Sommer Ende Zwanzig - Claudio Paglieri - E-Book

Sommer Ende Zwanzig E-Book

Claudio Paglieri

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Beschreibung

Unvergleichlich leicht und heiter erzählt Claudio Paglieri von der bittersüßen Melancholie des Ewachsenwerdens. Die Arbeit hinschmeißen, das Telefon nicht mehr abnehmen, die Freundin so lange ignorieren, bis sie einen filmreifen Trennungsmonolog hinlegt und für immer verschwindet - vor ungefähr zwei Jahren hat Stefano Amici einfach beschlossen, sich nicht länger dem eigenen Pflichtgefühl und den Erwartungen der anderen zu unterwerfen. Seltsam zufrieden in seiner neu errungenen Einsamkeit, lässt er sich seitdem langsam auf den Grund seiner selbst sinken und denkt dabei über all das nach, was ihm auf dem Weg zum Erwachsenwerden unmerklich verlorenging. Die Freundschaft mit Teo, Mario und Robi, zum Beispiel, und die Atmosphäre der legendären Inter-Rail-Tour, die die vier Freunde vor zehn Jahren kreuz und quer durch Europa führte. Er denkt an den Pakt, den sie damals geschlossen haben und den es Ende dieses Sommers, an seinem dreißigsten Geburtstag, einzulösen gilt.

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Informationen zum Buch

Unvergleichlich leicht und heiter erzählt Claudio Paglieri von der bittersüßen Melancholie des Ewachsenwerdens

Die Arbeit hinschmeißen, das Telefon nicht mehr abnehmen, die Freundin so lange ignorieren, bis sie einen filmreifen Trennungsmonolog hinlegt und für immer verschwindet – vor ungefähr zwei Jahren hat Stefano Amici einfach beschlossen, sich nicht länger dem eigenen Pflichtgefühl und den Erwartungen der anderen zu unterwerfen. Seltsam zufrieden in seiner neu errungenen Einsamkeit, läßt er sich seitdem langsam auf den Grund seiner selbst sinken und denkt dabei über all das nach, was ihm auf dem Weg zum Erwachsenwerden unmerklich verlorenging. Die Freundschaft mit Teo, Mario und Robi, zum Beispiel, und die Atmosphäre der legendären Inter-Rail-Tour, die die vier Freunde vor zehn Jahren kreuz und quer durch Europa führte. Er denkt an den Pakt, den sie damals geschlossen haben, und den es Ende dieses Sommers, an seinem dreißigsten Geburtstag, einzulösen gilt.

Claudio Paglieri

Sommer Ende Zwanzig

Roman

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

September

Juli

September

Juli

September

Juli

September

Juli

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

September

August

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August

September

Über Claudio Paglieri

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Meinen wahren Weggefährten.Unsere Reise ist nie zu Ende gegangen.

Die Personen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen ist rein zufällig.

September

Ich heiße Stefano Amici, und seit zwei Jahren habe ich mit niemandem gesprochen. Eigentlich merkwürdig, bei meinem Nachnamen. Ich bin weder verrückt noch depressiv, glaube ich. Ich habe einfach nur gemerkt, daß ich nichts mehr zu sagen habe. Und daß ich nichts mehr hören will.

Die Geräusche um mich herum haben schon vor langer Zeit angefangen, mir auf die Nerven zu gehen: Zuerst die Musik in der Diskothek, dann der Verkehrslärm, dann der Fernseher. Irgendwann waren mir sogar die Stimmen der anderen zu laut, schrill und nichtssagend. Und schließlich ist mir auch meine eigene Stimme unerträglich geworden, und überflüssig. Ein fremder Klang, der nichts über das verriet, was in mir vorging.

Glaubt bloß nicht, daß ich traurig und einsam bin. Ich bin fast dreißig Jahre alt, klar im Kopf und körperlich fit: Ich mache viele Liegestütze, und manchmal, wenn es regnet, gehe ich laufen. Eigentlich ist es mir nie so gut gegangen wie jetzt. Keiner erwartet mehr etwas von mir, keiner will mir einen Gefallen tun oder bittet mich um einen. Das ist eine ganz schöne Erleichterung für jemanden mit meinem Nachnamen.

Ich gehe fast nie vor die Tür. Meine Wohnung ist zwar in der Stadt, liegt aber ein wenig von der Welt abgeschnitten in einem Haus über dem Meer. Sie ist klein und wie für mich gemacht, und durch zwei Fenster, an denen die salzverkrusteten Läden allmählich auseinanderfallen, flutet das Licht herein. Die enge Gasse vorm Haus ist für den Autoverkehr gesperrt, und nur hin und wieder schlängelt sich ein Pärchen auf dem Moped zwischen den Schranken hindurch, um den Sonnenuntergang zu sehen oder einen Joint zu rauchen. Das Geräusch der Mopeds ist das einzige, das ich ganz gern höre, ein vertrautes und etwas wehmütiges Echo, das mich in die Vergangenheit zurückversetzt. Auch unsere Auspuffe verbreiteten vor zehn Jahren ihr freches Gegröle, als hätten wir sie mit Lachgas vollgepumpt. Auch wir, das heißt Robi, Mario, der kleine Teo und ich, hatten Mädchen für den Strand, und dazu Hasch und Träume und den Mumm, beides miteinander zu teilen.

Damals kam ich mir vor wie ein griechischer Sagenheld, einer von denen, deren Name schon alles sagt und die ihr Schicksal in die Wiege gelegt bekommen: Sie wissen, wann sie sterben werden, wie und warum. Aber sie leben trotzdem und versuchen, sich deshalb nicht verrückt zu machen und ihrer Bestimmung würdig zu begegnen. Ich bin mit diesem Nachnamen geboren worden und habe mein Schicksal mit achtzehn Jahren kennengelernt, als ich zufällig den Film Der große Frust sah. Das war meine, das war unsere Geschichte. Irgend jemand hatte sie geschrieben, und was wir auch taten, wir kamen nicht darum herum, sie zu leben.

Juli

Ich erinnere mich noch an die gräßlichen Juliwochen an der Riviera, an die endlos langweiligen Nachmittage, die wir in den Hollywoodschaukeln der Strandbar »Bagni Ondina« in Pietra Ligure abhingen. Robi, Mario, der kleine Teo und ich konnten dort Stunden damit zubringen, Pfefferminzwassereis zu lutschen, zu kickern und hirnrissige Stücke aus der Jukebox zu spielen. Ich war zwanzig und trauerte bereits dem Arkadien der Kindheit nach, als der Sand noch weich war und man Kugelbahnen bauen konnte, ich noch nicht die leiseste Ahnung hatte, was Mädchen sind, und mein Gesicht noch nicht nur aus Nase bestand.

Die frühen Nachmittagsstunden verbrachte ich auf der Hollywoodschaukel mit Mario, auch Zecke genannt, weil er sich derartig an die Frauen ranschmiß. Später, nach dem Mittagsschläfchen, stießen für gewöhnlich Matteo und Robi dazu. Während ich stundenlang in irgendwelchen Klassikern oder Geschichtsbüchern schmökerte, blätterte Mario in der Zeitung oder saß mit dem Gesicht zur Bar und scannte durch seine Sonnenbrille die Vorder- und Rückseiten der vorbeigehenden Mädchen. Hin und wieder beobachtete ich ihn dabei, wie er die Brille abnahm und sich in der Innenseite der Gläser betrachtete, um zu überprüfen, ob die Nase noch gerade und die absichtlich wie zufällig hingestrubbelten schwarzen Locken noch an ihrem Platz waren. Dann bleckte er seine geraden weißen Zähne und kontrollierte, ob dazwischen nicht doch noch ein Croissantkrümel hing. Was schlicht unmöglich war, da er nie ohne ein Reisezahnputzset aus dem Haus ging und sich, sobald er nur in die Nähe eines Croissants kam, sofort eine halbe Stunde lang das Gebiß schrubbte.

Wir hatten beschlossen, daß dieses Jahr das Jahr des Inter Rail sein würde, der abgefahrenen Europatour per Zug, mit Rucksack und Schlafsack. Dieses Jahr würden wir uns vom trüben Dasein an der Riviera verabschieden und in den Dschungel der Abenteuer stürzen.

Robi hatte den Trip bereits im Sommer zuvor mit zwei Freunden aus Mailand gemacht. Er hatte uns vorgeschlagen, mitzukommen, aber ich war bis zum letzten Moment unschlüssig geblieben, hatte mich dann wie immer nicht entschieden und das Ultimatum einfach verstreichen lassen. Ohne mich hatte Mario nicht mitfahren wollen, und so waren wir den ganzen August über in Pietra Ligure, Savona, geblieben. Wir vermieden es, über Robi zu sprechen, und wenn uns am Bahnhof irgendein Typ mit riesigem Rucksack und fertigem Gesicht über den Weg lief, bestärkten wir uns gegenseitig darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Der hat vielleicht schöne Ferien, sagte ich: Schleppt sich durch die sengende Sonne, hockt im Gang, weil im Abteil kein Platz mehr frei ist, und wäscht sich nur einmal die Woche … Genau, und dann ißt er noch wer weiß was und wer weiß wo, stimmte Mario mir zu. Wollen wir etwa auch so enden?

Ende August war Robi dann zurückgekommen. Er schien um zehn Zentimeter gewachsen zu sein und war noch magerer als sonst, so daß man die Rippen zählen konnte und seine Wangenknochen hervorstanden. Aber seine Augen sprühten Funken, und dieses breite Grinsen wie aus einem japanischen Zeichentrickfilm ging einfach nicht mehr weg. Mario und ich wollten ihm die kalte Schulter zeigen, aber es war unmöglich, sich von seinen Geschichten über Frauen, Drogen, Bekanntschaften und gute Laune nicht einnehmen zu lassen. Der kleine Teo, der vollkommen fertig und für immer gezeichnet aus seinen Ferien zurückgekehrt war, die er mit den Eltern und der Großmutter in Deutschland hatte verbringen müssen, hörte ihm begeistert zu: »Das will ich auch machen! Laßt uns doch im nächsten Sommer zusammen fahren! Sofort großes Indianerehrenwort, daß wir nächsten Sommer fahren!«

An Ostern hatte Mario mich angerufen, um mir zu sagen, daß die Sache stünde. Er plante gerne lange im Voraus und hatte bereits Daten, Preise und Routen studiert. Er hatte mir gesagt, er führe lieber nur mit mir, weil er sich mit Teo und Robi nicht besonders gut verstehe, und so sicher sein könne, daß wir »richtig« Spaß haben würden. Die anderen wären zu kindisch und würden die ganze Zeit nur Junkfood in sich reinstopfen, lange schlafen, in die Disko gehen, breit sein und ihr Geld für Peepshows raushauen. Er sei bestimmt kein Moralprediger und auch kein Weichei, aber er wolle auch (und er betonte »auch«) gesund leben, Kirchen und Sehenswürdigkeiten besichtigen, eben (auch) was Kulturelles machen. Ich wußte, daß das erstunken und erlogen war: Das einzige, was ihn interessierte, waren Frauen und ein unkomplizierter Reisebegleiter, denn für ihn waren Eroberungen lediglich eine Sache von Können und Fleiß. Es war ein Vollzeitjob, der keinerlei Ablenkung zuließ.

Ich hatte ihm zugesagt, denn der Sommer erschien mir noch endlos weit weg. Und bei meinem Leben, das zwischen der Ödnis der Uni, dem Pech bei den Frauen und meinen nervigen Eltern dahinging, war ich mir sicher, daß ich bis dahin sowieso schon gestorben wäre.

Im Juli hatte ich mit Ach und Krach ein paar Literaturprüfungen geschafft und war bei der Aussöhnung mit Susanna um Haaresbreite durchgefallen. (»Du bist ein Jammerlappen. Der letzte Heuler. Du hast einfach keinen Spaß. Du bringst mich nicht zum Lachen. Mit dir zusammenzusein, war der größte Fehler meines Lebens.«)

So hatte ich mich in meiner trüben Schlammspur bis nach Pietra Ligure, Savona, geschleppt und mich, fest entschlossen, nicht mehr aufzustehen, auf die Hollywoodschaukel gehievt. Mario hingegen war völlig aufgekratzt aus Sondrio gekommen, redete jeden Tag von unserer Fahrt und bat mich, das Abreisedatum festzulegen, das ich immer wieder mit irgendeiner Ausrede verschob. Mir gefiel die Vorstellung, der täglichen Langeweile zu entfliehen, doch hatte ich nicht den Mut, mich dafür so weit vorzuwagen. Es war besser, dazubleiben, vor sich hin zu schaukeln und im altbekannten Saft zu dümpeln, statt seine Wünsche und Hoffnungen aufs Spiel zu setzen auf die Gefahr hin, alles zu verlieren und noch mehr zu leiden.

Nach ungefähr einer Woche waren auch Teo und Robi aus Mailand ans Meer gekommen, und um weitere Zeit zu gewinnen, hatte ich Mario davon überzeugt, sie in unser Vorhaben einzubeziehen. Verdammt noch mal, sagte ich mir in den seltenen Momenten des Mutes und der Entschlossenheit, wenn schon Inter Rail, dann wenigstens mit jemandem, der die richtige Einstellung hat, der mich mitreißen und ein bißchen aufmischen kann, jemand, mit dem ich Spaß habe.

Teo und Robi waren sofort mit Begeisterung dabei, und jetzt warteten alle nur auf mich, auf meine Entscheidung. Der Juli neigte sich dem Ende, und ich konnte nicht länger vor mich hin schaukeln und mich drücken.

In dem Jahr hatte es uns ein Lied der Gruppe Righeira angetan, in dem es hieß »der Sommer geht zu Ende, noch ein Jahr dahin … jetzt werd ich erwachsen und will nicht, daß ich’s bin …« Mario spielte es immer wieder und hoffte, mich damit aufrütteln zu können. Er sagte, die Zeit rase davon und man müsse den Tag nutzen, und zwar so schnell wie möglich, bevor die Ferien zu Ende gingen. Ich hingegen fieberte der wehmütigen Spätsommerstimmung entgegen und konnte es kaum erwarten, daß der September käme, die Touristen abreisten, der Strand wieder leer und es für alles zu spät wäre.

Als ich am 29. Juli in die Bar kam, war die Hollywoodschaukel von Teo und Robi besetzt. Mario saß mit dem Rücken zum Tresen und verzichtete sogar auf den Anblick der Barfrau Maria, auch »Bloody Mary« genannt. Diesmal, dachte ich, komme ich nicht so leicht davon.

Der legendäre Robi grüßte nie, und auch jetzt beschränkte er sich darauf, grunzend das Kinn zu heben und seine Stupsnase krauszuziehen. Er war ganz in die Gazzetta dello Sport vertieft, und ich weiß noch, daß er von einem Artikel über die Kindheit der Baresi-Brüder fasziniert war, in dem auch die Onkel und Tanten, der Pfarrer und die Barbesitzer ihres Heimatkaffs zu Wort kamen. »Ey, hört mal, hier steht, daß Beppe früher viel stärker war als Franco und daß sie Franco bei Inter zuerst nicht genommen haben.«

Ich versuchte, meinen Platzvorteil zurückzugewinnen: »Das interessiert doch keinen Schwanz, Robi. Hör endlich auf, diesen hirnlosen Schwachsinn zu lesen. Wenn’s wenigstens Spiele und Ergebnisse gäbe. Aber im Juli was über Fußball zu lesen ist echt total bescheuert.«

Glücklicherweise war er nie beleidigt. Er rollte höchstens mal mit den Augen und schnaufte, das aber absolut liebenswert. Es war seine Art zu sagen »komm schon, laß uns nicht wieder damit anfangen«.

Der kleine Teo, klein, weil er gerade erst achtzehn und somit zwei Jahre jünger war als wir, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, seinen Senf dazuzugeben: »Du weißt doch, wie Robi ist, er ist Simple Mind. Aber wenigstens macht er sich nicht mit deinen Mörderbüchern verrückt. Was hast du letztens noch gelesen?«

»Psyche, von Edwin Rhode. Ein Meisterwerk über die Unsterblichkeit der Seele bei den alten Griechen. Was dagegen?«

Teo reckte seine lange Nase zuerst Richtung Robi, der sich wieder in das Leben der Baresi-Brüder vertieft hatte, dann Richtung Mario. Er suchte mal wieder Verbündete, um über mich herzufallen. Schließlich entschied er sich für den Alleingang: »Ziemlich viel sogar. Total viel. Wie kann man mit so einer Schwarte bloß an den Strand gehen? Das schließt sich gegenseitig aus. An den Strand nimmt man ’nen Comic oder eben die Gazzetta mit. Wenn du den Intellektuellen spielen willst, empfehle ich dir einen netten Roman von Wilbur Smith. Aber Psyche liest man nur, wenn einen jemand dazu verdonnert.«

Robi lächelte süffisant und Teo platzte fast vor Stolz. Seit einer Weile machte er ihm alles nach: Er zog sich an wie er und bewegte sich wie er (besser gesagt, er versuchte, sich anzuziehen und zu bewegen wie er), er bestellte sogar die gleichen Sandwiches und Pizzen. Grimmig dachte ich, daß er an seinem Gesicht jedenfalls nichts ändern konnte: Während Robi bartlos und glatt war, mit fein geschnittenen Zügen und dem Blick des schönen Rebellen, war Matteo kantig, mit einem Gesicht voller rechter Winkel, unsicheren Augen und vorspringendem Kinn.

Bis zum vorigen Jahr war ich Teos Vorbild gewesen. Zu allen Dingen, von denen ich Ahnung hatte, wie lesenswerte Bücher, und auch zu solchen, von denen ich keinen Schimmer hatte, wie Eroberungstaktiken, fragte er mich um Rat. Ich hatte ihm gegeben, was ich konnte, ich hatte ihn geliebt wie einen kleinen Bruder, und er war mehr gewesen als ein einfacher Freund. Und nun stand er zufrieden grinsend da und verspritzte sein Gift gegen mich, um bei Robi zu landen. Jetzt, wo ich ihn durchschaut hatte, hätte ich gern darüber gelacht. Aber es verletzte mich noch immer.

Mario wollte nicht, daß wir vom Thema abkämen. »Also, Freunde«, sagte er und starrte dabei nur mich an, »wir müssen entscheiden, wann wir fahren.«

Teo und Robi drehten sich um und sahen mich an, als wollten sie sagen, wir warten nur auf dich.

Ich versuchte aufzustehen: »Äh, will jemand vielleicht ein Eis?«

Mario drückte mich zurück in den Stuhl: »Du kannst dich nicht ewig rausreden.«

»Sagen wir Sonntag?« fragte mich Robi.

»Wie, Sonntag?« protestierte ich. »Sonntag ist in drei Tagen.«

Teo fuchtelte mit den Händen: »Herrgott, was ist denn schon dabei? Wir gehen zum Bahnhof, und ab.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, das meinetwegen für immer hätte andauern können. Ich hauchte ein »Ich weiß nicht, ob ich mitkomme«, das zwischen den Bistrotischen explodierte und die Bar in Trümmer legte. Mario brach in hysterisches Gekicher aus, er konnte es nicht fassen, ich konnte ihn doch nicht einfach so im Stich lassen.

Robi vollzog sein rituelles Augenrollen und Schnaufen: »Hey komm, sei kein Spielverderber, wir werden ’ne Menge Spaß haben. Was willst du denn hier alleine machen?«

Allein. Wie herrlich. Ja, dachte ich, laßt mich allein zurück. Ich werde wunderbare Abende damit verbringen, auf den Klippen entlangzuwandern und dabei die Ilias zu lesen oder elegische Distichen zu verfassen. Und an einem dieser Abende werde ich die Frau meines Lebens treffen, die ebenfalls auf den Klippen steht und die Keltische Harfe spielt.

Nachdem mich alle drei fünf Minuten lang bearbeitet hatten, igelte ich mich restlos ein und ließ meine Zweifel zur Gewißheit werden: Nein, ich komme nicht mit. Ich will mir keinen Kamelrucksack auf den Rücken schnallen und damit auf allen vieren durch Europa kriechen. Ich will keine Scheiße fressen, um Geld zu sparen, oder ungewaschen auf dem Boden schlafen. Ich komme nicht mit.

Robi und Mario ließen nicht locker, sie redeten auf mich ein, schmeichelten, fluchten. Nichts. Als würden sie mit einem Dreijährigen reden. Ich schüttelte den Kopf und hoffte, daß der kleine Teo irgend etwas tun würde, der einzige, der mich hätte überzeugen können. Er hätte nur sagen müssen: »Bitte, wir brauchen dich. Ich brauche dich«, und ich wäre weichgeworden. Er hätte mir nur zu verstehen geben müssen, daß immer noch ich seine Bezugsperson, sein Vorbild war.

Statt dessen war Matteo stocksauer, sah woandershin und gab den anderen schließlich ein Zeichen aufzuhören: »Es reicht, laßt ihn in Ruhe. Ich hab’s doch gewußt, daß du dir am Ende in die Hosen machen würdest. Es ist auch besser, wenn du nicht mitkommst. Bleib hier, lies deinen griechischen Dreck und quäl dich. Du wärst uns sowieso nur ein Klotz am Bein und würdest die ganze Reise verderben.«

Seine Gemeinheit ließ mich völlig sprachlos. Er hatte das nicht gesagt, um mich zu provozieren und aus der Reserve zu locken, sondern nur, um mich zu verletzen. Das hatte er geschafft. Der kleine Teo, mit dem ich so viele Winterabende bei Pizza und Bier zusammengesessen hatte, um über alles mögliche zu reden und mit bitterer Ironie Geheimnisse und Niederlagen auszutauschen. Wir konnten so gut miteinander Trübsal blasen, und dann? Was war dann passiert? Alles geht einmal zu Ende, das wußte ich. Aber vielleicht war Matteo schließlich einfach meinem Rat gefolgt, es nicht so zu machen wie ich, sondern Ängste und Skrupel zu vergessen, in den Tag hineinzuleben und sich zu amüsieren, so viel es ging.

Wie dem auch sei, während ich die Rolle des sterbenden Soldaten Joe spielte und sagte: »Kümmert euch nicht um mich, seht zu, daß ihr eure Haut rettet, ich werde versuchen, sie aufzuhalten«, nahm er mich nicht huckepack, um mich in Sicherheit zu bringen, sondern antwortete: »Danke, Spitzenidee. So übel zugerichtet, wie du bist, wärst du sowieso nur eine Last für uns.«

Ich hatte noch nicht einmal Zeit, etwas zu erwidern. Um das Thema ein für allemal zu begraben, hakte Teo die anderen beiden unter und machte sich auf den Weg zum Bahnhof, um die Fahrkarten zu kaufen. »Wir fahren am Sonntag«, rief er mir von weitem zu, »wenn du willst, kannst du deine Meinung bis dahin noch ändern.«

Mario drehte sich um und sah mich flehentlich an, doch ich lächelte nur bitter zurück: Wenn es ein Ultimatum gab, so war da nichts zu entscheiden, man mußte es lediglich verstreichen lassen.

September

Ein paar Tage vor meinem achtundzwanzigsten Geburtstag habe ich aufgehört zu reden. Ich war wie jeden Morgen im Büro und las die Zeitung mit einem Übelkeitsgefühl, das jeder kennt, der einmal in einer Bank, einer Versicherung, einem Ministerium oder an irgendeinem anderen Ort mit Schreibtisch, Computer und Chef gearbeitet hat. Ich saß da und las, als plötzlich ein Tropfen auf die Zeitung fiel, und dann noch einer. Ich habe zugesehen, wie sie rasch auseinanderliefen, die Druckerschwärze auflösten und auf dem dünnen Papier zwei kleine, dunkle Flecken bildeten. Ich drehte mich um, um zu sehen, wer sich hinter mir das Wasser von den Händen schüttelte. Doch da war niemand, und ich spürte, wie mir zwei weitere Tropfen über die Wangen liefen. Erst da habe ich gemerkt, daß ich weinte.

Mit offenem Mund habe ich wieder auf die Zeitung gestarrt und nach Luft gerungen, und die Tropfen fielen einfach so herunter, als würde das Faß nun endlich überlaufen. Meine Kollegin, die mir gegenüber saß, starrte mich an und sagte meinen Namen. Auch mein Chef sah mich an und sagte so etwas wie »Was ist denn los?« oder »Was ist passiert?«.

Ich bin aufgestanden, meine Hände und Arme bebten, und mich durchlief ein fiebriger Schauer. Ich konnte nicht antworten. Ich hatte einen Kloß im Hals, und hätte ich versucht, etwas zu sagen, hätte ich sicher nur große Wasserblasen in Buchstabenform herausgebracht, ein E, ein N und ein T. Aber mit Tränen »Entschuldigt, ich fühle mich nicht gut« zu sagen, oder vielmehr zu schreiben, hätte zu lange gedauert.

Ich habe hilflos die Arme ausgebreitet und, noch immer nach Luft schnappend, den Kopf geschüttelt, dann bin ich zur Garderobe gegangen, habe meine Jacke genommen und bin hinausgelaufen.

Draußen war der Straßenlärm unerträglich, alle hatten einen drohenden Gesichtsausdruck und schienen nur mich anzusehen. Ich habe aus vollem Hals geschrien, ich weiß nicht, ob vor Wut, Angst oder Erleichterung, ich weiß nur, daß meine Stimme nach diesem Schrei für immer weg war.

Ich bin nach Hause gekommen, habe die Jacke auf den Boden geschmissen und mich aufs Sofa fallen lassen. Sofort habe ich mich besser gefühlt, sehr viel besser, als wäre ein Unglück geschehen, das ich schon seit langem hatte kommen sehen, etwas Unausweichliches, dessen Erwartung mir das Leben schwer gemacht hatte, und das jetzt endlich hinter mir lag.

Juli

Ich blieb in der Hollywoodschaukel sitzen und sah, wie meine Freunde sorglos und entschlossen davongingen. Ich haßte mich. Ich haßte alles an mir. Ich haßte meine fruchtlose Ironie, meine selbstgefällige Melancholie, meinen Überlegenheitskomplex gegenüber der Welt. Ich haßte meine Ängste.

Dafür konnte ich mich bei meinem Vater bedanken. Meinem Vater, der jede Nacht aufblieb, um auf mich zu warten, in zitternder Furcht vor »dem« Anruf von der Polizei oder aus dem Krankenhaus. Meinem Vater, der in der Angst lebte, mir könnte etwas passieren, und mir seit Jahren jedesmal, wenn ich das Haus verließ, ein schwarzes Leichentuch aus »Sei vorsichtig!«, »Komm nicht so spät!«, »Ihr fahrt doch nicht etwa mit dem Auto?« um die Schultern legte, das sich den ganzen Abend nicht abschütteln ließ. Meinem Vater, der immer und überall mit dem Schlimmsten rechnete.

Hätte ich ihn gefragt, ob ich eine Europareise machen dürfe, hätte er mir das nicht verbieten können, denn dazu war ich inzwischen zu alt. Doch diesmal war ich es, der Angst hatte, und ich wollte, daß er mir mit einem entschiedenen Ja seinen Segen gab. Nicht die übliche Diskussion von zwei Stunden, die schließlich mit den Worten geendet hätte: »Mach, wie du denkst. Aber ruf jeden Tag an, damit sich deine Mutter nicht sorgt.« Ich konnte doch nicht auf die Inter-Rail-Tour gehen wie Linus, dem die Mama einen Zettel in seine Pausenbrotschachtel legt, auf dem steht: »Mein lieber Junge, ich hoffe, du hast einen schönen Tag in der Schule. Ich weiß, daß du lieb und brav bist und dich anstrengst. Dein Vater und ich bringen gerne jedes Opfer, damit du etwas lernen kannst, und wir sind sicher, daß wir immer stolz auf dich sein können«. Daraufhin er: Genau das habe ich gebraucht, ein Brot mit Erdnußbutter und Schuldgefühlen.

Wie gern hätte ich meinen Vater über das ganze Gesicht strahlend sagen hören: »Mit deinen Freunden durch Europa? Großartig! Du wirst dich prächtig amüsieren, aufregende und interessante Dinge sehen. Wie gern hätte ich das gemacht, als ich in deinem Alter war! Hier, mein Junge, da hast du das nötige Geld, und das – aber sag es nicht deiner Mutter – ist ein kleiner Zuschuß für Mädchen und Drogen … He, nichts Hartes, haben wir uns verstanden? Also, gute Reise. Mach dir keine Sorgen, denk nicht an uns und hab Spaß!«

Statt dessen hätte mein Vater mir ein prächtiges Erdnußbutterbrot und eine internationale Telefonkarte in die Hand gedrückt, und meine Mutter hätte mich dazu gezwungen, einen Knirps und eine Hose mit eingenähter »Geheimtasche« fürs Geld in den Rucksack zu stopfen.

Gott, wie peinlich. Da war es doch viel besser, diese Reise letztendlich für keine besonders tolle Idee zu halten. Damit hätte ich auch eine Ausrede gefunden, um weiter zu schaukeln und mich zu drücken.

Am selben Abend tauchte Elena auf, um alles auf den Kopf zu stellen. Teo und Robi waren Fußballspielen, und Zecke und ich saßen auf dem Mäuerchen an der Strandpromenade. Nach einem letzen, kurzen Anlauf, auf das Thema Inter Rail zurückzukommen, hatte mein Freund sich in beleidigtes Schweigen gehüllt, derweil rauchte ich nervös vor mich hin und machte, um mich abzureagieren, ätzende Bemerkungen zu den vorbeiflanierenden Mädchen, einfältigen Kurtisanen auf der Suche nach flüchtigen Abenteuern.

Wir sahen sie die Promenade herunterkommen: Elena. Ein cremefarbener, kurzer Pullover und ein schlichter, hellblauer Baumwollrock umschmeichelten sie, und sie war allein. Sie trug eine runde Brille, hatte ein vorwitziges Näschen, braunes, kurzes Haar und schlanke Beine. Zweifellos hatte Mario sofort gesehen, ob ihr Busen klein oder groß war, und Robi hätte sofort eingehende Betrachtungen über ihren Hintern angestellt. Bei mir waren Brille, Näschen, kurze Haare und die schlanken Fesseln über den strahlend weißen Supergas angekommen. Ich wußte, daß, wenn eine Frau über diese Erkennungsmerkmale verfügte, sie auch alle anderen Voraussetzungen mitbrachte, die ich von ihr erwartete: Sie würde gebildet, intelligent und schlagfertig sein, Volleyball spielen oder Gymnastik machen, sexuell verantwortungsvoll oder sogar Jungfrau sein und gerade eine Geschichte mit einem Idioten hinter sich haben, der sie enttäuscht hatte (aber seien wir mal ehrlich, wer hat die nicht?).

Dieser Frauentyp ist für mich immer genauso verhängnisvoll gewesen, wie Artemis für den Jäger Aktäon. Er weiß, daß er sie nicht ansehen darf und auf ewig in irgendein ekliges Tier verwandelt wird, in eine Spinne oder eine Schabe, wenn er sie an der Quelle beim Benetzen ihrer weißen Gliedmaßen beobachtet. Aber er kann der Versuchung nicht widerstehen, sich ihr zu zeigen und ihr seine Liebe zu gestehen.

Auch Elena war eine vom Olymp herabgestiegene Göttin. Ich sah, wie sie immer näher kam und schließlich nur noch fünf Meter von uns entfernt war, und blieb wie angewurzelt auf dem Mäuerchen sitzen, ohne den Mut aufzubringen, auf sie zuzugehen und ihr zu sagen: Tschuldige, wenn ich dich einfach so anquatsche, aber du bist die Frau, die meinem Leben soeben einen Sinn gegeben hat. Ich wollte nur wissen, wie du heißt und dich ein paar Jahrzehnte lang heimlich vergöttern und auf ein Zeichen von dir warten, ohne dir dabei zur Last zu fallen.

Zecke hatte nicht solche Skrupel. Als er Elena näher kommen sah, stupste er mich mit dem Ellenbogen an, schüttelte sich eine schwarze Locke aus der Stirn, reckte Schultern und Oberkörper, stellte sich ihr in den Weg und sagte: »Ciao, weißt du eigentlich, daß du bald einen ganzen Rattenschwanz von Nervensägen hinter dir herschleifst, wenn du so alleine und gelangweilt herumläufst?«

Elena musterte ihn von oben bis unten und tat so, als hätte die Frechheit dieses jungen Sterblichen sie beleidigt. Dann wandte sie sich zu mir und nahm mich ins Visier.

Reglos saß ich da und wartete auf das Fallbeil. Nach dem Anblick der Riesennase, der eingefallenen Schultern und des verkniffenen Lächelns, hinter dem sich schiefe Zähne verbargen, würdigte mich normalerweise keine eines zweiten Blickes. In diesen furchtbaren Augenblicken, in denen die Mädchen mich abcheckten und sich dann ungerührt weiter mit Mario oder dem sagenhaften Robi unterhielten, hätte ich sofort zwanzig Punkte meines IQs für einen Zentimeter Nase weniger hergegeben und für ein makellos schönes Lächeln all meine Texte und Gedichte verbrannt.

Doch Elena war die Frau meines Lebens. Nach dem ersten Blick sah sie nicht weg, sondern setzte sich lächelnd neben mich und fragte: »Macht dein Freund das bei jeder?«

»Ja«, stammelte ich, »er hat eine Schwäche für verlorene Schafe.«

»Na, dann sag ihm mal, daß er sich vorsehen soll. Ich bin ein Schaf mit spitzen Krallen.«

Wir gingen ein Eis essen. Elena erzählte uns ein bißchen von sich, oder besser von ihrem irdischen Dasein. Mailänderin. Achtzehn Jahre alt. Sternzeichen: Steinbock. Sie hatte gerade das Gymnasium hinter sich, und das machte mir sofort gute Laune, da ich abendelang hinter beschränkten Friseusen, nymphomanen Verkäuferinnen oder Fremdsprachensekretärinnen hergelaufen war, bei denen ich mich immer gefragt hatte, was um Himmels willen die bloß studierten, und nie wußte, worüber ich mit ihnen reden sollte. Keine von denen konnte mit meiner profunden humanistischen Bildung mithalten, und nur wenige bestanden den kleinen Einstiegstest, bei dem ich sie nach der Bedeutung von »aufschütteln«, »Metonymie« und »Kokotte« fragte. Unerklärlicherweise suchten auch alle sofort das Weite, wenn ich versuchte, mich mit ihnen über meine Lieblingsthemen zu unterhalten: Erdbestattung oder Einäscherung, der Pessimismus im Werk Foscolos und Leopardis, Basketball, und speziell das Zusammenspiel von Magic Johnson und Kareem Abdul-Jabbar bei den Los Angeles Lakers.

Elena dagegen hörte mir vom ersten Moment an interessiert zu und hatte immer die richtigen Antworten parat. Für Marios unqualifizierte Kommentare hatte sie nur abfällige Blicke übrig. Ich spürte, wie wir uns instinktiv verbündeten, während die arme Zecke sich abmühte, den Anschluß verlor und versuchte, mit gezieltem Lächeln und tiefen Blicken wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.

Um Punkt Mitternacht stand Elena auf, um nach Hause zu gehen, denn es war ihr erster Ferientag und sie war müde.

Als Mario ihr anbot, sie auf dem Moped mitzunehmen, sprang bei mir sofort der Vergewaltigungsalarm an, und ich versuchte, ihn zurückzuhalten.

»Du willst doch nicht etwa schon los, Marietto. Wir gehen doch sonst nie vor drei Uhr nach Hause …«

Er warf mir einen vernichtenden Blick zu: »Ich weiß, ich bringe sie ja auch nur heim und komme dann wieder, das dauert gerade mal zehn Minuten.«

Elena sah ihn mißtrauisch an: »Laß mal, ich kann wunderbar zu Fuß gehen, ich hab’s nicht weit.«

Großartig. Weiter so.

»Aber das ist wirklich kein Ding. Mein Moped steht gleich da drüben.«

»Na gut. Danke.« Und dann: »Mach dir keine Sorgen, Stefano, er ist sofort wieder da. Sehen wir uns morgen? Um acht?«

Als sie meinen Namen sagte, schmolz ich vollends dahin. Normalerweise mußte ich ihn, wenn ich ein Mädchen kennenlerne, am ersten Abend dreimal und am zweiten noch zweimal wiederholen: Sie schafften es einfach nicht, eine derart unwichtige Information abzuspeichern. Die Vorstellung, daß Elena mit Mario auf das Moped steigen und sich an ihm festhalten würde, machte mich wütend. Aber sie hatte »Stefano« gesagt. Sie hatte »Wir sehen uns« gesagt, »wir«, und damit meinte sie – vielleicht – nur sich und mich. Sie hatte »er ist sofort wieder da« gesagt. Ich dachte, daß mein Freund, sollte er es wagen, sie anzufassen, sein blaues Wunder erleben würde.

Zecke war für Abfuhren nicht besonders empfänglich. Er war felsenfest von seinem Charme überzeugt, und wenn eine Nein sagte (was, um ehrlich zu sein, selten passierte), kamen ihm, im Gegensatz zu mir, nie Zweifel von der Sorte: »Na bitte, ich bin zum Kotzen«, oder: »Wieviel kostet wohl eine Gesichtsoperation?« Nein, jedesmal, wenn eine ihn hatte abblitzen lassen, zuckte er nur mit den Achseln und sagte: »Mein Gott, ist die bescheuert. Und häßlich noch dazu. Warum habe ich das nicht gleich gemerkt?«

Kaum waren sie also vor ihrem Haus angekommen, grapschte Mario mit seinen sterblichen, dreckigen Pfoten nach Elena, und die Göttin verwandelte ihn in eine Eidechse. Ich hätte alles darum gegeben, seine Schlappe mitzuerleben und zu sehen, wie er sich mit schlängelndem Reptilienschwanz ungläubig und verängstigt auf sein Moped rettete. Aber mein Freund konnte Niederlagen wegstecken, und auf dem Rückweg schlüpfte er in eine Gummimaske und stellte seine makellose Erscheinung wieder her. Er parkte das Moped vor der Bar und setzte sich heiter und entspannt neben mich. Er schien wieder ganz der alte.

»Und, wie ist es gelaufen?« fragte ich.

»Wie ist was gelaufen?«

»Na ja, hast du dich an sie rangemacht?«

»An die? Nein, ich habe sie nur zu Hause abgesetzt. Ich fand die sowieso nicht so doll.«

Während er das sagte, schnellte seine gespaltene Zunge hervor, und an seinem rechten Ohr, wo ihn Elenas Krallen erwischt hatten, löste sich die Gummihaut, unter der die smaragdgrünen Visitor-Schuppen hervorblitzten.

Was für eine Show, Freunde! Zecke total plattgemacht. Ein Triumph! Wer behauptet eigentlich, es gäbe auf der Welt keine Gerechtigkeit? Endlich, nach so vielen leichten Opfern und dummen Kühen, hatte mein Freund ein Mädchen getroffen, dem es nicht nur auf die Schönheit eines Mannes oder auf sein blödes Moped ankam.

Man mußte sie nur ansehen, um zu kapieren, daß sie anders war: Meine Elena würde sich niemals in einen athletischen Körper verlieben, In-Diskotheken und Designerklamotten interessierten meine Elena nicht. Nur bei einer geistreichen Bemerkung, einem Sonett oder einem Mondscheinbad im Meer bekam meine Elena weiche Knie. Endlich hatte sich bewahrheitet, woran ich seit Jahren festhielt, um mich nicht umzubringen: Meine gutaussehenden Freunde konnten es mit so vielen Friseusen treiben, wie sie wollten, und im Frauenrennen würden sie mich immer schlagen. Aber bei der Begegnung mit einer echten Frau, die die Stigmata des wahren Genies erkannte, hatten sie nichts zu bieten, und diesmal würde ich den Sieg davontragen.

Im Strandbad »Bagni Ondina«, vor der betörend schönen Ferienkaffkulisse von Pietra Ligure, redeten meine Freunde am nächsten Tag ununterbrochen von ihrer blöden Reise, von einer äußerst beliebten Sportart, die, so glaube ich, Fußball genannt wird, von absoluten Nichtigkeiten. Ich schwebte auf einer Wolke und dachte an mein nächstes Treffen mit Elena, an das, was ich ihr sagen wollte, und daran, wo und wie wir uns zum ersten Mal küssen würden.

September

Es ist nicht leicht, die Brücken hinter sich abzubrechen. Solange du im Spinnennetz hängst, glaubst du, daß du derjenige bist, der die Fäden zieht und Arbeit, Freundin, Eltern und das Fußballspiel mit den Freunden im Griff hat. Doch wenn du dann die Fäden mit einem kräftigen Ruck zerreißt, um abzuspringen, merkst du, wie vollkommen verheddert du darin bist, und daß du nicht die Spinne, sondern nur eine Fliege warst und noch viel mehr wirst kämpfen müssen, um dein Leben zurückzuerobern.

Als ich aus dem Büro gegangen bin, dachte ich, ich hab’s geschafft, den größten und gefährlichsten Feind habe ich besiegt, und jetzt werden die anderen Angst bekommen und das Weite suchen. Ich irrte mich. Das Telefon hat geklingelt, und ich bin nicht rangegangen. Der Anrufbeantworter war an, ich habe meine Stimme gehört (meine Stimme: da war sie also geblieben), die künstlich gut gelaunt dazu aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Dann der Pfeifton und die sorgenvolle Stimme meines Vaters, die mich wie ein Faustschlag in die Magengrube traf.

»Stefano, bist du da? Bist du zu Hause? Wenn du da bist, geh doch mal ran … Was ist los, bist du krank? Ich habe versucht, dich im Büro zu erreichen, aber da haben sie mir gesagt, daß du dich nicht gut fühlst … Ich nehme mir ein Taxi und komme sofort vorbei, ich bin gleich bei dir.«

Ich hätte gern den Hörer abgenommen und gesagt: »Papa, mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen, du brauchst nicht zu kommen, mir geht’s gut, ehrlich, es ist mir seit Jahren nicht besser gegangen. Ich sitze hier auf meinem Sofa, in meiner Wohnung, und merke, daß ich schon wieder heulen muß, aber nicht, weil es mir schlechtgeht, sondern weil ich einfach nur kotzen und alles herauslassen muß, was sich in mir angestaut hat: die Gleichgültigkeit, die Langeweile, die Sinnlosigkeit und den Zynismus.« Aber ich konnte nicht rangehen, ich habe zugesehen, wie das Band unvermeidlich weiterlief und schließlich stehenblieb, und mir meinen verängstigten Vater vorgestellt, der auf dem schnellsten Weg zu mir kam. Unvermeidlich.

Juli

Soweit ich mich erinnere, hat es noch nie einen so perfekten Abend gegeben, nicht einmal in einem Film mit Audrey Hepburn und Cary Grant. Ich rede nicht von den heutigen Filmen, in denen zwei, die sich ineinander verlieben und zusammenkommen, dabei gezeigt werden, wie sie die Straße entlanggehen und die Lippen bewegen, dann, wie sie in einer Bar sitzen und lachen und wieder die Lippen bewegen, und dann am Flußufer, siehe oben, und im Hintergrund läuft eine herzzerreißende, wunderschöne Musik, die aber alles übertönt, auch die Dialoge, die es nämlich gar nicht gibt. Von der ersten Sekunde an ist klar, daß die Drehbuchschreiber nicht die blasseste Ahnung haben, was ein Mann und eine Frau zueinander sagen, um sich zu verlieben.

Elena kam um zehn nach acht und entschuldigte sich für die Verspätung. Ich lächelte und gab ihr zu verstehen: Ach was, ich bin gerade erst gekommen, obwohl ich schon seit viertel vor acht wartete und das Mäuerchen unter meinem Hintern bereits so abgenutzt war wie der große Zeh vom heiligen Petrus. Als sie bemerkte, daß wir allein waren, schien meine Göttin kein bißchen enttäuscht zu sein. Sie fragte mich nach meinem Freund, von dem sie noch nicht einmal den Namen behalten hatte, und wir beschlossen, als erstes eine Pizza essen zu gehen. Als wir an dem winzigen Zweiertisch mit Papiertischdecke und Plastikblumen saßen, sah ich in ihre grünen Augen, die hinter den runden Brillengläsern funkelten, während sie über ihre Volleyballmannschaft, ihre Familie und die Vorzüge des naturwissenschaftlichen Gymnasiums gegenüber allen anderen Schulen redete. Auch meine grünen Augen funkelten hinter den Brillengläsern, während ich über meine Basketballkumpel, meine Familie und die unbestreitbaren Vorzüge des klassischen Gymnasiums redete.

Ich aß meine Pizza, ohne etwas davon mitzukriegen. Dann hielt ich Elena die Tür meines kleinen Cinquecento mit kaputtem Faltdach auf, und wir fuhren auf einen Cognac in die Hügel zu einer Bar mit Terrasse, mit einem hinreißenden Blick und Wind, der nach Sommer roch. Und während wir die Lichter der Dörfer, der Schiffe und die Sterne betrachteten, redeten und redeten und redeten wir.

Endlich hatte ich die Frau meines Lebens gefunden. Schon sah ich mich mit ihr in einem staubigen Archiv bei der Abschrift von Inkunabeln aus dem sechzehnten Jahrhundert, oder in den Kellern der Vatikanischen Bibliothek bei der Wiederentdeckung seit Jahrhunderten verschollener Schriftstücke. Jesus ist mit achtzig Jahren friedlich in seinem Bett gestorben. Bonifatius VIII. war Buddhist. Karl V. war eine Frau. Ich stellte mir vor, was für ein Aufsehen unsere ersten Publikationen erregen würden. Die Interviews. Stefano und Elena, das Paar, das die Geschichte Europas neu geschrieben hat. Die Académie Française. Die Ehrenlegion. Der Baronetstitel. Und die skandalöse Verweigerung, das Empfehlungsschreiben des Staatspräsidenten entgegenzunehmen, nein, Italien hatte uns verkannt, wir mußten nach Paris gehen, und die ersten Jahre sind schwer gewesen, wißt ihr, eine eiskalte Mansarde in Montmartre. Aber wir hatten unsere Liebe und die Liebe für die Wahrheit, nur das zählte.

Aber würde Elena mich immer lieben? Oder würde sie meiner überdrüssig werden? Ich mußte es wissen, und zwar sofort.

STEFANO: Glaubst du, daß Träume wahr werden können? Oder halt, anders, was ich eigentlich sagen will, ist: Können sie wahr werden und so vollkommen bleiben, wie du sie geträumt hast, oder macht schon allein die Tatsache, daß sie wahr werden, sie unvollkommen und läßt sie zerplatzen?

ELENA: Warte mal. Laß mich nachdenken. Meiner Meinung nach sind sie unvollkommen, wenn sie nicht wahr werden und nur Träume bleiben. Wenn sie aber wahr werden, sind sie vielleicht nicht genau so, wie du sie dir vorgestellt hast, aber sie machen dich trotzdem glücklich und bereichern dich.

Elena dachte praktisch. Sie wollte Ergebnisse sehen. Oder vielleicht war sie eine noch größere Träumerin als ich, weil sie glaubte, daß Träume wahr werden konnten.

STEFANO: Aber es stimmt doch, auch wenn das jetzt sicher banal klingt, daß das Glück vor allem in der Erwartung liegt, im Wunsch, etwas zu besitzen, und wenn du es dann bekommst, interessiert es dich nicht mehr. Wie in Der große Frust, hast du den gesehen?

ELENA: Das ist mein Lieblingsfilm.

SEFANO: Ich tue alles, was du willst. Ich bin bereit, dich zu heiraten.

ELENA: Was?

STEFANO: Das sagt Harold zu Sara, im Film. Und sie antwortet: »Das hast du Gott sei Dank schon.«

ELENA: Ach ja, genau, stimmt. Die Szene ist ganz toll. Aber wie kommst du jetzt darauf?

Sie tat so, als hätte sie meinen Heiratsantrag nicht verstanden. Das anbetungswürdige Wesen. Natürlich hatte sie die Doppeldeutigkeit durchschaut und begriffen, daß das Zitat meine wahren Gefühle nur spärlich verbarg.

STEFANO: Ich habe den Film sechsmal gesehen. Und jedesmal macht mich die Szene fertig, in der Tom Berenger, also Sam, endlich mit Karen, der gräßlichen Dunklen, ins Bett gehen kann, aber als es soweit ist, sagt er zu ihr: »Ich habe dich so viele Jahre begehrt, und jetzt will ich nicht alles kaputtmachen, ich will nicht, daß unsere Beziehung irgendwann in Eintönigkeit und Langeweile erstickt.« Er hat Angst, daß der Traum wahr wird und ihn enttäuscht.

ELENA: Das ist typisch für euch Kerle. Sie sagt ihm dann auch knallhart: »Erzähl mir nicht so ’ne Scheiße. Fünfzehn Jahre lang hast du so getan, als wär ich die einzige, die du wolltest, und jetzt, wo ich hierhergekommen bin, willst du mich nicht mehr.« Da kapiert er, was sie meint, und sie verbringen die Nacht zusammen.

STEFANO: Das schon, aber am nächsten Morgen sind sie wie zwei Fremde. Ist das nicht eine schreckliche Szene?

ELENA: Stimmt, weil sie zu dem Zeitpunkt schon ihre eigenen Leben, ihre Familien und Kinder haben. Sie können nicht alles aufgeben. Den Fehler haben sie fünfzehn Jahre früher gemacht: Wären sie da zusammengekommen, wären sie glücklich geworden.

STEFANO: Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätten sie geendet wie alle Ehepaare, und fünfzehn Jahre später hätten sie genau dasselbe zu einem anderen ehemaligen Kommilitonen gesagt.

ELENA: Ach komm, so darf man das nicht sehen. Sonst kannst du ja gar nicht leben. Und überhaupt haben Sam und Karen versucht, einen alten, toten Traum wahr werden zu lassen, der ihrer Vergangenheit angehörte. Es war kein Traum, sondern Wehmut.

Noch nie hatte ich so eine Frau getroffen. Ich war vollkommen entspannt, natürlich, redete ganz zwanglos über alles mögliche und nahm es sogar hin, daß sie das letzte Wort haben wollte. Auch wenn mir den ganzen Abend lang ein kleines Männchen im Kopf saß, das sagte: »Mach dich an sie ran, mach dich an sie ran, wann machst du dich endlich an sie ran, sei nicht wieder so blöd, dieses Mal mußt du dich an sie ranmachen!«, und ein anderes Männchen, das sagte: »Das ist sie, o Gott, sie ist es, die Frau deines Lebens, jetzt, wo du sie gefunden hast, tu bloß nichts Unüberlegtes, laß sie ja nicht denken, daß die ganze schöne Unterhaltung nur dazu da war, um zur Sache zu kommen, um ihren Körper hinterrücks über ihre Seele zu erobern. Bring sie nach Hause und laß die Finger von ihr, ihr habt Zeit, das ganze Leben liegt vor euch.«

Dann brachte uns mein kleiner alter Cinquecento, betrunken und bewegt, wie wir waren, die Serpentinen hinunter und lud uns am Strand ab. Wir setzten uns in den feuchten Sand und redeten über unsere früheren Liebesgeschichten und darüber, daß es zwischen Mann und Frau keine wahre und platonische Freundschaft geben kann und daß es die noch nicht einmal zwischen Frau und Frau geben kann. Elena erzählte mir von ihren falschen Freundinnen, die sie ein Jahr lang hatte und von denen sie dann wegen einer Liebe oder aus Neid hintergangen wurde, und ich erzählte ihr von meinen ehrlichen, engen Freunden, die ich seit einer Ewigkeit kannte und die mir das Wichtigste auf der Welt waren. Ich sagte ihr nicht, daß ich sie in diesem Moment alle miteinander und ohne Skrupel hätte ertrinken lassen, nur um ihre Lippen berühren zu dürfen.

Elena zog sich die Sandalen aus, stand auf und lief auf Zehenspitzen über den nassen Sand. Ich sah sie an, diese vom Olymp herabgestiegene Göttin, und sie war zum Weinen schön. Das Männchen schrie wie ein Geisteskranker: »Mach dich ran, mach dich ran, mach dich ran, du Arschloch!« Doch kaum versuchte ich aufzustehen, fingen meine Beine an zu zittern, erst ganz schwach und dann immer stärker. Die Panik, alles kaputtzumachen, eine Abfuhr zu kriegen, lähmte mich, und mich lähmte auch das andere verfluchte Männchen, das mir einen Roman von Thomas Mann vorgaukelte, mit mir, der sie linkisch zu küssen versuchte, und ihr, die plötzlich höhnisch auflachte: »Mit dir zusammensein? Hast du echt gedacht, daß ich mit dir zusammensein will?« Dann wäre sie kichernd weggerannt, und ich hätte mit dem Gesicht im Wasser gelegen, bis alles um mich herum kalt und dunkel geworden wäre.