So schön still - Eva Lohmann - E-Book

So schön still E-Book

Eva Lohmann

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Beschreibung

Wie ein Reh auf einem Rockkonzert ... - so beschreibt Eva Lohmann das Gefühl, sich als leises Kind in dieser Welt zu bewegen. Anhand ihrer eigenen Geschichte erzählt sie, wie anstrengend das manchmal sein kann. Aber auch, wie tiefgründig und nachdenklich, kreativ und sensibel introvertierte Kinder sind. So schön still nimmt Eltern die Sorge, ihre ruhigen Kinder könnten in dieser lauten Welt übersehen werden. Es erklärt, was hinter der Sehnsucht nach Stille steckt und wie man seinem Kind Schutzräume bauen kann. Im Kindergarten, in der Schule und im Familienalltag.  Und wenn stille Menschen selbst Eltern werden? Dann haben auch sie ein Recht auf Ruhe. Lohmann zeigt Wege auf, dieses Recht liebevoll durchzusetzen, ohne dass der Rest der Familie dabei auf der Strecke bleibt. Ein Buch für alle leisen Menschen in dieser lauten Welt.

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Seitenzahl: 263

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Eva Lohmann

So schön still

Die Stärke introvertierter Kinder und Eltern

 

 

 

Über dieses Buch

Wie ein Reh auf dem Rockkonzert – so beschreibt Eva Lohmann das Gefühl, ein stiller Mensch in einer lauten Familie zu sein. Wie funktioniert der Alltag in einer Familie, wenn einer Ruhe braucht und der andere Input? Was kann man Eltern sagen, die sich sorgen, ihre stillen Kinder könnten in unserer extrovertierten Gesellschaft untergehen? Und was dem Partner, der sich, sobald die Kinder im Bett sind, unterhalten will, während man sich selbst nur noch mit Buch aufs Sofa flüchten möchte?

Introvertierte sind oft sehr tiefgründige, nachdenkliche Menschen, gute Zuhörer und noch bessere Beobachter. Zuverlässig und kreativ. Aber sie brauchen Schutzräume und die Ermutigung, so sein zu dürfen, wie sie sind. Und sie müssen Strategien erlernen, sich als stille Menschen in dieser Welt zurechtzufinden.

Wie das funktionieren kann, zeigt Eva Lohmann anhand ihrer eigenen Geschichte als Introvertierte, mithilfe von Expert*inneninterviews und vielen wissenschaftlichen Hintergrundinformationen.

Vita

Eva Lohmann, Jahrgang 1981, lebt mit ihrer Familie in Hamburg, wo sie zunächst als Inneneinrichterin und Werbetexterin arbeitete, bevor sie freie Buchautorin und Redakteurin wurde. Ihr autobiografisches Debüt «Acht Wochen verrückt» über den Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste; 2012 folgte der Roman «Kuckucksmädchen». Eva Lohmann schreibt für verschiedene Magazine über Familienthemen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung und -abbildung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00994-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Vorwort: Mehr Annika als Pippi Langstrumpf

Erster Teil. Das introvertierte Kind

Ein fast normales Kind

Stillere Kinder in unserer heutigen Gesellschaft

Freunde, Familie und ein paar Buchtipps

Das introvertierte Kind in Kindergarten und Schule

Das introvertierte Kind und seine Interessen

Was wird aus meinem Kind?

Zweiter Teil. Für introvertierte Eltern

Mein Kind und ich – so verliebt und so genervt

Bedürfnisse und Grenzen introvertierter Eltern

Hilfreiche Routinen

Den Familienalltag gut bewältigen

Noch mehr Tipps, um Ressourcen zu sparen

Was ich an der Zeit allein so liebe

Fremde Kinder, ihre Eltern – und ich

Nachwort: Keine Elsa – und trotzdem geliebt

Danke

Quellen

Für meine Tochter

Introvertiert zu sein bedeutet nicht, schüchtern zu sein.

Es bedeutet, dass du es genießt, allein zu sein.

Du genießt es nicht nur, du brauchst es.

Wenn du wirklich introvertiert bist, sind andere Menschen für dich wie Energie-Vampire: Du hasst sie nicht, aber du musst genau planen, wann du dich ihnen aussetzt – wie der Sonne.

 

Amy Schumer

Vorwort: Mehr Annika als Pippi Langstrumpf

Die Idee zu diesem Buch kam vor ein paar Jahren mit einer Postkarte. Darauf ein Bild von Pippi Langstrumpf und die Worte: «Sei wild und frech und wunderbar.» Eine Zeit lang hing diese Karte über meinem Schreibtisch. Zunächst beachtete ich sie nicht weiter. Bis ich irgendwann merkte, dass ich immer leicht genervt war, wenn ich zufällig einmal darauf schaute. Irgendetwas an dieser Karte störte mich. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich darauf kam, was genau es war: nicht das sommersprossige, lächelnde Bild von Pippi selbst, sondern die Worte darunter. Diese Aufforderung, wie man – ich – sein sollte. Wild und frech. Und dadurch wunderbar? Ich schmiss die Karte in den Papierkorb.

In den folgenden Jahren begegnete sie mir immer wieder: an Postkartendrehständern, Kühlschränken und auch in Kinderzimmern. Es ist eine gern gekaufte und oft verschenkte Karte. Die Gesellschaft scheint sich wilde, freche Kinder zu wünschen, so wie Pippi eines ist. Und sie lässt die Kinder das auch wissen. Aber was ist mit den Annikas dieser Welt? Der stillen, in sich gekehrten Freundin von Pippi? Was ist mit den Kindern, die die Ruhe lieben, stundenlang Bücher lesen, lieber gedanklich als wirklich auf Abenteuerreise gehen – und bei Kindergeburtstagen mitunter ein bisschen verloren wirken? Sind die zu leise, zu zurückhaltend, um wunderbar zu sein? Die Frage verhakte sich in meinem Kopf; ich wurde sie nicht mehr los. Also begann ich zu recherchieren.

Als Erstes fand ich heraus: Astrid Lindgren hat diesen Satz nie gesagt. Und sie hat ihn auch Pippi nicht sagen lassen. Der Satz stammt von einem anderen Autor, der Bild und Satz zusammen auf eine Postkarte drucken ließ und mit dieser Idee ziemlich viel Erfolg hatte. Irgendwie beruhigte mich das, denn es hätte nicht zu meinem Bild von Astrid Lindgren als Verfechterin einer freien, selbstbestimmten Kindheit gepasst. Sie war es nicht, die Kindern gesagt hat, wie sie zu sein haben.

Astrid Lindgren zeigte in ihren Büchern vielmehr, was alles möglich war – zu einer Zeit, als man genau wie heute ziemlich konkrete Vorstellungen davon hatte, wie ein Kind zu sein hat. Anfang der 50er-Jahre war der Wunsch nach wilden, frechen, extrovertierten Kindern – sagen wir es mal so – nicht besonders groß. Die Eigenschaften, die Eltern sich von ihren Kindern wünschen, sind stark davon abhängig, in welcher Zeit man gerade lebt.

Heute bekommt man oft den Eindruck, der ideale Mensch sei schnell, laut und selbstbewusst. Inszeniert sich auf Instagram, ist gut vernetzt. Redet über sich und seine Erfolge, passt auf, dass er nicht übersehen wird, und kommt nur im Team wirklich weiter. Ein erfolgreiches, gutes Leben, so könnte man denken, braucht eine große Portion Extrovertiertheit.

Und dann werden wir unruhig, wenn unser Kind auf dem Spielplatz mal wieder stundenlang allein vor sich hin spielt, wenn es sich nach der Schule gern in sein Zimmer zurückzieht, wenn es die meiste Zeit nachdenklich wirkt. Wir befürchten, dass unser Kind den Anschluss verliert, ein schwieriger Einzelgänger wird, vielleicht sogar depressiv.

Ziemlich schnell hat man aus einem simplen Charakterzug ein vermeintliches Problem gebastelt. Woraus sich dann zwei echte Probleme entwickeln können: zum einen ein Kind, das das Gefühl bekommt, nicht richtig zu sein; zum anderen Eltern, die sich sorgen, dass ihr Kind in dieser Welt schwerer zurechtkommen wird als andere.

Mein Buch soll diese Angst nehmen und den Blick auf stille Menschen verändern. Ich bin keine Psychologin und keine Wissenschaftlerin. Ich habe auch keine pädagogische Ausbildung. Was ich aber habe, ist die Fähigkeit zu beschreiben, wie es sich anfühlt, als introvertiertes Kind in dieser Welt groß zu werden: Ich war selbst eins und bin heute die introvertierte Mutter eines extrovertierten Kindes.

Anhand von Gesprächen mit Experten, Studien zum Thema und vielen eigenen, sehr persönlichen Erfahrungen wird sich dieses Buch im ersten Teil den Fragen widmen: Welche Erwartungen habe ich an mein Kind? Warum habe ich diese Erwartungen? Entspricht das Kind ihnen? Und wenn es ihnen nicht entspricht, lasse ich mein Kind das spüren? Was macht das mit ihm? Es soll in diesem Teil außerdem darum gehen, die Bedürfnisse kleiner introvertierter Menschen zu erklären und ihre Stärken aufzuzeigen. Darüber hinaus wird es Tipps geben, wie man als leiser Mensch auch in lauter Umgebung glücklich sein kann.

Im zweiten Teil stehen dann introvertierte Eltern im Fokus. Denn wenn wir als Väter und Mütter selbstbewusst mit unserer Sehnsucht nach Stille und den damit verbundenen Stärken umgehen, sind wir unseren Kindern das beste Vorbild. Wenn wir zeigen, dass wir zufrieden sind mit uns, so wie wir sind, andere daran erinnern, dass wir Grenzen haben, und verlangen, dass diese auch akzeptiert werden, dann werden unsere Kinder von uns lernen.

Unsere Gesellschaft ist an vielen Stellen weit gekommen, was Vielfalt, Freiheit und Toleranz angeht. Wir sind noch nicht am Ziel, aber auf einem guten Weg, wenn es darum geht, Vielfalt zu schätzen und zu lieben. Warum sollte diese Liebe zur Vielfalt nicht auch für Charaktereigenschaften gelten? Unterstützen wir unsere Kinder in ihrer Individualität.

Wenn dieses Buch Eltern davor bewahren kann, ihrem introvertierten Kind unbewusst das Leben schwer zu machen, dann ist das gut. Wenn es ein Kind davor bewahrt, zu denken, es sei falsch, weil es leise ist, dann ist das großartig.

Die Wertschätzung für das Stille ist eigentlich ganz einfach. Denn jetzt kommt die gute Nachricht: Introvertierte Familienmitglieder – klein oder groß – sind ein wahnsinniges Glück. Sie besitzen wundervolle Eigenschaften. Sie sind oft großartige Beobachter, kreativ, empathisch und unabhängig. Man kann mit ihnen tiefsinnige Gespräche führen. Viele von ihnen sind extrem gut im analytischen Denken und oft sehr beharrlich. Kurz: Sie werden entgegen all unseren Ängsten gut in dieser Welt zurechtkommen, sie vielleicht sogar ein bisschen zum Besseren verändern, wenn wir sie akzeptieren, wie sie sind. Und sie wissen lassen: Du funktionierst eventuell ein bisschen anders als andere, hast nicht immer Lust auf Gesellschaft und bist nicht ganz so laut. Aber so, wie du bist, bist du genau richtig.

Die Sache mit der falsch zitierten Astrid Lindgren hat mir keine Ruhe gelassen. An den Schluss dieses Vorworts möchte ich deswegen einen Satz stellen, den sie tatsächlich und erwiesenermaßen gesagt hat. Er könnte fast so etwas wie ein Leitsatz für Introvertierte sein, er lautet:

«Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen.»

Erster Teil.Das introvertierte Kind

Ein fast normales Kind

«Komm rein, aber bitte tu so, als ob du das Kind nicht sehen würdest.» Mit diesen Worten wurden bei uns zu Hause Anfang der 80er-Jahre regelmäßig die Gäste begrüßt – Freundinnen meiner Mutter, Familienangehörige und Nachbarn.

Die Menschen reagierten unterschiedlich auf diese Art von Anweisung. Manche nahmen sie einfach hin. Andere konnten ihr Erstaunen darüber nicht verbergen. Die Gäste waren überrumpelt, überfordert, manchmal sogar beleidigt. Wollten das Kleinkind sofort sehen, mit ihm sprechen, es hochheben. Ihm über das Köpfchen streicheln und das kleine Mädchen am liebsten auch auf den Schoß ziehen. Sie hatten Geschenke dabei, die sie überreichen wollten, vielleicht hatten sie Sehnsucht nach glücklichen Kinderaugen, Sehnsucht nach Kontakt. Und da stand nun meine Mutter und bat sie, das Kind zu ignorieren.

Das Kind war ich.

Vielen Gästen fiel es wahnsinnig schwer, der Aufforderung meiner Mutter nachzukommen. Jemanden zu ignorieren, der sich im gleichen Raum befindet wie man selbst: Das fühlte sich unnatürlich an. Manche übergingen deswegen die Warnungen meiner Mutter. Weil sie nicht anders konnten oder nicht anders wollten, begrüßten sie mich freudestrahlend. Keine gute Idee. Hätten sie mal lieber auf meine Mutter gehört! Ich versuchte sofort, mich zu verstecken, schloss die Augen, krabbelte davon oder fing einfach an zu schreien. Lange und ausgiebig, mit rotem Köpfchen und fest geschlossenen Fäusten. Dann waren sie entsetzt, die Gäste. «Ich wollte doch nur …», sagten sie und: «Was ist denn jetzt passiert?»

Aus diesen Episoden wurde dann meist einer dieser Nachmittage, an denen ein Kind so lange schreit, dass die Erwachsenen, wenn es endlich aufhört, zu erschöpft für weitere Gespräche sind.

Empathischere Gäste hielten sich an die Anweisung meiner Mutter. In diesem Fall lief der Besuch immer gleich ab: Während die Erwachsenen sich begrüßten, Jacken auszogen, Smalltalk machten, beobachtete ich sie genau. Ich blieb im Zimmer, gab aber keinen Laut von mir. Regungslos versuchte ich, die gesamte Situation in mich aufzusaugen: Wer da eigentlich gekommen war. Wie er sich in unserer Wohnung verhielt. Was er mitgebracht hatte. Wie klang die Stimme, welche Wörter benutzte er, sah er freundlich aus?

Etwa eine halbe Stunde lang stand ich so da, beobachtete den Besucher stumm und reglos. Dann lief ich in mein Zimmer, schnappte mir einen Bauklotz und warf ihn dem Gast vor die Füße. Das war der Moment, an dem meine Mutter aufatmete. Man konnte sehen, wie diese leichte Anspannung von ihr abfiel, wenn sie sagte: «Herzlich willkommen, du hast es geschafft. Du darfst das Kind jetzt auch offiziell bemerken.»

Was dann folgte, waren ganz normale Stunden. Als wäre nichts gewesen, konnte man sich mit mir unterhalten oder spielen – und mit etwas Glück krabbelte ich dem Besuch sogar auf den Schoß. Fast wie ein normales Kind.

Noch ganz klein, aber schon mit Charakter

Die Idee, Menschen in eher introvertierte und eher extrovertierte Persönlichkeitstypen aufzuteilen, stammt von dem Psychologen Carl Gustav Jung. 1921 brachte er das Buch Psychologische Typen[1] heraus, in dem er erstmals festhielt, wie Menschen vollkommen unterschiedlich mit ihrer Umgebung interagieren. Verkürzt gesagt, beschrieb er Introvertierte als Denker, Extrovertierte als Macher. Viele spätere Persönlichkeitstests stützen sich auf seine Erkenntnisse, und fast alle heutigen Standardmodelle der Persönlichkeitsforschung beinhalten seitdem die Begriffe Introvertiertheit und Extrovertiertheit.

Während ich im Deutschland der 80er-Jahre auserwählten Gästen Bauklötze vor die Füße warf, fragte sich der Entwicklungspsychologe Jerry Kagan[2] in den 7000 Kilometer entfernten USA, inwieweit Babys eigentlich schon eine eigene Persönlichkeit haben. Und ob man wohl daraus Schlüsse auf ihr Leben als Erwachsene ziehen könnte. Ein paar Jahre später, 1989, startete er eine groß angelegte Studie. 500 Babys nahmen teil; viele von ihnen würde er im Laufe der Jahre beim Großwerden begleiten, bis sie erwachsen wären und selbst Babys bekommen würden. Kagan forschte bereits jahrelang über Persönlichkeitsentwicklung und war sich ziemlich sicher, dass schon vier Monate alte Babys individuelle Persönlichkeitsmerkmale erkennen lassen würden. Aus diesen Merkmalen wollte er ablesen, welche Charakterzüge die Säuglinge später eventuell einmal entwickeln würden. Kurz gesagt: Ob ein Mensch eher extrovertiert oder introvertiert ist, müsste man Kagans Vermutung nach schon im Babyalter feststellen können.

Um das zu beweisen, lud er die Eltern mit ihren Kindern in sein Labor ein. Dort setzte er die Kleinen verschiedensten Reizen aus. Er ließ zum Beispiel bunte Mobiles vor ihren Augen tanzen oder Luftballons in ihrer Nähe zerplatzen. Circa zwanzig Prozent der Kinder reagierten auf diese Art von Reizen besonders empfindlich. Sie verzogen ihre Gesichtchen, spannten Arme und Beine an und fingen an zu weinen. Weitere zwanzig Prozent verhielten sich komplett anders: Ihre Körper und Gesichter blieben entspannt, sie lächelten oder verfolgten die Geschehnisse im Raum interessiert. Und dann gab es noch viele Kinder, die je nach Tagesform unterschiedlich reagierten und weder der einen noch der anderen Gruppe eindeutig zuzuordnen waren. Man kann übrigens noch heute Teile der Videoaufnahmen dieser Studie im Internet finden (Kagan selbst ist im Mai 2021 gestorben).

Seine Theorie war, dass die Kinder, die stark und empfindlich reagiert hatten, später eher zu introvertierten, leisen Menschen heranwachsen würden. Die, die gelassen auf die Reize reagierten, würden zum Großteil eher extrovertiert, vermutete er.

In den folgenden Jahren machte Kagan mit den Kindern immer wieder andere Tests. Er ließ sie im Labor neue Menschen kennenlernen, führte ihnen ferngesteuerte Roboter und echte Clowns vor. Er wollte wissen, wie die Kinder auf Unbekanntes reagieren, auf fremde Menschen, auf veränderte Umgebungen. Lächelten sie oder hatten sie Angst? Wollten sie spielen oder wirkten sie eher verschüchtert? Die Wissenschaftler befragten auch die Eltern: Wie viele Freunde hatten die Kinder? Wie verhielten sie sich in einer Gruppe? Lachten sie gern oder waren sie eher ernst?

Viele Jahre später, als aus den Babys Erwachsene geworden waren, traf Kagan sie wieder. Er hatte tatsächlich recht gehabt: Die zwanzig Prozent der Kinder, die damals besonders heftig auf Reize reagiert hatten, waren zu eher introvertierten, leisen und zurückhaltenden Menschen geworden.

Die Ursache hierfür vermutete er im Mandelkern. Dieser Mandelkern, auch Amygdala genannt, spielt eine wichtige Rolle beim Entstehen von Emotionen und ist von Person zu Person unterschiedlich stark erregbar. Besonders in Situationen, die Angst machen. Dazu später mehr.

Kagan bewies also, dass manche Charaktereigenschaften schon als Babys in uns angelegt sind. Wie zum Beispiel der Hang zur Introvertiertheit oder eben Extrovertiertheit. Was seine Studien aber auch zeigten: Die meisten der untersuchten Kinder lagen im Mittelfeld, viele trugen Anteile beider Charaktereigenschaften in sich. Und: Kagan war fest davon überzeugt, dass die Entwicklung unserer Persönlichkeit vor allem dadurch geprägt wird, wie unsere Eltern auf unseren Charakter reagieren. Was kriegen wir gespiegelt? Wofür werden wir gelobt? Welches Verhalten kommt weniger gut an?

 

Anfang der 80er-Jahre waren die Regale der Buchhandlungen noch nicht vollgestopft mit Ratgebern über Erziehung. Eltern, die ihre Erfahrungen mit schlauen Worten auf Instagram teilten, gab es ebenfalls noch nicht. Deswegen tat meine Mutter das, was Generationen von Müttern gemacht hatten: Sie wandte das Prinzip «Versuch und Irrtum» an. So lange, bis sie herausgefunden hatte, wie sie Besuch und Kind miteinander auf die beste Weise vereinen konnte – und auf die Sache mit den Bauklötzen kam. Was genau hinter meinem Verhalten stand, dass ihr Kind introvertiert war und dass diese Charaktereigenschaft den Rest seines Lebens prägen würde – davon wusste sie nichts.

Wie Introvertierte funktionieren

Es ist schon ein paar Jahre her, ich war gerade schwanger mit meiner Tochter, als ich das erste Mal den Text eines introvertierten Mannes im Internet fand. Es war der Essay Caring for your Introvert[3] von Jonathan Rauch, geschrieben im Jahr 2003. Er erklärte darin die Gewohnheiten und Bedürfnisse introvertierter Menschen. Diesen Text zu lesen war eine Erleuchtung. Da beschrieb jemand Gefühle, von denen ich jahrelang gedacht hatte, dass niemand sonst auf der Welt sie hätte außer mir! Ich erkannte mich wieder in diesem Text, fühlte mich verstanden. Interessanterweise muss es damals vielen Menschen auf der Welt ähnlich gegangen sein: Jonathan Rauch sagte später einmal, dass er auf keinen der Texte, die er in seinem Leben geschrieben hat, jemals so viel Resonanz bekommen hat wie auf diesen. In einem Interview mit The Atlantic erzählte der Autor drei Jahre nach Erscheinen von Caring for your Introvert davon, wie viele Mails ihn damals erreicht hatten von Menschen, die sich bedankt hatten. Auch sie hatten sich verstanden gefühlt. Und geahnt, dass sie vielleicht nicht ganz so «anders» sind, wie sie immer gedacht hatten. Dass sie nicht allein sind, sondern es weitere, gar nicht so wenige Menschen auf der Welt gibt, die ähnlich fühlen. Sie teilten den Artikel in sozialen Netzwerken und schickten ihn an Verwandte und Freunde: «Seht her, es gibt etwas, das sich Introvertiertheit nennt – und deswegen bin ich so, wie ich bin.» Im gleichen Interview sagte Rauch, diese schon fast euphorische Reaktion mancher Menschen auf seinen Artikel habe ihn an sein eigenes Empfinden erinnert, als er viele Jahre zuvor seine Homosexualität entdeckt hatte. Er betont, dass keine strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Homosexualität und Introvertiertheit bestünden, aber es eben diesen eine Moment gebe, in dem man verstehe, dass man anders sei. Dass es noch mehr Menschen mit den gleichen Gefühlen gebe. Der Moment, in dem man plötzlich merke, dass die Dinge zusammenpassten wie Puzzleteile, und man eine große Erleichterung verspüre.

Auch mir ging es so. Seit ich verstanden habe, dass Introvertiertheit teilweise biologisch vorbestimmt sein kann und wie Introvertierte funktionieren, sehe ich die Welt, mich und meine Mitmenschen mit anderen Augen. So viele Probleme in meinem Leben wurden plötzlich erklärt, so viele Situationen ergaben einen Sinn.

 

Will man introvertierte Menschen verstehen, ihre Stärken und Schwächen begreifen und ihre Bedürfnisse erkennen, stößt man schnell auf das wichtigste Merkmal, das Introvertierte und Extrovertierte voneinander unterscheidet: die Art, wie sie Energie gewinnen oder verlieren.

Jeder Mensch braucht Energie, um in dieser Welt zu bestehen – aber wir alle gewinnen und verlieren sie auf unterschiedliche Weise.

Introvertierte ziehen ihre Energie aus sich selbst und verlieren Energie beim Austausch mit anderen. Das bedeutet: Sie sind gern allein mit sich und ihren Gedanken, langweilen sich dabei nicht und fühlen sich nur selten einsam. Ein Buch zu lesen, die Ruhe zu genießen, die Natur zu betrachten, kann sie vollkommen ausfüllen. Sie brauchen keine weiteren Reize von außen, um glücklich zu sein, im Gegenteil: Wenn um stille Menschen herum Lärm und Trubel herrscht, sind sie automatisch damit beschäftigt, all diese Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten. Und das ist es, was sie Energie kostet. Um sich zu erholen, brauchen sie also Ruhe und Zeit allein – eine Tatsache, die auf Extrovertierte befremdlich wirken kann, denn Extrovertierte funktionieren genau anders herum: Sie richten ihre Aufmerksamkeit eher nach außen, gewinnen ihre Energie aus ihrer Umgebung. Sie können gut mit äußeren Reizen wie Lärm umgehen und blühen oft erst dann richtig auf, wenn um sie herum etwas los ist. Wenn sie dagegen allein sind, geht ihnen schneller die Luft aus. Sie fühlen sich uninspiriert, langweilen sich und sehnen sich nach Kontakt zu anderen Menschen. Sie brauchen die Interaktion mit anderen als Antrieb. Aus neuen Eindrücken schöpfen sie Kraft. Sie handeln lieber, statt ewig lang über eine Sache nachzudenken, sind auf den ersten Blick mutiger und entscheidungsfreudiger. Geht es um den Job, lieben sie enge Zusammenarbeit, sie brauchen Diskussionen, um sich inspirieren zu lassen. Sie sind sehr viel stärker als Introvertierte auf andere Menschen angewiesen.

Die Sachbuchautorin und Coach Sylvia Löhken, die auf Introvertierte im Berufsleben spezialisiert ist, hat mehrere Bücher zu dem Thema geschrieben. In Leise Menschen – starke Wirkung beschreibt sie die Form der Energiegewinnung von Extro- bzw. Introvertierten mit einem sehr schönen Bild: Sie stellt sich extrovertierte Menschen wie Windräder vor. Wie diese gewinnen sie ihre Energie durch den Anstoß, der von außen auf sie einwirkt. Introvertierte hingegen beschreibt sie als eine Art wiederaufladbare Akkus.

Beweggründe und Bedürfnisse introvertierter Menschen

Im Gegensatz zu extrovertierten Menschen schöpfen Introvertierte also Kraft aus dem Alleinsein. Sie produzieren ihre Energie praktisch selbst. Im sozialen Kontakt verlieren sie sie wieder. Hat man diese Systematik einmal verstanden, wird auch nachvollziehbar, warum Partys, Menschenmassen oder generell zwischenmenschlicher Kontakt von Introvertierten manchmal als anstrengend empfunden werden kann. Da sie aber mit der Zeit gelernt haben, dass die Gesellschaft von anderen sie müde macht, entwickeln sie (bewusst oder unbewusst, je nach Alter) Strategien, um mit ihrer Energie zu haushalten. Kleine Kinder meiden dann zum Beispiel trubelige Spielplätze oder Freibadbesuche. Jugendliche versuchen, Partys und anstrengende Gespräche zu umgehen.

Die Psychologin Marti Olsen Laney hat mehrere Bücher über die Unterschiede zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen geschrieben.[4] Dabei hat sie auf viele wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen, um bestimmte Verhaltensweisen zu erklären, zum Beispiel die Tatsache, dass Extrovertierte über mehr Dopamin verfügen. Dopamin ist ein Botenstoff, der u.a. für Antrieb sorgt, für Neugier, den Wunsch nach Belohnung. Aus diesem Grund tauschen sich Extrovertierte gerne aus, probieren neue Dinge aus, lernen, während sie «machen».

Introvertierte hingegen verfügen über mehr Acetylcholin, ein Botenstoff, der zum Beispiel für Konzentration und Lernen zuständig ist. Sie gehen eher in die innere Kommunikation, denken lieber nach, bevor sie handeln. Auch sonst passiert im Kopf von Introvertierten oft mehr, als wir von außen erahnen können. Sie neigen dazu, leichter als andere Menschen überstimuliert zu sein: Jede kleinste Sinneswahrnehmung zerrt an ihnen, verlangt Aufmerksamkeit, ohne dass sie sich dagegen wehren können. Da das erschöpfend sein kann, brauchen sie häufiger und längere Pausen.

Weil Introvertierte nicht mit jedem und ständig gerne reden, wird ihre zurückhaltende Art manchmal mit Arroganz oder Schüchternheit verwechselt. Dabei genießen auch stille Menschen den sozialen Austausch – nur tun sie es eben auf ihre eigene Art. Sie hören lieber zu, als zu reden, denken über bestimmte Themen lieber lange und alleine nach, bis sie für sich zu einem Urteil gekommen sind, das sie anderen mitteilen wollen. In einem Gruppengespräch beispielsweise empfinden viele von ihnen es als unnötig und anstrengend, sich darstellen und durchsetzen zu müssen. Lieber konzentrieren sie sich auf die anderen. Aufmerksam und still analysieren sie, wer was sagt, wie er es sagt und warum. Am Ende eines Gesprächs haben sie ihre Mitmenschen vielleicht sogar besser kennengelernt als die auffällig agierenden Extrovertierten im Raum.

Gespräche mit Tiefgang, bei denen sie etwas Neues erfahren, lieben Introvertierte in der Regel sehr. Smalltalk allein um des Redens willen hingegen bringt ihnen nichts – außer Energieverlust.

Wie erwähnt, bringt diese Art der Auseinandersetzung mit Menschen und Themen stillen Menschen manchmal den Ruf ein, arrogant zu sein. Bei näherer Betrachtung gibt es für das, was andere «abgehoben» nennen, aber noch einen anderen Grund: Weil stille Menschen die Dinge so sorgfältig durchdenken, sind sie später oft unabhängiger von der Meinung anderer – sie haben sich selbst genug Gedanken gemacht, die Sache von vorne bis hinten durchdrungen und kennen ihren Standpunkt. Sie brauchen sich nicht ständig zu vergewissern, was andere denken. Das kann auf Menschen, die viel Rückkopplungen gewohnt sind, verwirrend wirken – oder eben arrogant.

Entgegen manchen Behauptungen hassen Introvertierte andere Menschen also nicht. Aber sie brauchen sie auch nicht unbedingt zum Glücklichsein. Sie können sehr gut Zeit mit sich allein verbringen. Beim Lesen, Denken, Spazierengehen. Dadurch schaffen sie in ihrem Kopf ein reiches Innenleben und produzieren dabei ungewöhnliche Ideen. Sie versinken stundenlang in Hörspiele, hegen und pflegen ihre Pflanzen oder entwickeln komplizierte Strickmuster. Sie malen, programmieren oder denken sich Geschichten aus. Stille Menschen können sich sehr lange mit sich selbst beschäftigen, ohne dass ihnen dabei langweilig wird – oder sie sich einsam fühlen.

Häufig wird von Introvertierten auch angenommen, sie seien depressiv, weil sie weniger kontaktfreudig sind, sich gerne zurückziehen, manchmal verschlossen wirken. Ich will nicht behaupten, dass es keine depressiven Introvertierten gibt, aber nicht jeder Introvertierte ist depressiv. Sicher ist allerdings: Introvertierte haben das starke Bedürfnis nach Ruhe und Zeit zur Verarbeitung von Eindrücken und Situationen. Wenn dieses Bedürfnis über längere Zeit nicht erfüllt wird, weil das Umfeld zu laut, zu hektisch, zu extrovertiert ist, wird es schwierig: Arbeiten Introvertierte beispielsweise in einer Umgebung, die ihrem Ruhebedürfnis komplett entgegenstehen, wird das wahrscheinlich irgendwann körperliche oder seelische Spuren hinterlassen. Das kann ich auch deswegen sagen, weil ich selbst eine Introvertierte bin, die aus oben genannten Gründen depressiv wurde – doch dazu später mehr.

 

Es gibt übrigens Introvertierte, die sehr gut darin sind, so zu tun, als wären sie Extrovertierte. Sie haben jahrelang beobachtet, wie andere Menschen sich in bestimmten Situationen verhalten und ahmen es sehr geschickt nach – weil sie wissen, was von ihnen erwartet wird. Weil sie es vielleicht selbst von sich erwarten. So ist es sehr gut möglich, dass ein eigentlich stilles Kind in bestimmten Situationen sehr laut werden kann, wenn ihm das Thema wichtig genug erscheint oder es weiß, dass es für einen Moment seine Komfortzone verlassen muss, um zum Beispiel für eine gute Note zu kämpfen oder einen gemobbten Mitschüler. Insofern sind Introvertierte nicht immer sofort als solche zu erkennen. Aber dieses Verhalten strengt sie mehr an als andere, und wenn ein introvertiertes Kind vom Kindergarten abgeholt wird, wo es acht Stunden lang versucht hat, sich in eine Gruppe einzufügen, braucht es eine Erholungspause genauso wie ein introvertierter Teenager, der aus der Schule oder von einer Party nach Hause kommt.

Interessant ist auch das hohe Sicherheitsbedürfnis – zumindest kenne ich das von mir selbst und aus Erzählungen anderer. Oft sind introvertierte Kinder vorsichtiger und ängstlicher, als es ihren Eltern lieb ist. Das kann für Eltern, Erzieher, Lehrerinnen oder Freunde anstrengend sein, wenn man den Grund für diese Zurückhaltung nicht kennt. Ich selbst war als Kind nahezu panisch darauf bedacht, dass alle meine Liebsten in Sicherheit sind. Meine Mutter war oft genervt, wenn ich mich buchstäblich an ihren Rockzipfel klammerte oder als Teenagermädchen am liebsten an ihrer Hand ging. Dieses starke Bedürfnis nach Sicherheit hat allerdings auch Vorteile: Ich erinnere mich noch an einen Frankreichurlaub vor vielen Jahren, ich muss um die acht Jahre alt gewesen sein, da bemerkte ich einen Mann, der uns folgte. Wir liefen von einem Restaurant in unsere Ferienwohnung, meine Mutter vollkommen vertieft in das Gespräch mit einer Freundin. Der Mann folgte uns mit dem Auto, hielt immer wieder an, ließ uns überholen. Keiner außer mir bemerkte das. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und machte meine Mutter darauf aufmerksam. Sie rief sofort die Polizei. Ich habe diese Situation vielleicht auch deswegen nie vergessen, weil ich damals abgespeichert habe: Ich bin oft vorsichtiger als andere. Das kann manchmal nerven. Und manchmal ziemlich nützlich sein.

Hier kommt wieder der Mandelkern ins Spiel. Zur Erinnerung: Er ist dazu da, Informationen von außen aufzunehmen und zu bewerten. Vereinfacht gesagt ist es der Job des Mandelkerns, zu sagen: «Oh, da vorne steht ein Löwe, das könnte gefährlich werden, ich melde mal besser Angst an.» Er hat also einen ziemlich wichtigen Job, denn ohne Angst und Vorsicht würde der betreffende Mensch bald gefressen werden. Forscher und Psychologen wie Kagan gehen davon aus, dass der Mandelkern bei Introvertierten oft intensiver als bei anderen Menschen auf eintreffende Signale reagiert. Das kann immer noch nützlich sein, zum Beispiel wenn der Mandelkern signalisiert: «Oh! Hier riecht es komisch … Das letzte Mal, als es so gerochen hat, war ein Löwe in der Nähe, ich melde mal vorsorglich Angst an.» Schwierig wird es allerdings, wenn der Mandelkern so empfindlich reagiert, dass er in ungefährlichen Situationen vorschnell anschlägt: «Oh! Da vorne läuft ein Dackel! Ich melde mal Angst an.»

Das ist dann anstrengend – an erster Stelle für die Betroffenen, aber auch für ihr Umfeld.

Das Gegenteil ist übrigens ein schwer erregbarer Mandelkern, der eher folgendermaßen auf eine Gefahr reagieren würde: «Oh, ein Löwe. Wie interessant. Das schaue ich mir mal genauer an.» Man kann sich vorstellen, dass evolutionsbedingt beide Ausprägungen ihre Daseinsberechtigung haben, zu krasse Ausschläge in die eine oder die andere Richtung allerdings zum Aussterben unserer Spezies geführt hätten.

Wenn ich an diese eine Situation in Frankreich vor vielen Jahren denke, bin ich jedenfalls sehr dankbar für meinen verlässlich erregbaren Mandelkern.

Dennoch ist der Wunsch nach extrovertierten Kindern momentan groß in unserer Gesellschaft. Rein biologisch ist er aber unsinnig – das zeigt eine Reihe von Studien, die Susan Cain in ihrem Buch Still beschreibt, darunter die Arbeit des Evolutionsbiologen David Wilson: In einen Teich mit Sonnenbarschen setzte er Fallen. Ein Teil der Fische war neugierig, untersuchte die Fallen und wurde entsprechend schnell gefangen. Aus evolutionsbiologischer Perspektive legten sie also eher kein schlaues Verhalten an den Tag. Der andere Teil der Fische hielt sich vorsichtig am Rand auf und blieb so in Freiheit. Bis hierhin ist ziemlich offensichtlich, wer die bessere Strategie verfolgte. Dann aber änderte sich für die Sonnenbarsche die Umgebung: Wilson nahm sie alle mit in sein Labor, die neugierigen und die vorsichtigen. Interessanterweise fingen die neugierigen fünf Tage eher wieder an zu fressen als die vorsichtigen. Evolutionsbiologisch betrachtet waren nun sie im Vorteil.

Die Schlussfolgerung aus dieser und ähnlichen Studien lautet: Kein Verhaltensmerkmal ist einfach nur schlecht oder nur gut für das Überleben eines Tieres. Jedes Merkmal hat Vor- und auch Nachteile. Je nachdem, in welcher Situation sich das Tier gerade befindet, variiert also seine Überlebenschance. Das Ganze nennen Wissenschaftler die «Ausgleichstheorie der Evolution».

 

Studien beweisen also, dass es evolutionsbiologisch für die Erhaltung und Weiterentwicklung der Arten sinnvoll ist, verschiedene Temperamente hervorzubringen. Jedes Lebewesen hat seine ganz eigene Berechtigung. Susan Cain schreibt: «Wie es auch für andere Komplementärpaare gilt – männlich und weiblich, Ost und West, liberal und konservativ –, wäre die Menschheit ohne beide Persönlichkeitstypen nicht dieselbe und erheblich verarmt.»[5]

Das ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen: Mein Buch thematisiert introvertierte Kinder und ihre Eltern, ihre Schwächen und ihre Stärken. Allerdings möchte ich damit nicht andere Charakterzüge abwerten. Jeder ist, wie er ist, und ist gut so – die Anerkennung dieses Grundsatzes und die Vermittlung zwischen beiden Persönlichkeitstypen liegt mir besonders am Herzen. Denn für extrovertierte Persönlichkeiten ist die Lebenswelt der Introvertierten manchmal schwer nachzuvollziehen: Dass stille Menschen nicht auf sie angewiesen sind, wirkt auf sie irritierend. Je extrovertierter ein Elternteil ist, desto schwerer wird es sein, das introvertierte Kind in seinen Bedürfnissen zu verstehen und zu unterstützen. Hier möchte ich ansetzen: Das Buch soll den Extrovertierten helfen, die Welt mit den Augen der Stillen zu sehen, zu verstehen, dass es manchmal vernünftig sein kann, die Dinge noch einmal zu hinterfragen, statt sich einfach ins Abenteuer zu stürzen. Und es soll den Introvertierten hier und da zeigen, dass die meisten Dackel nicht beißen.

Ist mein Kind vielleicht einfach nur schüchtern? Oder hochsensibel?

Schüchterne Menschen haben häufig Angst vor dem Urteil ihrer Mitmenschen. Sie befürchten, nicht gemocht zu werden, etwas falsch zu machen oder sich zu blamieren. Das ist in der Regel nicht das, womit introvertierte Menschen zu kämpfen haben: Introvertierte haben nicht unbedingt Angst vor dem Urteil anderer. Im Gegenteil, oft sind sie, wie ich bereits ausgeführt habe, unabhängiger von äußeren Meinungen, haben weniger Angst sich zu blamieren, brauchen aber weniger soziale Interaktion und ziehen sich öfter zurück. Das lässt Außenstehende annehmen, sie seien schüchtern.