Das leise Platzen unserer Träume - Eva Lohmann - E-Book
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Das leise Platzen unserer Träume E-Book

Eva Lohmann

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Beschreibung

Bleiben oder Gehen? Wenn deine Träume platzen, gibt es immer noch Plan B. Ein Haus auf dem Land. Das hast du dir immer gewünscht, Jule. Dazu ein wilder Garten, durch den eure Kinder rennen. So hast du dir das Glück vorgestellt.  Doch die Kinder sind nie gekommen. Und dein Mann hat jetzt eine Affäre in der Stadt. Ihr Name ist Hellen, und Hellen denkt viel an dich. Vielleicht ein bisschen zu viel.  Oft fragt sie sich, warum du und dein Mann noch immer zusammen seid. Wie zwei Menschen es so lange miteinander aushalten können, wenn ihre gemeinsamen Träume doch längst geplatzt sind.  Aber von alldem hast du keine Ahnung, Jule. Du weißt nicht von Hellen und nicht von ihren Fragen. Noch nicht. Noch sitzt du da, in deinem hübschen Garten, und überlegst, ob das, was du hast, vielleicht doch reichen könnte, um glücklich zu sein. »Wie ein Gespräch mit der besten Freundin.« Süddeutsche Zeitung

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Seitenzahl: 215

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Das Buch

Ein Haus auf dem Land. Das hast du dir immer gewünscht, Jule. Dazu ein wilder Garten, durch den eure Kinder rennen. So hast du dir das Glück vorgestellt. Doch die Kinder sind nie gekommen. Und dein Mann hat jetzt eine Affäre in der Stadt. Ihr Name ist Hellen, und Hellen denkt viel an dich. Vielleicht ein bisschen zu viel. Sie fragt sich, warum du und dein Mann noch immer zusammen seid. Wie zwei Menschen es so lange miteinander aushalten können, wenn ihre gemeinsamen Träume doch längst geplatzt sind. Aber von alldem hast du keine Ahnung, Jule. Du weißt nicht von Hellen und nicht von ihren Fragen. Noch nicht. Noch sitzt du da, in deinem hübschen Garten, und überlegst, ob das, was du hast, vielleicht doch reichen könnte, um glücklich zu sein.

Die Autorin

EVA LOHMANN, Jahrgang 1981, lebt als freie Autorin in Hamburg und hat eine Tochter. Ihr Debütroman Acht Wochen verrückt stand ebenso auf der SPIEGEL-Bestsellerliste wie ihr Sachbuch So schön still. Wenn Eva Lohmann nicht gerade schreibt, berät sie in der Agentur I.do Mütter beim Wiedereinstieg in den Job – oder kocht in einer kleinen Eventlocationfür Hochzeiten und Geburtstage.

Eva Lohmann

DAS LEISE PLATZEN UNSERER TRÄUME

ROMAN

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN 978-3-96161-178-2

© 2023 Julia Eisele Verlags GmbH, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © Bridgeman Images

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Hellen

Jule

Hellen

Jule

Hellen

Jule

Hellen

Jule

Hellen

Jule

Hellen

Jule

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Jule

Hellen

Jule

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Jule

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Jule

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Jule

Hellen

Jule

Hellen

Jule

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Jule

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Jule

Hellen

Jule

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Jule

Hellen

Jule

Hellen

Danke

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Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Und es ist fünf vor zwölfDoch die Zeit steht stillNur noch du und ichUnd dieses scheiß GefühlFünf vor zwölfNoch ein letzter TanzDenn niemand kommt, um uns zu retten.Paul Gerlinger, Fünf vor zwölf

Hellen

Heute hat mir David erzählt, wie ordentlich du bist. Dass du es gern sauber magst und es deswegen oft Streit gibt. Als er die Krümel, das dreckige Geschirr und die Kaffeeränder in meiner Küche gesehen hat. Kurz habe ich mich gut gefühlt, weil ich so locker und anders bin, wenigstens in dieser Hinsicht. Aber jetzt, während ich die Krümel schnell und nachlässig wegfege, denke ich: Wenn David mein Mann wäre, würde es wegen dieser Lockerheit auch irgendwann Streit geben. Aber David ist nicht mein Mann. Sondern deiner. Er ist dein Mann, Jule. Und meine Affäre. Du bist die Frau, die automatisch mitgeliefert wird, wenn man sich auf eine verheiratete Affäre einlässt. Die Frau, die ich noch nie gesehen habe – und die immer da ist.

Ich denke so oft an dich und ich weiß nicht, warum. Sogar jetzt gerade, während ich die Küche putze, in der David vor ein paar Augenblicken noch gestanden hat. Es gäbe wirklich andere Dinge, über die ich nachdenken müsste, aber ich denke an dich. An dich und deine saubere Küche, irgendwo weit weg von hier, irgendwo auf dem Land.

Am Anfang warst du mir egal. Ich wollte ein bisschen Spaß nach der Trennung, unverbindlich und mit irgendwem. David wollte auch ein bisschen Spaß, aber ohne Trennung, und so haben wir zueinandergefunden. Am Anfang wusste ich noch nicht einmal, dass es dich gibt. Aber wirklich nur ganz kurz. Er hat dich nie verheimlicht.

Ich fühle mich nicht schlecht, weil ich mit deinem Mann schlafe. Dafür ist das, was wir tun, zu normal, zu alltäglich. Eine Affäre, was ist das schon, heutzutage. Eine kurze, kleine Alltagsflucht, moralisch vielleicht nicht ganz einwandfrei. Aber dass ich mit meiner Anwesenheit wie eine Krücke eure unglückliche Beziehung stütze, das macht mir zu schaffen. Ohne mich hätte er dich vielleicht schon verlassen. Oder du ihn. Ohne mich wärt da nur ihr beide. Und dann müsstet ihr euch eingestehen, dass euch nichts mehr zusammenhält.

Jule

Jule starrte aus dem Fenster auf die leere Dorfstraße. Sie war allein im Haus, fühlte sich aber beobachtet. Früher, als sie noch in der Stadt wohnte, hatte Jule sich das Leben auf dem Land freier vorgestellt, unkontrollierter und auf eine gute Art einsam. Erst seit sie hier tatsächlich lebte, war ihr klar geworden, dass das Dorf einer riesigen Wohngemeinschaft glich: Jeder wusste zu jeder Zeit, ob man gerade zuhause war. War man nicht zuhause, wusste das Dorf, wohin man gefahren war. Und war man zuhause, fühlte es sich so an, als wüsste das Dorf sogar, in welchem Raum man sich gerade aufhielt. Es war das genaue Gegenteil vom Leben in der Stadt, wo es möglich gewesen war, sich tagelang in der Wohnung einzuigeln und die Welt nur in Form von Liefer- und Streamingdiensten in das eigene Leben zu lassen.

Draußen auf der anderen Straßenseite ging die Haustür auf. Anni schlappte heraus, Leggings und weiter Kapuzenpulli über dem dicken, schwangeren Bauch, eine Schüssel in der Hand. Sie verschwand im hinteren Teil des Gartens.

Als Jule und David vor vier Jahren in das kleine Haus am Ende der Straße gezogen waren, war es Anni gewesen, auf die Jule sich konzentriert hatte. Jule war bewusst gewesen, wie heikel ihr Umzug gewesen war, wie kritisch man die Neuen – die Städter – hier empfangen würde, und hatte sich fest vorgenommen, alles richtig zu machen, um schnell integriert zu werden.

Irgendwann hatte Jule dabei den Instinkt für natürliche Reaktionen verloren. Wenn sie sich mit Menschen aus dem Dorf unterhielt, kamen ihr auf jeden Satz, jede Frage zwei Antwortmöglichkeiten in den Kopf. Die erste Antwort war immer die, die sie herunterschlucken musste. Die zweite war die, die angebracht war. Die erste war die Antwort der Stadt-Jule, die zweite die der Dorf-Jule.

Die Dorf-Jule war eine Frau, die es vorher nicht gegeben hatte und die sich die Stadt-Jule mühsam zusammensetzen musste.

Wenn sie sonntagmorgens mit ihrem Kaffee in den Vorgarten trat und der alte Lübcke mit seinem Trecker vorbeifuhr, begrüßte er Jule gern mit: »Na, aus dem Bett gefallen?« Jule aus der Stadt hätte auf so eine Frage perplex »Wie bitte?« gefragt oder sich sogar verteidigt: »Ich bin schon seit sieben Uhr wach und habe gearbeitet!« Die Dorf-Jule aber antwortete: »Bei dem Lärm, den du hier am Morgen veranstaltest, kann man ja noch nicht mal sonntags ausschlafen.« Diese Art miteinander zu sprechen hatte Jule sich bei den anderen im Dorf abgeschaut. Es hatte nur ein paar Tage gedauert, bis sie das Muster erkannte. Man ärgerte sich gegenseitig, provozierte ein bisschen – ließ dem anderen aber immer einen Ausweg zu kontern. Am gängigsten und beliebtesten war es, das Gegenüber als einen etwas faulen, aber liebenswerten Taugenichts darzustellen: »Na, was stehste hier so rum? Haste nix zu tun?« Selten fragte oder antwortete man ganz direkt, oft zweideutig – und gerne mal erst ernst und dann mit einem Augenzwinkern. ›Foppen‹ war das Wort, das Jule dazu einfiel; ein Wort, das sie eigentlich nur aus früher Kindheit kannte.

Dass sie verstanden hatte, welche Sprache man hier auf dem Dorf miteinander sprach, hieß allerdings nicht, dass sie diese Sprache ebenfalls einwandfrei beherrschte. Wenn man in der Stadt gefragt wurde, wie es einem gehe, sagte man entweder »Alles okay« – oder die Wahrheit. Hier im Dorf sagte man irgendetwas dazwischen, das alles und nichts bedeuten konnte. Lübcke und seine Frau brummten nur: »Muss ja«, was Jule erst fürchterlich und mit der Zeit immer einleuchtender vorgekommen war. Olaf, der Mann von Anni, antwortete gerne mit »Schlechten Menschen geht es immer gut« und lächelte dann, als machte er diesen Scherz zum ersten Mal. Jule fiel oft nichts anderes ein, als vermeintlich wissend zu lächeln und zu nicken.

Anni reagierte ein bisschen anders als die anderen. Sie sagte meist tatsächlich etwas, von dem man annehmen konnte, dass es echte Informationen darüber lieferte, wie es ihr ging. Trotzdem fiel es Jule schwer, daraus ein Gespräch entstehen zu lassen. Kurz nach dem Umzug, als David schon wieder zu seiner Arbeit als Anästhesist in der Stadt zurückgekehrt war und Jule noch nicht im Gutshof angefangen hatte, war Anni einmal bei ihnen gewesen. Jule hatte sie auf einen Kaffee eingeladen und erst zu spät gemerkt, dass auch ein Kuchen dazu gehört hätte.

»Ich hole noch schnell einen von drüben«, hatte Anni gesagt.

Jule hatte sich gewundert, dass man hier auf dem Land anscheinend einfach mal so einen Kuchen zuhause hatte, bis Anni zurückgekommen war, in der Hand einen abgepackten Fertigkuchen aus dem Discounter. Marmor mit Schokoglasur. Jule hatte so getan, als hätte sie nichts anderes erwartet. Später hatten sie zwischen den Kartons im Wohnzimmer gesessen, Anni hatte die nackten, krummen Wände angeschaut und erzählt, wie gut Olaf darin sei, Rigips-Wände hochzuziehen.

»Dann ist alles richtig schön glatt, das wird schon.«

Jule hatte geantwortet, dass sie die krummen Natursteinwände eigentlich ganz schön finde.

»Aber dann kannst du ja gar keine Bilder aufhängen …?«

Ein erstauntes Schweigen hatte sich im Zimmer breitgemacht. Jule hatte sich da schon nicht mehr getraut zu erklären, wie schön sie nackte Wände fand. Das war der Punkt gewesen, an dem beiden Frauen klargeworden war, mit welch unterschiedlichen Augen sie die Welt sahen.

Es liegt nicht an ihnen, es liegt an mir. Das war der Satz, der Jule immer wieder durch den Kopf ging. Die Menschen hier auf dem Land waren freundlich und offen, nur eben auf ihre Art. Jule kam es manchmal so vor, als hätte man ihr zur Begrüßung die Arme ausgebreitet, als hätte sie selbst aber Probleme, auf dem Weg in diese Arme nicht zu stolpern. Und dann stolperte sie tatsächlich über Worte und Gesten und Sätze und Angewohnheiten, stolperte über Stadt-Jule und wie sie die Dinge sah. Irgendwann hatten die Dörfler ihre ausgebreiteten Arme sinken lassen, nicht enttäuscht, eher abwartend, und beobachteten Jule seither, wie sie versuchte, ihren Weg zu finden, sprachlich und auch sonst. Dass sie zum Beispiel noch immer kein Kind bekommen hatte, schien die Menschen hier zu wundern – auch wenn sie es niemals direkt sagten.

Jule und Anni hatten jedenfalls kein zweites Mal zusammen Kaffee getrunken, und obwohl sie sich freundlich grüßten, wann immer sie sich trafen, stand dieser missglückte Anfang einer Freundschaft nun jedes Mal zwischen ihnen.

Jetzt beobachtete Jule, wie Anni zurück aus dem Garten kam, wahrscheinlich hatte sie die Hühner hinter dem Haus gefüttert. Die Tiere hatten dort auf dem am weitesten entfernten Teil des Grundstücks einen abgezäunten Bereich. Jule hatte ihn einmal gesehen. Es hatte nicht so gewirkt, als ob es den Hühnern wirklich schlecht ging; mit großer Sicherheit war ihr Leben sehr viel schöner als das der meisten Hühner auf dieser Welt. Aber Jule war trotzdem irritiert gewesen von dem Boden ohne Gras, auf dem die Tiere umherliefen, und dem zweckmäßigen Verschlag, in den sie abends gesperrt wurden. Ein paarmal hatte es ein einzelnes Huhn geschafft, auszubrechen, wenn irgendwas mit dem Zaun war. Anni und ihr Mann rannten dann jedes Mal hinter dem Tier her, jagten es durch die Gegend und taten alles dafür, dass es schnellstmöglich wieder an seinen Platz hinter das Haus verfrachtet wurde. Jule sah sich diese kurzen Ausbruchsversuche der Hühner verstohlen durch das Fenster an. Sie dachte immer das gleiche: Frei durchs Dorf laufende Hühner waren für sie der Inbegriff ländlicher Idylle. Sie entsprachen genau dem Bild, das sie sich vom Dorfleben früher einmal gemacht hatte. Ein leises, gemütliches Scharren und Gackern, das sich wie ein Grundrauschen um die Häuser legte. So hatte sie sich das vorgestellt. Leider schaffte es nur selten ein Huhn, den Zaun zu überlisten; Olaf war ein guter Handwerker.

Ohne einen Blick über die Straße zu werfen, lief Anni jetzt durch den Vorgarten und verschwand im Haus. Jule stand vom Küchentisch auf und ging ins Schlafzimmer, um sich fertig zu machen. David war schon vor Stunden zur Arbeit gefahren, sie hingegen musste erst später los. Sie duschte kalt und zog das lange blaue Sommerkleid an, das eigentlich ein bisschen zu eng war. Sie legte Mascara auf und band ansonsten die Haare nur zu einem einfachen Pferdeschwanz, heute würde sie keinen Gästen begegnen. Sie verließ das Haus durch die Gartentür, schloss weder diese noch die Eingangstür ab und holte das Fahrrad aus dem Schuppen im Garten. Das Gras musste schon wieder gemäht werden; jetzt im Sommer wuchs es so schnell, alle zwei Wochen mussten sie oder David sich darum kümmern. Wenn es regnete, ging es noch schneller, keine zehn Tage dauerte es dann. Rasenmähen, das hatte Jule gelernt, war ein sehr gutes Gesprächsthema hier im Dorf. Wenn einem nichts mehr einfiel, konnte man immer darüber sprechen, wann denn wohl der Rasen mal wieder dran wäre, wie schnell er gerade wuchs, wann man vorhatte, ihn das nächste Mal zu mähen und wann es wahrscheinlich wegen des Regens zu spät wäre. Ein kurzer Rasen machte die Menschen hier glücklich. Er schien ihnen das Gefühl zu geben, Haus, Garten und Leben unter Kontrolle zu haben. Jule tat, als ginge es ihr ähnlich. In Wirklichkeit betrauerte sie beim Mähen heimlich den Verlust jedes noch so winzigen Gänseblümchens.

Zum alten Gutshaus fuhr Jule mit dem Rad nur ein paar Minuten, und das war einer von vielen Vorteilen, die ihre Arbeit dort hatte. Es war außerdem der einzige Ort im Dorf, an dem Jule das Gefühl hatte, wirklich dazuzugehören und zu wissen, was sie tat.

Diese seltsame, allumfassende Unsicherheit hatte sie nicht gekannt, bevor sie aufs Land gezogen war. Stadt-Jule war ganz selbstverständlich durch ihre Umgebung gewandelt, was wahrscheinlich daran lag, dass sie eben in der Stadt geboren und aufgewachsen war. Mit der Straßenbahn zur Schule fahren, nachmittags in Skateparks abhängen. Später dann das Kulturwissenschaftsstudium und zeitgleich die Jobs in diversen Cafés und Bars. An keinem dieser Orte hatte sie je Zweifel gehabt, wo sie hingehörte, geschweige denn welche Antwort auf eine Frage die richtige war. Am wohlsten hatte Jule sich im Eisladen gefühlt. Nach dem Studium hatte sie in einem dieser Läden angefangen, in denen es fast keine klassischen Sorten wie Erdbeere und Schokolade mehr gab, sondern Kekseis mit möglichst bunten Streuseln. Hier hatte Jule gelernt, Eis zu machen. Ein sanfter Start in ihren späteren Beruf als Köchin, die Zutaten waren übersichtlich, die Vorgänge immer gleich. Sie begann schnell zu experimentieren. Der Ort war im Sommer ein Magnet für die Kinder und Eltern des Viertels gewesen, lange Schlangen wanden sich von der Ladentür bis um den halben Wohnblock. Die Kinder wollten immer dasselbe, Vanille und bunte Streusel, Schokolade mit Marshmallows. Die Eltern aber probierten dankbar Jules neue Kreationen. Zimtkaramell, Tonkabohnenvanille und vegane Sorbets. Jule liebte es, nachmittags hinter dem Tresen zu stehen, die Eiskelle unter den Augen der Kinder tief in die Eismasse zu graben, Sahne, Schokoladenstreusel und Herzwaffeln zu arrangieren, jedes Eis ein kleines Kunstwerk. Den Vätern und Müttern gab sie zum Probieren kleine Löffelchen mit gerade neu entwickelten Sorten und war erstaunt, wie einfach es war, Menschen für ein paar Sekunden lang selig zu machen. Später übernahm sie den Laden, verbrachte ganze Nächte im hinteren Teil, bestellte Waren und experimentierte weiter. Im Gegensatz zur Konkurrenz schloss sie die Eisdiele im Winter nicht, sondern verkaufte zusätzlich zum Eis heiße Waffeln. Der Laden war bombastisch gelaufen. Sein Verkauf hatte es ihr ermöglicht, das Bauernhaus mit David zu kaufen.

Der Gutshof, auf dem Jule jetzt ankam, passte im Gegensatz zu den eingesperrten Hühnern sehr gut zu dem, wie Jule sich früher mal das Leben auf dem Land vorgestellt hatte. Altes Gemäuer, an manchen Stellen verwachsen, mit Schwalbennestern in den Giebeln und wildem Mohn an den Seiten der steinernen Freitreppe. Massiv und auf eine charmante Art heruntergekommen und zusammengeflickt war dieser Ort, mit einer langen Vergangenheit, einer improvisierten Zukunft und ein paar verstreuten Geheimnissen in den verwinkelten Zimmern. Am Anfang ihrer Suche hatten sie und David tatsächlich auch ein paar Guts- und Herrenhäuser besichtigt, es war unglaublich, wie viele es von diesen Dingern hier gab, in allen möglichen Größen und Zuständen. Eine Weile waren sie jedes Wochenende aus der Stadt in die entlegensten Dörfchen rausgefahren, durch Kellerfenster gestiegen und wie verzaubert durch die alten Gebäude geschlichen. Aber eigentlich war beiden klar gewesen, dass auch das kleinste Herrenhaus viel zu groß für sie wäre, egal wie viele Kinder sie später haben würden. Am Ende hatten sie sich für das alte Bauernhaus in der Nähe eines Gutshofs entschieden – und bis heute kein einziges Kind bekommen.

Kurz darauf hatte Jule gehört, dass der Besitzer des Hofs jemanden suchte, der auf Veranstaltungen kochte. Jemanden, der flexibel war, was nicht nur bedeutete, mit unregelmäßigen Arbeitszeiten klarzukommen, sondern auch, eine Gruppe Yogafrauen genauso versorgen zu können wie eine kleine Hochzeitsgesellschaft. Es war der perfekte Job für Jule. Er ermöglichte ihr, Geld zu verdienen, ohne dafür in die Stadt fahren zu müssen, und trotzdem mal rauszukommen. Ihr Chef – wenn man Ludger überhaupt so nennen konnte – war erleichtert gewesen, jemanden zu finden, der die Bedürfnisse der im Gutshaus feiernden und tagenden Städter kannte. Und es machte ihm nichts aus, wenn Jule in der Mittagspause nach Hause fuhr.

Am Gutshaus angekommen, stieg Jule vom Fahrrad. Den letzten Rest des Weges über das holprige Katzenkopfpflaster lief sie lieber zu Fuß. Selbst das war nicht ganz einfach; regelmäßig knickten die Bräute mit ihren weißen Pumps ein und konnten gerade noch von ihren Brautjungfern gehalten werden. Vier große Kastanien standen rechts und links vom Weg und verdeckten jetzt im Sommer einen großen Teil des Gutshauses. Jule stellte das Fahrrad in den alten rostigen Ständer aus DDR-Zeiten. Sie mochte diesen Mix aus Überbleibseln verschiedener Stadien der Vergangenheit, der den Hof beherrschte. Das Gebäude selbst bestand aus Feld- und Backsteinen, an manchen Stellen hing noch alter Putz, an anderen hatte Ludger die Fugen sorgfältig mit Zementmörtel aufgefüllt. Eine Arbeit, von der Jule wusste, wie meditativ und gleichermaßen zeitraubend sie war. Die riesigen doppelten Flügelfenster waren abgeschliffen und lindgrün gestrichen, allerdings konnte man jetzt schon ahnen, dass diese Arbeit in spätestens zwei Jahren wiederholt werden müsste. Man sah dem Gutshaus an, dass sich jemand liebevoll darum kümmerte, gleichzeitig war Jule sich bewusst, dass dieses Kümmern niemals ein Ende haben würde. Es war einfach zu groß.

Jule stieg die Steinstufen hinauf, öffnete die schweren Holztüren und spürte sofort die kalte Luft an ihren nackten Armen. Sie durchquerte mehrere Zimmer, bis sie in der alten Küche mit den schwarz-weißen Fliesen stand. Es war kalt und ruhig hier, und Jule holte sich eine der vergessenen und versammelten Strickjacken, die für jedermann zum Überziehen an der Küchentür hingen. Sie wusste, dass sie trotz der langsam steigenden Temperaturen draußen hier drinnen innerhalb kürzester Zeit anfangen würde zu frösteln. Besonders viel gab es nicht zu tun heute, die Gästegruppe würde erst gegen Abend eintreffen, irgendetwas mit Meditation und Yoga und auf jeden Fall vegan, hatte Ludger gesagt. Jule hatte ein Ratatouille vorgeschlagen, und Ludger hatte – wie immer – zugestimmt.

Sie stellte das Radio an und begann, Zwiebeln und Knoblauch zu schälen und in einem riesigen Topf anzuschwitzen. Ludger hatte Auberginen, Paprika und Zucchini für sie auf der Arbeitsplatte bereitgelegt, letztere waren aus seinem eigenen Garten und geradezu absurd groß geworden. Jule schnitt das Gemüse in grobe Stücke und warf es in den Topf. Aus der Vorratskammer holte sie Dosen mit Tomatensauce und mehrere Packungen Reis. Die Kammer war der kälteste Raum im Gutshaus, Jule ging trotzdem gerne hinein. Jedes Mal stellte sie sich vor, wie hier schon vor hundert Jahren Dienstmädchen fröstelnd Lebensmittel aus den Regalen gezogen hatten. Sie öffnete die Dosen, goss den Inhalt zum Gemüse und setzte den Reis auf. Dann lief sie in den Garten auf der Rückseite des Hauses. Hier begrenzten Apfel-, Pflaumen- und Marillenbäume das Grundstück, es war allerdings so groß und unübersichtlich, dass man nie genau wusste, welche Bäume und Büsche eigentlich noch zu Ludger gehörten – und welche dem Bauern, der die angrenzenden Felder besaß.

Auf der großen Wiese wurden seit dem Frühling beinahe wöchentlich die Hochzeitstische aufgestellt. Ganz nah am Küchenfenster hatte Ludger ein Kräuterbeet angelegt, Jule pflückte Rosmarin, Petersilie und Thymian, schnitt in der Küche alles klein und gab es zum Gemüse. Als der Reis fast fertig war, stellte sie den Herd aus und ließ beide Töpfe einfach stehen, die Yogagruppe würde sich selbst helfen. Sie deckte den großen Holztisch im Speisesaal mit alten Flohmarkttellern, pflückte noch Cosmeen und Schafgarbe im Garten und arrangierte sie in winzigen farbigen Gläsern in der Mitte des Tisches. Die Yogafrauen würden verzückt sein.

Dann holte sie aus der Abstellkammer zwei Tupperdosen und füllte etwas Reis und Gemüsemischung für das Abendessen mit David ab. Wie immer, wenn sie das tat, spürte sie einen kleinen, nagenden Zwiespalt in sich. Es war naheliegend und praktisch, sich etwas einzupacken, und auch für Ludger war das völlig okay. Trotzdem war es ihr unangenehm. Sie fühlte sich so vorhersehbar. Eine Frau, die Essen eintupperte. Eine Frau, die an später dachte. Eine Frau, auf die David sich verlassen konnte, wenn er mit Hunger heimkam. Letztens hatte er ihr sogar ein Kochbuch geschenkt. Es war ein schönes, aufwendig gestaltetes Buch und eine nett gemeinte Geste, trotzdem hatte es sie geärgert. Als Frau ein Kochbuch geschenkt zu bekommen, das erinnerte an Haushaltsgeräte zu Weihnachten. Und was das bedeutete, wusste man ja.

Nachdem Jule von Zuhause ausgezogen war, hatte sie mit dem Kochen angefangen. Es war die Zeit der täglichen Kochshows gewesen, und Jule hatte im Fernsehen fasziniert verfolgt, wie ein junger Koch mit verwaschener Sprache Kartoffelpüree zubereitete. Bis dahin war ihr nie wirklich klargewesen, dass man eine solche Beilage nicht nur herstellen konnte, indem man heißes Wasser mit hellen Flocken aus einer aluminiumbeschichteten Tüte mischte. Jules Eltern hatten so gekocht. Es waren die achtziger Jahre gewesen, die Zeit von Tiefkühlpizza, Fertiglasagne und Dosenravioli. Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass Jule ein nicht besonders gesund ernährtes Kind gewesen war; allerdings musste man ihren Eltern zugutehalten, dass sie die beim Kochen gesparte Zeit in ihre Karrieren gesteckt hatten. Sie hatten Geld verdient und dieses Geld dann schlau angelegt, was Jule in der Gegenwart ermöglichte, ein Leben ohne andauernde Geldsorgen zu führen. Auf gewisse Weise holte Jule zwanzig Jahre später in der Küche nach, was ihre Eltern ihr nie beigebracht hatten. Erst spät war ihr bewusst geworden, dass irgendwas nicht stimmte, wenn ihre Mutter ankündigte, eine Tomatensuppe zu kochen, und dafür einfach nur den Inhalt eines Tetrapacks erhitzte. Sie verstand nach und nach, dass jede Speise einen Ursprung hatte. Es war wie ein Puzzle, das man auseinanderbrechen musste, um sich die einzelnen Bestandteile anzusehen. Eine Dose Ravioli mit Tomatensoße konnte man aufdröseln in circa vierzig verschiedene Zutaten. Diese Zutaten wiederum konnte man einzeln kaufen, auf unterschiedliche Weise zubereiten, neu zusammensetzen – und das war so ziemlich die befriedigendste Tätigkeit, die Jule sich vorstellen konnte.

Irgendwann hatte sie angefangen, auch für andere zu kochen. Für Freundinnen. Und für Männer. Das allererste Essen, das sie für David gekocht hatte, waren Spaghettini mit Garnelen und Maronen in Zitronensauce gewesen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich in meinem Leben schon einmal so etwas Leckeres gegessen habe«, hatte er gesagt. Sie hatte sich gefühlt wie eine Göttin. Jetzt war sie eine Frau, die Tupperware abfüllte.

Am Abend zuhause beeilte sich Jule, das Essen aus den Dosen in zwei Töpfe auf dem Herd umzufüllen, bevor David heimkam. Am liebsten war es ihr, wenn es so aussah, als ob das Essen sich einfach selbst in die Töpfe gezaubert hätte und nicht mühselig von ihr zubereitet worden war. Der Gedanke, dass er glauben könnte, sie würde sich noch Mühe geben, bereitete ihr Unbehagen. Und das hatte sie ja auch nicht getan, die Mühe hatte sie sich für andere gemacht, das Essen war lediglich übrig geblieben.

Es hatte eine ganze Weile gebraucht, bis Jule gemerkt hatte, dass sie in den letzten Jahren immer seltener versuchte, Dinge zu tun, die David eine Freude machten, und dann, noch ein bisschen später, versuchte, es sogar zu vertuschen, wenn sie es doch noch einmal getan hatte. Es erinnerte sie an die Zeit kurz vorm Abitur, sie war damals nicht besonders gut in der Schule gewesen. Alle waren davon ausgegangen, dass sie die Prüfungen nicht bestehen würde. Jule hatte in dieser Zeit heimlich gelernt. Sie hatte nicht zeigen wollen, dass sie sich um ein Ziel bemühte, von dem sie nicht wusste, ob sie es am Ende erreichen würde. Für sich und David zu kochen hatte einen ähnlichen Beigeschmack: Sie tat etwas für eine Beziehung, von der sie nicht wusste, ob sie noch zu retten war.

Wenig später rührte David in den zwei Töpfen herum und wartete, dass der Inhalt warm wurde. »Ich habe eben Anni gesehen. Ganz schön … schwanger sieht die aus.«

»Kein Wunder. Das Kind kommt in zwei Wochen.« Sie konnte Sätze wie diesen mittlerweile auf eine Weise aussprechen, die völlig unberührt wirkte.

»Dann muss ich bestimmt zum Babypinkeln. Olaf hat letztens schon mal so was gesagt.« Er konnte es anscheinend auch. Feiern, dass ein fremdes Kind geboren wird, obwohl man so lange auf ein eigenes gewartet hatte.

»Lass dir doch eine Ausrede einfallen.«

Er sah kurz vom Herd auf: »Wieso sollte ich? Ist doch ein netter Brauch.«

Es war nicht nur der Balanceakt mit dem Babythema, der Jule beschäftigte. Da war noch eine Sache, die in letzter Zeit öfter passierte. Dinge, über die sie früher einer Meinung gewesen waren, schienen sie plötzlich unterschiedlich zu sehen. Jule erinnerte sich sehr genau daran, dass sie und David diese Art von spießigen Traditionen immer belächelt hatten. Jetzt tat er so, als wäre das alles eine absolut prima Sache – und ließ Jule arrogant dastehen.

Jule zuckte mit den Schultern. »Dann geh halt hin, wenn du möchtest.«

Sie setzten sich an den Esstisch und aßen das gleiche Ratatouille wie die Yoga-Frauen zur selben Zeit, nur einen knappen Kilometer entfernt im Gutshaus, wo die Stimmung wahrscheinlich sehr viel heiterer war.