig machen? Wollten die Asen, dass die Menschen Midgard auf diese Weise einrichteten? War es vielleicht die Art, auf die Odin Asgard regierte? Odin hatte sich an der Weltesche geopfert, um Runenwissen zu erlangen. Odin hatte Mimir ein Auge geopfert, um aus dem Brunnen der Weisheit trinken zu dürfen. Odins Raben flogen über die Welt und kehrten mit Informationen und Wissen zurück. Brynjulf betrachtete sich selbst als einen solchen Raben. Er war Sialands Rabe, Brynjulf Rabenblick. Er sah, er berichtete, und er beriet den König. All das stand jetzt auf dem Spiel.
Jubel und Gebrüll brandeten auf. Brynjulf wandte seinen Blick wieder den Kämpfenden zu. Wie erwartet, hatte Tormod die Oberhand erlangt. Später einmal, nach dem Kampf, würde Brynjulf für mehr Weisheit am Hof sorgen: mehr gelehrte Ratgeber und eine Seherin. Er durfte nicht zulassen, dass Entscheidungen weiterhin aufgrund solcher barbarischer Zufällen getroffen wurden.
Bjørn schwitzte und keuchte, Blut kam aus einer Bauchwunde.
Tormod hob erneut sein Schwert, und nach einem kräftigen Ausholen trennte er Bjørns Schwertarm gleich unterhalb der Schulter ab.
Blut schoss aus dem Stumpf, und unter großem Jubel stürzte Bjørn zu Boden.
»Töte ihn! Töte ihn!«, forderten die Zuschauer.
Bjørn verlor durch den Blutverlust schon das Bewusstsein. Tormod sah auf ihn herab.
»Geh nach Walhall«, sagte Tormod und schlug ihm den Kopf ab.
Gislaug schrie auf. Es war kein ängstlicher oder klagender Schrei, sondern ein Laut tiefer Wut. Brynjulf wusste, dass Tormod soeben ein gefährlicher Feind erstanden war.