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Solsbüll: einer der großen Deutschland- und Familienromane des 20. Jahrhunderts. Solsbüll ist ein Städtchen im nördlichen Schleswig-Holstein, tiefste Provinz und doch ein Ort, in dem die großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen. Dort verknüpfen sich die Lebensgeschichten dreier Generationen, verkörpert in drei Männern, die als Großvater, Vater und Sohn denselben Namen tragen: Gustav Hasse. Während die ersten beiden in den Weltkriegen fallen, überlebt der 1941 geborene dritte Gustav und wächst in einem Hebammen-Haushalt auf. Im Schicksal zweier Frauen, seiner Großmutter Anne und seiner Ziehmutter Gret, spiegelt sich die Zeit: Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg erleben die beiden Hebammen Aufstieg und Blüte des Nationalsozialismus und sein katastrophales Ende. Sie sehen bei Freunden und Nachbarn Opportunismus und Feigheit, erleben Treulosigkeit, Hass und Gewalt. Beide sind nicht im Widerstand aktiv, tragen aber ihr Herz auf dem rechten Fleck und schöpfen auch Kraft aus dem Beruf: Jedes neugeborene Leben ist einzigartig, also kostbar. Und so handelt der Roman nicht nur von Mitläufern und Mördern, sondern auch von Liebe, Widerspruchsgeist und kleinen Heldentaten der Menschlichkeit. Jochen Missfeldt, der wie Faulkner einen Landstrich zum Schauplatz seiner Bücher macht, hat mit "Solsbüll" einen Deutschlandroman vorgelegt, dem eine ähnliche Bedeutung zukommt wie der "Deutschstunde" von Siegfried Lenz und der "Blechtrommel" von Günter Grass. Und doch ist er 1989, als er in einem kleinen Verlag erstmals erschien, in den Wirren des Mauerfalls kaum beachtet worden. Nun lässt sich die hoch aktuelle Geschichte einer Familie, die in einer Gesellschaft von lauter Wendehälsen aufrecht bleibt, endlich wiederentdecken. Dass Jochen Missfeldt – wie Ijoma Mangoldt in der Süddeutschen Zeitung schrieb – "von den großen Sprachbegabungen der deutschen Gegenwartsliteratur eine der unbekanntesten" ist, das war einmal. Der Text wurde für diese Neuausgabe vom Autor durchgesehen.
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Seitenzahl: 585
Veröffentlichungsjahr: 2017
Jochen Missfeldt
Mit einem Nachwort von Kristof Wachinger
Roman
Solsbüll: einer der großen Deutschland- und Familienromane des 20. Jahrhunderts.
Solsbüll ist ein Städtchen im nördlichen Schleswig-Holstein, tiefste Provinz und doch ein Ort, in dem die großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen. Dort verknüpfen sich die Lebensgeschichten dreier Generationen, verkörpert in drei Männern, die als Großvater, Vater und Sohn denselben Namen tragen: Gustav Hasse. Während die ersten beiden in den Weltkriegen fallen, überlebt der 1941 geborene dritte Gustav und wächst in einem Hebammen-Haushalt auf.
Im Schicksal zweier Frauen, seiner Großmutter Anne und seiner Ziehmutter Gret, spiegelt sich die Zeit: Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg erleben die beiden Hebammen Aufstieg und Blüte des Nationalsozialismus und sein katastrophales Ende. Sie sehen bei Freunden und Nachbarn Opportunismus und Feigheit, erleben Treulosigkeit, Hass und Gewalt. Beide sind nicht im Widerstand aktiv, tragen aber ihr Herz auf dem rechten Fleck und schöpfen auch Kraft aus dem Beruf: Jedes neugeborene Leben ist einzigartig, also kostbar. Und so handelt der Roman nicht nur von Mitläufern und Mördern, sondern auch von Liebe, Widerspruchsgeist und kleinen Heldentaten der Menschlichkeit.
Jochen Missfeldt, der wie Faulkner einen Landstrich zum Schauplatz seiner Bücher macht, hat mit "Solsbüll" einen Deutschlandroman vorgelegt, dem eine ähnliche Bedeutung zukommt wie der "Deutschstunde" von Siegfried Lenz und der "Blechtrommel" von Günter Grass. Und doch ist er 1989, als er in einem kleinen Verlag erstmals erschien, in den Wirren des Mauerfalls kaum beachtet worden. Nun lässt sich die hoch aktuelle Geschichte einer Familie, die in einer Gesellschaft von lauter Wendehälsen aufrecht bleibt, endlich wiederentdecken. Dass Jochen Missfeldt – wie Ijoma Mangoldt in der Süddeutschen Zeitung schrieb – "von den großen Sprachbegabungen der deutschen Gegenwartsliteratur eine der unbekanntesten" ist, das war einmal.
Der Text wurde für diese Neuausgabe vom Autor durchgesehen.
Dieser Roman erschien zuerst 1989 im Verlag Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei München
Veröffentlicht als überarbeitete Neuausgabe im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2017
Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München
Das Motto stammt aus einem Gedicht von Cesar Vallejo, geschrieben am 10. November 1937
ISBN 978-3-644-00119-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Stirb nicht, ich liebe dich so
Alles liegen lassen. Wer ruft da. Die Blätter über mir rufen nicht. Sie gehen im Südwest hin und her, machen leise Blattgeräusche im Wind. Sie atmen ein und aus, Tag und Nacht.
Da ist ein Stück Himmel zwischen den Birkenästen. Zwei Kondensstreifen sind da. Der eine hat vorn einen Düsenjäger, der andere einen Jumbo. Der eine Kondensstreifen zerfällt, der andere zerfällt auch.
Es war der Vorarbeiter, der gerufen hat: Alles liegen lassen. Die bauen jetzt unsern Kanalanschluss. Die machen jetzt Mittagspause, die setzen sich jetzt ins Gras und trinken Bier.
Was klappert da. Es ist die uralte Gunde, unsere Dorfverrückte, die wie eine Wahnsinnige Rad fährt. Wer ist hier wahnsinnig. Wer ist hier normal. Voriges Jahr hat mir die Kieler Uni-Klinik wieder bescheinigt, dass ich, was die Gehirnströme betrifft, eine seltene Norm-Variante bin. Also fast normal. Das kann so bleiben bis an mein seliges Ende, wenn nicht noch etwas Schreckliches passiert.
Die Flugzeuge sind weg. Die Kondensstreifen sind breit und wolkig geworden. Es ist still, mittagsstill. Von der Bundesstraße herüber rauscht es, aber das stört nicht. Ich will keine Totenstille, ich will nur meine Ruhe. Wenn einer anruft, sagt, dass ich nicht da bin.
Wer hustet und spuckt da. Es ist Brase, unser kranker Nachbar. Er kann nicht mehr den Garten umgraben, das macht seine Frau Johanna. Aber er geht immer im Garten auf und ab. Er hat schöne halbrote Wurzeln. Er hat schöne wilde Primeln. Er hat schönen süßen Johannisbeersaft. Er hat auch einen Sohn, einen spät gezeugten halbwüchsigen, der kann schön singen, aber er ist behindert, geht in die Sonderschule.
Mondlose Träume mit Sternen zum Anfassen. Ich fürchte mich vor ewiger Dunkelheit und vor ewiger Helligkeit. Reiner Tag ist zu hell, reine Nacht ist zu dunkel. Ich schummle mich dazwischen durch, zwischen Hell und Dunkel. Ein Blick zurück: Die Milchstraße ist wie die Hunderttausend-Hügel-Landschaft um Solsbüll, nur leuchtend weiß, rot und blau. Von Hügel zu Hügel, von Aussicht zu Aussicht bin ich unterwegs. In den Tälern ruhe ich mich aus. Auf den Hügeln hole ich Luft. Ich komme an runden Sonnen vorbei, an Linsenwolken aus Sternenstaub, an gebogenen Lichtstrahlen, an sphärischen Dreiecken. Schwarzen Löchern weiche ich aus.
Eine Drehung in der Heide unter den Birken, und ich sehe den Lindenbruch im Solsbüller Moor. Ich sage dem Schwan, der da auf einem Teich schwimmt, guten Tag. Ein Pferd mit silbernem Zaumzeug nickt mir freundlich zu. Ein armer Teufel wird verbrannt, ein Andersgläubiger. Staub fällt, ein paar Blätter fallen.
Frösche beginnen zu quaken, Frösche von früher. Der Teich ist ein Bombenloch. Ein Bomber hat im Krieg eine Bombe verloren, ein Wummern ging durch die Luft, ein Beben ging durch die Erde, die Wände wackelten, weiter war nichts passiert. Das Bombenloch hat sich mit Wasser gefüllt. Nun wachsen da Binsen und Wasserkraut, obenauf schwimmt Entenflott. Frösche sind gekommen, Störche, Libellen.
An Sommerabenden finden Froschkonzerte statt. Ein Frosch-Chor sitzt im Teich und quakt die halbe Nacht, quakt ganze Romane. Manche hören nur Gequake, wollen kein Gequake hören, ziehen sich die Decke über den Kopf.
Es wird nicht nur gequakt, es wird auch gesummt. Mückenschwärme stehen in der Nachtluft an der Weißdornhecke. Die Mücken summen einen einzigen langen Ton, sie geben ein Unisono-Konzert. Nach einer Weile schütten sich die Mücken ein Hormon ins Herz und stellen von Wachen auf Schlafen um. Aber eine tut das nicht, sie will nicht oder kann nicht oder vergisst es. Sie kommt blutrünstig durch ein Fenster und sticht einen.
Die Froschmännchen umklammern die Froschweibchen. Einige geraten an das falsche. Einige reiten auf halb verwesten, die Männchen nehmen alles, was weich ist. Aber der Froschkönig entsteigt dem Bombenloch, stellt sich auf die dunklen Klumpen, die da treiben, und hebt seinen menschenähnlichen Zeigefinger, bewegt ihn hin und her. Ich verstehe nicht, was er meint, aber das macht nichts, er spricht: Geh nicht nur auf die Klumpen. Vergiss sie nicht, aber geh auch auf die Himbeeren, die Schlehen, die Hagebutten.
Das Konzert ist beendet, die Nacht ist vorbei. Viele Nächte sind vergangen, Jahre. Es kommt Motorengedröhn, Kettengeklapper. Ich erwache und reibe mir die Augen, trete das Federbett zweimal Richtung Fußende, stehe auf und schleiche aus dem Zimmer, vorsichtig den Flur längs bis zur Wäschemangel, wo die Dachluke ist. Ich klettere auf den Mangeltisch und stecke den Kopf zur Luke raus, tu mir dabei am Ohr weh. Die Luft ist frisch und kühl. Im Hof hüpfen Spatzen. Die Garage liegt in der Morgensonne. Sie ist offen, das Motorrad ist weg. Die Linden sind noch kahl, haben aber schon Knospen. Es ist Anfang Mai 45. Der Himmel ist blau und blank.
Die Engländer nähern sich mit Panzern und Jeeps Solsbüll-Mühle. Sie kommen von Westen, von Atzbüll, her, sind auf dem Weg nach Flensburg, eine endlose Kolonne. Ein Jeep hält in der Hofeinfahrt. Seine lange, in weitem Bogen zurückhängende Antenne mit einer roten Fahne an der Spitze berührt die Lindenzweige. Der Jeepfahrer säbelt sich eine Weißbrotscheibe zurecht, schmiert rote Marmelade drauf, beißt hinein. Ein Panzer bremst die linke Kette, dreht links und stoppt. So könnte er auf die Doppeleiche von 1871 feuern. Der Panzerfahrer steckt den Kopf aus der Luke, der Kommandant sitzt im offenen Turm. Kopfhörer auf den Ohren, Mikrophon vor dem Mund. Er hält einen dampfenden Becher in der Hand, schiebt das Mikrophon zur Seite, nimmt einen Schluck. Die Panzer und die Jeeps auf der Straße bleiben stehen.
Aber nun kommt von der Kirche Sankt Ursula her ein Panzerspähwagen. Heraus springt einer mit Fotoapparat um den Hals. Er ruft dem Kommandanten etwas zu und winkt mehrmals mit dem Arm in Richtung Solsbüll. Die Pause ist beendet. Die Motoren springen wieder an. Der mit dem Fotoapparat stellt sich auf Thamsens Knick und nimmt den Apparat vors Gesicht. Er fotografiert die Doppeleiche, die Linden, die Hofeinfahrt, das Hebammenhaus, die aufgeklappte Dachluke mit meinem Kinderkopf darin.
Ich, Gustav, bin zu Hause.
Jenes gewaltige Ringen, so fing Meggersee nach der ersten Tasse Kaffee wieder an.
Gret lauschte ihm mit eingegrabenen Mundwinkeln. Doktor Otto von Meggersee, seit zwanzig Jahren Respektsperson im Hebammenhaus, erst für Großmutter Anne, jetzt für sie, hatte wirklich wunderbar das Reden raus. Aber irgendwas in ihr wehrte sich gegen diesen Mann, zum Beispiel, wenn ihm das Wort jenes über die Lippen kam.
Die Dramen, die Tragödien, jenes beispiellose schwere Ringen der Kämpfer, das Wollen der Führung zu gestalten, sagte er und beugte sich über den gedeckten Marmortisch, wischte Kaffeetropfen vom Schnauzer, griff nach einem braunen Kuchen.
Es ging in die dunkelsten Tage des Jahres. Der Kalender war auf Weihnachtsfrieden gestellt. Weihnachtsfriede sollte bleiben. Jeder Gast, manchmal war es ein Fremder, bekam Kaffee und Kuchen. Der nicht bewirtete Gast trägt den Weihnachtsfrieden aus dem Haus. Für diesen Notfall hatte Anne zwölf ausgehöhlte und mit Salz bestreute Zwiebeln auf das Gewürzbrett über dem Küchenherd gelegt. Jeden Abend kuckte sie da hin und kuckte in die Zukunft. Jeden Abend kurz vorm Zubettgehen tat sie das und wünschte, dass der Weihnachtsfriede bleibe. Heiligabend soll Sturm sein, sagte sie dreimal hintereinander und nahm die Kinnspitze abwärts. Sturm musste nämlich am Heiligabend die Lüfte aufwühlen, musste biegend und brechend durch die Bäume fahren, damit das nächste Jahr ein gutes Jahr wurde. Anne war kleingläubig und ängstlich geworden. Seit Wochen hatte es nicht geweht, die Luft war weiß und still gewesen, seit über einer Woche war es milde und neblig. Die Sonne war kaum aus den Wolken und über die Papp- und Strohdächer der Nachbarn gekommen. Nachts hatten die Hunde den zunehmenden Mond angekläfft. Eiskalt hatte er seine Runden gedreht.
Anne war auf dem Weg zum Bäcker, um braune und weiße Kuchen backen zu lassen. Rechts am Arm der Korb mit den zwei Sorten Teig, links an der Hand Enkelsohn Gustav. Von einem Jahr aufs andere plante Anne den nächsten Backtermin, den sie mit Bäcker Sprenger besprach. In sein Fettfleckparadies, sein schwarzes Bäckerbuch, hatte er den 12. Dezember 1945 eingetragen. Gustav wäre lieber zu Hause geblieben, hätte lieber am Kachelofen gesessen, hätte lieber heimlich Meggersee zugehört, von dessen Worten er kein einziges verstand.
Bei Hans Thamsen leuchteten die Scheunenfenster dottergelb. Sein Stall ging nach Westen, wo der Himmel rötlich war und schwarze Schlieren zusammenliefen. Thamsen warf den Kühen Heu vor die Mäuler. Er schaufelte Schrot aus der Futterkiste und streute es in die Futterrinne. Die Tiere kauten Heu und Schrot klein, dass es rauschte. Ihre Halsbügel und die Halsketten klirrten. Marie Thamsen saß an einer Braunen, die Erika hieß. Sie hielt einen Melkeimer zwischen den Knien und lehnte ihre Stirn an Erikas Fell. Gustav hätte lieber vor den violetten Kuhaugen rumgeturnt oder auf der Futterkiste gesessen und Schrot gekaut oder eine Zeigefingerspitze vom süßen Milchschaum aus dem Milchsieb geholt. Oder die Katzen gejagt.
In puncto Reden beschränkte sich Anne, wie auch ihre Tochter Gret, aufs Schweigen. Nicht nur hier auf der Straße. Auch im Haus gab es nichts zu reden. Höchstens mal zu schreien. Nach einem Schlaganfall und einer Gallenblasenoperation drehte Anne manchmal durch und zog Gret an den Haaren. War sie in Fahrt, riss sie auch mal dran. Als Meggersee heute ins Haus gekommen war, hatte sie ihm nichtssagend die Hand gegeben, ihn kaum angesehen, war schon im Mantel. Zu Gret hatte sie neulich gesagt: Wie heißt du noch. Am besten kannte sie ihre Toten, also Ehemann Gustav und Sohn Gustav. Dann die weitere verstorbene Verwandtschaft. Dann erst die lebende, darunter Enkelsohn Gustav, den hier.
Anne hielt die Lippen fest geschlossen, manchmal löste sie ihre Gebisshälften von Ober- und Unterkiefer, legte sie lose in den Mund. So redete sie mit sich und nahm Gustavs Hand fester. Der Korb rieb am Mantel. Sie rechnete die Zutaten für die Fettplätten nach: zweihundert Gramm Zucker, kleingeschnittene Vanillestangen, eine Prise Hirschhornsalz und Schmalz nach Belieben. Nach Belieben, das war ihr gutgehütetes Geheimnis. Sprenger hatte die beste Hitze. Butter, Mandel, Mehl, Safran macht den Kuchen geel. Sukkade, Sirup, Salz, Gott erhalts. So wie beim jährlichen Weihnachtsbacken fühlte sich Anne sonst nie. Ihr nervöses Herz fing gleich morgens an, ganz besonders nervös zu schlagen. Dieser Tag war ein Tag, an dem sie bei sich selbst zu Besuch war. War der Besuch beendet, dann ging das Herz wieder wie immer.
Der Halbmond stand in den Pfützen. Die Sterne stellten sich einer nach dem anderen vor. Der Himmel hatte das Abendrot verschluckt. Rechts der Straße die Telefonmasten, links die Strommasten, beiderseits Leitungen von Mast zu Mast. Anne schnupperte. Drei Gehöfte weiter grunzten die Haussauen. Wahrscheinlich lagen sie auf der Seite und hatten ihre Ferkel an den Zitzen. Gustav wäre lieber am Schweinetrog gewesen, hätte lieber den Ferkeln zugesehen, hätte lieber den Schweinegeruch gerochen, hätte lieber ins helle Stroh gespuckt.
Ein Radfahrer kam. Das Licht mal heller, mal dunkler, der Dynamo mal lauter, mal leiser. Der auf dem Fahrrad trat fest in die Pedale, warf den Oberkörper hin und her. Es war Matthias Gottke, der Milchkontrolleur, unterwegs von Hof zu Hof mit seinem mobilen Labor auf dem Gepäckträger, einem Holzkasten mit Flüssigkeiten und Reagenzgläsern drin. Gustav hätte lieber Matthias bei der Arbeit zugeschaut, wie er ein Reagenzglas ins mickrige Stall-Licht hob und das Gemisch prüfend betrachtete. Moin Moin.
Seit vier Jahren, also seit Weihnachten 41 zum fünften Mal, machte Anne auf dem Weg zu Bäcker Sprenger den Umweg über den Friedhof, um Tränen zu vergießen. Gustav hätte lieber Würfelzucker auf seinem silbernen Teelöffel in Milch getunkt und sich im Mund zergehen lassen. Aber Anne wollte ihn mithaben; und so ging er an ihrer Hand an den Dornenhecken entlang, hinter denen die Vorgärten und die Häuser von Solsbüll-Mühle lagen.
Die Franzosen, liebe Gret, sollten damals zermürbt werden, dass sie militärisch nichts mehr zu hoffen gehabt hätten, trug zu Hause Meggersee weiter vor, und während paar Kekskrümel übers Kinn sprangen, sagte er: Ach, was sind doch unsere Männer anno 14/15 mit Sturmgesängen in die Schlacht gezogen, siegreich wolln wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapfrer Held. Jene Hingabe, man kann sich die Hingabe jener Männer ja gar nicht vorstellen.
Gret grub ihre Mundwinkel noch tiefer ein, Meggersee legte seine zehn Finger zu einem Dach aneinander.
Die sehnten sich doch nach Angriff, raus aus dem Maulwurfdasein, sagte er. Das sagte übrigens auch mein verehrter General, der eigentlich ein kühler Mensch war und mit Lob sparte, aber dem ich dienen durfte, gleich zu Anfang von Verdun. Meggersee bekam Zittern und Wärme in die Stimme und fuhr fort: Damals war in der Heimat der Frontsoldat mit jenem schwarz-weißen Bändchen noch angesehen. Damals kehrte der Frontsoldat erhobenen Mutes zur Truppe zurück. Ich erinnere mich gut an meinen ersten Heimaturlaub. Diesmal war das dann alles ganz anders.
Gret und Meggersee saßen in der Besten Stube am Kachelofen, der von nebenan geheizt wurde. Nebenan war das Ess- und Kinderzimmer, waren Eckbank und Tisch und Stühle mit Herz in der Rückenlehne. Nebenan waren das Eckregal mit den Spielsachen und die gelbe Kachelofen-Seite. Hier in der Besten Stube war die braune Kachelofen-Seite. Ein Geschirr- und Bücherschrank war da aus dunkel gebeizter Eiche. Die Barrings, Die Ahnen und Das Wunschkind, solche Bücher standen da, Grets Biedermeiersofa mit Biedermeierstühlen gegenüber.
Warum Meggersee von Verdun redete und immer jene sagte, leuchtete Gret nicht ein. Wahrscheinlich hatte er es gelesen, seit seinem von der englischen Militärregierung auferlegten Praxisverbot – er war politisch belastet – las er ja wohl von morgens bis abends. Er hatte seine Beine übereinandergeschlagen, das längere über das kürzere, und aus dem Ohrensessel blickte er auf die vor die beiden Fenster gezogenen Gardinen und auf ein Ölbild dazwischen über dem Sofa: Hallig Gröde. Ein umherziehender Kunstmaler hatte Gret wenige Wochen nach der Kapitulation das Bild aufgeschwatzt. Dafür hatte er ihr einen Teller Erbsensuppe abgeschwatzt, den er dann auf der Eckbank auslöffelte und mit einem Kanten Schwarzbrot sauber wischte.
Die Beste Stube war nicht nur besonderen Anlässen und Sonderfällen vorbehalten, Respektspersonen wie Meggersee, unverhofft auftauchenden Fremden, nie Wiederkehrenden, denen Gret Küche und Kinderzimmer nicht zeigen mochte. Manchmal saßen da auch Schwangere mit blass gewaschenen Gesichtern, Hände überm Bauch gefaltet, Mäntel geöffnet, so saßen sie da. Wenn Gret hereinkam, standen sie auf und zogen den Mantel aus, betteten sich auf die Couch, krempelten Umstandskleid und Unterhemd hoch, zeigten den Bauch. Da setzte sich Gret auf einen Stuhl, beugte sich vornüber und horchte mit ihrem schwarzen Hörrohr nach Herztönen. Die Schwangeren nahmen den Kopf hoch und horchten auch. Oder sie blieben versunken liegen und starrten an die Decke, weiß und ängstlich mit ihren zwei Leben. Gret griff sich den Hebammenkalender vom Telefontisch, Solsbüll 283, und schrieb schnell und unleserlich Namen, Vornamen, Gewicht, letzte Regel, Krankenkasse und Anschrift auf. Während sie notierte, sahen die Schwangeren zu den beiden Fenstern raus oder auf das Ölbild, das dazwischen hing.
Das Ofenheizen war Annes Zuständigkeit geblieben. Noch im Nachthemd rüttelte sie mit dem Schieber, um nach Glut von gestern zu sehen. Der Tag fing gut an, wenn noch Glut geblieben war. Das kleine Glück, das aus dem Ofen kommt. Anne holte feines Buschholz aus der Holzkiste neben dem Küchenherd, der Grude hieß. Das legte sie auf die restliche Glut, es loderte schnell, und nun kamen Briketts hinzu. Dann ging sie sich Kleid und Schürze anziehen, lief durch Waschküche und Stall und füllte die Kohlenschütte mit Stein- und Eierkohlen.
So war es auch heute gewesen. Heute hatte sie die Warmluftklappe zur Besten Stube aufgemacht. Nah an den Kachelofen heran kam der kniehohe Marmortisch, auf den Tisch kam das gute Porzellan, kam das Silber, kam die bunte Blechdose. Einen Ofen braune und weiße Kuchen hatte Anne vorab zu Hause gebacken, auch die Weihnachtspuppen waren schon fertig, Märchenfiguren und Bäume aus Zucker, Wasser und Mehl, mit einem gespitzten Streichholz rot bemalt. In einer Holzschale daneben die gesammelten Haselnüsse. Der alte Nussknacker, den Gret aus der untersten Schublade im Bücherschrank hervorgekramt hatte, stand neben Zucker und Sahne. Die Nuss kam ins Loch, die Schraube wurde gedreht, mit den Augen wurde geblinzelt, umso mehr, je näher die Schraube der Nuss kam. Es dauerte eine lange Minute, bis die Schale endlich auseinanderkrachte.
Dies war die schöne Weihnachtszeit. Die Tage waren kürzer, die Nächte waren länger, es war dunkler und rätselhafter. Annes Schreien war seltener und leiser. Grets Schweigen war tiefer und gründlicher, sie hörte und sah besser und fühlte stärker. Die Kinder, die sie vor Weihnachten holte, waren ihre liebsten und schönsten. Da hob sie einen armen besudelten Tropf, der nicht schreien wollte, an den Beinen in die Höhe und schlug mit der Hand gegen seinen Brustkorb. Was für ein schönes Kind, sagte sie dann. In der Weihnachtszeit lächelten die Neugeborenen öfter im Schlaf. Die Fontanelle hob und senkte sich kräftiger als sonst. Das Baden machte ihnen mehr Spaß, und sie waren weniger wund am Hintern. Die Mütter nahmen ihre Kinder geschickter an die Brust, und sie lächelten versunkener. So war es Jahr für Jahr.
Von all dem merkte Meggersee nichts. Er sah nicht Hallig Gröde, er achtete nicht auf den Weihnachtsglanz der Messing- und Kupfersachen, die hinter Glas über den Büchern standen, er roch nicht die frischgewaschenen Gardinen und polierten Möbel. Die braunen und weißen Weihnachtskuchen, von denen er abbiss, erinnerten ihn nur an seine Heldensagen.
Ach ja, unsere deutsche Geschichte, sprach er zu der stumm in ihrer hellblauen Hebammentracht dasitzenden Gret.
Sie saß ein Stück entfernt und hielt ihre Linke auf die Rot-Kreuz-Brosche am Hals. Sie hörte zu, weil sie ihm immer zugehört hatte. Nicht dem, was er sagte, sondern dem, wie er sprach. Meggersees Rede hatte was vom Glanz ihres alten Silbers, auch was von ihren alten Weingläsern. Wunderschön handgeschliffen, hatte Meggersee mal im Sommer gesagt, als sie unter der Pergola daraus tranken – anscheinend hatte er sich gewundert, dass sie so etwas besaßen. Meggersee unterstrich mit flacher Hand, kreiste ein, machte Punkte mit der geschlossenen Faust, wenn er erzählte. Gret fand ihn trotz des kürzeren linken Beins ritterlich. Der Schnauzer, die dünnen Lippen, die eng anliegenden Ohren und die schmalen Hände gaben ihm etwas, das sie interessant fand: das Adelige, das Gebildete. Das war es.
Nun entfaltete er sein gut beträufeltes Kavalierstaschentuch. Es ist nun mal so, liebe Gret, sagte er. Das lange Brachliegen des Verstandes schränkt die Fähigkeit, Erfahrenes zu behalten, peinlich ein. So ist es doch, seien wir mal ehrlich, auch bei mir gewesen. Darum meine Beschäftigung mit der deutschen Geschichte. Es gibt da einen roten Faden, der sich durchzieht, man könnte fast sagen: bis hier auf den akkurat gedeckten Kaffeetisch. Ich meine die Düppeler Schanzen, dann 70/71, dann den großen Krieg, schweigen wir vom letzten. Er steckte das Kavalierstaschentuch wieder ein.
Wie so schön die Worte fließen, dachte Gret. Aber so schön doch auch wieder nicht, dachte sie gleich hinterher.
Anne hatte sich mit Enkelsohn Gustav auf dem Friedhof der Sankt-Ursula-Kirche vor das Ehrenmal gestellt. Eingemeißelt und goldübermalt stand da der Name ihres Sohnes Gustav Hasse, gefallen 1941. Mit dem zweiten Gesicht sah sie, holzgeschnitzt in der Marienkirche zu Flensburg, den Namen ihres Mannes Gustav Hasse, gefallen 1915. Sie weinte.
Du weinst ja, sagte Gustav.
Sei still, sagte Anne.
Sie hatte in den letzten Wochen Haus und Hof gesäubert, Keller und Speisekammer aufgeräumt, nun war Großreinemachen in den Augen. Ihr Blick ging übers Ehrenmal zu den Lindenbäumen, die um den Friedhof herumstanden. Hinter den Linden war der Dorfteich. Zum ersten Mal las sie nun den Spruch unterm Steinkreuz:
Den gefallenen und vermissten Söhnen zur Ehre. Der großen ernsten Zeit zum Gedächtnis. Kommenden Geschlechtern zur Stärkung der Treue zu Heimat und Vaterland.
Ihr Weinen ging in Schluchzen über. Sie fand den Spruch schön, auch wenn sie keinen Durchblick hatte, immerhin sagte sie zwei-, dreimal: Oh, nein, doch. Den Spruch am Ehrenmal hatte sich der Kirchenvorstand unter Pastor Möllers Führung ausgedacht, kaum dass der Krieg zu Ende war.
Gustav kannte seine eigenen Anfangsbuchstaben, G und H, die vielen anderen kannte er noch nicht. Er fuhr mit bloßen Händen an Todesdaten und Geburtsdaten der kleineren Grabsteine entlang, er fühlte Kälte und Härte behauener oder geschliffener Steine, kam bis zu den immergrünen Rhododendren, die zum Unterkriechen und Dableiben lockten. Also verschwand er. Also beschloss er, sich hier einen Augenblick für immer niederzulassen. Da hätte er im Sommer Schatten und im Winter ein Dach über dem Kopf. Da wäre es ruhig, denn die Menschen kamen und gingen leise. Die Toten sagten nichts, das hatte ihm Hinrich Goldschmidt, der Kirchendiener, versichert. Das leise Sprechen der Lebenden war Gustav vertraut, auch das Gewisper zwischen den Pyramidenzypressen. Hier, in den Rhododendren, hatte er das Kirchenschiff mit den mächtigen Mauern hinter sich, auch den Kirchturm mit dem vergoldeten Hahn. Von hinten konnte keiner kommen.
Um das Kirchenschiff herum erstreckten sich die von Hinrich Goldschmidt schön geharkten Sandwege, zickzack lagen die Zierstriche da, wie hingezaubert. An der Friedhofspforte fingen sie an, und am Haupteingang der Kirche hörten sie auf. Es kratzte und klöterte hell, wenn Hinrich mit der Harke durch den Sand fuhr. Dann war bald Sonntag, und jeden Sonntagmorgen schritt Pastor Möller über Hinrichs Werk, folgte dem Muster bis zum Eingang mit links geneigtem Kopf, die Hand am Beffchen, denn der Wind, der wehte jeden Tag.
Hinrich war erst zwanzig und schon Kirchendiener, der älteste Sohn von Harry C. Goldschmidt, dem Herrn auf Affegünt, der ihn dem Pastor so angepriesen hatte: Er kann was, aber bevor er Affegünt übernimmt, soll er ganz was anderes machen, das schadet ihm nicht. Gleich hinter den Rhododendren stand Hinrichs Geräteschuppen, seine Lebebude. Daneben lag der Abfallhaufen mit verwelkten Blumen und ausgedienten Kränzen. In der Lebebude waren seine Beile, Spaten und Harken. Auch Bank, Tisch und zwei Stühle waren darin, ein Wandschrank mit Tellern und Tassen. Auf dem Tisch lag ein rot-weiß kariertes Wachstuch, auf dem Wachstuch lag eine blaue Kachel mit einer weißen Windmühle, und auf der Windmühle stand eine Kaffeekanne. Hinrich Goldschmidt hatte auch eine Brennhexe, die er an ein zweifach gebogenes Ofenrohr angeschlossen hatte. In der Übergangszeit und im Winter verbrannte er Tannenreisig und andere trockene Abfälle, um seinen Schuppen zu wärmen. Aber Feuer brauchte er das ganze Jahr. Morgens Kaffee, zwischen vier und fünf noch mal Kaffee. Dann legte er ein Filterblatt in den Aluminiumfilter und holte die Kaffeedose, die aus einem Care-Paket stammte, aus dem Versteck im Schrank. Zwei, manchmal drei Löffel Gemahlenes, es duftete schon ein wenig, Dampf kam aus dem Kessel, kleine Portionen Kochendes schwappten auf die Ofenplatte, dann den ersten Schuss in den Filter, und sogleich entfaltete der Kaffee seinen Duft in der Hütte und belebte Hinrichs Lebensgeister. Hinrich grunzte dann was oder flötete ein Lied bei geöffnetem Fenster. Er grunzte und flötete auch, wenn Gustav ihn ab und zu in seiner Lebebude besuchte. Hinrich schenkte ihm ein Stück Würfelzucker oder ließ ihn an der heißen Tasse schlürfen. Außer Moin und Tschüss redeten sie nichts miteinander.
Mein Vater liegt nicht hier, sagte sich Gustav unter den Rhododendren. Mein Vater ist in Russland gefallen, mein Großvater in Frankreich. Und Gret ist nicht meine Mutter, sie ist meine Tante. Meine Mutter ist im Bombenhagel von Hamburg verbrannt. Das konnte er richtig runterleiern. Nur wusste er kaum, was er runterleierte. Was bedeutet gefallen.
Er hörte einen Betrunkenen den Dorfkrug verlassen, den Eichenhof. Der musste hier vorbeikommen. Am Dorfteich kam immer ein kritischer Punkt für die Betrunkenen, da war die schlammigste Ecke im Dorf, wo ein voll Berauschter Schlagseite kriegen und ausrutschen konnte, noch kurz vorher lallen, dann kopfüber in den Pfuhl und versinken, immer tiefer hinein in das Gemisch aus Regenwasser und Kuhmist. Ein verfluchter Punkt war das, denn gegenüber wohnte die verrückte Gunde mit ihren Katzen, die ihr beim Fahrradfahren immer auf der Schulter saßen. Sie wusch sich nicht, sie kämmte sich nicht, sie stank. Wenn das Vieh unruhig war und mit den Halsketten klirrte oder wenn dem Teich schreckliches Gas entstieg und große Blasen schlug, dann sagten einige: Das macht Gunde. Sie machte aber gar nichts. Sie sprach jeden Morgen auf dem Müllplatz von Sankt Ursula vor und redete mit den Vögeln. Danach zog sie weiter zum Müllplatz in Brases Moor, wo sie Alteisen und Knochen sammelte. Das Zeug verkaufte sie an den Schrotthändler, der einmal die Woche kam.
Gustav schlich wieder zu Anne, roch Mottenpulver und Lavendel aus ihrem Mantel. Sie schnäuzte sich. Es war dunkler geworden. Gustav fühlte sich leichter in der Dunkelheit. Das Kreuz am Ehrenmal wog nur noch die Hälfte, und die Linden dahinter schwebten, so kam es ihm vor. Er wünschte sich einen Schluck heißen Fliederbeersaft oder eine Wärmflasche ins Bett, wollte schnell schlafen.
Es kamen Schritte, es kam ein Schlurfen. Es war nicht Hinrich, der da schlurfte. Es war der alte schüttelgelähmte Opa Brase, der da im Dunkeln über den Friedhof wollte. Opa Brase hatte keinen Blick mehr, sondern nur noch schwindlig machende Brillengläser, graue Flecken dahinter, die weh taten. Kleine Gräben in den Wegsand ziehend, so schleppte er sich an seinem Stock von einem Friedhofsende zum andern.
Wir müssen nun endlich, sagte Anne, als sie sich ausgeweint hatte.
Sie packte Gustav fest an der Hand, aber er riss sich wieder los, erschreckte sie noch mit: Ich bin der Geist aus dem Teich mit ner Fratze vonner Katze, stürmte dann um ein paar Gräber herum, dem Haupteingang zu, wo er die Luft anhielt und auf sie wartete, um ihre Hand zu nehmen. So gingen sie zu Bäcker Sprenger.
Während die braunen und weißen Kuchen in Bäcker Sprengers Backofen bei richtiger Hitze aufgingen, gelangte Meggersee anhand des roten Fadens durch die deutsche Geschichte zum Thema der holden Weiblichkeit. Ach, verehrte Gret, ich könnte da viel erzählen. Frankreich, Paris, sage ich immer. Einmal, es war 43, glaube ich, sitze ich mit einer Schönen, Yvonne hieß sie, auf der Chaiselongue. Wir blickten über die Dächer der abendlichen Stadt, Yvonne rückt nah und näher, das Herz schlägt schnell und schneller, ihre Augen schimmern.
Gret nahm die Hand vom Mund und machte ihr entschiedenes Gesicht. Mit einem Mal wusste sie, dass sie Meggersee nicht an sich ranlassen wollte.
Anne und Gustav traten in den Hausflur. Anne öffnete leise die Zimmertür, um sich zurückzumelden. Meggersee stand vor Gret, Gret stand vor Meggersee, es sah nach Wiedersehnsagen aus. Anne hatte schon kapiert. Meggersee hatte auch kapiert, als er nun doch in Grets Gesicht gesehen hatte und schlucken musste. Er spürte, so ist anzunehmen, sein kürzeres Bein.
Da klingelte das Telefon. Ein Ehemann war dran und sagte: Es ist so weit. Damit waren alle gerettet. Gustav freute sich auf eine Stunde Alleinsein am Kachelofen, bevor Anne ihn ins Bett schicken würde. Anne freute sich, dass Gret fortdurfte, weil sie fortmusste. Gret freute sich auf zwanzig Minuten Autofahrt und die anschließende Geburt. Meggersee war schon in seinem Kaschmirmantel. Gret hatte schon die Haube auf. Wo ist der Zündschlüssel. Gott sei Dank lag er gleich neben dem Telefon.
Liebe Gret, Meggersee sprach nun in seinem Arzt-Ton: Wenn Sie mich brauchen sollten, rufen Sie mich bitte an. Sie wissen ja, ich darf nicht, aber Not kennt kein Verbot.
Ich habe Gustav, meinen Großvater, nie kennengelernt. Aus seinem Soldbuch Nr. 402 des Königlich Preußischen Reserve-Infanterieregiments 86 weiß ich: Gustav Hasse, 1,75 groß, schlank, dunkles Haar, trug kleinen Schnauzer. Aus den Gesprächen mit seinen noch lebenden Töchtern Gret und Rosa: Er sei Tischler gewesen, wie schon sein Vater, sei auf Wanderschaft von der Mark Brandenburg bis zum Kaukasus gekommen, habe für einen dort ansässigen deutschen Unternehmer teure Möbel getischlert. Sei wieder auf Wanderschaft gegangen und in Flensburg hängengeblieben. Habe als Tischler auf der Werft gearbeitet, habe Anne, geborene Harms, geheiratet und drei Kinder mit ihr gehabt: Rosa im August 1910, Gret im Dezember 1911 und Gustav im Januar 1915.
Im August 14 war er unterwegs an die Front. Er saß im Zug auf einer Holzbank im Vierte-Klasse-Abteil, fuhr über Neumünster, Hamburg, Osnabrück weiter nach Düren. Güterwagen rollten aus der anderen Richtung vorbei, unrasierte Feinde schauten aus den Türen, niedergeschlagen. Es war heiß. Mittags gegen zwölf lief Gustavs Zug in Düren ein. Er stieg mit Gepäck und Gewehr aus, suchte Schatten, fand ihn an der Dürener Bahnhofswand, lehnte sich an, las: Düren, und: Kathreiner Malzkaffee. Hier, auf seinem Gepäck hockend neben seinem Gewehr, notierte er mit verbundener Hand ein Gefühl der Leere in seinen Taschenkalender.
Kam diese Leere, die er bei seiner Ankunft in Düren verspürte, von der Lokomotive, die ihn schneller gezogen hatte, als er laufen konnte. Kam sie von den Niedergeschlagenen im Gefangenentransport. Kam sie von den Bäumen, von den schnittreifen Kornfeldern, von den Bahndammblumen unterwegs. Kam sie von den immerzu gleichen Bewegungen der im Abteil sitzenden Soldaten. Oder kam sie vom Sonnenaufgang, den er stumpf und mit üblem Geschmack im Mund mehr schlecht als recht gesehen hatte.
Warum die Sonne so rot ist, wenn sie aufgeht, warum sie größer und roter ist, wenn sie untergeht. Warum das Licht sich dann rot über die Luft ergießt. Ein Blatt Zeichenpapier aus Gustavs Block: Gustav gab einen Spritzer Wasser drauf, tropfte aus der Pinselspitze zwei rote Tropfen, die dann rosenfingrig verliefen, das Rot wurde blasser und weniger und weniger. Vielleicht wurde hier gar nicht gemalt. Vielleicht war sein Leben nur so eine Art Verdünnung, Gustav selber ohne Augen. Nichts hatte er gesehen, nicht den Huflattich, nicht die Hungerblumen am Bahndamm, nicht die Sumpfdotterblumen im Graben; keine Goldammer, nicht das in Erz gegossene Eidechsenmännchen auf dem warmen Schotter. Roter Mohn, leuchtend blaue Glockenblumen, um die Wette blühende Reseden, pures Leinkraut-Gold, ein Würger, ein Neuntöter, Erdbienen und Sandwespen am Bahndamm entlang, ein Schwalbenschwanz über den Schienen: Nichts von alledem hatte Gustav gesehen.
Möglicherweise war es eine Leere der Langeweile, wozu die per Eisenbahn hergestellte Einheit Deutschlands ihren Beitrag geleistet hatte. Kein Pass, kein Koffervorzeigen, jeder ein Deutscher, einheitliche Maße und Gewichte, Handel und Wandel. Möglicherweise auch ein als Leere kaschiertes Grauen vor dem unerhörten und ungeheuren technischen Wunderwerk, das da als Eisenbahn dahindonnerte.
Betrachten Sie den Bahnhof als Durchgangsstätte auf dem Wege zur Pflicht, Männer – das hatte der Leutnant zu Gustav und dessen Kameraden gesagt, kurz vor dem Einsteigen in Flensburg, die Lok ganz weit vorn unter Dampf. Sauhaufen, hatte der Leutnant noch gestern gebrüllt, bei den letzten Marschier-Manövern auf dem Kasernenhof. Aber am Bahnhof hatte er bloß viele Grüße vom Kaiser bestellt, und die Alten und Jungen, Männer und Frauen, die sich am Bahnsteig drängten, lauter Deutsche, schrien Hurra. Nur Anne schrie nicht. Sie stand stumm und starr, mit glatt zurückgekämmten Haaren, Knoten im Nacken, Arme unter der Schürze, Augen im Kopfsteinpflaster, im Gepäck, im Trinkwasserbrunnen. Gustav hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, sah Prellböcke, Werkstatt und Weichenstellergebäude. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Jede Minute dauerte drei. Alles, was er hätte sagen müssen, sagte er nicht. Nur Anne sagte was: Kuck mal, die Tauben. Die flatterten und pilgerten um die Schnörkel am Gesims, pickten an nackten, verrußten Sandsteinmännern.
Gustav hatte nichts falsch machen wollen. Sein Recht auf Zittern und Zagen – Anne hatte an seiner Schulter geschluchzt und geschnieft –, sein Recht auf Durchdrehen, sein gutes Recht auf Amok also, das hatte er nicht wahrgenommen.
Anne winzig und arm. Kleiner Kerl, hörte sie ihren Gustav sagen. Nichts war da von schmerzlicher Anmut, geschweige denn von einem Anflug Üppigkeit und Begierde. Nur hektische Flecken in ihrem etwas zu breiten Gesicht und ihr Entengang, wenn sie ein paar Schritte machte. Gustav hatte nicht unersättlich heißhungrig an ihren Lippen gehangen und Anne nicht an seinen. Beide offenbar herzlos, beide heruntergekommen und dünn und gleichgültig, weil sie sich des Abschieds schämten. Kein markerschütterndes Schreien aus Annes Mund, kein Aus-tiefer-Not-schrei-ich-zu-dir, kein verrücktes Gekreische, in dem sich das ganze Leben noch einmal zusammenrafft. Anne hatte nicht vor Liebe gebrannt und war nicht zusammengebrochen. Nur zwischen Schniefen und Schluchzen die allernotwendigste Luft holen, gerade so viel, wie man zum Weiterleben braucht.
Ob es Sparsamkeit aus Angst gewesen war. Ob es diese Sparsamkeit gewesen war, deretwegen Gustav später das Gefühl von Leere notierte. Oder waren es die komischen dunklen Wolken gewesen, die über den Flensburger Augusthimmel zogen. Ob Annes Herz mit all dem angefüllt war, dies der Grund war für ihre Hand auf dem Herzen. Ob Anne sich nun auf ein Sparflammenleben einstellte.
Vierte Kompanie, Zug besetzen, hatte der Leutnant durch die Hurra-Tüte befohlen, dass Anne sich an die Ohren fasste. Bewegung im Haufen, Uniformröcke straffen, Lederkoppel stramm ziehen. Die Eisenbeschläge der Knobelbecher erklingen, der Trinkwasserbrunnen plätschert, die Bahnhofstauben picken, keiner sieht und hört das. Anne hatte die Hände von den Ohren genommen und hielt ein Taschentuch vors Gesicht.
Pass auf die Kinder auf, hatte Gustav mit einem Kloß im Hals gesagt.
Die Kompanie in Zehnergruppen ab in Richtung vierte Klasse, Gustav als Letzter.
Komm uns heil wieder, so Anne unterm Taschentuch mit gepresster Stimme.
Um zwölf hatte die Lokomotive weißen Dampf abgelassen. Der Lokführer im Lokführerfenster, Blick auf den Bahnsteig. Der Heizer in der Kohle. Wasserstandszeiger, Manometer, Ventilräder sauber geputzt. Die Lokräder, ein Schrei von irgendwo von irgendwem, schnell hintereinander Erdbebenstöße in der Lok, ein Anfall Entschlossenheit und Tatkraft. Abfahrt nach Düren.
Wer schlägt Gustavs Kopf gegen die Schienen. Wo ist der Sprechchor, der zu neunstimmigem Schluchzen und Jammern anhebt und das Schluchzen und Jammern um die Welt gehen lässt. Nichts kann zu Ende erzählt werden. Alles ist nur immer Anfang. Zu Ende erzählen hieße, nie mehr erzählen müssen. Anne war nach Hause gegangen.
Ob dieser schreckliche Anfang es gewesen war, der Gustav in Düren das Gefühl der Leere eingab, wer weiß. Die Ereignisse waren an ihm entlanggehetzt, er konnte nicht folgen, hatte nicht die nötige Zeit, auch nicht das nötige Wissen, was ihm aber auch nichts genützt hätte. Gustav das Schaf, das brav folgte. Gustav das Schaf, das nun in Düren saß.
Was vorher war. Gustavs und Annes Zweieinhalbzimmerwohnung in Flensburg, Duburger Straße 5, vierter Stock rechts. Wir blicken in die Küche, auf Kohleherd und Spülstein. Viergeteiltes Fenster in der Mitte, Tisch, zwei Stühle davor. Offene Regale mit Geschirr und Lebensmitteldosen. Aufschriften in gedruckter Sütterlin-Schrift, Zucker, Mehl, Kakao, Salz. Gustav in der Uniform eines Königlich Preußischen Musketiers rechts am Tisch, Anne in der vom Bahnhof her bekannten Schürze am Herd. Morgenlärm im Mietshaus. Die Tür von der Wohnung nebenan geht auf. Hunde stürzen bellend die Treppe runter. Wollt ihr wohl leise sein, ruft der katholische Nachbar, vierter Stock links. Anne zieht einen Topf über die Herdplatte.
GUSTAV (Ellenbogen auf dem Tisch, Kinn in der Hand.) Es wird heute warm.
ANNE Die Grütze ist gleich fertig.
GUSTAV Wenns bloß nicht so warm wird. Baden mit den Kindern in Wassersleben wäre mir lieber. Sogar die Werft wäre mir lieber, sogar der Kaukasus, wo es ja auch ganz schön heiß war.
ANNE (Dreht sich mit rot geweinten Augen um, kommt mit Grütztopf und Kaffeekanne rüber, füllt Gustavs Teller, schenkt Kaffee ein.) Da ist Milch. Warum sie dich geholt haben, Gustav. Du bist doch nicht mehr der Jüngste, und die Arbeit auf der Werft ist so wichtig, heißt es immer.
GUSTAV Die brauchen jeden Mann an der Front, hat der Leutnant gesagt. (Begütigend.) Es geht über Neumünster, hat der Leutnant gesagt.
ANNE Neumünster, dabei bleibts doch nicht. Da könntest du ja jedes Wochenende nach Hause. Es geht an die Front. Da wird geschossen, Gustav.
GUSTAV (Nimmt einen Löffel Grütze und einen Schluck Kaffee.) Mal sehn. Wird alles nicht so heiß gegessen wie gekocht. Ich bin ja nur Reservist.
ANNE Reservisten werden auch totgeschossen.
Gustav wischt sich mit dem Handrücken über Mund und Schnauzer, Anne ringt ihre Hände in der Schürze und lässt die Unterlippe hängen. Gustav steht auf, geht ins Kinderzimmer, streichelt Gret und Rosa, flüstert: Vater muss weg und kommt bald wieder. Bevor er sein Käppi aufsetzt, sagt er zu Anne: Ich und der Kaiser, wir werdens schon schaukeln. Dem katholischen Nachbarn begegnet er auf der Treppe. Der ist vom Hunde-Ausführen zurück und sagt: Alles Gute, Herr Hasse, 70/71 haben wir es denen gezeigt. Nun zeigen Sie es denen man. Wirklich alles Gute, Herr Hasse.
Tochter Gret kann sich an diesen Tag nicht erinnern. Sie habe immer den Kopf woanders gehabt, sei oft weggelaufen, habe immerfort gesagt: Gret kommt gleich, weswegen Anne sie im Hinterhof an einen Pflaumenbaum anzubinden pflegte. So wohl auch an diesem Tag. Gustav, Annes Sohn, sei noch in Abrahams Wurstkessel gewesen, also noch nicht auf der Welt. Rosa erzählt, sie sei in einer Kinderhorde mitgelaufen, immer neben marschierenden Soldaten her. Ob Gustav, also ihr Vater, dabei war, das wisse sie nicht. Sie erinnere sich aber an eine Kugelakazie und an ein abgrundtiefes Schluchzen hinter der Kugelakazie und an einen Streifen bunter Blumen vor dem Haus Duburger Straße 5 und an die damit verbundene alleraußergewöhnlichste Glückseligkeit. Auch an einen Abzählvers für das Spiel: Kaiser, Kaiser, wie viel Schritte darf ich tun, erinnere sie sich.
Wer will Marmelade haben,
muss dafür zum Kaiser traben.
Einmal Mut, einmal Mann,
rundherum und du bist dran.
Das mit Stockflecken versehene Foto dieses Tages zeigt eine Lindenbaumreihe. Nach letzten Exerzier-Übungen hatte sich Gustavs Zug unter Führung des Leutnants fotografieren lassen. Auch ein hölzernes Übungsgestell zur körperlichen Ertüchtigung der Soldaten zeigt das Foto. Zwei senkrecht stehende Balken, ein dritter in drei Metern Höhe drübergelegt, schräg eingesetzte Stützen in den Winkeln. Eine Leiter rechts, zwei Kletterstangen in der Mitte, angenagelte Trittstufen links. Davor Gustav mit seinen Kameraden: achtzehn Soldaten der vierten Kompanie, Reserve-Infanterieregiment 86. Die hintere Reihe stehend, die vordere kniend, zwei Schulter an Schulter Liegende ganz vorn. Der Leutnant auf Abstand links. Alle im Garnisons-Wachanzug: Pickelhaube, Oberlippenbart, zwei Patronentaschen, Gewehr und Stiefel mit Sohlennägeln. Gustav in der hinteren Reihe, Zweiter von links. Er sieht am besten aus. Wie wenn die Lindenbaumreihe auf seinen Schultern ruhte. Wie wenn sein Kopf daran lehnte. Gustav ist nicht der Größte, und er hat eigentlich keine richtige Uniformfigur, aber die Uniform steht ihm am besten. Auch hat er wegen seiner zusammengewachsenen Augenbrauen nicht den stieren Infanteristenblick der anderen. Er blickt einfach so gerade heraus, offen und wehrlos: Töte mich, wenn es sein muss. Sein Mund hat ein rätselhaftes Lächeln. Nie sah ich schönere Hände einen Karabiner umfassen. Ist es das Lächeln, sind es die Hände, ist es die gutsitzende Uniform, ist es das Offene und Wehrlose in seinen Augen, weswegen er mir so gefällt. Sicher ist er auch friedsamer als die anderen gewesen, die Knollnasigen, die Fettleibigen, die Hohlwangigen neben und vor ihm. Denen sehe ich schon den Tod ins Gesicht geschrieben. Gustavs Lächeln ist unauslöschlich.
Ob Anne wirklich bei der Verabschiedung am Flensburger Bahnhof dabei war, weiß ich nicht. Vielleicht wurde Gustavs Regiment am 7. August 1914 in aller Hast zusammengetrommelt und kam von Flensburg für drei Wochen in die kleine Garnison Solsbüll, an der Eisenbahnlinie Flensburg–Kiel. Gustav hat sich von Anne möglicherweise nur nach Kummerby verabschiedet. Die Regimentsaufzeichnungen berichten von ein paar herrlichen Tagen dort, von einem Sommer ohnegleichen, vom kräftigen Hunger der Reservisten, der mit weltbekannten schleswig-holsteinischen Spezialitäten von den Kummerbyer Bauern gestillt wurde. Möglich, dass Anne ihren Gustav schon in Kämpfe verwickelt sah, als er noch eine dreiviertel Eisenbahnstunde von ihr entfernt tagsüber den letzten Schliff bekam und abends, nach einem guten Essen und paar Bier, todmüde mit folgenden Sätzen ins Stroh fiel:
Von jeher ist die Treue eine der vornehmsten Tugenden unseres Volkes gewesen und hat sich wahrlich oft genug bewährt. Gilt das Manneswort nicht mehr, dann herrschen Hinterlist und Feigheit. Der Soldat hat sich als kriegsfertig, mutig und tapfer, also todesverachtend zu erweisen. Zwar hat jeder einen Schweinehund im Leibe, er darf ihn aber nicht rauslassen.
Was geblieben ist: Gustavs Lächeln. Ein Mondgesicht übrigens, ein Mondgesicht mit Männer- und Frauenhaar, je nachdem, wie die Erde es ansieht.
Hing das Gefühl der Leere, das Gustav in Düren notierte, mit dem Mond zusammen, von dem er nachts auf der Strecke, noch vor Sonnenaufgang, auf der Holzbank im Vierte-Klasse-Abteil geträumt haben könnte. Denn der Mond begleitete das im Zug durch die Nacht hineilende Reserve-Infanterieregiment 86. Alle großen Krieger haben geweint und gezittert. Anne im Mond stand am Himmel, fiel und tauchte unter den Horizont, tat das dreimal. Anne im Mond rief Gustav, auch Gustavs Kameraden wurden mit den Stimmen ihrer Frauen oder Verlobten oder Freundinnen gerufen. Gustav sprang auf. Die Sonne war nämlich aufgegangen. Gustav bekam keinen Ton raus, seine Kehle klemmte, die Luft reichte nicht, oder er drehte durch, was weiß ich, die Finger seiner rechten Hand gerieten zwischen Abteiltür und Rahmen, und er schrie auf. Der Leutnant erschien und befahl Ruhe und Ordnung. Ein Verband wurde angelegt, der Zug rasselte weiter. Einatmen, hoch der Ton. Ausatmen, und wieder runter. Als wäre nichts gewesen. Der Lokführer lehnte im Lokführerfenster und genoss noch den letzten Rest Nacht. Der Heizer pennte in der Kohle.
Was war mit Gustav. Was hatte er wirklich gedacht.
Die in Gustav eingefallene Leere verließ ihn nicht. Mit den Notizen in der Tasche stand er von seinem Sturmgepäck-Sitz auf, spürte sommerliche Luft, vielleicht war Kühle vom Ostseebad dabei, von der Flensburger Förde, der Ausflugsdampfer Alexandra auf seinem Weg nach Glücksburg, im Ufersand eine halb vergrabene Milchflasche, kleine Wellen liefen dagegen und spülten drüber. Aber der Teergeruch von den Schwellen des Dürener Bahnhofs war stärker. Gustav überquerte die Geleise, hörte seine Tritte im Schotter, fühlte das Gewehr im Kreuz. Ein Tornisterriemen rutschte ihm über die Schulter. Augen rechts: Deutschland. Die Augen links: Frankreich. Heckenrosenduft stieg von den blühenden Heckenrosen auf, stieg in seine Nase. Bienen bei der Arbeit, tausend allerwinzigste Luftkissen trugen sie.
Gustav blieb vor einer mannshohen Reklamewand stehen, darauf Dr. Dralles Birkenhaarwasser-Sprüche gegen sprödes, brüchiges Haar: Deutscher, ehre und unterstütze deutsche Wissenschaft und deutschen Fleiß. Dr. Dralle hatte auf verschiedenen Weltausstellungen viele Goldmedaillen gewonnen. Auf dem Plakat darunter las Gustav: Die unwiderstehliche Lockung, und sah einen gut aufgeräumten deutschen Schützengraben, in dem vier deutsche Infanteristen auf bahnbrechende Weise Krieg führten. Sie trugen stoffbezogene Pickelhauben, Feldflaschen hingen an ihren Leibriemen. Der erste schwenkte einen Cognac-Schwenker, der zweite hockte auf einer Kiste Asbach Uralt, der dritte hielt eine Riesenflasche Asbach, an den Gewehrlauf gebunden, hoch über den Schützengraben. Der vierte, Hände in den Hüften und hintenübergebeugt, lachte sich kaputt. Siehe da, am Horizont brachen aus einem Dickicht fünf schwankende Gestalten hervor, Franzosen wohl, waren schon am Kippen, hatten die Arme schon erhoben, hatten schon verloren. Gefasst, vereinnahmt und überantwortet, da geben die vier deutschen Musketiere einen Asbach aus. Gustav nahm einen Schluck Lauwarmes aus der Feldflasche. Er wickelte den Verband von der pulsierenden verletzten um die gesunde Hand und wieder zurück. Verblüht nicht zu früh, verblüht erst, wenn ich nicht mehr da bin, so Gustav in Gedanken an die Wildrosen, deren Duft er wieder und wieder und tief einzog.
Eine Lok ließ Dampf ab und hämmerte mit einem Gestänge. Gustavs Kameraden saßen feldmarschmäßig gekleidet auf dem Bahnsteig. Da spielte eine Raucherrunde Siebzehnundvier. Einer schlief mit dem Kopf auf der Zeltbahn. Ein anderer döste an seinem Gewehr. Aus der Sonne lief ein Lazarettzug ein. Die Lok wurde abgekuppelt, eine neue angekuppelt. Krankenschwestern mit Kannen und Schüsseln stiegen aus. Verbundene und unverbundene Köpfe tauchten in den Zugfenstern auf. Dadrinnen lagen flach Atmende mit Bauchschüssen, Fiebernde mit Granatsplittern in den Beinen. Mensch, Meggersee, rief Gustav plötzlich einem mit verbundenen Armen zu, der aus dem Fenster schaute. Er lief hin. Es war aber nicht Meggersee. Der Zug setzte sich in Bewegung. Der Unbekannte winkte ihm einfach so, hob seine unverletzte Rechte zur Faust und rief: Solang ein Tropfen Blut noch glüht. Gustav stand da mit Händen in den Taschen und sah dem Zug nach, der in der Kurve mit einem letzten Klickediklack verschwand. Dann war Stille.
(Tagebuch) Es ging kein Zug mehr. Die Abfahrt einen Tag verschoben. In der Blindenanstalt, wo wir gegessen und übernachtet haben, gab es einen Schlag Erbsensuppe mit Pferdefleisch ins Kochgeschirr. Am anderen Morgen ging der Zug pünktlich um sieben ab, Richtung Westen. In Herbesthal, Grenzstation, für den Rest des Tages und die folgende Nacht haltgemacht. Alle im Abteil kümmerlich zusammengekauert, geklappert und nicht geschlafen. In aller Frühe begann das große Rangieren. Unser Wagen wurde an- und abgekuppelt und hin- und hergeschoben. Zwei Züge mit Elitekorps sind vorübergebraust, einer vormittags, einer nachmittags. Wir Reservisten haben Ruh. Eine Nacht blieben wir noch auf der Bahn. Nissen, Abraham und Uhl haben sich müde gemauschelt und waren schlechter Laune. Sollen Skat spielen, hab ich gesagt. Wir kommen uns vor wie bestellt und nicht abgeholt. Wir schickten Bock, der Postbote ist, auf Erkundung. Die haben uns vergessen, sagte der Bahnmensch. Unser Wagen mit dreizehn Mann war aus Versehen dagelassen worden. Wir kriegten den nächsten planmäßigen Zug nach Namur, wo wir uns beim Versprengtenkommando melden sollten. Nun sind wir in Namur, nun braucht man uns nicht. Ich dachte, ich hätte Meggersee im Verletztentransport gesehen; war er aber nicht. (Ende Tagebuch)
In der Schreibstube des Versprengtenkommandos legte der Leutnant seinen Zeigefinger an den Mund. Sind wir doch für da, sagte er beschwichtigend und wedelte mit Gustavs Gesuch: Bitte um Hilfe bei der Suche nach meinem Regiment. Im Krieg findet sich alles wieder, Hasse, sprach er weiter. In der täglichen Fragestunde von zehn bis zwölf quetschte der Leutnant die Neuversprengten aus und legte für jeden eine Akte an. Nachmittags studierte er die Akten, manchmal ließ er einen Altversprengten ranholen zur weiteren Klärung. Er telefonierte und korrespondierte mit seiner nächstoberen Dienststelle. Manchmal hatte er Glück, dann hatte er das passende Regiment für den passenden Versprengten. Den zitierte er herbei und sagte: Passt. Der bekam dann seine Papiere und wurde am nächsten Tag in den täglich durchs Lager rollenden Zug gesetzt. Länger als sechs Wochen blieb keiner. Fand der Leutnant nichts Passendes, dann kriegten die Regimenter mit der größten Nachfrage was ab. Da waren die Versprengten Fremde unter Fremden, meldeten sich in fremder Mundart und starben beim nächsten oder übernächsten Treffer. Oder ein Fremder tröstete sie: Nichts passiert, sei froh, bald bist du zu Hause, Kamerad.
Gustavs Akte war angelegt und stand im Schrank unter dem Buchstaben H. Er hauste zusammen mit Abraham, Bock, Nissen und Uhl in der Sattelkammer eines Pferdestalls. Es gab da aber keine Sättel und kein Zaumzeug, auch keine Pferde in den Boxen. Da lag Stroh, da schliefen sie. Über den staubigen Hof ging es zur Kommandantur, wo der Chef, der Leutnant und der Spieß in einem geräumten Gesindehaus ihr Lager aufgeschlagen hatten. In der Nähe floss ein kleiner Bach, der sich in Richtung Maas weiterschlängelte, an der Hufschmiede, an der Stellmacherei, am weiß gestrichenen Herrenhaus vorbei, jetzt Offizierscasino, hinein in einen von Schwänen besetzten Teich und wieder hinaus, am Treibstofflager und Wildschweingehege entlang, dann durch ein niedriges Gehölz und so weiter. Von der Sandsteinterrasse an der Sonnenseite des Herrenhauses ging eine breitgeschwungene Sandsteintreppe zum Teich hinunter. Oder man ging durch eine der drei Doppeltüren von der Terrasse in den Speisesaal, wo verdiente Männer in Öl hingen, gewaltige Rahmen um sie herum, sonst nichts.
Drei Mahlzeiten pro Tag nahmen damals die Offiziere im Speisesaal ein. Abends spielten sie im Raum nebenan Billard, oder sie saßen noch einen Raum weiter am Kamin. Den zündeten die Ordonnanzen aber nicht an, stattdessen begossen sie die Bananen- und Gummibäume im Wintergarten, wo auch Kakteen in original französischem Wüstensand unterm Fenster gediehen. Küche und Kammern lagen auf der Wetterseite des Schlosses. Auf dieser Seite war auch der offizielle Eingang, eine schwere Eichentür. Eine schlosseigene Lindenallee führte dort hin, ein heller Platz war davor, in dem hellen Platz ein kreisrunder Rasen. Dann stand man im Schatten auf einem Podest vor der Eichentür. Man legte die Hand an die schön kühle Mauer. Man trat ein und hängte seine Sachen auf.
Die Deutschen hatten nur das untere Stockwerk beschlagnahmt. Oben wohnte die Marquise, der alles gehörte. Ihre Angestellten und Arbeiter waren mit ihren Familien auf Befehl der Deutschen ins nächste Dorf gezogen. Sie hatte nur noch Kammerdiener und Köchin. Höchst selten ließ sie sich blicken. Wie sie wohl den Krach aushielt, wenn es unten im Speisesaal drunter und drüber ging. Nachmittags, immer so gegen fünf, schritt sie in einem langen weißen Kleid zum Teich, wo die Schwäne übers Wasser geschwommen kamen und nach Brocken schnappten. Sie war schlank und blass und unbekannten Alters.
Auf Gustavs Dienstplan stand geschrieben: Exerzieren, morgens einmal, nachmittags einmal. Das Gewehr 98 war vorschriftsmäßig aufzunehmen und abzusetzen. Beim Auseinanderlaufen waren die Ohren zu spitzen, denn beim Wörtchen Achtung war Front zu nehmen und auf die Fußstellung zu achten. Kneifen Sie die Arschbacken zusammen, Hasse, rief der Landwehrunteroffizier Hörstel, früher Lehrer in Thorn/Westpreußen, jetzt frontuntauglicher Unteroffizier ohne rechten Arm und mit dem Exerzieren betraut. Uhl war betrunken und unrasiert. Beim Abzählen wartete er zu lange, seine Lippen machten einen verbogenen Mund, den Namen des Unteroffiziers sprach er falsch aus. Das wird ein Nachspiel haben, brüllte Hörstel beim Wegtreten. Mit sich selbst überlassenen Fingern ging Uhl ans Gewehrreinigen, und halben Sinnes schoss er sich in den Bauch. Der Arzt konnte nichts machen und gab Morphium. Drei Tage lebte Uhl noch, in der Sattelkammer. Er röchelte und stöhnte leise. Gustav träufelte ihm Wasser auf die Lippen, Uhl verdrehte dankbar seine Augen. Uhl war immer froh gewesen, dass er bei den Versprengten war.
Ich hab was für Sie, Hasse, sagte Hörstel nach Uhls Beerdigung, Sie sind doch Tischler. Da melden Sie sich sofort in der Stellmacherei, da gibt’s genug Arbeit. An der Stellmacherei floss der Bach, da war der kleine Bahnhof, da gab es auch eine Verladerampe.
(Tagebuch) Gestern ist Uhl beerdigt worden. Armer Kerl. Ich hab endlich vernünftige Arbeit. Zehn Eisenbahnwaggons sind gekommen, die sollen in Küchen- und Liegewagen umgebaut werden. Bauholz ist auch mitgekommen. Es liegen aber sowieso mehrere Meter Bretter in der Stellmacherei. Habe Hammer, Kneifzange und Säge erhalten. Aber der Zollstock ist doch das Wichtigste. Wir bauen Betten, Tische, Stühle, und die werden in die Wagen eingebaut. Es soll ein Lazarettzug werden. Wenn dieser fertig ist, soll noch einer drankommen. Hobel- und Sägespäne sind mal wieder was Schönes für Augen und Nase. Statt Gewehrreinigen mache ich mit dem Stallbesen die Werkstatt sauber zu Feierabend. Gehe nach dem Tagewerk immer gerne noch mal durch die Wagen, um alles zu beriechen. Hatte eine Postkarte aus Flensburg. Wir bekommen Zuwachs. Sonst nichts Neues. (Ende Tagebuch)
Gustav sehnte sich nach Anne, aber er sehnte sich auch an die Front. Wäre er da oder dort gewesen, dann hätte alles seine Richtigkeit gehabt.
(Tagebuch) Meggersee ist hier im Versprengtenlager aufgetaucht. Wir haben uns nett begrüßt, aber per Sie. Er ist Offiziersaspirant und zählt zu den Offizieren. Sonst ist das hier so ein Zwischending. Habe zwar meine geregelte Arbeit und muss nicht mehr exerzieren und nicht Wache stehen, aber wenn ich ehrlich bin, vermisse ich doch das Regiment. Die hier wissen ja nicht mal, wo die Front ist. Wir dürfen nichts Dienstliches nach Hause schreiben. Nach dem Unfall mit Uhl haben sie uns alle Munition abgenommen. Bock ist als Ordonnanz im Casino gelandet und darf Offiziere bedienen. Abraham und Nissen stehen Wache am Treibstofflager. Heute waren wir zum Feldgottesdienst, und bei der Gelegenheit haben wir uns das zerstörte Namur angesehen. Die Einschläge haben aus den Häusern Ruinen gemacht. Ein Flickschuster saß da ohne Dach über dem Kopf bei der Arbeit und sah uns an. (Ende Tagebuch)
Dann kam der letzte Sonnentag im Versprengtenlager, ein Sonntag. Die Sonne sank über Kommandantur, Herrenhaus und Treibstofflager hernieder und hinter dem Wald hinab. Eine Reihe Militärautos parkte am Casino. Wieder mal war Grund zum Feiern. Wieder mal war eine größere Stadt gefallen. Wir wissen bloß noch nicht, welche, rief Bock, der die Botschaft nebst zwei Flaschen Asbach Uralt brachte. Laut Tagebuch zog Gustav sich in die Sattelkammer zurück, während Abraham und Nissen weiter Karten spielten. In Wirklichkeit war er am Misthaufen hinterm Pferdestall gewesen und hatte gepinkelt. Die Offiziere im Speisesaal waren schnell in Schwung gekommen, und das erste leergetrunkene Glas flog an die Wand. An der Bar heckten drei besonders unternehmungslustige Herren, Leutnant Eckstein und die zwei Offiziersaspiranten von Meggersee und Steiger, Schlachtpläne aus und verließen den Saal durch die mittlere Terrassentür. Sie wollten Wildschweine jagen.
Die Marquise hatte sich von ihrem Kammerdiener Badewasser heiß machen lassen. Sie schalt ihn, weil er nicht ordentlich heißes Wasser zuschüttete.
Gustav hatte sich am Misthaufen erleichtert und begab sich wieder in die Kartenrunde. Nissen öffnete die Flasche, und der erste Schluck wurde auf den frisch beerdigten Uhl getrunken. Mach kein so verdrossenes Gesicht, sagte Nissen und hielt Gustav die Flasche zur zweiten Runde hin.
Die Draufgänger von der Bar drückten sich am Treibstofflager vorbei und pirschten sich ans Wildschweingehege heran, wo sie den Maschendrahtzaun im ersten Anlauf nahmen.
Wolken waren aufmarschiert und hatten die Umgebung verdunkelt. Es fing zu tröpfeln an, und der Wind fuhr durch die Einfahrt zur Lindenallee herein. Die Blätter ganz oben kriegten zuerst was ab. Schnell waren sie vom Staub befreit, Wasser lief nun, wie es wollte, lief weiter runter, lief in die tiefen Regionen. Wolken und Regen herrlich in Fahrt. Auch der Wind war zu rühmen, denn schon war er viel weiter. Schon hatte er alle Bäume ergriffen und blies die ganze Allee entlang. Den Kartenspielern vor dem Pferdestall fegte er die Karten vom Tisch. Sie bezogen in der Sattelkammer eine Ausweichstellung und steckten drei Kerzen an.
Die Herren Jäger standen im Gehege mit mehr oder weniger blonden, vom Wind durcheinandergewirbelten Haaren. Der Wind rüttelte schon an den Bretterhaufen vor der Stellmacherei, orgelte schon im Schornstein der Kommandantur. So begann der Herbst.
Die Marquise wollte von Wind und Wetter nichts wissen. Ein paar Schlieren zogen über ihr Fenster. Sie beendete das Bad. Man reichte ihr ein grünes Handtuch. Die Köchin hatte das Abendessen in kleinen Töpfen über kleinen Feuern bereitet, der Kammerdiener hatte aufgetragen. Die Marquise trug ein langes Kleid mit einer perlenbesetzten Brosche an der Brust. Sie musterte sich im Spiegel ihrer Ahnen, flüsterte leise den Namen ihres Herrensitzes, Jambes-Vélaine, zog die Augenbrauen hoch, und ein kurz eingeschaltetes Lächeln zog über ihr Gesicht. Der Tisch war für sie allein. Kammerdiener und Köchin nahmen das Nachtmahl in der Küche am Küchenfenster ein, überblickten von da Pferdestall, Treibstofflager, Wildschweingehege und Teich. Die Marquise hob ein Teeglas an ihren Mund.
Nacht legte sich übers Schwarzwild. Die drei Jäger gingen generalstabsmäßig vor. Offiziersanwärter Steiger erkor sich in dieser Sache zum Anführer und befahl den beiden anderen Treibstöcke in die Fäuste.
Schweine vor, kommandierte er.
Leutnant Eckstein, dem es zu bunt war, rief: Alles schön und gut, Leute, aber ich scheide aus. Eckstein verließ das Gehege.
Der Leutnant ist sich wohl zu fein, rief ihm Steiger hinterher.
Die Schwarzröcke standen zusammengedrängt in der hintersten Ecke und trampelten auf der Stelle. Steiger und Meggersee schlugen ihre Knüppel in den Dreck und gaben Hetzlaut. Da brach der einzige Keiler aus der Rotte, stürmte geradewegs auf die beiden Treiber los, die nahmen den nächsten Weg zum Zaun und sprangen hinein, blieben drin hängen. Der Keiler zog sich zurück. Die beiden befreiten sich aus den Drahtmaschen. Sie strichen sich mit lehmigen Fingern durchs Haar, schüttelten Regen und Lehmspritzer von der Uniform und begaben sich in die Waschküche, wo noch warmes Wasser im Waschkessel war.
Oben am Küchenfenster saß der Kammerdiener gegenüber der Köchin und brach ein Stück vom Käse ab, schob Brocken um Brocken in den Mund, kaute abwesend mit Blick aus dem Fenster. Dann hatten Köchin und Kammerdiener gegessen und verdauten still. Die Marquise vor ihrem leeren Teeglas lächelte wieder.
Gustav, Abraham und Nissen waren richtig ins Spielen geraten. Sie droschen das Blatt auf eine Futterkiste, und zwischendurch hoben sie einen. Nissen hatte Haare auf den Zähnen, Gustav gab Kontra, Abraham mischte am besten. Es hat sich schon mal einer totgemischt, sagte Gustav, nahm seine Karten auf und war gut dran mit den ersten beiden Buben und einer Pikflöte, woraus er einen Grand machte, den er von oben nach unten runterspielte. Gottergeben bedienten Abraham und Nissen. Draußen ging der Wind. Gustav lachte aus Freude über den Sieg, seine Augen waren schön und groß und blau, und er ließ sich von Abraham einen Grand mit Zweien, gespielt drei, Schneider vier, Schwarz fünf, notieren. Dann sagte er: So spielt man mit Studenten.
Die Speisesaal-Wogen schlugen nun oben bei der Marquise hörbar an. Teils krümmten sich die da unten in grundloser Albernheit, teils hatten sie Grund zum Lachen, teils saßen sie aus Gründen erstklassiger Kinderstube mit erstklassigen Manieren vor den hochadeligen Gedecken. Der kleine Bock beeilte sich mit Nachschub. Ein schmaler Leutnant malträtierte das Klavier an der Wand zum Wintergarten, dazu erklang ein unstimmiger Chor: Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Die französische Offensive war zurückgeschlagen worden oder Antwerpen gefallen, Genaues wusste man noch nicht. Auf Kommando standen alle auf, denn einer musste auch hier kommandieren, und prosteten dem Kaiser zu. Wer wollte nicht die mit genialer Umsicht geleiteten deutschen Truppen loben. Wer wollte nicht weitere herrliche Taten kommen sehen. Draußen blies der allmächtige Gott den Wildschweinen Eicheln und abgerissene Äste um die Ohren. Steiger und Meggersee traten, gereinigt, gelüftet und gebürstet aus dem Waschraum hervorgegangen, an den Ecktisch, und Steiger sagte: Morgen dasselbe noch mal.
Bei den Skatbrüdern war das Maß voll. Betrunken öffnete Abraham ein Fenster in den Herbst und begann mit dem Unsinn. Die Spielkarten flogen raus und flatterten weg, der Tornister flog, Feldflasche, Kochgeschirr, Messer, Gabel, linker Schuh, rechter Schuh flogen, alles, was Flügel hatte, flog raus, nur das Gewehr 98 war heilig und wurde nicht angetastet. Im Handumdrehen standen Gustav, Abraham und Nissen nur noch in Unterhose und Unterhemd da.