Solange wir schwimmen - Julie Otsuka - E-Book

Solange wir schwimmen E-Book

Julie Otsuka

0,0

Beschreibung

In ihrem Schwimmbad fühlen sie sich zu Hause, hier können sie bei ihren täglichen Bahnen ihre Sorgen hinter sich lassen: Designer, Nonnen, Hundesitter, Veganerinnen, Polizisten, Professorinnen, Schauspieler... Bis eines Tages ein Riss erscheint – am Beckengrund, aber auch im Gedächtnis von Alice, die genau wie die anderen hier im Schwimmen stets Trost und Halt gefunden hat. Während sie bald nur noch in bruchstückhaften Erinnerungen schwimmt, versucht ihre Tochter, sich in ihre Mutter hineinzuversetzen, ihr Verhältnis zueinander neu auszuloten und Alice' Leben Sinn und Zusammenhang zurückzugeben. Aus so unterschiedlichen wie verblüffenden Perspektiven und mit unvergleichlichem Gespür für das Komische im Tragischen schreibt Julie Otsuka über Liebe und Verlust, Trauer und Erinnerung, Mütter und Töchter und die große Frage, was wir unseren Eltern schuldig sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 179

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



mare

JULIE OTSUKA

Solange wir schwimmen

Roman

Aus demamerikanischen Englischvon Katja Scholtz

mare

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Swimmers im Verlag Alfred A. Knopf, Penguin Random House LLC, New York.

Copyright © Julie Otsuka, Inc., 2022

Danke an John von Düffel für die aufmerksame Durchsicht der Schwimmbad-Kapitel in der Übersetzung und für den fachkundigen Rat.

© 2023 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

Coverabbildung 21SD21art/ stock.adobe.com

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-824-3

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-691-1

www.mare.de

Für Andy

Inhalt

Das Schwimmbad unter der Erde

Der Riss

Diem Perdidi

Belavista

EuroNeuro

Dank

Das Schwimmbad unter der Erde

Das Schwimmbad liegt tief unter der Erde, in einem riesigen Hohlraum viele Meter unter den Straßen unserer Stadt. Einige von uns kommen her, weil sie Verletzungen haben und gesund werden müssen. Wir leiden unter Rückenschmerzen, Senkfüßen, geplatzten Träumen, gebrochenen Herzen, Angstzuständen, Melancholie, Antriebsschwäche, den typischen oberirdischen Beschwerden. Andere von uns sind hier in der Nähe am College beschäftigt und verbringen die Mittagspausen lieber unten, im Wasser, weitab vom strengen Blick ihrer Kolleginnen und vom grellen Licht der Bildschirme. Einige von uns kommen her, um ihren unglücklichen Ehen an Land zu entfliehen, wenn auch nur für eine Stunde. Viele von uns wohnen in der Gegend und schwimmen einfach gern. Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert oder daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. Ihre Armzüge sind lang und fließend, ihr Beinschlag ist kräftig, ihr Geist klar. »Da oben«, sagt sie, »bin ich einfach nur eine kleine alte Dame. Aber hier unten im Schwimmbad bin ich ich selbst.«

Im Schwimmbad gelingt es uns an den meisten Tagen, unsere Landsorgen hinter uns zu lassen. Aus gescheiterten Künstlern werden elegante Brustschwimmer. Außerordentliche Professoren schneiden durchs Wasser wie Haie, in atemberaubendem Tempo. Die frisch geschiedene Personalleiterin schnappt sich ein rotes Styroporbrett und kickt ungeniert drauflos. Der geschasste Werbefachmann schwimmt auf dem Rücken wie ein Otter, starrt zu den Wolken auf der blassblau gestrichenen Decke und denkt zum ersten Mal an diesem langen Tag an gar nichts. Lass alles los. Grübler hören auf zu grübeln. Witwen hören auf zu trauern. Arbeitslose Schauspieler, die oben keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen, gleiten mühelos die Schnellschwimmerbahn hinunter, endlich in ihrem Element. Angekommen! Und für kurze Zeit fühlen wir uns in der Welt zu Hause. Stimmungen heben sich, Ticks verschwinden, Erinnerungen werden wach, Migränen lösen sich auf, und langsam, langsam – mit jedem Zug, mit jeder Bahn, die wir schwimmen – wird der Lärm in unseren Köpfen leiser. Und wenn wir unser Pensum geschafft haben, hieven wir uns aus dem Becken, tropfnass und erfrischt, unser Gleichgewicht wiederhergestellt, bereit für einen weiteren Tag an Land.

Oben gibt es Waldbrände, Smogwarnungen, extreme Dürren, Papierstaus, Lehrerstreiks, Aufstände, Revolutionen, glühend heiße Tage ohne Aussicht auf Besserung (Gigantische Hitzeglocke hängt über gesamter Westküste), aber unten, im Schwimmbad, herrschen immer angenehme siebenundzwanzig Grad. Die Luftfeuchtigkeit beträgt fünfundsechzig Prozent. Die Sicht ist klar. Die Bahnen sind friedlich und ruhig. Die Öffnungszeiten sind zwar beschränkt, aber unseren Bedürfnissen angepasst. Einige von uns kommen kurz nach dem Aufwachen, mit frischen Handtüchern über den Schultern und Schwimmbrillen in der Hand, bereit für ihre Acht-Uhr-Runde. Andere von uns kommen spätnachmittags runter, nach der Arbeit, wenn es noch hell und sonnig ist, und wenn wir wieder auftauchen, ist es Abend. Der Verkehr hat abgenommen. Die Bagger sind ruhig. Die Vögel verschwunden. Und wir sind dankbar, dass wir die Dämmerung ein weiteres Mal verpasst haben. Das ist die einzige Zeit, in der ich das Alleinsein nicht ertrage. Einige von uns kommen gewissenhaft fünfmal pro Woche ins Schwimmbad und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie auch nur ein Mal nicht können. Andere von uns kommen jeden Montag-, Mittwoch- und Freitagmittag. Eine von uns kommt eine halbe Stunde vor Schluss, und bis sie sich umgezogen hat und ins Becken steigt, ist es Zeit, das Wasser zu verlassen. Einer von uns leidet an Parkinson und kommt einfach, wenn er kann. Wenn ich hier bin, wisst ihr, dass ich einen guten Tag habe.

An die – wenn auch unausgesprochenen – Regeln im Schwimmbad halten sich alle (wir sind unsere eigenen und besten Gesetzeshüter): kein Rennen, kein Schreien, keine Kinder. Geschwommen wird nur in Ellipsen (gegen den Uhrzeigersinn und immer rechts von der Bahnmarkierung am Beckengrund). Alle Pflaster müssen vorher entfernt werden. Es darf niemand ins Schwimmbecken, der nicht die vorgeschriebenen zwei Minuten in der Umkleide geduscht hat (heißes Wasser, Seife). Niemand, der Ausschlag hat oder eine offene Wunde, darf das Schwimmbad betreten (die Menstruierenden unter uns sind allerdings ausgenommen). Niemand, der nicht Mitglied ist, darf das Schwimmbad betreten. Gäste sind gestattet (nie mehr als eine Person pro Mitglied), gegen eine geringe Tagesgebühr. Bikinis sind erlaubt, aber nicht erwünscht. Badekappen sind ein Muss. Mobiltelefone sind verboten. Die Schwimmbadetikette ist zu allen Zeiten zu beachten. Wer das Tempo nicht halten kann, muss am Ende der Bahn stoppen und den Schwimmer hinter sich vorbeilassen. Wenn man andere von hinten überholen will, muss man sie vorwarnen, indem man ihnen einmal auf den Fuß tippt. Wenn man versehentlich in andere hineinschwimmt, muss man sich vergewissern, dass ihnen nichts passiert ist. Man muss nett sein zu Alice. Den Anweisungen des Bademeisters jederzeit Folge leisten. Den Kopf in regelmäßigen Abständen drehen und, natürlich, das Atmen nicht vergessen.

In unserem »wirklichen Leben« oben sind wir Vielesser, Nichtskönner, Hundesitter, Crossdresser, Strickverrückte (Nur noch eine Reihe), heimliche Hamsterer, unbedeutende Dichter, nachziehende Ehepartner, Zwillinge, Veganerinnen, »Mami«, ein zweitklassiger Modedesigner, ein Ausländer ohne Papiere, eine Nonne, eine Dänin, ein Polizist, ein Schauspieler, der im Fernsehen gerade einen Polizisten spielt (»Officer Mahoney«), eine Gewinnerin der Green-Card-Lotterie, eine zweifach nominierte Professorin des Jahres, ein landesweit bekannter Go-Spieler, drei Typen namens George (George, der Podologe, George, der Neffe des in Ungnade gefallenen Financiers, George, der ehemalige Golden-Gloves-Boxer im Weltergewicht), zwei Roses (Rose und die andere Rose), eine Ida, eine Alice, ein selbsternannter Nobody (Beachtet mich gar nicht), ein ehemaliges Mitglied der Studentenbewegung, zwei verurteilte Verbrecher, süchtig, flüchtig, kampfbereit, verbittert, Ladenhüter, Pechvögel (Ich glaube, ich bin soeben serokonvertiert), im Zwielicht glanzloser Maklerkarrieren, inmitten langwieriger, sich hinziehender Scheidungen (Es ist das siebte Jahr), unfruchtbar, in unserer Blüte, im Trott, auf Mission, in Remission, in der dritten Woche Chemo, in tiefer und elender Verzweiflung (Man gewöhnt sich nie dran), aber unten, im Schwimmbad, sind wir nur eins von dreien: die Schnellen, die Durchschnittlichen oder die Langsamen.

Die Schnellen sind die Alphatiere im Becken. Sie sind angespannt, aggressiv und überaus selbstbewusst in ihrem Schwimmstil. Sie sehen fantastisch aus in ihren Schwimmsachen. Vom Körperbau sind sie eher der muskulöse Typ, haben aber ein oder zwei Pfund mehr auf den Rippen für den besseren Auftrieb. Sie haben breite Schultern und lange Oberkörper und teilen sich gleichmäßig auf in Frauen und Männer. Bei jedem ihrer Beinschläge kocht und brodelt das Wasser. Von ihnen hält man sich am besten fern. Sie sind geborene Athleten, denen Tempo und Rhythmus in die Wiege gelegt wurden und die ein schier unglaubliches Gefühl fürs Wasser haben, das uns anderen fehlt.

Die Durchschnittlichen sind deutlich entspannter als ihre Schnellschwimmer-Kollegen. Es gibt sie in allen Formen und Größen, und falls sie je davon geträumt haben, irgendwann in einer schnelleren und besseren Bahn zu schwimmen, haben sie diesen Traum längst begraben. Egal, wie sehr sie sich anstrengen, es wird nicht dazu kommen, und sie wissen es. Hin und wieder jedoch gibt es jemanden, der der Versuchung erliegt und plötzlich und ungewollt nach Leibeskräften zu strampeln und zu rudern beginnt, als glaubte er für einen Augenblick, seinem Schicksal irgendwie trotzen zu können. Aber dieser Augenblick währt nie lang. Beine werden müde, Armzüge kürzer, Ellenbogen sacken ab, Lungen schmerzen, und nach ein oder zwei Bahnen kehren sie zu ihrem gewohnten Tempo zurück. Kann man nichts machen, sagen sie zu sich selbst. Und dann, freundlich, leutselig – War nur ein Scherz, Leute! –, schwimmen sie weiter.

Die Langsamen sind meist ältere Männer, die kürzlich in Ruhestand gegangen sind, Frauen über neunundvierzig, Aquawalker, Aquajogger, Ökonomen, die aus küstenlosen Schwellenländern der Dritten Welt zu Besuch sind, wo sie angeblich das Schwimmen gerade erst lernen (Genau wie das Autofahren), sowie die gelegentliche Reha-Patientin. Seid nett zu ihnen. Ergeht euch nicht in Spekulationen. Es gibt viele Gründe, warum sie hier sein könnten: Arthritis, Ischias, Schlafprobleme, eine nagelneue Titanhüfte oder Füße, die vom lebenslangen Herumlaufen auf festem Boden schmerzen. »Meine Mutter hat mich immer vor hohen Absätzen gewarnt!« Das Schwimmbad ist ihr Allerheiligstes, ihr Refugium, der einzige Ort auf Erden, wo sie ihrem Schmerz entkommen können, denn nur dort unten, im Wasser, finden ihre Symptome Linderung. Sobald ich den schwarzen Balken auf dem Beckengrund sehe, geht es mir gut.

Bei Tageslicht machen viele von uns wenig her, wir sind ungelenk und schwerfällig und werden mit den Jahren immer langsamer. Die Extrakilos sind da, das Sich-gehen-Lassen hat begonnen, an den Augenwinkeln fächern sich sanft, aber unaufhaltsam die Krähenfüße auf wie Risse in einer Windschutzscheibe. Aber unten im Schwimmbad kommt unser altes jugendliches Selbst wieder zum Vorschein. Graue Haare verschwinden unter dunkelblauen Badekappen. Stirnfalten glätten sich. Niemand humpelt. Dickwanstige Männer, die an Land unter Knieproblemen leiden, wippen beim Aquajogging in ihren hellorangen Schwimmgürteln anmutig auf der Stelle auf und ab. Übergewichtige Frauen, die ihre besten Jahre hinter sich haben, werden im Wasser wendig und gelenkig, geschmeidig wie Delfine in ihren figurstraffenden Spandex-Badeanzügen. Bäuche werden flacher. Dekolletés praller. Längst verloren geglaubte Taillen zeigen sich wieder. Da ist sie ja! Selbst die Rundlichste von uns steuert ihren majestätischen Leib locker und leicht durch die Bahn, als wäre sie die vornehme Queen Mary höchstselbst. Dieser Körper ist wie geschaffen fürs Wasser! Und diejenigen von uns, die sich an Land normalerweise über ihre schlaffer werdenden Gesichtszüge beklagen – Von Jahr zu Jahr wird es schwieriger, das Gesicht zu wahren –, gleiten gelassen durch das Wasser in dem Wissen, dass sie durch die beschlagenen, getönten Schwimmbrillen ihrer Bahnnachbarn nicht mehr sind als eine unscharf vorbeiziehende Silhouette.

Leute, vor denen man sich in Acht nehmen muss: aggressive Bahnenraser, hartnäckige Schubser, rücksichtslose Rückenschwimmerinnen, heimlich Herantauchende, mittelalte Männer, die sofort das Tempo anziehen, wenn sie spüren, dass sie von einer Frau überholt werden könnten, Drängler, Bahnennazis, Wasserdrescher, Um-sich-Treter, der Schwerenöter (wir sind nicht diese Art von Schwimmbad), der Spanner (in seinem Leben oben hoch angesehener Moderator einer Kinder-Fernsehsendung, der unter der Erde vor allem für seine prompten Bahnwechsel bekannt ist – Sexy neue Schwimmerin in Bahn vier! – und für seinen »versehentlichen« Unterwasserrempler: Tut mir so leid), die Frau in Bahn vier mit dem sehr ausladenden Schwimmstil (zu viel Yoga), die frühere dreimalige Olympiateilnehmerin (zwei Silbermedaillen, 100 Meter Lagenstaffel; eine Bronze, 100 Meter Rücken), die jetzt im zweiten Jahr ihrer medizinischen Ausbildung ist und im wirklichen Leben so anders wirkt als damals im Fernsehen. »Ich dachte, sie ist größer«, so der enttäuschte Refrain, der regelmäßig nach einem ihrer unangekündigten Besuche zu hören ist. Sichtungen der Olympionikin sind rar. Sie kommt runter, sie taucht ein, sie schwimmt – lässig, gemächlich, ohne jede erkennbare Anstrengung, obwohl sie mit einem einzigen Schwimmzug so viel Strecke macht wie wir mit dreien –, und dann kehrt sie zu ihrem Leben oben zurück. Stört sie nicht. Bittet sie nicht um ein Autogramm. Sie ist unsere Garbo, und sie möchte in Ruhe gelassen werden.

Bestimmte Mitglieder unserer Gemeinschaft trifft man nur in der Umkleide, aber nie im Schwimmbecken selbst: die Zahnseiden-Fetischistin (Frauenumkleide, mittleres Waschbecken, erscheint pünktlich wie ein Uhrwerk dreimal am Tag), den Klopapierdieb (Männerumkleide, einmal pro Woche, nimmt nie mehr, als er braucht), die Spiegelcheckerin (»Wie sehe ich aus?«, fragt sie einen gern, worauf man mit Inbrunst erwidern muss: »Gut sehen Sie aus!«), den Rasierprofi (braucht manchmal einen ganzen Vormittag, um auch das letzte Barthärchen aus seinem Gesicht zu entfernen), die stämmige Frau mit ungleichen Flip-Flops, die stundenlang mit geschlossenen Augen unter der Dusche steht, den Kopf im Nacken, die Beine weit auseinander, und sich wie wild einseift, als sei dies ihre einzige Chance, sauber zu werden. Diese Leute sind harmlos. Sie haben ihre Gründe, hier zu sein, genau wie wir. Fühlt euch durch ihre Anwesenheit nicht bedrängt. Macht euch nicht über sie lustig. Macht einen Bogen um sie, wenn es geht. Denn sie kommen seit Jahren her, ohne uns irgendwelchen Ärger zu bereiten, und sich jetzt mit ihnen anzulegen würde uns garantiert Pech bringen beim Schwimmen.

Der Bademeister betritt das Schwimmbad durch einen separaten Eingang mit dem Schild »Zutritt nur für Personal« und sitzt auf einem hohen Metallhocker vor der Holztribüne, von wo aus er stundenlang aufs Wasser schaut. Er trägt weiße Shorts und ein hellblaues Hemd und untersteht dem Schwimmbadleiter, einem kleinen, bebrillten Mann in einer verschlissenen Windjacke, dessen fensterloses Büro sich im unteren Zwischengeschoss gegenüber den Verkaufsautomaten befindet. Der Bademeister ist manchmal ein dünner Junge im Teenageralter und manchmal ein erwachsener Mann. Hin und wieder ist der Bademeister eine junge Frau. Oft ist der Bademeister zu spät. Pünktlich oder säumig, jung oder alt, männlich oder weiblich, der Bademeister bleibt nie lang. Letzten Monat war der Bademeister ein arbeitsloser IT-Typ aus der Nachbarstadt. Vorletzten Monat der Sohn des örtlichen Fußballtrainers. Landratten, sagen wir. Diesen Monat ist der Bademeister ein dunkelhaariger Mann undefinierbaren Alters, der sich ständig ein Funkgerät ans Ohr drückt. Man kann unmöglich wissen, was er denkt, falls er überhaupt etwas denkt. Auf unsere freundlichen Hallos antwortet er mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Es kursieren Gerüchte über den neuen Bademeister. Er ist siebenundzwanzig. Er ist achtundfünfzig. Er weint. Er schläft. Er schert sich einen Dreck um alles. Er wäre, so vermuten wir, die ganze Zeit lieber woanders. Denn er ist sichtlich erleichtert – und, wie einige meinen, voll kaum verhohlener Schadenfreude –, wenn er am Ende jeden Tages seine Trillerpfeife nimmt und mit einem leichten, doch vernehmbaren Akzent vermutlich osteuropäischen Ursprungs die vier Wörter ruft, die wir am wenigsten gern hören: »Alle aus dem Wasser!«

Unsere ersten Minuten zurück an Land sind immer die schwersten. Die allzu helle Sonne, die durch das löchrige Blätterdach der Bäume fällt. Der unerträglich blaue Himmel. Die besorgt dreinschauenden Männer in dunklen Anzügen, die hektisch in ihre Autos steigen. Die dünnen, erschöpften Mütter. Die kleinen weißen Hündchen, die knurrend an langen Rollleinen zerren und nach deren Ende schnappen. Freddie, nein! Die Sirenen. Die Presslufthämmer. Die unnatürlich grünen Rasenflächen. Während wir tief durchatmen, werfen wir uns salopp die feuchten Handtücher über die Schulter, setzen einen schweren Fuß vor den anderen und stolpern mit nassen Haaren, weichen Knien und tiefen Abdrücken um die Augen, die unsere Schwimmbrillen hinterlassen haben, von A nach B. Ich bin wieder da! Und auch wenn wir nur widerwillig in unser Leben oben zurückkehren, sind wir innerlich gelassen, denn hier, im Reich der höheren Luftschichten, sind wir nur Tagesbesucher.

Spätabends, beim Einschlafen, gehen wir in Gedanken unsere Schwimmtechnik durch. Wir sollten unsere Ellbogen höher halten, unsere Beine gerader (Aus der Hüfte kicken, nicht aus dem Knie!), unsere Schultern entspannter. Wir malen uns aus, wie wir uns mit gereckten Zehen und lang gestrecktem Körper kräftig vom Beckenrand abstoßen und dann zu einer Seite drehen, um Luft zu holen für den Auftakt. Stell dir vor, du greifst über ein Fass hinüber. Unsere Oberkörper sind stromlinienförmig. Unsere Fußgelenke elastisch. Unsere Haltung: dynamisch und locker zugleich. Es ist nur Wasser. Wir trainieren unsere Atmung, atmen tief durch Mund und Nase ein und spitzen dann die Lippen, um mit jedem Zug wieder vollständig auszuatmen. Wir ziehen uns die Decke über den Kopf und flüstern leise unser Mantra in die Kissen: Kopf und Rücken strecken, Kopf und Rücken strecken. Pflichtbewusst, aber widerwillig gehen wir unsere früheren Fehler durch. Ich habe jahrelang die Luft angehalten. Wenn unsere Partner – sofern wir welche haben – schläfrig die Hand nach uns ausstrecken und fragen, was uns beschäftigt, dann sagen wir »Nichts« oder »Muss morgen die Wertstofftonne raus?« oder »Was glaubst du, warum die Dinosaurier wirklich ausgestorben sind?«. Aber wir sagen nie: »Das Schwimmbad.« Denn das Schwimmbad gehört uns und nur uns allein. Es ist mein eigenes geheimes Walhalla.

Wenn wir zu viel Zeit oben verbringen, werden wir ungewohnt schroff zu unseren Kolleginnen, machen Fehler, sind unfreundlich zu Kellnern, obwohl einer von uns – Bahn sieben, knappe schwarze Speedo-Badehose, riesige, flossenartige Füße – selbst Kellner ist; wir machen unseren Partnern keine Freude mehr. Jetzt nicht. Und obwohl wir uns Mühe geben, dem Drang zum Abtauchen zu widerstehen – Das geht vorbei, sagen wir uns –, spüren wir Panik in uns aufsteigen, als würden wir irgendwie unser eigenes Leben verpassen. Nur ein kleiner Sprung ins Wasser, und alles ist gut. Und wenn wir es nicht mehr aushalten, ziehen wir uns mit einer höflichen Entschuldigung aus dem zurück, was wir gerade machen – in unserem Literaturclub das Buch des Monats diskutieren, einen Bürogeburtstag feiern, eine Affäre beenden, im örtlichen Safeway ziellos durch die neonlichthellen Gänge streifen in dem Versuch, uns an die Einkaufsliste zu erinnern (Marshmallows? Butterkekse?) –, und gehen runter ins Schwimmbad. Denn es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem wir lieber wären: seine breiten, von Trennseilen begrenzten Bahnen, klar nummeriert von eins bis acht, seine tiefen, formschönen Überlaufrinnen, seine fröhlich-gelben Markierungsbälle, die in angenehm regelmäßigen Abständen platziert sind, seine separaten, aber gleich aussehenden Eingänge für Frauen und Männer, das warme Licht der Deckenlampen, all das gibt uns ein Gefühl von Geborgenheit und Ordnung, das uns in unseren Leben oben fehlt.

Der Schock des Wassers – es gibt nichts Vergleichbares an Land. Das kühle, klare Nass, das über jeden Zentimeter deiner Haut fließt. Das zeitweilige Aussetzen der Schwerkraft. Das Wunder deines eigenen Auftriebs, wenn du ungehindert über die glänzend blaue Oberfläche des Schwimmbeckens gleitest. Das ist wie Fliegen. Die reine Freude darüber, in Bewegung zu sein. Die Auflösung aller Wünsche. Ich bin frei. Plötzlich bist du erhoben. Erhaben. Ekstatisch. Euphorisch. In einem berauschenden und tranceartigen Zustand der Glückseligkeit. Und wenn du nur lang genug schwimmst, weißt du irgendwann nicht mehr, wo dein eigener Körper aufhört und das Wasser anfängt, und es gibt keine Grenze zwischen dir und der Welt. Es ist das Nirwana.

Einige von uns müssen jeden Tag hundert Bahnen schwimmen, andere achtundsechzig (eine Meile) oder hundertzwei (anderthalb Meilen) oder exakt fünfundvierzig Minuten (Eduardo, Bahn sechs) oder bis die bösen Gedanken weg sind (Schwester Catherine, Bahn zwei). Einer von uns traut seinem eigenen Zählen nicht und schwimmt jedes Mal ein oder zwei Extrabahnen, »nur um auf Nummer sicher zu gehen«. Eine verzählt sich jedes Mal ab fünf. Einer von uns (Professor Weng Wei Li, Autor von Der Trost der Primzahlen) schwimmt am liebsten exakt neunundachtzig. Eine von uns schwört, dass sie ihren Glückspunkt genau bei dreiundfünfzig erreicht. »Ist jedes Mal so.« Wir alle haben unsere Rituale. Eine von uns muss – beiläufig – einen Blick auf die rote Hand auf dem laminierten »Achtung, Diebstahl«-Plakat im Treppenhaus werfen, bevor sie ins Becken springt. Einer von uns muss drei Schluck Wasser aus dem rostigen Spender trinken, bevor er ins Becken springt, trotz – oder, wie manche sagen würden, wegen (»Ich bin ein Hasardeur!«) – seiner Angst vor Blei in den Rohren. Eine von uns weigert sich, in ihrer üblichen Bahn zu schwimmen (Bahn sieben), wenn ihr Ex-Mann in Bahn acht schwimmt. Einer von uns ist seit fünfeinhalb Jahren ihr »neuer« Ehemann, und in diesen fünfeinhalb Jahren ist er zufrieden in Bahn sechs geschwommen (»Ich weiß, wo ich hingehöre«) und hat so getan, als wüsste er von nichts. »Müssen die unter sich ausmachen.« Es gibt beharrliche Vorher-Dehner unter uns, und andere bestehen – ebenso beharrlich – darauf, dass Nachher-Dehnen besser ist. Es gibt einen Rückenschwimmer in Bahn vier, der das Becken nicht verlassen kann, ohne vorher zweimal gegen seine Badekappe getippt und danach bis fünf gezählt zu haben. »Keine Ahnung, warum.« Es gibt Alice, der alles Zählen egal ist und die einfach schwimmt, bis sie fertig ist.

Wenn du dich beschweren willst – jemand unterhält sich angeregt mit allzu lauter Stimme, die Uhr ist stehen geblieben, in der Schnellschwimmerbahn ist ein Langsamschwimmer, ein Schnellschwimmer in der Normalbahn, dein Lieblingshandtuch mit dem Monopoly-Brettmuster ist aus der Umkleide verschwunden, deine Schulter tut weh, deine Schwimmbrille ist undicht, dein Friseur ist durchgedreht –, lass den Bademeister damit in Ruhe. Denn in neun von zehn Fällen wird er nichts unternehmen. Nimm die Dinge am besten selbst in die Hand. Mach ein paar Dehnübungen für deine Schulter. Such dir einen neuen Friseur. Auch auf die Gefahr hin, spießig zu klingen, bring einen Zettel an: Wer hat mein Handtuch geklaut? Geh hin zu der Person, die so lautstark spricht, und bitte sie freundlich, aber bestimmt, leiser zu sprechen. Ansonsten kannst du den Schreihals auch direkt dem Management melden, indem du seinen Namen auf ein Stück Papier schreibst und es in den Metallkasten für Verbesserungsvorschläge an der Tür des Schwimmbadleiters wirfst (auch bekannt als »Petzbox«). Sei dir aber darüber im Klaren, dass du Gefahr läufst, ab diesem Moment als Verräterin dazustehen und als Objekt unserer stillen Verachtung. Gespräche werden verstummen, sobald du dich näherst. »Die ist das.« Umkleidebekanntschaften werden aufhören, dich zu grüßen. Man wird dir für immer die kalte Schulter zeigen. Und eines Tages wirst du beim Verlassen der Dusche feststellen, dass auch dein Badeanzug auf rätselhafte Weise verschwunden ist. Überleg es dir also gut, bevor du mit dem Finger auf einen Mitschwimmer zeigst und ihm das schlimmste Schicksal überhaupt bescherst: den endgültigen und unwiderruflichen Ausschluss vom Schwimmbad unter der Erde.