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So viel mehr als der ESC: Max Mutzke über Momente, die ihn geprägt haben Aufgewachsen in einem unkonventionellen, künstlerisch geprägtenHaushalt, hat Max Mutzke schon früh viel fürs Leben gelernt. Als »Bullerbü-Idyll« beschreibt er seine Kindheit und Jugend im Schwarzwald. Doch Max und seine fünf Geschwister blieben von Schicksalsschlägen nicht verschont. Die Flucht nach vorne, in die Selbstbestimmung und in die Kreativität, führte ihn 2004 ins Showbusiness. Dort stellt er bis heute, zwanzig Jahre später, eine absolute Ausnahme dar: charismatisch und sich selbst zu hundert Prozent treu geblieben. In seiner Autobiografie teilt Max Mutzke Geschichten aus seinem Leben und schreibt sehr persönlich über Themen wie Erziehung und Elternschaft, Werte, ADHS und den Umgang mit sozialen Medien. Ein zutiefst bewegendes und humorvolles Buch, das immer wieder zu der Einsicht kommt, dass wir alle wie kleine Lichter durch die Welt laufen müssen, um sie zu erhellen. Und das schaffen wir nur, indem wir authentisch bleiben – und somit wir selbst.
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Seitenzahl: 354
Max Mutzke
Meine Geschichte
»Von außen betrachtet könnte man glauben, ich wäre widerstandslos und entspannt von einem Musikerjahr ins nächste gehüpft, aber hinter den Kulissen ist es dann – wie so oft im Leben – eine andere Geschichte.«
Lieblingserinnerungen und Erfolge, Brüche im Lebenslauf und familiäre Schicksalsschläge – Max Mutzke erzählt von seinem Leben, seiner Kindheit und Jugend im Schwarzwald und teilt persönliche Schlüsselmomente, die ihn geprägt haben. Die bewegende und humorvolle Autobiographie von einem der beliebtesten Musiker Deutschlands.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Max Mutzke, geboren 1981, ist Sänger, Songwriter und Musiker. Mit einem von Stefan Raab komponierten Song schaffte es Mutzke zum Eurovision Song Contest 2004 und auf Platz 1 der deutschen Charts. Er spielt, in völlig unterschiedlichen Besetzungen, rund 100 Konzerte im Jahr. 2023 erschien bei FISCHER Sauerländer sein Kinderbuch »Komm mit ins Paradies der Träumer«, 2024 feiert er sein 20-jähriges Bühnenjubiläum und veröffentlicht sein 10. Album. Max Mutzke lebt mit seiner Familie im Schwarzwald, wo er aufgewachsen ist.
Kira Brück, geboren 1982, schreibt als freie Journalistin und Autorin über Kultur, Gesundheit und Gesellschaft. Ihre Sachbücher wurden allesamt zu Bestsellern.
Gestatten, Max Mutzke
Der fliegende Opa mit dem Schwarzpulverantrieb
Steffes, unser brother from another mother
Ein paar Zeilen über Chou Chou
Der Schwarzwälder Vielfraß
Von den Besten lernen
Der Windelwecker
So viel mehr
California Spider und Krenkinger Maus
Das Mäxle kann singen
Mit dem Motorrad zum Jazz
Was mir Geld bedeutet
Schwarzwälder Systemsprenger
Musik kommt aus dem Bauch
Auf Rädern zu Hause, zu Hause auf Rädern
Max, hol mal schnell den Arztkoffer!
Mein erstes Mal bei Nazu unterm Bett
Augen zu und durch
Danke, Danke, Danke
Songverzeichnis
Tafelteil
Es war das Jahr 2004, als ich vom Schwarzwald direkt ins Farbfernsehen fiel. Das passierte buchstäblich von heute auf morgen – und schon am Tag nach meinem allerersten Auftritt bei TV total, der an einem Mittwoch stattfand, wurde ich in der Kölner Innenstadt auf der vollkommen überfüllten Schildergasse angesprochen. Ein junger Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, sagte in höflichem Ton: »Hey, Max, ich wünsche dir viel Glück und Erfolg. Mach so weiter! Mega Stimme, aber zieh dir was Vernünftiges an.«
Ich war so was von perplex! Da hat sich dieser Typ unter Hunderten von Gesichtern, die man an einem einzigen Fernsehabend zu sehen bekommt, ausgerechnet meins gemerkt; und erkannte mich tatsächlich auch noch zwischen all diesen vorbeiströmenden Menschen wieder …
Als ich mich gedanklich wieder gefangen hatte, antwortete ich: »Danke, das ist wirklich sehr nett von dir.«
Mega Stimme, hatte er gesagt. Yeah!
Zieh dir was Vernünftiges an, hatte er gesagt. What? Wieso das denn?
Beim Verlassen meiner Heimat hatte ich doch für meinen ersten Fernsehauftritt die beste Hose aus dem Dorf bekommen.
Das Frühjahr 2004 brachte mein Leben ordentlich durcheinander. Ich war da nämlich eigentlich noch Schüler und stand kurz vor meinen Abiturprüfungen. Ich musste also Mathe, Englisch und Geschichte lernen – und gleichzeitig den Text von Can’t wait until tonight. Und auch sonst durfte ich viele verrückte und völlig neue Erfahrungen machen, wie zum Beispiel:
Zum ersten Mal meine eigene Stimme im Supermarkt zwischen Nudeln und Dosenfisch aus den Boxen hören.
Bei einer Polizeikontrolle auf der Autobahn gefragt werden, wie Stefan Raab eigentlich privat so ist.
Dass es hinter den Bergen meines Schwarzwalds mindestens noch eine zweite Welt gibt.
Dass der US-amerikanische Blues-Gitarrist Billy Gibbons nicht nur auf der Bühne, sondern auch unter vier Augen in seinem Nightliner die coolste Sau der Welt ist.
Dass es früher lässig war, mit einem Hubschrauber zu einem Konzert geflogen zu werden – und dass man heute aus moralischen Gründen besser gar nicht mehr einsteigt oder zumindest nicht groß darüber redet, wenn es mal gar nicht anders ging.
Und im Grunde geht es seitdem so weiter. Ich mache immer noch ständig verrückte und völlig neue Erfahrungen, wie zu Beispiel:
Wie es sich anfühlt, vom Sohn zum Papa zu werden.
Dass mein Image, das ich seit 2004 in der Öffentlichkeit habe, nämlich ein lieber, netter, ruhiger, ausgeglichener, vernünftiger und intelligenter Mensch zu sein, meinem kompletten Umfeld einen Lachanfall beschert hat, an dem sie fast erstickt wären.
Dass ich in meinem Leben zu viele unvergessliche Momente erleben durfte, um sie alle in dieses Buch zu packen.
Dass mein Leben ein Baum ist, dessen Wurzeln der Schwarzwald ist, der Stamm die Familie und die Musikkarriere allenfalls ein dicker Ast.
Aufgewachsen im Schwarzwald
Der Sommer heiß, der Winter arschkalt
Grüne Wellen. Wenig Asphalt
Wo ein Hochhaus steht
Du bist schöner als die Großstadt
Bäume höher als ein Hochmast
Erinnerungen, die ich nie loslass
Mein Heimatmagnet
Denn du hast mich bewegt, mich geprägt
Gemeinsam haben wir schon so viel erlebt
Und ich weiß, das Band zwischen uns reißt niemals ein
Es wird immer stärker als mein Fernweh sein
Zu dir komm ich heim
Du gibst mir deinen Boden
Du gibst mir deine Luft
Und wir haben uns geschworen, dass es für immer so bleiben muss
Ich tauche in dich ein
Ich rieche dich so gerne
Denn du bist voller Leben, und dein Himmel voller Sterne
Ich suche immer wieder deine Nähe
Du bist mein Herz, ich deine Seele
Du sprichst und ich verstehe
Jede Silbe Magie
Denn du hast mich bemalt
So bunt, wie ich heute bin
Ich bin die Leinwand, du die Farben
Gibst meinem Rahmen einen Sinn
Und der Grund, warum ich sing, bist du
Und dieses Lied reißt niemals ein, nein, nein,
Es wird immer lauter als mein Fernweh sein
Zu dir komm ich heim
Du gibst mir deinen Boden
Du gibst mir deine Luft
Und wir haben uns geschworen, dass es für immer so bleiben muss
Ich tauche in dich ein
Ich rieche dich so gerne
Denn du bist voller Leben, und dein Himmel voller Sterne
War in dir oben und ganz unten
Bin in dir aufgegangen und versunken
In Minuten und Sekunden
Kannst du mich heilen und verwunden
War in dir oben und ganz unten
Habe mich in dir gefunden
Wir sind ein Leben lang, ein Leben lang verbunden
Zu dir komm ich heim, 2018
So, und jetzt noch mal von vorn: Ich bin Max Mutzke. Soweit ich weiß, der einzige Max Mutzke, den es bisher gab.
Der Nachname »Mutzke« stammt von meiner Familie väterlicherseits. Die lebte laut Stammbaum vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre in Oberschlesien.
Die Moore dort nannte man Mutzen. Und die dort ansässigen Bauern waren die »Mutzkes«. Daher also der Ursprung unseres Namens: Meine Vorfahren waren ein paar hundert Jahre Bauern. Das zumindest hat mir meine Lieblingstante Hannah erzählt, meine Lieblingstante väterlicherseits. Meine Lieblingstante mütterlicherseits heißt Hanne, zu ihr komme ich später noch.
Die liebe Hannah war eine von fünf Schwestern meines Vaters. Sie starb am Ende ihres 92. Lebensjahrs, und bis kurz vor ihrem Tod war sie unglaublich fit und konnte viel erzählen. Vor allem vom Krieg und der Flucht aus Oberschlesien. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir dieser eine Moment, der meine sowieso schon sehr gläubige Familie noch in ihrem Glauben bestätigen sollte: Der Zweite Weltkrieg stand kurz vor seinem Ende, die russischen Soldaten rückten immer näher, die ganze Familie war (als Deutsche!) ständig auf der Flucht und hatte schon ein paarmal den Wohnort wechseln müssen.
Der Patenonkel meines Vaters war zu der Zeit Pilot. Er flog eine Transportmaschine mit vier Propellern und hatte somit genügend Platz, um meine Familie mitnehmen zu können. Er sollte an dem Tag nach Dresden fliegen und wollte bei der Flucht helfen. Also organisierte er einen LKW, um sie und ihren Hausrat zum Flugplatz zu bringen.
Die Flucht war seit langer Zeit geplant, also waren bereits alle Dinge in Kisten und Koffern verpackt. Endlich war es so weit. Der LKW stand mit laufendem Motor vor dem Haus, der Patenonkel kam herein und rief: »Alle sofort einsteigen! Ich bringe euch jetzt nach Dresden, dann seid ihr endlich weg von hier.«
Meine Großeltern und ihre sieben Kinder – mein Vater war mit zwei Jahren der Jüngste – machten sich samt Hab und Gut auf den Weg. Als sie beim Flughafen angekommen waren und begannen, den LKW abzuladen, bekam der Patenonkel plötzlich den Auftrag, seine Reiseroute zu ändern. Das Ziel war nun nicht mehr Dresden, die Flucht war geplatzt.
Die lang gehegte Hoffnung, endlich die Familie in Sicherheit zu bringen und etwas Neues aufbauen zu dürfen, wurde in einer Sekunde zerschlagen. Es galt, alles wieder auf den LKW zu laden und den Rückweg anzutreten in eine leere Wohnung, die schon lange kein Zuhause mehr war. Es muss ein niederschmetternder Moment für die ganze Familie gewesen sein.
Ein paar Stunden nachdem sie wieder in der Wohnung angekommen waren, erfuhren sie aus dem Radio, dass ein Großteil der Stadt Dresden in einem verheerenden Luftangriff der Alliierten zerstört worden war. Unter anderem der Flughafen, auf dem sie hätten landen sollen. Viele Menschen kamen damals ums Leben. Die Frustration, die meine Familie stundenlang gequält hatte, war auf einen Schlag gewichen. Große Dankbarkeit stärkte sie in ihrem Glauben, dass da jemand war, der sie beschützte.
Die Familie meines Vaters lebte von da an jahrelang auf gepackten Kartons – die wertvollen Möbel in Kisten vernagelt, um jederzeit bereit zu sein, die alte Heimat endlich zu verlassen. Mein Großvater war strikt gegen den Krieg. Er war schon immer ein sehr gläubiger Mensch und lehnte jede Art von Gewalt ab. Er arbeitete in Schweidnitz (heute Świdnica), wo auch seine Familie lebte, als Ingenieur für Dampfmaschinen. Immer wieder sollte mein Opa eingezogen werden, doch der Chef der Fabrik erklärte ihn als unabkömmlich für die deutsche Industrie und bewahrte ihn so vor dem Krieg. Er kannte die Einstellung meines Großvaters und schätzte ihn sehr. Nur am Ende des Krieges, als der Volkssturm aufgestellt wurde, musste mein Opa zur Verteidigung seines Heimatortes eine Waffe in die Hand nehmen. Soviel ich weiß, hat er sie aber nie abgefeuert.
Mein Vater Gottfried Wilhelm August Mutzke wurde 1943 geboren. Er kann sich also nicht an den Krieg erinnern. Er weiß aber sehr gut, wie es ist, ein Leben voller Entbehrungen zu bestreiten. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr lebte die Familie Mutzke, die ja eigentlich deutsche Wurzeln hat, noch in Oberschlesien, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen gehört. Den Kindern war es dort verboten, die Schule zu besuchen. Die Mutzkes hatten aber das Glück, eine Frau zu kennen, die bereit war, die Kinder heimlich zu unterrichten. Zur Tarnung packten sie die Schulhefte in Milchkannen, um einigermaßen unauffällig durch die Straßen zu kommen. Von den Menschen, die beispielsweise aus Polen oder der Ukraine nach Schlesien zwangsumgesiedelt worden waren, wurden sie teilweise heftig beschimpft, bespuckt und hin und wieder auch mit Steinen beworfen. Mein Vater und seine Geschwister erlebten somit eine Kindheit in Angst, Armut und Ausgeschlossenheit. Nach dem Krieg gab es kein Verständnis oder Mitgefühl für deutsche Familien, die ja schließlich mitverantwortlich waren für das Leid und das Grauen, das Millionen Menschen angetan worden war.
Im Januar 1957, mein Vater war gerade 14 Jahre alt, durften sie mit einem Zug Schlesien verlassen. Sie fuhren durch die DDR nach Westdeutschland. Nach einer Zeit in einem Auffanglager in Friedland kamen sie für sechs Monate nach Rheine, wo ein Teil meiner Familie noch heute lebt. Mein Vater erzählte mir, dass er sich sehr gut daran erinnern kann, wie er das erste Mal die Grenze nach Westdeutschland überquerte. Die vielen farbenfrohen Werbeschilder mit Dingen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, die prachtvollen Häuser und pompösen Autos, von deren Existenz er bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte.
Mein Opa fand bald eine Arbeitsstelle in Lünen bei der Firma Westfalia und entwickelte dort unter anderem einen Messkoffer, der dazu diente, den Hydraulikdruck zu messen. Er wurde speziell für eine Maschine entwickelt, die tief unter der Erde Braunkohle abbaute. Dieser Koffer muss eine echte Innovation gewesen sein, denn er bekam den Namen »Mutzkekoffer« und war viele Jahrzehnte im deutschen Museum in München ausgestellt.
Am 21. Dezember 2023 feierten wir den 80. Geburtstag meines Papas. Mit sämtlichen Freunden, Freundinnen und einer unglaublichen Liveband, in der natürlich jede Menge »Stargäste« ihren großen Moment hatten: Bine, Miriam, Rosa, Mazi, Menzel, Jüre, Sami, Olli … Alles Freunde, Geschwister, Verwandte – also echte Stargäste unserer Herzen. Die Überraschungsfeier fand in Krenkingen statt. Das ist das Dorf, in dem meine Geschwister und ich aufwachsen durften. In Sicherheit und eingebettet in die beste Gesellschaft, die ich mir nur wünschen konnte. Diese Gesellschaft hat mich unter anderem zu dem gemacht, der ich heute bin.
Bei meinem Vater bin ich versucht zu sagen: »80 Jahre jung«. Er fährt noch immer mit seiner Enduro, einer Yamaha Ténéré 750, zur Arbeit. Die hatte er mir abgekauft, nachdem ich ihm mit der ganzen Überzeugungskraft eines 25-Jährigen klargemacht hatte, dass eine Enduro viel cooler sei als eine Honda CX 500, auch bekannt als »Güllepumpe«. Kenner werden mir da sicher widersprechen. Ich selbst ehrlich gesagt mittlerweile auch.
Mein Vater, Gynäkologe von Beruf und Schlagzeuger aus Überzeugung, ist jedenfalls noch unverschämt fit und kerngesund. Diese Gene sind kein Zufall. Seine Mutter Hildegard (geb. Blaschke) wurde 98 und sein Vater Wilhelm August unglaubliche 103 Jahre alt. Ich denke oft: Verrückt, der Typ ist im deutschen Kaiserreich geboren, war erwachsen im Ersten Weltkrieg, hatte schon eine große Familie im Zweiten Weltkrieg, hat die Zerstörung und den Aufschwung Deutschlands mitbekommen, den Kalten Krieg, den Mauerfall, den 11. September und alles, was so dazwischenlag.
Als Musiker formuliert: geboren zwei Jahre nach der Erfindung der Schellackplatte, bereits 49 Jahre alt bei der Entwicklung der Vinyl, 62 bei der Geburt der Musikkassette, 83 zum Erscheinen der CD und 96 Jahre alt, als das Audioformat MP3 auf den Plan trat.
Oder, als Schwarzwälder g’schwätzt: Mit der Kutsche aus dem Kreißsaal, mit dem V6 Mercedes E-Klasse inklusive Navigationssystem zum Grab.
So weit erst mal zur Familie meines Vaters.
Mein erklärter Lieblingsmensch war bis zu seinem Tod (und noch lange darüber hinaus) Opa Bernhard, der Vater meiner Mutter. Von ihm habe ich alles Wichtige fürs Leben mitbekommen: den breiten Brustkorb, die Augenbrauen, die unerschütterlich gute Laune, den Optimismus, das Holzmachen und den Unimog (was der Unimog für mich bedeutet, wird später noch weiter ausführlich besprochen).
Opa Bernhard war ein Bär mit langem Vollbart, eine richtige Kante.
Wir haben uns oft erzählt, dass er bis zu seinen letzten Tagen noch Schlägereien hatte. Ganz so war es natürlich nicht, aber sagen wir mal so: Er hat in Konflikten nicht unbedingt gezögert, Tatsachen zu schaffen.
Es muss in den neunziger Jahren gewesen sein, als er mit seinen Freunden und Freundinnen aus dem Bergsteigerverein in Prag war: zehn bis zwölf Rentnerpaare, alle für ihr Alter gut beieinander. In der U-Bahn wurden sie plötzlich von einer Horde junger Männer umschwärmt, schlagartig wurde es im Waggon sehr eng. »Hey, mei Handdasch isch weg!«, rief da plötzlich meine schwäbische Oma in den Tumult. Mein Opa Bernhard und sein bester Freund, ein zwei Meter großer Hüne, genannt Zepfer-Hans und in seinen jungen Jahren Ringer im deutschen Kader, schufen die erwähnten Tatsachen. Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder Glück. Jedenfalls: Der erste Mann, der k.o. ging, war keiner aus der Rentnergruppe; und dieser Typ hatte tatsächlich die Handtasche meiner Oma unter seiner Jacke.
Und noch eine Opa-Haudegen-Geschichte: Opa Bernhard und Zepfer-Hans schleppten Fleisch zum Verkauf auf eine Berghütte. Nachdem das Fleisch abgegeben worden war, fand der Wirt den vereinbarten Preis wohl plötzlich nicht mehr angemessen. Er wähnte sich in einer guten Verhandlungsposition, die beiden würden ja sicher das Fleisch nicht einfach wieder mitnehmen wollen. Außerdem war die Hütte gut besucht, und die meisten der Gäste waren bekannt mit dem Hüttenwirt.
Nach kurzer und eindeutiger Diskussion ging es schnell zur Sache: Zepfer-Hans und Opa schufen wieder mal Tatsachen – und alle in der Hütte wollten dabei sein.
»Was, ihr habt euch zu zweit mit allen aus der Hütte geprügelt?«, unterbrach ich meinen Opa stolz und fassungslos zugleich, als er mir die Geschichte erzählte.
»Mäxle, du muesch di eifach mit’m Rucke zur Wand in’d Ecke stelle und näh, was do so kunnt. Denn got’s ganz guet«, antwortete Opa.
Und so stellte sich damals jeder der beiden »einfach« mit dem Rücken zur Wand in eine Ecke und nahm, was da so kam. Der Wirt und die Gäste waren wohl bald überzeugt, dass der Preis für das Fleisch nicht bloß angemessen war, sondern sich von Schlag zu Schlag sogar noch spürbar erhöhte.
Ob das alles tatsächlich so geschehen ist oder ob meine beziehungsweise die Phantasie meines Opas noch etwas dazukomponiert hat, kann ich nicht sagen. Es spielt aber auch keine Rolle, denn in meinem Kopf sind die Geschichten wahr. Mit all den »romantischen« Bildern, die ein kleiner Junge, der eine Prügelei nur aus Bud-Spencer-Filmen kennt, sich so ausmalt. Als Kinder liebten wir die Legenden, die sich um meinen Opa rankten – und die abenteuerlichen Geschichten, die er uns selbst erzählte.
Für einen Jungen wie mich war sein ganzes Leben ein einziges Abenteuer. Das begann schon bei seinem Beruf: Opa Bernhard war Lokomotivführer! Anfangs noch in der Zeit der dicken schwarzen Dampfloks. Er liebte das Einheizen der Kessel, die Hitze im Führerstand, das Stampfen der Lokomotive. Als dann die Dieselloks kamen, hat es ihm schon keinen richtigen Spaß mehr gemacht. Und so nahm er seinen ersten Herzinfarkt dankend an und ließ sich mit Mitte, Ende 40 in den Vorruhestand versetzen.
Die Befürchtung, meinem Opa könnte nun die Decke auf den Kopf fallen, war unbegründet. Er wusste sofort, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Opa Bernhard war von nun an nur noch Bergsteiger und ständig unterwegs. Sowohl in Europa als auch im Himalaya. Er hat für seinen Bergsteigerverein Kletterwege eingerichtet und Hütten gebaut. Er hatte einen intelligenten, aber auch erfrischend derben Humor und war voller Lebensfreude. Außerdem ein Freund für jede und jeden, immer hilfsbereit und voller Ideen.
So schmuggelte er alle Jahre wieder für seine Kumpels in seinem großen weißen Volvo 240 GL Wein und Honig aus Tirol nach Deutschland. Bis er eines Tages bei einer seiner nächtlichen Marathonfahrten einschlief. Er muss während der Fahrt wohl seinen linken Unterarm aufs Dach gelegt haben. Jedenfalls überschlug sich der Volvo – und blieb auf dem Dach sowie auf dem Arm meines Opas liegen. Sämtliche Honiggläser und Weinflaschen gingen zu Bruch. Alkohol und Bienenkotze verteilten sich in der Volvoschleuder und somit natürlich auch über meinen Lieblingsopa. Bis die Rettungskräfte eintrafen, war die Unfallstelle Nahrungsquelle für Schwärme von Bienen, Wespen und Hornissen, die nicht bereit waren zu teilen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wer während der Bergung mehr Schmerzen hatte: der Unfallverursacher oder die Rettungskräfte.
Mein Opa jedenfalls liebte die Geschichten, die sein Leben schrieb, und erzählte sie bevorzugt beim Vespern. Meist lachte er dabei selbst so polternd und herzhaft, dass ihm die Tränen den Vollbart durchnässten und ich als Kind immer Lust bekam, ihn auszuwringen.
Meine absolute Lieblingsgeschichte war diese hier: Opa arbeitete mit dem Winkelschleifer in seiner Garage im schwäbischen Spaichingen, seinem Heimatort. Ein Funke verirrte sich in die Schublade, in der er die Reste seines Schwarzpulvers bunkerte. Ich weiß nicht, woher er das hatte, aber ich weiß dafür umso genauer, wofür er es benutzte (die Auflösung folgt später). Als nun der kleine, harmlose Funke das lustige schwarze Pulver berührte, knallte es gleich zweimal. Auf den großen dumpfen Knall der Explosion folgte ein etwas hellerer, krachender, als mein Opa das Garagentor mit seinem Körper aus den Angeln schlug, das im Ganzen auf der anderen Straßenseite landete. Oma Anni, seine Frau, ist natürlich sprichwörtlich wie vom Donner gerührt zum Fenster gestürzt. Sie sah und hörte, wie mein Opa, von Ruß überzogen, in der Einfahrt stand und einfach nur laut lachte.
Ich verbrachte als Kind wahnsinnig gerne Zeit mit Opa Bernhard, vor allem im Wald. Dorthin fuhren wir mit dem alten Unimog 421, Baujahr 1964, den wir noch immer in der Familie haben.
Der Unimog ist das Fahrzeug, mit dem ich im Alter von elf Jahren das Fahren erlernt habe und mit dem ich, nach jahrelanger Fahrpraxis, von der Polizei beim Fahren ohne Führerschein erwischt wurde. Ich war damals 14 und hatte zuvor noch nie ein Polizeiauto in unserem Schwarzwalddorf gesehen. Es wurde immer gesagt: »In dieses Dorf fährt keine Polizei, weil sie ohne Allrad nicht mehr rauskommt.«
Tja, Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich sollte in meiner Kindheit und Jugend noch ein paar Mal eines Besseren belehrt werden.
Damals habe ich nicht schlecht gestaunt, als mir die Polizei entgegenkam. Geistesgegenwärtig gab ich Vollgas und wollte fliehen, doch ich hätte genauso gut anhalten und freundlich guten Tag sagen können, denn der Unimog hat nur 45 PS und die Straße ging bergauf. Die Polizei überholte mich gemütlich im Rückwärtsgang und stellte sich einfach vor mich. Oh Mann, war das peinlich! Die Konsequenz waren zehn Sozialstunden beim THW.
Schon in der ersten Stunde fragte mich der damalige Stützpunktleiter: »Warum bisch do? Wobi hän’se di verwütscht?« Ich übersetze mal: Warum bist du da? Wobei haben sie dich erwischt?
»Schwarzfahren mit ’nem 421 Unimog«, sagte ich stolz.
»Aha, dann kasch grad mol de Karre in d’Halle fahre«, antwortete er und zeigte auf den LKW auf dem Hof. Was soll ich sagen, ich mochte die Stunden beim THW!
Als ich wieder zu Hause war, fuhr ich selbstverständlich, inspiriert durch den THW-LKW, direkt mit dem Unimog in den Wald und stellte mir vor, einen gefährlichen Einsatz zu meistern. Ich liebte es so sehr, in diesem Fahrzeug zu sitzen! Schon als Kind saß ich neben meinem Opa auf dem Beifahrersitz. Er pfiff und sang irgendwelche Volkslieder, während wir in den Wald zuckelten. Dort brachte er mir bei, wie man Bäume fällt, sie mit der Seilwinde aus dem Wald zieht, entastet, in Meterstücke sägt, von Hand spaltet und auf den Unimog verlädt. Er zeigte mir, wie man ein richtiges Waldarbeiterfeuer macht und Stöcke schnitzt, um dann die beste Wurst der Welt darüber zu grillen. Den Trick verrate ich euch: Man muss kurz vorher frisches Tannenreisig auf die Glut schmeißen, das ergibt dann den Räuchergeschmack.
Mein Opa war auch der Mensch, der mir zeigte, dass man eine Straße anzünden kann. Ich war sechs Jahre alt, und wir unterhielten uns wie Männer über Benzin: »Wenn man mit Benzin arbeitet, muss man immer mit viel Respekt und Vorsicht an die Sache rangehen. Wenn du zum Beispiel einem offenen Feuer zu nahe kommst, dann explodiert es, und alles, was in der Nähe ist, steht in Flammen!«, warnte mich mein Opa – natürlich sprach er mit mir seinen herrlich schwäbischen Dialekt, den lasse ich euch zu Liebe und für ein besseres Verständnis weg.
»Sicher nicht alles«, antwortete ich.
Opa: »Doch! Alles, was das Benzin berührt, brennt.«
Ich: »Eine Straße kann man nicht anzünden.«
Opa: »Doch, auch die Straße.«
Ich: »Du redest Kack! Eine Straße kann nicht brennen!«
Mein Opa fluchte kurz in seinen Bart und fuhr scharf rechts ran.
»So, aussteigen, du kleiner Klugscheißer!«, befahl er mir.
Ich sprang aus dem Unimog, er holte den roten Benzinkanister zum Befüllen der Motorsägen von der Ladefläche und schüttete eine Pfütze auf die Straße.
Dann zog er sein Feuerzeug und ein altes Taschentuch aus der Hosentasche.
»Jetzt geh ein paar Schritte zurück und schau«, instruierte er mich.
Opa Bernhard zündete das Taschentuch an und warf es aus zwei Metern Entfernung in die Benzinlache. Es gab eine richtige Explosion, und die Straße brannte lichterloh. So etwas hatte ich noch nie gesehen – und hätte es auch nicht für möglich gehalten. Ein kurzer Moment des Staunens, dann hörten wir etwas.
Wir befanden uns auf einer verlassenen kleinen Straße im Schwarzatal, doch just in dem Moment, als die Straße brannte, hörten wir ein Auto, das sich schnell näherte. Das konnte nur der strenge Förster sein!
Mein Opa hüpfte wie Rumpelstilzchen auf dem Feuer herum, um es zu löschen. Dabei fing seine Hose Feuer, und er fluchte – jetzt nicht mehr nur in seinen Bart. Als das Auto mit einem Waldarbeiter um die Kurve schoss, qualmte nur noch Opas Hose.
Die ganze Sache hat mich so sehr beeindruckt, dass ich von da an oft eigene Benzinversuche durchführte.
Als ich abends ins Bett ging, drückte ich Opa Bernhard fest und gab ihm, wie immer, noch einmal förmlich die Hand. Er sagte dann so was wie: »Ab ins Bett. Schlof guet, du alte Schofseckel.« (Haha, da ich das gerade für euch übersetze, fällt mir erst jetzt auf, was er da eigentlich gesagt hat: »Ab ins Bett. Schlaf gut, du alter Schafshoden.«)
Opa ließ meine Hand an diesem, wie an jedem anderen Abend auch, nicht los. Er war ein Bär, ich hatte keine Chance, mich aus seinem Griff zu befreien. Gleichzeitig bestand er mit ernster Miene darauf, dass ich nun endlich abhauen solle, es wäre ja nun mal wirklich Zeit, schlafen zu gehen. »Verschwind jetzt, du Lumpehund. Mach, dass Land g’winsch! Jetzt hau halt ab, I bruech mine Rueh!«
Es waren genau solche Momente, die meinen Opa so liebenswert machten. Er begegnete uns Enkelkindern auf Augenhöhe und hatte großen Spaß dabei, uns auf den Arm zu nehmen, zum Staunen und zum Lachen zu bringen.
Diese liebenswerte und dabei auch ruppige Art, mit Kindern umzugehen, habe ich eins zu eins von meinem Opa übernommen.
Bei Festen, Hochzeiten oder anderen familiären Zusammenkünften gibt es immer eine Person, auf der nach fünf Minuten sämtliche Kinder rumturnen. Dieses anstrengende, aber meist wirklich witzige und kurzweilige Los zieht fast jedes Mal: Max. Wenn Kinder im Raum sind, ob meine eigenen oder die aus meinem Freundeskreis, dann kann ich gar nicht anders, als sie zum Staunen und Lachen zu bringen. Okay, ich geb’s zu: manchmal vielleicht auch zum Weinen, wenn ich den Bogen etwas überspanne, aber das ist dann wirklich unabsichtlich.
Unser gemeinsamer Humor, der Unimog, das Holzmachen – das alles liebte ich sehr an meinem Opa. Das Beste von allem ist aber, dass uns Opa Bernhard ermöglicht hat, unsere Kindheit im schönsten Haus der Welt zu verbringen.
Als meine Eltern im Schwarzwalddorf Krenkingen das Pfarrhaus gefunden hatten, in dem sie leben wollten, trommelte mein Opa seine Bergsteigerfreunde zusammen. Sie brachten das Haus auf Vordermann. Bei solchen Gelegenheiten war es keine Frage, dass man einander zur Hand ging.
Und so machten sie sich frisch ans Werk, bauten einen offenen Kamin ein, installierten eine Zentralheizung, verlegten neue Elektrizität und Dielenböden, machten Stuckarbeiten und Durchbrüche durch das dicke Mauerwerk und noch viel, viel mehr. Die Jungs haben teilweise tagelang auf der Baustelle in unserem Haus übernachtet. Schließlich lebten alle im Umkreis einer guten Stunde in und um Spaichingen – da wäre die Fahrt nach Hause ein großer Zeitaufwand gewesen. Sie arbeiteten von früh morgens bis spät in die Nacht und waren nach den harten Stunden und vielen Bieren ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeuges im öffentlichen Straßenverkehr, um es mal ganz unmissverständlich auszudrücken. Außerdem genossen sie die gemeinsame Zeit abends am Feuer und zogen sie gern in die Länge.
Kurzum: Um dieses riesige katholische Pfarrhaus für die protestantische Familie Mutzke herzurichten, wurde darin ein Vierteljahr lang (auch an Sonntagen!) gearbeitet, gesoffen und geflucht. Ich würde mal behaupten, es war eine ganz besondere Art der Umwidmung beziehungsweise der Nutzungsänderung einer Immobilie.
Nach nur drei Monaten zog der Handwerkertrupp ab und hinterließ uns dieses unglaubliche Zuhause. Opa Bernhard war ein Zusammenbringer, ein Organisator. Er hielt die Menschen um sich herum immer bei bester Laune.
Er starb mit 68 Jahren an seinem dritten Herzinfarkt. Seine Beerdigung war wie die eines Popstars: Die Leute standen über drei Stunden an, bis sie vorne am Grab waren. Einfach nur, weil er so ein guter Typ gewesen war. Alle liebten ihn – und ich eben ganz besonders.
Auch wenn er viel zu früh aus meinem Leben gefallen ist – ich war erst 13 Jahre alt, als er starb –, bin ich für jedes gemeinsame Jahr, für jede gemeinsame Erinnerung unendlich dankbar. Wenn ich einen stressigen oder auch mal unangenehmen Moment habe, dann denke ich: Opa würde daraus jetzt eine phantastische und lustige Geschichte machen, oder einfach: Tatsachen schaffen. Es fällt mir dann viel leichter, den Moment nicht überzubewerten und mich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Es gibt also Situationen, in denen ich Opa Bernhard mit der sonnengegerbten Haut und seinen tiefen Lachfalten bis heute vermisse.
Aber da bin ich nicht der Einzige in der Familie. Wenn wir beisammen sind, erinnern wir uns alle noch sehr gerne an den alten Haudegen mit dem großen Herzen, das sogar noch größer war als seine Augenbrauen und sein Bart.
Meine Eltern lernten sich auf einem Wochenmarkt kennen, in einer Kleinstadt zwischen dem Schwarzwald und dem Bodensee. Da stand mein Vater, ein Medizinstudent im Kaftan, von denen er auch welche verkaufte. Er hatte einen coolen Oberlippenbart und rauchte Pfeife. Meine Mutter hielt einen kleinen Jungen an der Hand, als sie über den Markt flanierte. Sie sah meinen Vater und verliebte sich auf Anhieb in ihn – und er sich auch in sie.
Richtig, meine Mutter hatte schon einen kleinen »Sohn«, als meine Eltern sich kennenlernten. Er hieß Steffes und war von anderen Eltern geboren worden, die in Steffes Leben schon lange keinen echten Platz mehr hatten. Die Familie, in die er hineingeboren wurde, hatte es wohl sehr schwer – und auch Steffes hatte es in vielerlei Hinsicht nicht leicht. Er wurde mit dem Noonan-Syndrom geboren. Es bringt in den meisten Fällen Kleinwuchs, schwere Herzfehler und ein auffälliges Äußeres mit sich. Außerdem litt Steffes von Geburt an an Diabetes. Seinen ersten schweren Unterzucker erlitt er im Alter von wenigen Wochen. Seine leiblichen Eltern, er nannte sie immer nur seine »Erzeuger«, waren mit dieser Situation wohl total überfordert und warfen ihn – im Glauben, er sei tot – in den Mülleimer. Dort wurde er gefunden und in ein Heim für an Diabetes erkrankte Kinder gebracht. Das war Anfang der siebziger Jahre. Zu der Zeit war es wohl nicht so einfach, den Blutzucker zu messen und Insulin zu verabreichen, vor allem bei Säuglingen und Kindern.
Zum Glück gab es Hanne, die einzige Schwester meiner Mutter. (Nur mal so nebenbei: Seit meine Geschwister und ich auf der Welt sind, ist sie außerdem unsere unangefochtene Lieblingstante.) Sie ist auch heute noch Sozialarbeiterin und kümmert sich voller Hingabe um Familien mit schweren Schicksalen. Hanne absolvierte damals mit 16 Jahren ein Praktikum in dem Heim, in dem Steffes aufwuchs. Er war zu dieser Zeit schon sechs Jahre alt. An Weihnachten wurden alle Kinder von ihren Familien nach Hause geholt, nur der kleine Steffes war übrig geblieben. Den kleinen Jungen alleine im Frühstückssaal über sein Tellerchen gebeugt zu sehen, brach meiner Tante das Herz. Sie fragte ihren Papa Bernhard, ob sie ihn an Weihnachten mit nach Hause bringen dürfe. Von da an durfte Steffes oft am Wochenende und vor allem in den Ferien bei der Familie meiner Mutter wohnen.
Und jetzt kommt meine Mutter ins Spiel: Sie hatte das größte Herz, das man sich nur vorstellen kann, und sie schenkte dem Jungen sofort einen großen Platz darin. Als der kleine Steffes mit ihrer Familie Weihnachten feiern durfte, war sie 19 Jahre alt. Sie mochte ihn so sehr, dass sie sich liebend gerne und oft um ihn kümmerte. Und so kam es, dass sie mit Steffes an der Hand meinen Vater kennenlernte.
Steffes war also unser ältester Bruder, insgesamt sollten wir sechs Geschwister werden, meine Eltern heirateten und bekamen zusammen noch fünf weitere Kinder. Erst Miriam, dann Moritz, dann mich, schließlich Menzel und zu guter letzt Mertel. Auch wenn Steffes nicht unser leiblicher Bruder war und auch nie bei uns gewohnt hat, so war er für uns immer und uneingeschränkt unser Bruder. Steffes war ein wichtiger Teil der Familie, er und ich hatten eine ganz besondere Beziehung. Wir machten zusammen Musik, traten mit unserer Band Rübersksnewelst (kein Tippfehler! Wie es zu diesem phantastischen Namen kam, erzähle ich später) auf und verbrachten gern Zeit miteinander, wenn er uns am Wochenende besuchte.
Erst viele Jahre später, mit etwa 30 Jahren, wurde Steffes offiziell von meinen Eltern adoptiert, weil er sich das sehr gewünscht hatte. Er wollte unseren Nachnamen tragen. 2015, im Alter von 45 Jahren, starb Steffes an den Folgen einer Operation. Dieses Schicksal war besonders tragisch und zynisch, denn die OP hätte seine Diabetes für immer heilen sollen. Die heftigen Schwankungen seines Blutzuckers hatten über die Jahrzehnte hinweg seinen Organen enormen Schaden zugefügt. Die letzten Jahre musste er sich dreimal wöchentlich einer Blutwäsche unterziehen; seine Nieren konnten diese Aufgabe nicht mehr bewältigen. Nun endlich, nach jahrelanger Wartezeit, kam die langersehnte Nachricht, dass Spenderorgane gefunden waren, es ging um beide Nieren und die Bauchspeicheldrüse. Steffes wusste, dass durch diese Operation sein Leben eine unglaubliche Wendung nehmen konnte. Er freute sich wahnsinng auf dieses neue Leben, in dem er nie wieder auf seinen Blutzucker würde achten müssen, nie wieder mehrmals die Woche stundenlang an Dialysegeräten hängen würde. Doch es kam unerwartet zu Komplikationen, die Steffes nicht überlebte.
Natürlich war mir da schon lange klar, dass wir als Familie in dieser Konstellation nicht für alle Zeit zusammen sein würden, aber so früh einen Bruder zu verlieren, war schrecklich für mich. Nur zwei Jahre zuvor war meine Mutter gestorben. Wir standen in derselben Runde am selben Grab. Nur eben mit einem Bruder weniger.
Mein Nachbar Dieter hat einmal gesagt: »Es ist nie etwas so schlecht, dass es nicht auch für irgendwas gut ist.« (Na ja, in Wahrheit sagte er: »S’isch niä öpis so schlecht, dass es it au für ürgndwa guet isch.«) Vielleicht hat er recht, denn auch wenn der Verlust nahestehender Menschen in seiner Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit gnadenlos ist, führt er uns dennoch etwas Elementares vor Augen: Alles verändert sich mit der Zeit, und nichts bleibt, wie es war.
Der Tod meiner Mutter und meines Bruders, aber auch die Geburten meiner Kinder und der Kinder meiner Geschwister haben uns deutlich gemacht, dass wir in unserer Familie Menschen verlieren und dazugewinnen. Wir sollten also jede Gelegenheit nutzen, um zusammenzukommen und uns zu feiern. Und das schafft unsere Familie wie keine zweite.
Geburtstage, Weihnachten, Ostern, ein neuer Grill oder Terrassenboden, das Aufblühen der Magnolie vor der Haustür, die überfahrene Katze … alles muss gemeinsam gefeiert werden. Manchmal reicht es aber auch, eine simple Nachricht in die Familiengruppe zu schreiben: »Hey ihr Spacken, was macht ihr am Wochenende? Vermisse euch Idioten!«
Alle sind dann tief berührt, verabreden sich und machen sich auf den Weg. Mittlerweile wohnen Mertel und Moritz wieder im schönen Krenkingen, dem Dorf, in dem wir aufgewachsen sind. Miriam lebt in Bern und Menzel in Köln. Aber auch Hanne und ihr Mann Thomas (der übrigens schon mal mein Telefonjoker bei Wer wird Millionär? war), deren Kinder und Kindeskinder kommen aus ihren Löchern. Wir sind dann schnell zwischen 20 und 30 Leute aus drei Generationen, was in unserem Fall bedeutet, dass Menschen zwischen 0 und 80 zusammenkommen.
Es macht nicht nur unglaublich viel Spaß, in so einer Familie seinen Platz zu haben, es gibt mir vor allem Sicherheit und Geborgenheit. Ein Gefühl, das ich sehr gut gebrauchen kann, denn immer und immer wieder wird meine Karriere auf die Probe gestellt. Jedes Lied, das ich veröffentliche, jedes Konzert, das ich gebe, jeder Auftritt, bei dem ich mich im Fernsehen zeige, muss sich erst wieder beweisen. Ich werde von meinem Publikum bewertet, auf die Probe gestellt, natürlich auch mal bejubelt. Aber in einer Welt, in der ständig Neues kommt und die sich rasend schnell verändert, ist meine Karriere alles andere als ein Selbstläufer.
Meine Mutter war eine außergewöhnliche Frau. Sie war in allem unglaublich. Unglaublich frech, unglaublich lustig, unglaublich schön. Sie war allem und jedem gegenüber aufgeschlossen. Sie lebte spontan, war begeisterungsfähig und mitreißend. Sie hatte einen derben und oft obszönen Humor, war überaus generös und liebte es, die Menschen in ihrer Umgebung zu verwöhnen. Auch abseits der Theaterbühne hatte sie viele Fans, die meisten unserer Freundinnen und Freunde fühlten sich in der Gegenwart unserer Mutter sehr wohl. Sie wurde von allen liebevoll bei ihrem Kosenamen Chou Chou gerufen, ausgesprochen »Schuhschuh«. Mein Vater hatte ihn ihr zu Anfang ihrer Beziehung gegeben; so nannte er sie ausnahmslos und liebevoll bis zum Schluss. Nur wir Kinder nannten sie Mama.
Meine Mutter war aber auch unglaublich krank. Sie verfiel dem Alkohol – und wurde die Sucht nie wieder los. Mein Vater, meine Geschwister und ich hatten wunderschöne, aber auch sehr anstrengende und unbeständige Zeiten mit ihr. Es ist nicht leicht, mit einer Mutter aufzuwachsen, die so stark mit sich und ihren Problemen beschäftigt ist, dass man als Familie mehr und mehr ins Abseits rückt.
Unser Glück war, dass unser Papa immer sehr beständig und klar blieb. Ich bin das dritte leibliche Kind meiner Eltern, als mittleres von uns Geschwistern durfte ich unsere Mutter noch richtig gesund erleben. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich weiß, wer sie war. Was für eine Löwin sie sein konnte, welche unermüdliche Energie sie einst hatte. Wir sind stolz, eine so humorvolle, kreative, unvoreingenommene, unkonventionelle und lebensfrohe Frau als Mutter gehabt zu haben. Sie hat viele dieser liebenswerten Eigenschaften von ihrem Vater, meinem Schwarzpulver-Opa Bernhard, geerbt. Auf ihre ganz eigene Art entzündete sie das Schwarzpulver in den Herzen der Menschen um sich herum. Die geselligen Abende waren noch bunter, größer und lauter, der Humor noch derber, und in ihren Aktionen war Mama oft noch etwas verrückter – verrückter als er, und eben darin ganz die Tochter meines Opas. Auch sie konnte Tatsachen schaffen, auch sie war eine Zusammenbringerin. Jeder fühlte sich bei ihr willkommen, und sie liebte es, wenn die Bude voll war. Sie kochte mit den ausgefallensten Gewürzen, von denen die meisten ihrer Besucher noch nie etwas gehört, geschweige denn sie probiert hatten. Es gab Hühnchen in knallpinker Soße oder Ente im türkisen Gewürzmantel. Sie scheute keinen Aufwand, um ihre Gäste zu verzaubern, und legte großen Wert darauf, dass auch wirklich jeder satt wurde. Meine Mama pflegte zu sagen – und dieses Motto trifft sehr gut ihr Verständnis von Gastfreundschaft:
»Fünf sind geladen,
zehn sind gekommen.
Ich mach Wasser in die Suppe,
es sind alle willkommen.«
Außerdem war sie eine hervorragende Geschichtenerzählerin und verstand es wie keine Zweite, die Menschen um sich herum zu unterhalten. Sie hatte die Begabung, in ihren Erzählungen Fallhöhen zu kreieren, Dinge herrlich zu übertreiben oder schmückende Details hinzuzufügen. Sie konnte flunkern oder gar lügen, bis sich die Pfarrhausbalken über unseren Köpfen bogen. Alles für die Geschichte! Die Menschen lachten, tranken, aßen und rauchten, während sie an ihren Lippen hingen.
Es gibt da diese typische Mama-Geschichte, die ich unbedingt loswerden möchte: Sie war im nahen Städtchen Tiengen unterwegs, um auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Plötzlich wurde sie unsanft angerempelt. Blitzschnell drehte sie sich mit ihren ein Meter sechzig um. Vor ihr stand ein Mann, der knapp zwei Meter maß. Er war ein guter Freund meiner Mutter.
»Pass mal auf, mein Freundchen«, sagte meine Mutter und hob ihre rechte Faust.
»Was willst du denn mit diesen winzigen Fäustchen, du kleiner Zwuckel?«, erwiderte der Riese lachend. Ohne Vorwarnung schlug ihm meine Mutter mit einem satten rechten Haken in die Rippen. Der Freund stöhnte und sagte: »Okay, okay, okay. Hab’s kapiert. Scheiße, tut das weh!«
Meine Mutter lachte sich ins Fäustchen und war hoch erfreut, den Kampf so klar für sich entschieden zu haben.
Eine Woche später begegneten sich die beiden in der Bäckerei. Diesmal war es meine Mutter, die ihn zuerst entdeckte. Sie ging auf ihn zu, hob die Fäuste und sagte: »Na, ’ne Revanche?«
In Panik wich er zwei rasche Schritte zurück und flehte: »Chou Chou, bitte nicht anfassen. Ich war beim Arzt. Kein Witz, du hast mir auf dem Markt eine Rippe gebrochen!«
So war meine Mutter. Oft etwas drüber – und das fanden wir (fast) immer so toll an ihr.
Im Jahr 2013 starb sie an den Folgen ihrer Suchterkrankung.
Wie das Leben manchmal so spielt, war der letzte Moment, in dem ich mit ihr alleine war, ein wirklich wertvoller Augenblick mit geradezu übernatürlichem Charakter.
Meine Eltern und ich wohnten, als ich schon erwachsen und bereits Vater war, in dem kleinen Städtchen Tiengen, nur 341 Meter Fußweg (141 Meter Luftlinie) voneinander entfernt.
Ich hatte längst meine eigene Familie. Der Alkoholkonsum meiner Mutter und die körperlichen Folgen waren bereits immens. Wenn ich meine Eltern zu dieser Zeit besuchte, war die Wahrscheinlichkeit, bitter enttäuscht zu werden, wesentlich größer als die Möglichkeit, sie in halbwegs guter Verfassung anzutreffen.
Um meine eigene Familie, allem voran mich selbst, vor diesen oft unappetitlichen und erdrückenden Momenten zu schützen, kam es manchmal vor, dass ich sie über Monate hinweg nicht sah.
Dann gab es dieses besondere Abendessen. Sowohl ein paar meiner Geschwister mit Anhang als auch ich mit meiner Familie waren nach langer Zeit mal wieder bei unseren Eltern zusammengekommen. In früheren Tagen war es in solch vertrauter Runde zweifelsfrei immer sehr aufgedreht und lustig zugegangen, aber zu dieser Zeit war eine entspannte Atmosphäre, beziehungsweise eine nüchterne Mama, schon lange nicht mehr selbstverständlich, sondern eher die absolute Ausnahme.
Dieser Abend war aber, allen Befürchtungen zum Trotz, sehr schön. Der Grund war, dass meine Mutter total da war. Sie hatte nichts oder nur wenig getrunken, sie hatte sich schick gemacht und war bis zum Schluss anwesend, aufgeschlossen, unterhaltsam und sehr lustig.
Es tat so gut, sie endlich mal wieder so zu sehen. Vor allem fand ich es wunderschön, dass meine Kinder ihre Oma so erleben durften.
Oh, da fällt mir eine kleine Geschichte ein, bei der ihr ein Gefühl für den Charakter und den Humor meiner Mutter bekommt: Meine Mutter wollte auf keinen Fall von meinen Kindern »Oma« genannt werden, sie sollten (wie alle anderen auch) Chou Chou zu ihr sagen. Zwar wollte meine Mutter immer Enkel haben – sie liebte meine Kinder aus vollem Herzen und zeigte sich auch überaus gerne und stolz mit ihnen in unserem kleinen Städtchen Tiengen –, aber eine »Oma« wollte sie dann doch nicht sein. Ihrer Meinung nach machte sie das alt und unsexy.
»Nennt mich ja nicht Oma, habt ihr gehört?! Das ist bei Strafe verboten«, sagte sie zu meinen Kleinen. Als Schauspielerin hatte sie die Begabung, solche Sätze in strengem Ton zu sagen und gleichzeitig so, dass ihre Enkelkinder nur ein kleines bisschen Angst bekamen.
Auch wenn sie natürlich wussten, dass ihnen nichts Schlimmes geschehen würde, hatten die Kleinen sich ganz schön im Griff, das Wort Oma kam ihnen eigentlich nie über die Lippen. Einmal passierte es aber doch: »Oma, Oma! Der Junge da hinten hat Arschloch zu mir gesagt.«
Meine Mutter schaute sauer, packte ihr vierjähriges Enkelkindchen am Kragen und fragte in scharfem Ton: »Hast du gerade Oma zu mir gesagt?!« Woraufhin das Kleine sich schnell die Hand vor die Lippen presste, da ihm erst jetzt mit Entsetzen aufging, dass ihm das verbotene O-Wort rausgerutscht war – das ja eigentlich viel schlimmer war als »Arschloch«.