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Kaum eine Woche nachdem Commissario Luciani die Kündigung eingereicht und seinen Resturlaub angetreten hat, wird die Sekretärin eines stadtbekannten Brokers an ihrem Arbeitsplatz ermordet aufgefunden. Vizekommissar Giampieri, Schüler, Freund und Widersacher Lucianis, wittert seine Chance, sich zu profilieren und endlich in den Rang eines Kommissars aufzusteigen. Doch die Dinge laufen nicht ganz nach Wunsch. Von Motiv, Täter und Tatwaffe fehlt jede Spur, und Giampieris einziger Verdächtiger, der Arbeitgeber der Toten, erweist sich als unantastbar: Die Beschlagnahmung seiner Computer ruft zwei sonnenbebrillte Gestalten vom Geheimdienst auf den Plan, die dem Vizekommissar diskret, aber unmissverständlich eine andere Lösung des Falles empfehlen. Luciani spielt unterdessen toter Mann und ignoriert hartnäckig alle Aufforderungen, seinem jungen Kollegen beizuspringen. Bis zwei weitere ominöse Todesfälle ihn zum Handeln zwingen.
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Seitenzahl: 590
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Claudio Paglieri
Kein Schlaf für Commissario Luciani
Roman
Aus dem Italienischen von Christian Försch
Die Originalausgabe unter dem Titel»Il vicolo delle cause perse«erschien 2007 bei Edizioni Piemme,Casale Monferrato.
ISBN E-Pub 978-3-8412-0091-4ISBN PDF 978-3-8412-2091-2ISBN Printausgabe 978-3-7466-2441-9
Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinBei Aufbau Taschenbuch erstmals 2008 erschien;Aufbau Taschenbuch ist eine Marke derAufbau Verlag GmbH & Co. KG© 2007 Edizioni Piemme
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Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Prolog
Erste Woche
Montag
Montag
Montag
Dienstag
Dienstag
Mittwoch
Mittwoch
Donnerstag
Donnerstag
Freitag
Freitag
Samstag
Samstag
Sonntag
Zweite Woche
Montag
Montag
Dienstag
Dienstag
Mittwoch
Mittwoch
Donnerstag
Donnerstag
Freitag
Freitag
Samstag
Samstag
Sonntag
Dritte Woche
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Samstag
Sonntag
Epilog
Ghost Track
Für Ricky.
Hätte ich auf dich gehört,
dann wäre ich heute Dan Brown.
Dieser Roman ist Frucht der Phantasie. Figuren und Begebenheiten sind Erfindungen des Autors und sollen für ein realistisches Geschehen sorgen. Ähnlichkeiten mit Tatsachen, Ereignissen, Schauplätzen und Persönlichkeiten des wirklichen Lebens – egal ob tot oder lebendig – sind rein zufällig.
Barbara Ameri setzte sich an den Schreibtisch und schaltete Computer und Drucker ein. Es dauerte einige Minuten, ehe sie bereit waren. »Nur ruhig Blut«, dachte sie, »ich habe nichts Unrechtes getan, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
Aber ihre Handflächen waren schweißnass, und ein Gefühl von Übelkeit kroch ihr die Kehle hoch. Dasselbe Gefühl wie an jenem Sonntagmorgen, als die Wirkung der Mojitos verflogen war und sie neben sich, in ihrem Bett, den Geruch jenes warmen muskulösen Körpers wahrgenommen hatte. Inzwischen waren drei Wochen vergangen, aber manchmal schien dieser Geruch noch an ihr zu haften. Sie schaute aus dem Fenster: ein wunderschöner Morgen. Zum Mittagessen würde sie nicht heimkehren, sondern ein Stück Pizza und eine Cola kaufen und sich auf eine Bank an der Uferpromenade setzen, vor dem Schloss. Sie brauchte jetzt ihre Ruhe, wollte an nichts denken, nur in der Sonne ihre Kreuzfahrt-Bräune auffrischen.
Sie erinnerte sich genau, wo die Datei war. Sie öffnete das Dokument, kontrollierte schnell den Inhalt und gab den Druckbefehl. Mit bestimmten Leuten legte man sich besser nicht an, dachte sie. Und für den Fall der Fälle brauchte man ein Ass in der Hinterhand.
Das schrille Läuten der Türklingel ließ sie hochfahren. »Schon da?«, sagte sie leise und schaute verängstigt auf die Uhr.
Für einen Moment spürte sie den übermächtigen Wunsch, nicht zu öffnen. Aber das hätte nichts gebracht. Sie atmete tief ein und sagte sich erneut: »Je früher wir die Sache hinter uns bringen, desto besser.« Sie drückte auf die Taste am Schreibtisch. Ganz langsam öffnete sich die Tür.
Die Tür wurde leise wieder geschlossen. Das Foyer des Mietshauses lag verlassen da, kein Laut war zu hören. Auch Barbaras Röcheln war verstummt. Die Person wagte nicht, sich umzudrehen und zu überprüfen, ob sie tot war. Sie konnte es nur hoffen, denn an Stelle der Arme spürte sie zwei absurde Fortsätze aus Schaumgummi – damit hätte man nicht einen Schlag mehr führen können.
Der Besucher kontrollierte noch einmal den Pullover: ein paar kleine Blutflecken, aber es war unwahrscheinlich, dass jemand sie bemerkte. Alles, was nun zu tun blieb, war, sich aufzumachen. Nach Hause gelangen, sich umziehen. Den Plan umsetzen und die Beweise verschwinden lassen. Die Schlampe war tot, jawohl. Sie musste tot sein. Bestimmte Verletzungen überlebte man nicht, außerdem würde noch reichlich Zeit vergehen, ehe jemand Alarm schlug. Ausreichend Zeit, um zu verbluten.
Die Gestalt gab sich einen Ruck.
Luciani & Giampieri
Seit vierzig Minuten hielt er ein ordentliches Tempo, er kam an den Kais des Alten Hafens vorbei. Begonnen hatte er beim Aquarium, dem von der Sonne geküssten und vor dem Wind geschützten Kleinod, wo die besten Bänke durchweg von Pennern und Betrunkenen belegt waren. Dann war er zum Kai des Tabakladens, zur Car-Sharing-Brücke, zum Busparkplatz der Parodi-Brücke und von dort auf die lange Gerade Richtung Hafenstation gelaufen. Dort war er umgekehrt, um erneut den ganzen Hafen zu durchqueren, bis zu Bigo, dem runden Tunnel und der Schwimmbad-Kurve. So kommentierte er seinen Kurs, als handelte es sich um das Formel-1-Rennen in Monte Carlo. Ein billiger Trick, um gegen die Trainingsmonotonie anzukämpfen und dabei ein bisschen das Tempo zu steigern. Er ließ noch einmal die CD von REM laufen und begann – die Stoppuhr im Blick – seine Runden an den Baumwolllagern. Eine Runde war etwa einen Kilometer lang, die optimale Distanz für Intervalltraining: eine Runde in zirka vier Minuten und zwanzig Sekunden, dann eine zum Regenerieren, möglichst unter vier Minuten fünfzig, usw., eine Einheit nach der anderen, so lange es ging. Es war schon zehn Uhr morgens, aber auf den Kais war wenig los, kaum jemand kreuzte den langen dünnen Schatten, den er warf.
»Okay«, sagte er, »probieren wir es mal mit dieser Massage.« Er atmete tief durch, entspannte die Schultern, schloss die Augen und konzentrierte alle seine Empfindungen auf sie. In der Luft hing der Duft ihres Haares und ihrer Gesichtscreme. Sie berührte ihn mit ihrer Brust, er erschauerte, und statt sich zurückzuziehen, legte Amalia ihm die Brust wie zufällig an die bequemste Stelle, zwischen den Schultern. Die Berührung ihrer Finger entlockte ihm ein Lächeln der Glückseligkeit. Sie waren wie flüssige Tentakel, die ihm ein Beruhigungsmittel ins Hirn injizierten.
»Du kannst das wirklich gut«, murmelte er.
Bevor er die Augen schloss, sah er noch, wie sie in den Spiegel lächelte und unter ihren langen braunen Locken errötete. Seit dem letzten Mal hatte sie noch ein, zwei Kilo abgenommen, vielleicht war sie jetzt ein bisschen zu mager, aber in Stöckelschuhen und mit einem Rock, der die Rundung ihres Gesäßes hervorhob, musste sie phantastisch aussehen.
Ihre Finger schienen ihm eine Botschaft durch die Kopfhaut zu senden, dass sie hier nicht nur einen Job erledigte, sondern es auch gerne draußen, an einem anderen Ort, unter anderen Umständen getan hätte.
Beim vierten Tempolauf – der Puls lag bei über hundertsiebzig, und sein Blick begann sich zu trüben – raste er an einer Bar vorbei, die gerade aufmachte; der Wirt wandte sich ihm zu, einen Arm ausgestreckt, dann kam ihm zur Linken ein anderer Jogger entgegen, der eine Geste andeutete und ihm etwas zuzurufen schien, aber die Musik dröhnte so laut, dass er nichts hörte. Reflexartig drehte er den Kopf, um dem anderen nachzusehen, und so nahm er den Mann nicht wahr, der gerade vor ihm aus der Stirnseite des Gebäudes trat; erst im letzten Moment sah er aus dem Augenwinkel, wie dieser voll auf Kollisionskurs ging. Beine, Schuhe und Kopfhörerkabel verhedderten sich, und sie schlugen hin. Er spürte einen stechenden Schmerz im rechten Knie, sein Kopf drehte sich, und ein paar Sekunden lang sah er die Sterne funkeln. Dann stützte er sich mit einer Hand ab, um wieder auf die Beine zu kommen, und sah am linken Unterarm eine mit Blut und Dreck besudelte Schürfwunde.
Instinktiv fühlte er sich schuldig, da er glaubte, einen harmlosen Passanten über den Haufen gerannt zu haben. Er holte Luft, um sich zu entschuldigen, aber als er den Blick hob, sah er, dass der andere schon direkt vor ihm stand, die Beine leicht gespreizt, eine Beretta 84F im Anschlag, mit beiden Händen direkt auf Luciani gerichtet.
Der Schmerz im Nacken hatte sich gelegt, die Spannung löste sich. Er spürte irgendwo tief in seinem Bauch, dass dies genau der richtige Moment war, um sie zu sich einzuladen. Er räusperte sich, damit seine Stimme fester klingen würde, unbeschwert, aber entschieden: »Du, Freitagabend ist ein Konzert der …« In diesem Augenblick vibrierte das Handy in seiner rechten Tasche, und gleich darauf hatten die Noten von »Kotetsu Jeeg« den Zauber gebrochen. Das war der Klingelton, den er für die Anrufe aus dem Büro eingestellt hatte – er musste rangehen. Er entschuldigte sich, sie zog die Hände zurück und gab seinen Rücken frei.
»Hallo.«
»Herr Ingenieur, hier ist Calabrò. Störe ich?«
»Nein, keine Angst. Ich bin hier bei … in der Bar, trinke gerade Kaffee.«
»Ein Notfall. Ein Mord.«
»Bin gleich da.«
»Halt! Keine Bewegung, oder ich mach dich kalt!«
»Was soll der Scheiß …«
Er zog das Kopfhörerkabel vom Hals. Der Discman war ein paar Meter weit geflogen, die Batterien lagen in der Gegend verstreut.
Da hörte er eine Stimme hinter sich: »Nein! Halt! Um Himmels willen! Halt!«
Oberinspektor Antonio Iannece kam unbeholfen in seiner Uniform angerannt, die rechte Hand am Pistolenholster. Er kniete sich keuchend neben Luciani und half ihm auf.
»Heilige Jungfrau, Commissario, alles in Ordnung? Haben Sie sich weh getan?«
Marco Luciani faltete seine hundertsiebenundneunzig Zentimeter auseinander wie einen Zollstock, stellte sich auf die Füße und rieb sich das schmerzende Knie. Regungslos stand der andere Mann vor ihm, immer noch die Waffe im Anschlag. Er sah aus wie eine Werbetafel vor einer Agentur für Body Guards.
»Iannece, sag diesem Idioten, er soll die Knarre runternehmen, sonst schiebe ich sie ihm sonst wo rein!«
Der Beamte ging vorsichtig zwei Schritte vorwärts, drückte die Pistole hinunter und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. »Ganz ruhig, was machen Sie denn? Geben Sie mir die Waffe. Das ist … war … ist Kommissar Luciani.«
»Wo ist es passiert, Calabrò?«
»In Rapallo. Eine junge Frau.«
»Gut. Ich komme sofort, setz Iannece ins Bild und sag ihm, er soll mir mit dem Wagen entgegenkommen, wir treffen uns vor dem Rinascente-Kaufhaus.«
Vizekommissar Nicola Giampieri klappte das Handy zu und steckte es in die Tasche. Dann warf er einen Blick in den Spiegel und betrachtete von unten her Amalias aufmerksames Gesicht. Die Einladung war noch nicht ausgesprochen, aber nun hatte sich sein Magen zusammengezogen, er spürte, dass der passende Augenblick vorbei war.
Ein Mord. Der erste richtige Mord, für ihn allein.
»Entschuldige, ich muss los. Sind wir fertig?« Er bereute sofort, dass die Frage so brüsk geklungen hatte, sie zuckte mit den Schultern. »Dein Pech, ich wollte ein neues Gel an dir ausprobieren.« Die Massage war im schönsten Moment unterbrochen worden, beide waren unbefriedigt. Der Ingenieur lächelte: »Okay. Aber wir müssen schnell machen.«
Der Mann erwachte aus der Erstarrung, ließ sich die Waffe abnehmen. »Entschuldigt … Ich wusste nicht … Ich bin ein Kollege. Wachschutz. Ich sah, wie Sie ihn verfolgten, Sie schrien, er solle stehenbleiben, und da dachte ich …«
Marco Luciani baute sich bedrohlich vor ihm auf. »Was dachtest du? Sag’s mir, du Dämlack, was dachtest du? Dass du mich besser abknallen solltest?«
Iannece schob sich zwischen die beiden, der Wachschutzmann hatte seine ganze Selbstsicherheit verloren.
»Was weiß denn ich? Ich habe ja gar nicht geschossen, ich habe Sie nur aufgehalten. Sie hätten ein Handtaschendieb oder Räuber sein können. Oder ein Mörder.«
»Klar, als Jogger verkleidet. Genial. Aber leider hast du Pech, ich bin Polizeikommissar.«
Der andere schlug einen Moment die Augen nieder, dann versuchte er zu reagieren.
»Was wollen Sie eigentlich? Ich habe nur meine Pflicht getan.«
»Ach ja? Und gehört es auch zu deinen Pflichten, außerhalb der Dienstzeit mit der Knarre herumzufuchteln? Iannece, nimm mal die Personalien von diesem Überflieger auf.«
Da läutete das Handy des Beamten. Iannece ging ran und wurde bleich: »Heilige Jungfrau, sag ihm, ich komme sofort. Ein Notfall, Commissario«, sagte er zu Luciani.
Der Wachschutzmann sah sofort seine Chance. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen weh getan habe, Herr Kommissar, aber auch ich … schauen Sie mal, ich habe mir die Hose zerrissen. Können wir es nicht dabei bewenden lassen?«
In Marco Lucianis Unterarm pochte ein stechender Schmerz. Sein schweißnasser Körper fing an auszukühlen. Er überlegte einen Moment, dann gab er ihm zu verstehen, er solle verschwinden.
Er war versucht, ihr zu sagen, dass es bei dem Anruf um einen Mordfall ging, vielleicht hätte sie das erregt. Oder es hätte sie im Gegenteil nur verschreckt. Er hatte sich als Informatiker ausgegeben, nicht als Polizist, und sie jetzt aufzuklären, wäre zu kompliziert gewesen.
Amalia tupfte das Gel in sein Haar, dann nahm sie ihm den Schutzumhang ab und fragte, ob alles okay sei. Er setzte seine Nickelbrille auf die Nase und lächelte zufrieden, aber ja doch, im Grunde war er immer noch ein hübscher Junge. Klar, er war dabei, die schreckeinflößende Grenze der dreißig zu überschreiten, aber andererseits hatte er noch nicht ein graues Haar. Mit dem gegelten Kurzhaarschnitt, dem schmalen, stets gepflegten Kinnbart sah er zweifellos einige Jahre jünger aus, als er war.
Er küsste sie auf beide Wangen, sie betrachtete ihn und sagte, beinahe errötend:
»Entschuldige, ich will dir die ganze Zeit schon etwas sagen.«
Der Vizekommissar spürte, wie seine Knie weich wurden. »Das mag vielleicht ein bisschen vorlaut wirken …«
»Nein, nein, sprich ruhig.«
»Nun, ich wollte dir raten … Ich finde, du solltest deinen Kinnbart abnehmen, das würde besser aussehen.«
Sie sah die Enttäuschung in seinen Augen und versuchte sofort, die Scharte auszuwetzen: »Ich wollte nicht sagen, dass du so nicht auch gut aussiehst. Es ist nur so, dass …«
»Dass?«
»Er dich ein bisschen alt macht. Ja, meiner Meinung nach wirkst du dadurch älter.«
Giampieri rang sich ein Lächeln ab, aber was er hinkriegte, war nicht mehr als ein schmerzverzerrtes Grinsen. Für wie alt hielt sie ihn denn? Dreiunddreißig? Fünfunddreißig etwa?
»Bitte, ich wusste es: Ich hätte es dir nicht sagen sollen«, sagte Amalia, gespielt zerknirscht.
»Nein, ach wo. Im Gegenteil.« Er klammerte sich an ihr aufgesetztes Schuldbewusstsein wie an eine Regenrinne, während sie ihn aus dem zwanzigsten Stockwerk segeln ließ. Er massierte seinen Kinnbart, der ihm jetzt wie das Fell einer räudigen Ratte erschien.
»Weißt du was? Wenn ich heute Abend nach Hause komme, schneide ich ihn ab.«
Marco Luciani stillte die Blutung provisorisch mit seinem T-Shirt, und nun spürte er auch, dass ihm ein schmerzhaftes Horn am Schädel wuchs. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er auch mit dem Kopf auf den Asphalt geknallt war.
»Hast du diesen Bilderbuch-Idioten gesehen? Es sind genau diese Typen, die irgendwann die eigene Familie auslöschen.«
Iannece ging nicht darauf ein: »Es ist ein Mord geschehen. Eben hat Calabrò angerufen. Kommen Sie mit, Herr Kommissar?«
»Ich bin kein Kommissar mehr, Iannece, jetzt hör auf, mich so zu titulieren.«
»Wenn Sie es nicht mehr sind, warum haben Sie sich dann vor diesem Typen als einer ausgegeben? Sie hätten Schwierigkeiten kriegen können, wegen Amtsanmaßung.«
Marco Luciani schnaubte: »Formell bin ich es noch. Ich zehre gerade meinen Resturlaub auf, bis ich weiß, was aus meinem Rücktrittsgesuch wird. Aber praktisch gesehen bin ich es nicht mehr. Außerdem warst du es doch, der mich Kommissar genannt hat!«
»Ich weiß, aber das kommt ganz spontan. Ich kann Sie ja schlecht Doktor Luciani nennen, als ob Sie Arzt wären.«
»Meinetwegen, Iannece, nenn mich, wie du magst, aber sag mir, was du eigentlich von mir wolltest.«
Sein Gegenüber senkte den Blick.
»Also?«
»Nun, also … Sie sind gegangen, ohne mir Bescheid zu sagen. Ich hab mir Sorgen gemacht. Seit einer Woche suche ich Sie, Sie gehen nicht ans Telefon, zu Hause sind Sie auch nie … also habe ich sehen wollen, ob Sie zufällig hier sind und trainieren. Da oben sind Sie an mir vorbeigerannt, ohne mich wahrzunehmen, also bin ich volle Pulle hinter Ihnen her, hab geschrien, aber Sie hörten mich nicht.«
»Ich hatte Kopfhörer auf. Tut mir leid.«
Er bückte sich, um den Discman und die Batterien aufzulesen. Bekümmert betrachtete er die zerstörte Lade.
»Ich kaufe Ihnen einen neuen, Herr Kommissar.«
»Vergiss es, Iannece. Und nenn mich nicht Kommissar. In drei Wochen bin ich es nicht mehr.«
Er hob den Blick und sah, dass sein Chauffeur und Mädchen für alles dabei war, rührselig zu werden. Um ihm die peinliche Situation zu ersparen, wandte er sich grußlos ab und begann, Richtung Bigo zu traben, während sein Knie bei jedem Schritt aufjaulte.
»Das heißt, Sie werden nicht zurückkommen, Herr Kommissar?«, schrie ihm Iannece hinterher. Aber Marco Luciani war schon außer Rufweite.
Der Ingenieur wollte zur Kasse gehen und bezahlen. Amalia rief ihn zurück.
»Entschuldige …«
»Ja?«
»Was meintest du wegen Freitag?«
Er schaute sie einen Augenblick verständnislos an, dann erinnerte er sich plötzlich an das Konzert. Aber auch an den Mord. Würde er am Freitag Zeit haben? Er hatte vier Tage, sechsundneunzig Stunden, um einen Mörder zu fassen. Und weitere achtundvierzig Stunden, vielleicht weniger, um die anmutige zweiundzwanzigjährige Schönheitspflegerin, deren Brüste gen Himmel strebten und bei der sich an Stelle des Gehirns ein Windkanal befand, von hinten zu nehmen. Er hatte sie im Fitnessstudio kennengelernt, und nachdem er sie auf dem Dreadclimber gesehen hatte, wusste er, dass er keinen Frieden finden würde, ehe sie die Übung nicht gemeinsam wiederholt hätten.
»Ach ja, Freitagabend … Da gibt’s ein Konzert in Sestri Levante … ›Baustelle‹.«
Sie lächelte, ohne zu antworten.
»Die Band ist stark. Ich habe zwei Karten«, log er.
Sie lächelte immer noch.
»Und am Freitag bin ich meinen Kinnbart los. Was hältst du davon?«
»Ehrlich gesagt, habe ich schon was vor, aber wenn du in den nächsten Tagen mal vorbeikommst, sage ich dir, ob ich mich freimachen kann.«
Sie drehte sich um, warf ihm über die Schulter einen verschmitzten Blick zu und genoss die Wirkung, die der Hollywood-Schwung, den ihr perfekter Hintern in die Luft zeichnete, auf ihn ausübte.
Jetzt ist es zu spät, um sich zu zieren, dachte Giampieri, während er an der Kasse Solarium, Maniküre und Kopfmassage bezahlte. Vierzig gut angelegte Euro, dachte er lächelnd. Um genau zu sein, waren es schon hundertzwanzig: Er hatte drei Sitzungen gebraucht, um sie anzufüttern, aber Amalias Blick, mit dem sie seine Einladung quittierte, hatte keinen Zweifel gelassen. Am Ende hatte sogar sie noch einmal nachgehakt, um ins Konzert eingeladen zu werden. Und das war gerade so, als hätte sie ihren zarten Hals auf den Hackklotz des Henkers gelegt.
Giampieri
Iannece wartete im Auto auf ihn, bei laufendem Motor. Dies waren seine heroischen Momente, wenn er als Rennpilot alle Register ziehen konnte und fluchend, mit Martinshorn und quietschenden Reifen, zwischen den Bussen Slalom fahren durfte. Noch bevor Giampieri den Sicherheitsgurt anlegen konnte, wurde er von einem Blitzstart in den Sitz gedrückt und in ein Videospiel katapultiert, bei dem die Straße zu beiden Seiten in irrsinniger Geschwindigkeit vorbeirauschte und sich die anderen Autos an den Bildschirmrand klammerten. Nur hatte man hier keine zwei oder drei Zusatzleben.
»Wer ist das Opfer, Iannece?«
»Eine junge Frau, eine gewisse Barbara Ameri, fünfundzwanzig Jahre, Sekretärin. Sie wurde in ihrem Büro überfallen.«
»Gut, ich wollte nur sagen, wenn schon alles vorbei ist, keine Schießerei im Gange, dann können wir vielleicht auch fünf Minuten später kommen, das ändert nichts.«
»Sie machen Witze! In fünf Minuten kann der Täter seine Spuren verwischen und die Straßensperren überwinden.«
»Ich verstehe, aber wenn … Achtung!«
Iannece riss das Steuer nach links. Wie durch ein Wunder konnte er einer Greisin ausweichen, die über die Straße ging.
»Sakra, willst du dich umbringen?!«, schrie Iannece ihr nach, einen Blick in den Rückspiegel werfend. »Hörst du denn die Sirene nicht?«
»Iannece, sieh zu, dass du den Fuß vom Gas nimmst, bevor wir noch einen Mordfall haben.«
»Gut, das wäre aber Totschlag gewesen. Außerdem sind Sie schuld, Sie lenken mich ab. Ich fahre um unser Leben, und Sie plaudern, ich muss mir mal eins von diesen Schildern besorgen: ›Nicht mit dem Fahrer sprechen‹.«
Giampieri verzichtete auf eine Replik, er beschränkte sich auf ein stummes Gebet und schwieg bis zur Mautstelle von Nervi.
»Wer ist am Tatort?«
»Die Jungs aus Rapallo. Kommissar Venuti.«
Giampieri schnitt eine Grimasse. Auch wenn er der Chef der Genueser Mordkommission war, so war dieser Venuti doch der Ranghöhere.
»Und haben Sie irgendetwas von Kommissar Luciani gehört?«
Iannece hüstelte. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er seinen Rücktritt eingereicht hat«, log er. »Ich glaube jedenfalls nicht, dass er zurückkommt.«
Einige Minuten später rasten sie in die Ausfahrt. Wahrscheinlich mit neuem Streckenrekord.
»Wohin wollen Sie zuerst, Ingegnere? Ins Krankenhaus oder an den Tatort?«
»Wie, ins Krankenhaus?«
»Na ja, als man das Mädchen fand, war es noch am Leben. Vor einer Stunde hat man sie ins Krankenhaus gebracht, aber sie wird es wohl nicht mehr lange machen.«
Giampieri schaltete die Sirene ab. »Was?! Vor einer Stunde?! Wann zum Teufel …«
»Sie wurde heute Vormittag gegen neun Uhr überfallen. Dann hat man Erste Hilfe geleistet und sie ins Krankenhaus geschafft, sie lag im Koma. Als man feststellte, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um versuchten Mord, das heißt inzwischen wohl um Mord handelte, riefen sie die Kollegen von Rapallo. Und die haben, in aller Gemütsruhe, uns informiert.«
Giampieri drehte die Augen gen Himmel und sagte nur: »Tatort.«
Der Hauseingang in der Via Bixio wurde von den Beamten der örtlichen Dienststelle belagert. Mit Absperrband war ein großräumiger Bereich abgeteilt worden, der die Schaulustigen fernhielt. Der Ingenieur bahnte sich einen Weg: »Giampieri, Mordkommission.«
Ein Beamter schob das Band beiseite und ließ ihn passieren. »Kommissar Venuti ist fort, er ist im Krankenhaus und spricht mit den Eltern des Mädchens.«
»Aha. Kann ich mich schon mal umsehen?«
»Bitte, Herr Kommissar, ich bringe Sie hin.«
Sie kamen in die Eingangshalle, wo mindestens zehn Personen standen, wahrscheinlich die Mieter des Hauses. Sie redeten untereinander und mit einem Inspektor, der in ein Notizbuch schrieb. Ein Beamter der örtlichen Kriminaltechnik erwartete ihn auf der Türschwelle und ließ ihn Überschuhe, einen Kittel und eine weiße Haube anziehen.
Er kam durch eine Tür, die eine Goldplakette mit dem Schriftzug »GIULIO MANTERO – BROKER« zierte, und fand sich in einem geräumigen Empfangszimmer wieder. Die Einrichtung war unauffällig: Garderobenhaken und Schirmständer, vier Sessel für die Kunden, der Schreibtisch der Sekretärin, gerahmte Drucke von Impressionisten an den Wänden. Ein Beamter sammelte Beweisstücke in Plastiktütchen.
»Wurde sie da drinnen umgebracht?«, fragte Giampieri und zeigte auf die dunkle Holztür, die vermutlich in das Arbeitszimmer des Anwalts führte.
»Nein, sie wurde hier gefunden, neben dem Schreibtisch.«
»Hier?!« Der Ingenieur schaute sich verwundert um. Alles wirkte aufgeräumt, auf dem Terrazzoboden lag kein Fitzelchen Papier, kein umgestürzter Stuhl, überhaupt nichts. Er merkte, dass ein starker Geruch nach Reinigungsmittel im Raum hing.
»Das soll der Tatort sein?«
»Jawohl«, antwortete der Beamte, und da er sich denken konnte, warum der Kommissar so verwundert dreinblickte, fügte er hinzu: »Das sah schon so aus, als wir hier eintrafen. Die ersten, die kamen, waren die Rettungssanitäter. Als man sie rief, ging man noch von einem Unfall aus. Dann sah man im Krankenhaus die Verletzungen und verständigte uns. Aber bis wir hier waren, hatte die Mutter des Brokers schon alles saubergemacht.«
»Wie, alles saubergemacht?«
»Na ja, sie kam hier an, mit Putzlappen und Eimer und voilà: weg waren alle Blutspuren.«
Giampieri schaute den Beamten ungläubig an: »Wo ist sie jetzt?«
»Sie müssen unten im Hauseingang sein. Sie und ihr Sohn wohnen im obersten Stock.«
Der Ingenieur schaute sich noch aufmerksamer um und versuchte, seine Wut zu zügeln. Ein Tatort, der gründlich verändert worden war, stellte einen schlechten Anfang dar. Nun ging es nicht mehr, wie sonst, darum, alles zu begutachten, was nicht am rechten Platz war, sondern all das zu finden, was wieder zurechtgerückt worden war. Von der Mutter des Brokers oder, vorher noch, vom Mörder.
»Mir wurde gesagt, man habe ihr den Schädel eingeschlagen, ist das richtig?«, fragte er und konzentrierte sich dabei auf einen klobigen Briefbeschwerer aus Quarz, der auf dem Schreibtisch stand.
»Ja. Aber mir scheint, daran sind keine Blutspuren.«
»Gibt es hier auch eine Toilette?«
»Hinter der Tür da. Aber es sind keine erkennbaren Spuren mehr da – die Frau hat auch dort gewerkelt.«
Man wird die Siphons und alles andere checken müssen, dachte Giampieri. »Gleich trifft auch die Spurensicherung ein. Vielleicht unternehmt ihr erst mal nichts weiter.« Er übersah die Grimasse des Beamten und versuchte, sich auf den Raum zu konzentrieren. Der Schreibtisch des Mädchens war aufgeräumt, Papiere und Mappen waren zu zwei, drei Stapeln aufgeschichtet, ein Telefon, ein Terminkalender, Kugelschreiber, Bleistifte, Tesafilm, Heftklammern, Tischkalender und alles, was normalerweise in einem Büro gebraucht wurde. Zur Linken der Sekretärin befand sich eine Verlängerung des Tisches, die bis an die Wand reichte. Darauf standen Computerbildschirm, Tastatur und Maus.
Der Ingenieur wickelte seinen Finger in ein Taschentuch und schlug beiläufig ein paar Tasten an. Auf dem Monitor erschien der Schriftzug: »Letztes Booting: 8.27 Uhr.«
Vor der Tür wartete der ranghöchste Beamte. »Bring mich zum Broker«, sagte Giampieri zu ihm.
Giulio Mantero war ein blasses Männchen mit verschrecktem Gesichtsausdruck. Seine Haare waren zu einem Seitenscheitel gekämmt, rasiert hatte er sich noch nicht. Was dagegen an der Mutter auffiel, war weniger das aschblond gefärbte Haar, als vielmehr ihre aufgereckte Haltung und die Augen, die sie ihrem Gegenüber direkt ins Gesicht bohrte.
»Guten Tag. Ich bin Vizekommissar Giampieri.«
»Rechtsanwalt Mantero. Giulio Mantero«, sagte dieser und reichte ihm eine schlaffe Hand.
»Wir haben Doktor Venuti bereits alles gesagt«, schaltete die Mutter sich mit fester Stimme ein.
»Guten Tag. Frau Mantero, nehme ich an?«
»Nein, Valenti. Rita Valenti. Mantero war der Nachname meines verschiedenen Mannes.«
»Natürlich. Können Sie mir erklären, Frau Valenti, wie Sie auf die glorreiche Idee gekommen sind, die Spuren eines Mordes zu beseitigen?«
»Mord?! Sie ist …«
»Noch nicht. Aber es besteht wenig Hoffnung, dass sie gerettet werden kann.«
Die Frau schien nicht besonders betroffen: »Dass es Mord war, also dass man sie überfallen hatte, das merkte ich erst, als die Beamten hier eintrafen. Ich dachte, die Ärmste wäre gefallen und hätte sich den Kopf angeschlagen.«
»Ein Hallelujah auf alle Gefallenen. Da hätte nicht einmal ein Kopfsprung vom Schreibtisch gereicht.«
Die Frau sagte nichts.
»Haben Sie sie gefunden?«
»Nein, mein Sohn.«
Giampieri schaute sich den Mann noch einmal genauer an. Sein Alter war undefinierbar, er konnte ein ältlicher Mittdreißiger sein oder ein junggebliebener Mittvierziger. Die kaum angedeuteten Geheimratsecken und die Agilität der Mutter ließen jedoch auf Ersteres schließen.
»Rechtsanwalt, sagten Sie? Ich dachte …«
»Ja, jetzt arbeite ich als Broker, aber ich habe einige Jahre praktiziert. Der Titel ist mir geblieben.« Er lächelte.
Der Ingenieur merkte sich dieses Lächeln, ebenso wie die feuchten Haare: Er musste soeben aus der Dusche gekommen sein.
»Wo war das Mädchen?«
Die Finger des Anwalts zitterten leicht, als er auf den Boden vor sich zeigte. »Sie lag da unten, zwischen Schreibtisch und Fotokopiergerät, die Augen waren geöffnet, und sie gab … eine Art Röcheln von sich, als ob sie mir etwas sagen wollte, es aber nicht schaffte.«
»Und Sie, was taten Sie?«
»Ich sah, dass sie voller Blut war, der Kopf, das Gesicht. Ich sagte ihr, sie solle ruhig bleiben. Ich würde Hilfe holen. So nahm ich das Telefon, das auf dem Schreibtisch steht, und wählte den Notruf.«
»Der Anruf ging genau um neun Uhr dreizehn ein, Herr Kommissar«, intervenierte ein Beamter. Giampieri warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Verrate einem möglichen Verdächtigen nie Details!
»Ja, etwa zu dieser Zeit ging ich nach unten, um die Zeitung zu holen und zu sehen, ob Barbara schon da war. Montags kam sie immer relativ früh. Ich wollte sie bitten, schon einmal eine bestimmte Arbeit in Angriff zu nehmen, während ich frühstückte und mich fertig machte. Normalerweise bin ich um neun im Büro, aber heute war ich ein bisschen später dran. Es ist eben sehr praktisch, wenn man das Büro im selben Haus hat«, sagte er mit einem müden Lächeln.
»Der Zeitungshändler kann also bestätigen, dass er Sie gesehen hat?«, sagte Giampieri, sein Gegenüber fixierend.
»Eigentlich … war ich noch gar nicht am Kiosk gewesen.«
»Sie haben doch eben gesagt, Sie seien die Zeitung holen gegangen.«
»Nein … ich sagte, ich wollte gehen … aber …«
Die Mutter intervenierte sofort. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit meinem Sohn. Er könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Und der armen Barbara, die ihn vergötterte, schon gar nicht. Er hat ihr alles beigebracht, wissen Sie? Die kommen von der Schule und halten sich für wer weiß wen, dabei können sie gar nichts. Überlegen Sie mal, ich musste ihr erklären …«
»Mama, bitte.«
»… nein, aber ich sage doch nichts Böses. Ich war jahrelang die Sekretärin deines bedauernswerten Herrn Papa …«
»Herr Ingenieur, hier sind wir.«
Die Männer der Kriminaltechnik aus Genua warfen einen vorwurfsvollen Blick auf die Menschenansammlung vor dem Tatort. Giorgio Solari, der Chef, gab Giampieri die Hand, während zwei Assistenten hinter ihm bereits Überschuhe, weiße Overalls und Hauben anlegten.
»Wir haben nichts angefasst, du kannst beruhigt sein«, empfing Giampieri ihn, »die Kollegen verstehen ihr Handwerk. Leider hatte die Dame des Hauses sich schon um die Spuren gekümmert.«
Die Frau schaute ihn böse an. »Ich sagte Ihnen bereits, dass ich nicht wissen konnte …«
Solari kratzte sich zwischen den graumelierten Haaren und setzte eine verständnislose Miene auf.
»Sie hat alle Blutspuren weggeputzt«, sagte der Ingenieur.
Der andere hob die Augen gen Himmel, dann senkte er sie wieder, um der Frau einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Sie revanchierte sich, indem sie das Kinn reckte und die Hände in die Seiten stemmte.
Giampieri folgte der Spurensicherung ins Vorzimmer, er wartete, bis sie Türrahmen und Klinken kontrolliert hatten, um sich dann der kleinen Toilette zuzuwenden, die klinisch sauber war. Eisenhart die beiden, dachte er, Mutter wie Sohn, sie brauchen ja nicht gleich in Tränen auszubrechen, aber ein wenig Betroffenheit könnten sie schon heucheln. Und warum hatte keiner der beiden die Ärmste ins Krankenhaus begleitet?
Das Büro, in dem Mantero arbeitete, war luxuriöser, als Giampieri erwartet hatte. Offenbar legte der Broker Wert darauf, seine Kunden zu beeindrucken. Der Schreibtisch auf dem wunderschönen, spiegelblank polierten Terrazzoboden in Gelb-, Braun- und Orangetönen war eine Antiquität, ebenso der wuchtige schokoladenbraune Ledersessel. Zwei moderne Stühle fügten sich gut in die Einrichtung; riesige Bücherregale bedeckten drei Wände, an der vierten hing, zwischen hohen, hellen, von schneeweißen Vorhängen verhüllten Fenstern, ein großes Landschaftsgemälde, das die Riviera zeigte. Giampieri näherte sich einem gerahmten Porträt hinter dem Schreibtisch, um es genauer zu betrachten. Der Mann trug das Gewand eines Klerikers, eines Bischofs vielleicht, und Giampieri kam er, mitsamt seiner kleinen, schwarzgefassten Brille und dem vertrauenerweckenden Blick, bekannt vor. Er näherte sich dem Platz des Anwalts und versuchte etwas über ihn zu erfahren, indem er die Gegenstände betrachtete, die er dort angesammelt hatte, aber viele Anhaltspunkte gab es nicht. Ein Bild aus Kindertagen: er mit seinem Vater, damals bereits in den mittleren Jahren, mit schütterem Haar und todernster Miene, und mit der Mutter, die schon genauso säuerlich dreinblickte wie heute. Noch ein Foto von Mantero: in den Bergen, auf einem Felsen sitzend, mit Bergstiefeln, Rucksack und Pickel, im Hintergrund nichts als blauer Himmel. Ein kleiner Rahmen mit zwei Porträts: Papst Wojtyla und Pater Pio. Ansonsten nur Bücher, Papiere, Dossiers, ein in Leder gebundener Terminkalender.
Als Giampieri wieder auf den Treppenabsatz kam, trat der Anwalt schüchtern an ihn heran: »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie lange das dauern wird? Ich müsste einige Sachen aus meinem Büro holen.«
Giampieri schüttelte den Kopf: »Sie machen Witze. Ihr Büro ist versiegelt. Auf unbestimmte Zeit.«
Sein Gegenüber legte den Kopf zur Seite, die Stimme klang ein wenig schrill. »Ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen, dass ich Anwalt bin. Ich kenne meine Rechte, und ich bitte Sie nur darum, dass ich meinen Terminkalender und ein paar Unterlagen holen darf. Wenn Sie wollen, können Sie sie vorher kontrollieren, ich habe nichts zu verbergen, aber vor Freitag muss ich drei Kommissionen erledigen.«
»Ihre Sekretärin wurde umgebracht, und Sie sorgen sich um Ihre Kommissionen? Sie hätte ich nicht als Chef haben wollen.«
Dem Broker blieb der Mund offen stehen, die Mutter wollte sich gerade einschalten, als ein Handy klingelte und für allgemeines Schweigen sorgte. Man hörte die Melodie eines Bocelli-Liedes. Der Anwalt bat um Verzeihung und zog einen nagelneuen Palm für über fünfhundert Euro aus der Tasche. Er fertigte einen Kunden lapidar ab und sagte, er werde zurückrufen, dann schaltete er das Gerät aus.
»Ist das ein Treo 750?«, fragte Giampieri mit offenkundiger Bewunderung.
»Nein, ein MyNav 168«, antwortete der Anwalt voller Stolz, »eben erst auf den Markt gekommen.«
»Darf ich?«
»Bitte.«
Giampieri wog es in der Hand und war angetan: leicht, aber nicht zu leicht. Er tat so, als würde er sich für alle Finessen interessieren und prüfte es auf Kratzer und andere Spuren.
»Sehr schön, alle Achtung«, sagte er, und gab dem Anwalt das Gerät zurück. Er ließ sich die Nummer geben, und während er sie in seinem Handy speicherte, sah er ein Polizeiauto kommen. Ein Mannsbild von fünfundfünfzig, sechzig Jahren stieg aus, eine erloschene Zigarre im Mund, Bierbauch. Er hinkte und schaute bärbeißig drein, unter den Achseln und am Rücken zierten große Schweißflecken sein Hemd. Man konnte sich nicht beklagen, Kommissar Roberto Venuti sah aus wie der Prototyp des Bullen aus einem Film Noir.
Eine Beamtin stellte die beiden einander vor, und sie musterten sich für einige Sekunden. Venuti schenkte Giampieri einen Blick, der so viel hieß wie: Was zum Teufel hast du hier zu suchen?, und der Ingenieur antwortete mit: Warum habt ihr uns nicht früher verständigt? Aber keiner sagte ein Wort. Dann fasste Venuti den jüngeren Kollegen am Arm und bugsierte ihn in eine Ecke: »Hör zu. Wir wollen keine Zeit mit Hahnenkämpfen verschwenden. Die Stunden des Mädchens sind gezählt, sie wird gerade nach Genua gebracht. Soll dort operiert werden, aber sie hat keine Chance mehr. Mein Vorschlag ist: Wir greifen uns Mantero, nehmen ihn mit aufs Revier und quetschen ihn aus, bis er gesteht. Etwas dagegen?« Der Ingenieur war von seinem Atem und den ätzenden Ausdünstungen seines Kunstfaserhemds wie benebelt.
»Aber, um ehrlich zu sein, er scheint mir nicht der Typ für …«
»Lass dich nicht verarschen. Er sieht aus wie ein braves Jüngelchen, nicht wahr? Aber ich kenne ihn. Er ist ein ausgemachter Hurensohn, in Rapallo hat er seine Finger überall drin. Entweder war er es, oder er weiß zumindest etwas. Aber wir müssen ihn sofort in die Mangel nehmen.«
»Nichts dagegen. Und die Eltern des Mädchens?«
»Mit denen habe ich schon geredet. Aber sie stehen unter Schock. Reine Zeitverschwendung.«
In dem Moment hielt ein blauer Dienstwagen vor der Tür.
»Die Staatsanwältin. Gibt sich endlich auch die Ehre. Ich stelle sie dir jetzt vor, aber überlass sie dann mir«, sagte Venuti schnell.
»Jetzt kommt die? Ich dachte, sie war mit dir im Krankenhaus.«
»Von wegen. Als man ihr Bescheid gab, wird sie erst einmal nach Hause gerannt sein, um sich umzuziehen und zu frisieren. Siehst du nicht all die Fernsehkameras?«
Giampieri merkte sich auch diese Spitze: Wenn es Unstimmigkeiten zwischen dem Kommissar und der Staatsanwältin gab, dann konnte er versuchen, sie zu seinem Vorteil auszunutzen.
Kaum war Staatsanwältin Monica Serra aus dem Wagen gestiegen, dachte der Ingenieur erst einmal, dass sie es wohl ein bisschen übertrieben hätte. Das hellgraue Kostüm lag ein wenig zu eng an, das Dekolleté der Bluse führte den Blick ein wenig zu weit hinunter auf die von der Sonne wachgekitzelten Sommersprossen, und die Absätze der schwarzen, perfekt auf die Handtasche abgestimmten Schuhe waren ein bisschen zu hoch. Vor allem waren die frisch gefönten Haare, die sie offen trug, zu rot und zu stark gelockt. Dazwischen sah man ein allzu früh verhärmtes Gesicht. Die ist mindestens vierzig, sagte sich Giampieri, und sieht auch nicht einen Deut jünger aus. Aber wenigstens hält sie sich fit, dachte er, während er die Waden und die fast ein wenig zu schmale Taille musterte.
Die Staatsanwältin stürmte an der Gruppe von Journalisten vorbei, die ihr etwas zuriefen und um Informationen baten. Der Ingenieur stellte sich vor und gab ihr die Hand, die sie schnell und kräftig drückte. Auch mit dem fruchtigen Parfum hatte sie nicht gespart. Giampieri dachte, dass Venutis Stichelei nicht unbegründet war, dann erinnerte er sich, dass Amalia ihn gerade noch mit Cremes und Essenzen eingerieben hatte – der Kommissar konnte dasselbe also auch von ihm denken.
Monica Serra sprach mit einer kehligen Stimme, vielleicht auf Grund der Anspannung, vielleicht wollte sie aber auch einen Ton anschlagen, der männlicher und autoritärer wirken sollte, in Wahrheit aber nur unnatürlich klang. Oder vielleicht wollte sie sich auch nur gegen den strengen Geruch schützen, den all die Männer, die seit Stunden in der Maisonne arbeiteten, ausdünsteten. Sie ließ sich einen Überblick über die Lage geben und betrat dann den Raum, in dem gerade die Spezialisten der Spurensicherung arbeiteten. Giampieri stellte ihr Solari vor, den sie rasch begrüßte. »Ich möchte bis heute Abend einen ersten Bericht, spätestens um achtzehn Uhr.« Der Vizekommissar betrachtete sie mit einem ironischen Lächeln, und sie schnellte vor wie eine Kobra: »Und Sie will ich auch zum Rapport in meinem Büro, heute Abend um neunzehn Uhr.«
»Um Punkt?«
»Was?«
»Um Punkt neunzehn Uhr, oder kann es auch neunzehn Uhr und zwei Minuten werden, oder gar drei Minuten? Wissen Sie, der heutige Tag wird ein bisschen … kompliziert.«
Die Staatsanwältin hob die rechte Fußspitze und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe bereits verschiedene Mordfälle aufgeklärt, Inspektor, und weiß, wie es läuft. Teamarbeit ist wichtig und die Befehlshierarchie von grundlegender Bedeutung. Bemühen Sie sich, meinen Anweisungen Folge zu leisten.«
Giampieri biss sich auf die Zunge, um seine Replik zurückzuhalten. Das Schlimmste war nicht die Tatsache, dass sie ihn als Inspektor bezeichnet hatte, und zwar in einer Situation, wo er in jeder Hinsicht die Rolle eines Kommissars erfüllte. Es war der Ton. Wer sich auf so eine Art präsentierte, war entweder ein Genie oder ein Vollidiot. Aber wenn sie ein Genie wäre, würde sie nicht mit satten vierzig immer noch als Stellvertretende Staatsanwältin in Rapallo herumturnen, dachte er, während sie sich der Gruppe der Journalisten zuwandte.
Venuti ging sofort wieder zum Angriff über: »Also, was Mantero angeht, sind wir uns einig?«
»Von mir aus. Aber die da?«
»Die Serra tut, was ich sage. Man muss sie nur in dem Glauben lassen, sie hätte entschieden. Wirst schon sehen.« Kaum kam die Staatsanwältin zurück, trat Venuti mit unterwürfiger Haltung auf sie zu und schüttelte den Kopf. Er habe versucht, die Eltern des Mädchens im Krankenhaus zu vernehmen, sie hätten aber nichts sagen wollen. »Ich fürchte, ich war ein wenig zu direkt …«
»Verstehe. Null Einfühlungsvermögen, wie immer. Wenn ihr nur ab und zu uns Frauen ranlassen würdet … Darum kümmere ich mich jetzt. Ihr haltet hier alles unter Kontrolle und tut nichts ohne mein Einverständnis.«
»Sicher, Dottoressa. Die einzige Sache …«
»Sprechen Sie, Venuti.«
»Können wir den Anwalt Ihrer Meinung nach hierlassen, oder sollten wir ihn lieber mitnehmen … wegen der Journalisten, meine ich. Ich würde nicht wollen, dass …«
»Ja, natürlich … Keinen Kontakt mit den Journalisten, absolut keinen. Kümmert euch darum.«
Während die Staatsanwältin ins Auto stieg, um nach Genua zu fahren, warf Venuti Giampieri ein Grinsen zu, das so viel hieß wie: Siehste?
»Kluger Schachzug. Jetzt haben wir eine Weile Ruhe.«
»Jawohl. Ich frage mich nur … Wir sollten sie vielleicht nicht allein lassen. Man weiß nie, welchen Schaden sie anrichtet.«
Der Ingenieur lächelte: »Keine Chance, mein Teurer.« Er hatte nicht die geringste Lust, mit ins Kommissariat zu kommen, die nächsten zehn Stunden mit diesem stinkenden Ochsen zu verbringen, die Komödie vom guten und vom bösen Bullen aufzuführen und zwanzigmal dieselben Fragen zu wiederholen. Noch weniger Lust hatte er allerdings, Venuti die Ermittlungen zu überlassen und die Chance seiner Laufbahn zu verpassen.
Sie setzten Giulio Mantero in das heißeste fensterlose Zimmer, und Venuti begann das Verhör mit Routinefragen, während Giampieri hinter der verspiegelten Wand zuhörte und zusah. Dann ging der Kommissar raus, und der Ingenieur nahm seinen Platz ein, wobei er mehr oder weniger dieselben Fragen stellte, allerdings in höflicherem Ton. Sie trieben dieses Spiel eine ganze Weile, weil sie hofften, der Anwalt würde die Nerven verlieren, doch dieser wusste, wie derlei Methoden funktionierten und verlor weder die Ruhe noch seinen Aplomb. Er hätte seine Version der Fakten auch tausendmal wiederholt. Bevor er ins Kommissariat mitkam, hatte er darauf bestanden, sich zu rasieren und korrekt zu kleiden, und seitdem hatte er nicht einmal den Knoten der Krawatte gelockert, er hatte weder um ein Glas Wasser gebeten, noch wollte er auf die Toilette. Hinter der Fassade des vertrottelten Muttersöhnchens musste sich ein stahlharter Wille verbergen. Als sie es mit einem Bluff versuchten und behaupteten, der Zustand des Mädchens hätte sich stabilisiert, es werde den Täter bald identifizieren können, antwortete Mantero nur: »Um so besser, dann werdet ihr mich nicht länger verdächtigen.«
Gegen drei Uhr nachmittags hatte Giampieri bereits genug: »Er hat sich nicht ein Mal selbst widersprochen. Nicht mal bei Details.«
»Ein Zeichen dafür, dass er kein reines Gewissen hat.«
»Was machen wir jetzt?«
Venuti blies den Rauch seiner Zigarre aus. »Das Übliche. Jetzt gehe ich wieder rein, stelle ihm eine Frage und gehe raus, um die Antwort zu überprüfen. Dann gehe ich wieder rein, stelle ihm wieder eine Frage, überprüfe wieder die Antwort. Und so weiter.«
»Das kann lange dauern.«
»Klar. Aber ich habe es nicht eilig. Ich gehe von der Annahme aus, dass er es war, und so lange er mir nicht das Gegenteil beweist, lasse ich nicht locker.«
Giampieri strich sich über den Kinnbart und dachte daran, dass er diesen vor Freitag noch abnehmen musste. Und dass er die Zeit finden musste, bei Amalia vorbeizuschauen.
Der simple Evergreen des Nokia Tune unterbrach seine Gedanken. Kommissar Venuti kramte das wahrscheinlich letzte noch in Umlauf befindliche Nokia Base hervor, horchte eine Weile in das Handy und sagte dann nur: »Verstanden. Danke.«
»Probleme?«
»Das Mädchen ist tot. Der Vater hatte einen Schwächeanfall, und der Onkel ist gegenüber den Journalisten ausgeflippt.«
Giampieri sehnte sich weg. »Vielleicht ist es besser, wenn auch ich nach Genua fahre.«
»Okay. Wenn es Neuigkeiten gibt, informiere ich dich.«
Im Foyer des San-Martino-Krankenhauses wimmelte es nur so von Journalisten. Giampieri erkannte einige von ihnen. Sie schwirrten in den Fluren herum und mischten sich unter die Angehörigen von Patienten, um sich in den OP-Trakt einzuschmuggeln.
»Wo sind die Eltern?«, fragte er einen der Beamten, die Wache schoben.
»Das ist kein günstiger Augenblick, Herr Ingenieur. Der Vater ist kollabiert und liegt jetzt mit einer Infusion im Bett. Die Mutter ist am Boden zerstört, sie kann weder weinen noch sprechen. Sie haben eine Psychologin geholt, aber die konnte auch nicht viel ausrichten. Die Ärmsten.«
»Gibt es jemanden, mit dem man reden kann? Freunde, Verwandte?«
»Der Onkel ist da. Aber der spinnt am meisten rum. Vorhin hat er ein Aufnahmeteam der RAI angegriffen, hat eine Kamera auf den Boden geschmissen, und wenn man ihn nicht zurückgehalten hätte, dann würde jetzt das ganze Team hier im Krankenhaus liegen. Das ist ein Urvieh von einem Kerl, wir haben drei Leute gebraucht, um ihn zu bändigen. Man hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben.«
Der Ingenieur schaute vorsichtig in das Zimmer der Eltern. Paolo Ameri lag im Bett, die Augen geschlossen, das Gesicht kreidebleich. Seine Frau Maria Rosa saß stocksteif auf einem Stuhl, die Knie aneinandergepresst, die Handtasche im Schoß. Sie starrte geradeaus.
Giampieri holte tief Luft, trat ein und stellte sich vor. Die Frau hörte ihm mit einigermaßen verstörter Miene zu, sie schien nicht zu verstehen.
»Ich meine damit, dass ich mich um die Ermittlungen kümmere, Frau Ameri.«
»Ach so. Man hat Sie geschickt. Wie jung Sie sind.«
»Ja. Können wir uns fünf Minuten unterhalten?«
»Sie sind aber wirklich sehr jung. Könnte ich nicht vielleicht mit dem Chefarzt sprechen?«
»Ich bin kein Arzt, Frau Ameri. Ich bin Polizeikommissar.«
»Nun, auf jeden Fall sind Sie zu jung für so etwas. Wer weiß, wie sehr Ihre Mutter sich sorgt.«
Giampieri ließ die Reserve an Luft und Courage, die er aufgestaut hatte, entweichen. »Ich komme später noch einmal vorbei. Kümmern Sie sich um Ihren Mann.«
»Natürlich. Aber meine Tochter müsste auch jeden Moment eintreffen.« Während sie das sagte, schaute sie ihm in die Augen, und er merkte, dass sie es selbst nicht glaubte, sie war nicht verrückt geworden, sie hoffte nur, das alles wäre ein böser Traum.
Der Ingenieur nickte stumm und verließ das Zimmer.
Barbaras Onkel saß im nächsten Wartezimmer, den Kopf zwischen den Händen. Er war ein wuchtiger Kerl um die sechzig, einen Meter achtzig groß, breit und stabil wie ein Lieferwagen, er hatte die Pranken eines Bauern, unter den Fingernägeln Erde. Als der Ingenieur sich vorstellte, schaute der andere ihn an wie einen lästigen Köter, der es auf einen Fußtritt anlegt: »Sie hat man geschickt? Bei allem Respekt, Sie scheinen mir zu jung zu sein.«
Macht nur so weiter, dachte Giampieri. »Das ist kein guter Einstieg, Herr …«
»Garaventa, Pietro.«
»Herr Garaventa, wenn Sie mir nicht vertrauen, wie sollte ich dann Ihnen trauen?«
»Was soll das heißen: mir trauen? Das war meine Nichte, die man umgebracht hat.«
»Eben. Die Eltern des Mädchens sind nicht ansprechbar, ich brauche jemanden aus dem Familienkreis, einen engen Verwandten, der mir hilft zu verstehen, was vorgefallen ist … Haben Sie sie oft gesehen? Wissen Sie, mit welchen Leuten sie verkehrte? Wissen Sie, ob sie einen Freund hatte, einen Verlobten, irgendjemanden?«
Der Onkel erhob sich und baute sich vor Giampieri auf. Er trug ein kariertes Hemd und abgewetzte, schlammverkrustete Jeans, er stank verräuchert, nach Zigaretten und Holzfeuer. »Was soll das heißen: Mit wem sie verkehrte?! Sie war ein anständiges Mädchen. Was denken Sie sich eigentlich?! Schon diese verschissenen Journalisten sind hier wie die Hyänen reingeplatzt. Wenn die irgendeinen Mist schreiben, breche ich ihnen die Knochen.«
Ein kühler Kopf, dachte Giampieri und zählte bis zehn.
»Ihr müsst ihn euch schnappen, diesen Dreckskerl, der sie umgebracht hat. Und dann müsst ihr ihn mir geben. Ihr müsst ihn mir überlassen«, sagte der Onkel, wobei er die offenen Handflächen zeigte und dann die Finger krümmte.
Der Ingenieur ließ sich nicht beeindrucken. »Hören Sie zu, Herr Garaventa. Zorn bringt uns im Moment nicht weiter. Wir müssen glasklar denken, wenn wir den Mörder fangen wollen. Sind Sie bereit, uns zu helfen, oder nicht?«
»Sicher. Was für eine Frage. Sagen Sie dem Kommissar, dass ich voll zu seiner Verfügung stehe.«
»Der Kommissar bin ich.«
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf und legte dem Ingenieur eine Hand auf die Schulter. »Sie müssen schon entschuldigen, ich bin nicht sehr gebildet, aber Sie werden höchstens fünfunddreißig sein …«
Ich bin neunundzwanzig, du Hurensohn, dachte Giampieri.
»… wie viele Morde haben Sie bisher aufgeklärt? Nee, nee, hier ist meine Nichte umgebracht worden, ich will einen Bullen, der Eier hat! Zuerst diese Vollidiotin von einer Staatsanwältin und jetzt das hier … Kann man denn nicht mal mit irgendjemand Vernünftigem reden, gütiger Himmel?!«
Giampieri setzte ein fieses Lächeln auf und starrte ihm, aus zehn Zentimeter Entfernung, direkt in die Augen.
»Wo waren Sie heute morgen um neun Uhr, Herr Garaventa?«
Sein Gegenüber schien verstört.
»Was soll das?«
»Wo waren Sie heute morgen um neun Uhr?«
»Ich rück dir die Visage gerade, du Hurensohn!«
Er hob die rechte Faust. Giampieri bewegte sich nicht, schloss nur ein wenig die Lider und biss die Zähne zusammen. Da hörten sie den Schrei von Barbaras Mutter. Sie war aus dem Schlaf erwacht, aber der Alptraum war noch nicht zu Ende.
Luciani
Er ging beim Bäcker vorbei, aber durchgeschwitzt und blutverschmiert wie er war, wartete er vor der Tür, dass die Verkäuferin ihm die üblichen sechzig Gramm Focaccia herausreichte. Das Gebäck war noch warm, und er musste sich beherrschen, um nicht gleich hineinzubeißen, er wollte lieber zuerst hoch in die Wohnung und sich duschen. Die Harnausscheidungen, eine kleine Aufmerksamkeit der Wochenendsäufer, verliehen der Gasse den besonderen Duft; er versuchte die Luft anzuhalten und flüchtete sich in seinen Hauseingang, wo es wenigstens nur nach Feuchtigkeit und Schimmel aus dem Keller roch. Die Treppenstufen waren von einer Putzschicht bestäubt, in den Ecken häuften sich Zigarettenstummel. Der auf dem Rücken liegende Kakerlak, den er schon vor zwei Tagen bemerkt hatte, war noch nicht entfernt worden. Jeder Mieter hätte sich eigentlich um seinen Treppenabschnitt kümmern sollen, aber niemand verschwendete einen Gedanken daran. Weder der Neapolitaner aus dem ersten noch die Sri-Lanker aus dem zweiten oder die alte Frau aus dem vierten Stock. Auch Luciani hatte inzwischen die Nase voll und schaute zu, wie der Kalk von den Wänden rieselte, und wenn sich der Staub zu großen grauen Knäueln verdichtete, dann schob er diese schlichtweg einen Stock tiefer.
Er wollte gerade die zweite Treppe hoch, als sich hinter ihm die Tür des Neapolitaners öffnete.
»Buongiorno, Commissario.«
Marco Luciani unterdrückte eine Unmutsbekundung. Musste der den ganzen Tag auf der Lauer liegen und jedes Mal auftauchen, wenn Luciani eine Tür oder ein Fenster öffnete?
»Commissario, für dich ist ein Einschreiben gekommen. Ich habe mir erlaubt, das entgegenzunehmen, damit du nicht zur Post musst.«
»Ach, danke.«
Der Mann zeigte ihm das Kuvert. »Ehrlich gesagt, ist es schon am Freitag gekommen, ich habe ein paarmal bei dir geklingelt, aber du warst nicht da. Willst du wissen, was drin steht?«
»Hast du es aufgemacht?«
»Natürlich nicht. Aber ich hab meines aufgemacht. Wir alle hier im Haus haben eins bekommen. Und es sind keine guten Neuigkeiten.«
Marco Luciani riss schnell eine Seite des Umschlags auf. Er wollte den Inhalt lesen, ehe der andere ihm zuvorkommen konnte, aber er war nicht schnell genug.
»Die haben uns verscherbelt, Commissario! Die haben uns alle an einen Mailänder Immobilienfritzen verscherbelt. Lies nur.«
Der Kommissar überflog schnell den Brief: »Sehr geehrter Herr … möchten wir Ihnen mitteilen … zum 20. Mai d. J. … mit notarieller Beglaubigung in der Kanzlei usw. … die Verkaufsurkunde … neuen Eigentümer Ihres Appartements … Vollsanierung des Gebäudes … ausgenommen die vom Gesetz vorgesehenen Ausnahmeklauseln … mit Ablauf Ihres Mietvertrages zum 31. Dezember.«
»Die setzen uns auf die Straße«, entfuhr es Marco Luciani. Es stimmte zwar, dass er es nicht erwarten konnte, aus diesem stinkenden Loch herauszukommen, aus dem verkommensten Eck der Altstadt, aber aus eigenem Antrieb zu gehen war eine Sache, hinausgeworfen zu werden eine andere, auch wenn es mit fristgerechter Vorankündigung geschah.
»Siehst du? Dann stimmten die Gerüchte, die ich aufgeschnappt hatte. Die Eigentümer haben alle verkauft, einer nach dem anderen. Besser gesagt: alle gemeinsam.«
Marco Luciani las sich alles noch einmal langsam durch. Es gab keinen Zweifel, die vier Apartments des Hauses waren alle an eine Mailänder GmbH verkauft worden. Nun wurden die Mieter über den bevorstehenden Beginn der Sanierungsarbeiten in Kenntnis gesetzt, die in Rekordzeit durch eine von der Hausverwaltung anberaumte außerordentliche Eigentümerversammlung beschlossen worden waren.
»Ich war sicher, dass der Enkel von der Alten verkaufen würde«, fuhr der Neapolitaner fort. »Sie hatte ihm das Apartment schon überschrieben, ohne sich das Wohnrecht zu sichern, und jetzt landet sie im Armenhaus, das sage ich dir. Und es geschieht ihr ganz recht, dieser alten Schreckschraube.«
»Und dein Wohnungseigner? Sagte der nicht immer, er wolle nicht verkaufen, er würde es eines Tages seinem Sohn vermachen?«
»Aber sicher, das hat er mir hoch und heilig versprochen! Ich habe trotzdem damit gerechnet, dass es so endet, und weißt du was? Ich verstehe ihn sogar. Hier müssen das Dach, das Treppenhaus und die Fassade erneuert werden, das weißt du besser als ich. Solange alle hier nur kleine Fische waren, die keinen Cent ausgeben wollten, wurden die Arbeiten immer aufgeschoben – Pech für die Mieter. Wenn aber erst ein großer Fisch kommt, der die Mehrheiten hält, siehst du, was der macht? Er beruft eine Versammlung ein, beschließt, dass er alle Arbeiten ausführt, wie ihm gerade der Sinn steht, und die anderen müssen zahlen. Und wenn sie nicht zahlen können …«
»… sind sie schnell ihr Apartment los«, sagte der Kommissar und schüttelte den Kopf. Die Geschichte kenne ich irgendwoher. »Und wie werdet ihr jetzt zurechtkommen, du und deine Frau?«
»Ich? Ich bin hier so sicher wie in Abrahams Schoß. Ich habe einen Mietvertrag für Erstwohnsitz, schon lange … und der läuft erst in zwei Jahren aus.«
»Besser als bei mir. Meiner läuft im Januar aus. Zwei Jahre sind aber auch schnell rum.«
»Ach, wir werden uns schon einig werden, keine Angst. Ich bin Invalide, meine Frau ist krank, wenn ich mich vor dem Rathaus ankette, dann bringen die mich hier nie raus.«
»Das heißt, du willst also bleiben?«
»Ich? In diesem Chaos? Wo einem die Bauarbeiter auf der Nase herumtanzen? Kommt nicht in die Tüte. Ich werde ausziehen, aber der wird mir eine schöne Abfindung zahlen müssen, darauf kannst du dich verlassen. Bei all dem Geld, das er mit seinem Apartment einnimmt, ist es nur recht und billig, dass auch der etwas abbekommt, der es ihm all die Jahre gehegt und gepflegt hat. Ich habe einige Verbesserungen vorgenommen, für Instandhaltung und den Wertzuwachs der Immobilie gesorgt.«
Marco Luciani nickte. Er war einige Male in der Wohnung seines Nachbarn gewesen, und dort sah es noch viel schlimmer aus als bei ihm: Der Putz war abgebröckelt, die Fußböden schadhaft, von der Decke hingen nackte Glühbirnen herab. Und es war das einzige Apartment, das noch das Klo im Treppenhaus hatte.
»Und wenn er mir die Abfindung nicht geben will«, schloss der Neapolitaner, »dann werden die neuen Eigentümer sie mir zahlen. Geldprobleme haben die nicht, will ich meinen.«
Marco Luciani verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und ging hinauf in seine Wohnung, wo er Teewasser aufsetzte. Nachdem er sich geduscht hatte, stellte er die Hifi-Anlage an, legte eine CD von Filippo Gatti ein, setzte sich, ohne Klamotten, mit der Teetasse und der Focaccia aufs Sofa und versuchte, die Lage zu durchdenken. Noch ein paar Monate, und er würde aus der Wohnung fliegen. So viel war sicher. Sie hatten die Kündigungsfrist genau eingehalten, und er war nicht der Typ, der sich sträubte, einen Streit heraufbeschwor oder gar um Mitleid buhlte. Er hatte einen Ein-Jahres-Vertrag, und es war das volle Recht des Eigentümers, diesen nicht zu verlängern. Luciani hatte immer pünktlich die Miete bezahlt, aber die neuen Eigentümer waren sicher nicht auf seine dreihundertfünfzig Euro monatlich aus, die hatten mindestens eine Million Euro investiert, würden noch einmal eine hübsche Summe für die Sanierung ausgeben und dann das Ganze mit einem satten Profit weiterverkaufen. Die Welt war voller Verrückter, die bereit waren, dreitausend Euro pro Quadratmeter zu bezahlen, um zwischen den Ratten zu leben.
Was ihn betraf: Er würde sich eine neue Wohnung suchen müssen. Aber jetzt, wo er praktisch ohne Arbeit dastand, und angesichts der aktuellen Mietpreise, würde das nicht einfach werden. Für dreihundertfünfzig Euro gab es inzwischen nicht einmal mehr ein Wohnklo in der Altstadt, wenn er es nicht mit irgendeinem Marokkaner teilen wollte. Er musste in ein anderes Viertel, was ihm alles in allem nicht einmal leid tat, aber gab es in der Stadt ein Viertel mit so billigen Mieten? Vielleicht am westlichen Stadtrand, der inzwischen von Ecuadorianern kolonialisiert war, eine nicht gerade attraktive Perspektive. Die komfortable Lage im Zentrum gegen die Riviera zu tauschen war eine Sache, aber an den Stadtrand zu ziehen, das war der Anfang vom Ende. Ich werde ins Hinterland gehen, dachte er, in irgendein verlassenes Dorf. Aber vielleicht sind die inzwischen auch schon zu »trendy«, hängen am Kabelnetz und sind von Holländern und Dänen erobert, wer weiß, ob ich mir das noch leisten kann.
Er verbummelte einen Tag, indem er auf dem Sofa lag und ein bisschen las, Musik hörte, die Decke anstarrte und dem Rumoren der Alten lauschte, die in der Wohnung über ihm mit ihrem Krückstock auf und ab marschierte und die Schubladen auf- und zuzog. Der letzte Fall hatte jegliche Energie aus ihm gesogen, er hatte zu absolut nichts Lust, aber vor allem konnte er an nichts denken. Das Bild des erhängten Schiedsrichters, der auf dem Tisch der Umkleidekabine lag, verfolgte ihn immer noch, obwohl er den Fall gelöst hatte, und das war ihm noch nie passiert. Vielleicht weil ihm diese Untersuchung, mehr als alle vorangegangenen, klargemacht hatte, dass es die Wahrheit nicht gab. Und dass am Ende immer die Wahrheit des Stärkeren siegte.
Zur Abendessenszeit legte er sich eine Zuckerrübe und einen halben Mozzarella auf den Teller, aber er ließ sie fast unberührt. Die Vergangenheit lag ihm noch im Magen, die Gegenwart war ein Seil über einem Abgrund, kurz davor, zu reißen, und auf der gegenüberliegenden Seite des Canyons erwartete ihn ein unbekanntes, feindseliges Land. Sein zweites Leben, das des Polizisten, stand vor dem Ende, und er hatte keine Ahnung, wie sein drittes aussehen würde.
Er legte sich vor elf Uhr ins Bett und hoffte, damit den Spannungskopfschmerz zu vertreiben, der in seinem Nacken pochte. Die Hitze war inzwischen drückend, und zum ersten Mal in diesem Jahr ließ er das Fenster einen Spaltbreit offen, um ein wenig frische Luft abzubekommen. Er versuchte, alle Gedanken zu verscheuchen, und nach fünf, sechs Minuten spürte er, dass die einzelnen Stiche in seinem Kopf zwar länger wurden, aber weniger heftig, dass sie an Kraft verloren und sich in einem Meer der Stille auflösten. Wenn ich acht Stunden am Stück schlafen kann, bin ich sie los, dachte er. Oder sieben. Wenn es ein richtiger Tiefschlaf ist, reichen auch sechs.
Als er gerade am Einschlafen war, hörte er ein Motorrad vom Ende der Straße kommen. Noch war es mindestens zweihundert Meter entfernt, aber der Lärm war schon ohrenbetäubend, er ließ die Pflastersteine vibrieren und verfing sich im Schalltrichter der engen Gasse. Der Fahrer, wahrscheinlich ein Dealer, der gerade seine Straßenverkäufer belieferte, riss genau unter Lucianis Fenster das Gas auf und raste die Steigung hinauf. Auf der Startbahn eines Flughafens hätte man sich wohler gefühlt.
Das Ganze hatte höchstens zehn Sekunden gedauert, aber jetzt war Marco Luciani wieder vollkommen wach, und sein Kopfschmerz pickte in der Augenhöhle wie der Schnabel eines Geiers, der sich einen Weg ins Hirn bahnen will: Tack, tack, tack.
Ihr Hurensöhne, dachte er. Irgendwann werdet ihr dafür büßen.
Er stand auf, ging ins Wohnzimmer, und da er wieder wach war, warf er aus reiner Gewohnheit einen Blick auf den Videotext. Als er die Nachricht von dem ermordeten Mädchen aus Rapallo las, spürte er einen Moment lang einen instinktiven Kitzel, er hob den Kopf wie ein hungriger Wolf, der die Witterung eines Hirschs aufgenommen hat. Dann presste er die Kiefer aufeinander und ließ sich wieder aufs Sofa sinken. Er wusste nicht, ob er Giampieri beneiden oder bedauern sollte.
Giampieri
Nicola Giampieri kam deutlich vor acht ins Kommissariat. Er war gegen drei Uhr nachts, als das Adrenalin endlich zu pumpen aufgehört hatte, plötzlich in Tiefschlaf gefallen, aber um sieben war er schon wieder wach und voller Energie. Auf seinem Schreibtisch fand er einen Stapel Zeitungen vor. Viele hatten dem Fall Ameri die größte Schlagzeile gewidmet, und alle zeigten dasselbe Foto von Barbara, auf dem sie fröhlich lächelte. Er nahm den Stoß und warf ihn direkt in den Papierkorb.
Wenn wir den Fall nicht sofort lösen, wird er der Dauerbrenner fürs Sommerloch, dachte er.
Er versuchte, Inspektor Vitone anzurufen, einen jungen Burschen, der vor wenigen Monaten aus Rom gekommen war: Klein und schmächtig, aber sehr selbstsicher, hatte er sich als unübertrefflicher Jäger in Papier- und EDV-Archiven erwiesen. Er war schon bei der Arbeit, und nach zwei Minuten stand er in Giampieris Büro.
»Hier sind die Informationen, nach denen du gestern gefragt hattest, Ingegnere«, sagte er und legte einen Lebenslauf auf den Tisch.e
Giampieri fing an, ihn zu überfliegen. »Monica Serra, geboren in Frosinone am 13. November 1966. Wohlhabende Familie … Schulbildung in verschiedenen Städten … Privatschulen … Studienabschluss an der Uni ›La Sapienza‹ in Rom. Staatsexamen in Catanzaro, na bravo. Erste Anstellung in Matera, dann Lecco, Rovigo, Ancona. Anschließend Vercelli und jetzt Rapallo. Das ist nicht viel. Wichtige Fälle?«
»Fehlanzeige. In ihrer gesamten Laufbahn sind ihr gerade mal drei Mordfälle untergekommen: einer in Vercelli, wo ein Psychopath seine Ex-Frau auf der Straße, vor allen Leuten, kaltgemacht hat. Ein anderer in Ancona, ein Mord mit anschließendem Selbstmord, ein krankes Greisenpaar. Der dritte in Rovigo: ein Albaner, der seine Freundin, die er auf den Strich schickte, gemeuchelt hat. Den haben sie praktisch sofort geschnappt.«
»Immerhin hat sie eine hundertprozentige Erfolgsquote. Vielleicht ist sie wirklich ein Genie. Familie?«
»Vom Ehemann getrennt. Keine Kinder. Lebt nur für die Karriere. Ich habe einen Kollegen aus Rapallo angerufen und mir erzählen lassen, was für ein Typ sie ist. Willst du es wissen?«
»Ich nehme an, es sind die üblichen Gemeinheiten über Karriere-Frauen.«
»Stimmt. Aber diese hier scheint nun wirklich … Jedenfalls sagt man, dass sie sich vor der echten Arbeit drückt, wo sie nur kann, im Büro ist sie nie, dafür lässt sie keinen gesellschaftlichen Termin aus, Vernissagen, Ausstellungen. Und sie nimmt sich wahnsinnig wichtig. Rennt ständig ins Fitnessstudio, wegen der Figur und wegen der Männer. Sie mag gern junge, die nimmt sie mit nach Hause und … na ja, sie geht wohl richtig ab. Der Kollege meint, die Nachbarn hätten eines Nachts die Polizei gerufen, weil sie so schrie.«