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Dieser Band enthält folgende Titel: Zeit der Werwölfe (Alfred Bekker) Ich darf mich nicht verwandeln (Alfred Bekker) Wölfe in der einsamen Geisterstadt (Alfred Bekker) Schrei, wenn dich der Werwolf holt (Steve Salomo) Ein Mann wie ein Wolf (Max Brand) Darry Pendor hat ein Problem: Er muss dem Drang widerstehen, sich in einen Werwolf zu verwandeln. Er ist ein Gestaltwandler und diese Eigenschaft macht sein Leben kompliziert - egal, ob er eine Frau kennenlernt oder in seinem Job bestehen muss. Er ist ein Mensch, der sich in ein Monster verwandelt - aber in seinem Job als Ermittler jagt er Monster in Menschengestalt und es stellt sich die Frage, wer das größere Monster ist: Ein Werwolf oder ein Serienkiller. Auch der Fall, an dem er gerade arbeitet hat etwas mit einer Verwandlung zu tun - allerdings auf eine ganz andere Art... Und dann sind da noch die selbsternannten Dämonenjäger, die ihm das Leben zur Hölle machen! Darry Pendor schwebt in der dauernden Gefahr, dass das Tier in ihm die Oberhand gewinnt… Und so gilt für ihn der Satz: Ich darf mich nicht verwandeln!
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Sommerband Werwölfe Juli 2023: 5 Romane
Copyright
Zeit der Werwölfe
Ich darf mich nicht verwandeln
Wölfe in der einsamen Geisterstadt
Schrei, wenn dich der Werwolf holt
Ein Mann wie wie Wolf
Dieser Band enthält folgende Titel:
Zeit der Werwölfe (Alfred Bekker)
Ich darf mich nicht verwandeln (Alfred Bekker)
Wölfe in der einsamen Geisterstadt (Alfred Bekker)
Schrei, wenn dich der Werwolf holt (Steve Salomo)
Ein Mann wie ein Wolf (Max Brand)
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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COVER A.PANADERO
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Eine Lichtung mitten im dichtesten Wald.
Fahles Mondlicht schien vom Himmel.
Ein Wolf heulte auf.
Äste knackten, ein Mann stolperte vorwärts und hielt inne, als er die Lichtung erreichte. Der Mann wirkte gehetzt. Er sah sich um, atmete schnell und schnüffelte dabei wie ein Tier, das gerade Witterung aufgenommen hatte. Seine Nasenflügel bebten.
Der Mann war blass und breitschultrig. Sein Alter war schwer zu schätzen. Der lange Ledermantel reichte ihm bis zu den Knöcheln. Das Haar war lang und grau. Der Backenbart und die eher buschigen, leicht nach oben gerichteten Augenbrauen gaben ihm etwas Wildes, Ungebärdiges. In seinen wolfsgrauen Augen spiegelte sich das Mondlicht.
Immer wieder wandte er den Kopf, ließ den Blick schweifen und blähte die Nasenflügel.
Erneut ertönte der ferne Ruf eines Wolfs...
Und nun antwortete der Mann.
Er formte aus seinen Lippen einen Trichter und stieß dann ein Heulen heulen aus, das von dem Laut eines Wolfs nicht zu unterscheiden war.
Es knackte nun auf der anderen Seite der Lichtung im Unterholz. Vögel stoben auseinander. Die schwarzen Schwingen einer Eule hoben sich dunkel gegen das fahle Mondlicht ab.
Ein hechelnder Atem drang an die Ohren des Mannes im Ledermantel. Aus dem Schatten der knorrigen Bäume kam dann ein Wolf hervor. Er war ungewöhnlich groß, die Schultern sehr viel breiter als dies normalerweise der Fall war und sein Fell war vollkommen schwarz.
Der riesenhafte Wolf näherte sich. Er senkte den Kopf und blieb etwa fünf Schritte von dem Mann im schwarzen Ledermantel stehen.
Die Blicke beider begegneten sich, aber schon einen kurzen Moment später sah der Wolf zur Seite.
Er beugte sich nieder, legte sich auf die Vorderpfoten.
Der Mann stieß derweil ein tiefes Knurren aus, er sank auf die Knie, kippte nach vorn und stützte sich mit den Händen auf. Sein Mund wurde größer, verwandelte sich innerhalb eines Herzschlags zu einer langgezogenen Wolfsschnauze. Die Haare wucherten plötzlich bis unter die Augen und bildeten ein Fell. Die Ohren stachen spitz hervor. Auch der Rest seines Körpers und seiner Kleidung veränderte sich. Sein Mantel wurde zu dichtem, grauschwarzem Fell und die Lederstiefel, die er trug, verschmolzen mit seinen Füßen zu den Hinterläufen eines Wolfs.
Dieser zweite Wolf war noch größer als der erste, der sich auf der Lichtung niedergelegt hatte. Sein Fell war von grauen Strähnen durchzogen, die an die Haarfarbe des Mannes mit dem Ledermantel erinnerte.
Das Monstrum riss das Mal weit auf, wandte den Kopf zum Mond hinauf und stieß ein lautes Heulen aus.
Alle sollten ihn hören – den Ruf der Werwölfe!
„Hey? Alles in Ordnung?“
Brian Hunter hörte die Stimme wie aus weiter Ferne. Gerade noch hatte er einen Mann mit langem Mantel vor seinem inneren Auge gesehen, der sich bei Vollmond in einen Werwolf verwandelt hatte. Eine Vision... Sie war so beeindruckend gewesen, dass er für einen Moment sogar geglaubt hatte, selbst mitten in der Nacht auf dieser Lichtung zu sein, irgendwo in einem wild wuchernden Wald mit eigenartig verwachsenen Bäumen zu sein. Aber jetzt kehrte sein Bewusstsein in die Wirklichkeit zurück.
„Hallo? Jemand zu Hause bei dir hinter der Stirn? Oder ist dir nicht gut.“ Es war die Stimme von Smith, dem Hausmeister des High School Internats Saint Morn, auf das Brian Hunter von nun an gehen würde. Smith hatte Brian vom Bahnhof in Boston abgeholt. Jetzt fuhren sie schon eine ganze Weile auf etwas einsameren Straßen herum, um nach Saint Morn zu gelangen.
„Es ist alles in Ordnung“, versicherte Brian.
„Du hast ganz blass ausgesehen!“, hakte Mister Smith nach. „Also um ein Haar wäre ich angehalten, um...“
„Es ist wirklich alles in Ordnung“, versicherte Brian noch einmal und diesmal ziemlich gereizt.
Meine Güte, was macht der für einen Aufstand!, ging es ihm dabei etwas ärgerlich durch den Kopf. Sollte er nicht extra auf die Mystic High School von Saint Morn gehen, weil man dort etwas mehr Verständnis dafür hatte, dass er eben anders war? Brian hatte diese Visionen des öfteren. Meistens zeigten sie ihm etwas, was in näherer oder fernerer Zukunft geschah. Nicht immer traf das, was er dann schlaglichtartig vor den Augen hatte, auch tatsächlich genau so ein. Manchmal hatte er nur einen kurzen Ausschnitt des Geschehens erkennen können und es stellte sich hinterher heraus, dass er den Zusammenhang völlig falsch beurteilt hatte.
Dinge, die ihm bedeutend erschienen, stellten sich später als völlig unwichtig heraus und umgekehrt. Aber was den Werwolf anging, da war er sich vollkommen sicher. Es war von Bedeutung, was er gesehen hatte, und es hatte irgend etwas mit dem Ort zu tun, zu dem er jetzt unterwegs war.
Brian konnte eine ganze Weile an gar nichts anderes mehr denken, während der Kombi von Mister Smith die Straße an der Küste entlang fuhr. Aber dann bog er ab und von da an wurde die Straße immer kleiner und gewundener. Sie führte durch einen Wald.
„Hör mal, ich wollte dir nicht auf die Nerven gehen, Brian“, sagte Mister Smith. „Aber wenn du nach Saint Morn kommst, dann solltest du lernen, etwas offener damit umzugehen, dass du ein paar besondere Talente hast.“
„Ja sicher“, gab Brian wenig interessiert zurück. Seine übersinnliche Begabung... Das war der Grund dafür, dass er an der Saint Morn High School angenommen worden war. Und dazu gehörten nicht nur seine Visionen von der Zukunft, sondern noch ein paar andere Dinge, die ihm schon manchmal ziemlich großen Ärger eingebracht hatten... In so fern war die neue Schule für Brian auch ein neuer Anfang.
Brian sah aus dem Fenster. Mister Smith bog mit dem Wagen ab. Das Meer und die Steilküste waren jetzt nicht mehr zu sehen, dafür war rechts und links der Straße dichter Wald.
„Sieht das hier überall so aus“, fragte Brian.
„Du findest in Saint Morn alles, was du brauchst: Eine Schule, eine kleine Stadt, in der es alles gibt und landschaftlich sehr schön gelegen ist. Du kannst Wassersport machen oder...“
„Ich sehr ziemlich viel Wald und sehr wenig Stadt“, stellte Brian fest. „Meine Güte, sieht wohl so aus als würden sich hier Fuchs und Hase gute Nacht sagen...“
„Woher kommst du denn?“, fragte Mister Smith.
„New York City.“
„Naja, mit einer Acht-Millionenstadt und den Wolkenkratzern von Manhattan ist das hier natürlich nicht zu vergleichen. Aber ich kann dir sagen, dass die meisten sich wohlfühlen.“
„Wir werden sehen...“
„Aber eins solltest dir merken.“
„Und das wäre?“
„Du bist hier nichts Besonderes. Hier haben alle irgendwelche besonderen Fähigkeiten – und nur deswegen bist du hier. Also brauchst du dir nichts darauf einzubilden und du solltest auch nicht auf die Idee kommen, darin den Grund zu sehen, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollten!“
Brian atmete tief durch. „Das hört sich ja ganz so an, wie die Predigten, die ich mir zu Hause immer anhören musste.“
„Manche Dinge sind überall gleich, Brian.“
„Ja, nur gehörte das auf meiner alten Schulte nicht zu den Aufgaben des Hausmeisters.“
Mister Smith lachte rau. „Kann sein. Aber in Saint Morn sind alle eine Gemeinschaft. Wir haben alle eine gemeinsame Aufgabe, von der sich niemand ausschließen kann – auch der Hausmeister nicht!“
„Gemeinsame Aufgabe? Das klingt ja fast so bedeutungsvoll wie geheime Mission oder so was... Meine Güte, ich dachte, es ginge nur darum, was zu lernen.“
„Du wirst es schon begreifen, wie hier der Hase läuft.“
„Nochmal eine andere Frage...“
Mister Smith hob die Augenbrauen. „Bitte, nur raus damit!“
„Gibt es hier eigentlich Wölfe in der Gegend?“
Mister Smith war überrascht. „Wie kommst du jetzt auf Wölfe?“
„Nur so...“, sagte Brian.
Mister Smith zuckte mit den breiten Schultern. „Keine Ahnung. Ich bin schon dreizehn Jahre hier – aber von Wölfen in der Gegend habe ich noch nie etwas gehört.“
Ein Van stand schräg auf der Straße. Dahinter war eine Bremsspur zu sehen. Die Frontscheibe war zerschlagen und überall war Blut.
Die Fahrertür war förmlich aus ihren Halterungen herausgerissen worden und lag ein Stück entfernt auf dem Boden.
Etwa zehn Meter vor dem Van parkte am Straßenrand ein Polizeiwagen. Diese Fahrertür stand offen, von dem Polizisten war nirgends etwas zu sehen.
Mister Smith hielt an. „Hier ist was passiert“, stellte er nur fest. Er griff zum Handy. „Bin ich da mit dem Büro des County Sheriffs verbinden? Hallo? Ja, es gab hier einen Unfall auf der Coast Road, etwa fünf Meilen von Saint Morn entfernt... Ein Einsatzfahrzeug ist hier, aber... Ah, ja...“ Mister Smith beendete das Gespräch. „Einsatzkräfte des Sheriffs sind unterwegs“, erklärte er Brian. Aber den schien das nur am Rand zu interessieren. Er stieg aus. Wieder sah er für einen Augenblick die Fratze eines Wolfsgesichts vor sich. Er spürte, dass seine Vision, irgend etwas mit dem zu tun hatte, was hier geschehen war. Dann sah er die Spuren auf dem Asphalt.
Wolfsspuren...
Das Tier hatte sich entweder verletzt oder war durch eine Blutlache gelaufen. Die Spuren selbst waren ungewöhnlich groß – und das war selbst für Brian sofort ersichtlich, der in seinem bisherigen Leben nicht allzu viel Kontakt mit der Natur gehabt hatte.
„Brian, warte!“, hörte er Mister Smith rufen. Aber Brian ließ sich davon nicht beirren. Wenn er ich etwas genau ansah, dann bekam er manchmal eine Vision, die ihm mehr darüber verriet. Entweder was damit in Zukunft geschehen würde oder was in der Vergangenheit damit geschehen war... Er warf einen kurzen Blick in den Polizeiwagen. Der Zündschlüssel steckte.
Auf dem Beifahrersitz lag eine Jacke.
'Deputy Sheriff R. Meyers' stand dort aufgenäht. Das musste der Name des Beamten sein.
Mister Smith sah inzwischen in das Innere des Vans, wohl um sich zu überzeugen, dass dort wirklich niemand mehr drin war. Auch auf den Rücksitzen nicht.
„Der Deputy Sheriff muss sofort ausgestiegen sein“, stellte Brian fest. „Selbst sein Hut liegt nicht auf dem Rücksitz. Ich nehme an, dass er zum Van gegangen ist und...“
„Da ist niemand. Nur Blut!“
Brian ging nun ebenfalls zum Van und sah sich alles genau an. Die Sitze waren zum Teil aufgerissen worden.
„Tritt nirgendwo hinein, das sieht nach einem Verbrechen aus und wir wollen es der Polizei ja nicht schwerer machen, als es ohnehin schon ist!“, sagte Mister Smith, der ganz blass aussah.
Brian blickte auf den Boden, sah sich die Blutlache an. Vor seinem inneren Auge sah er für einen kurzen Moment erneut einen riesenhaften Wolf, der irgend etwas davonschleifte.
Oder jemanden!, ging es Brian schaudernd durch den Kopf.
Dann waren plötzlich mehrere Schüsse zu hören.
Und dann drang ein durchdringendes Heulen aus dem Wald heraus.
Brian drehte sich zu Mister Smith um und eine tiefe Furche war auf seiner Stirn zu sehen. „Haben Sie nicht gesagt, es gäbe hier keine Wölfe?“
Mister Smiths Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. „Bis jetzt hatte ich das auch angenommen!“, murmelte er.
Brian lief kurz entschlossen los. Er setzte zu einem Spurt an, noch ehe Mister Smith ihn davon hätte abhalten können. Es ging geradewegs in den Wald hinein. Er sah genau vor sich, wohin er sich wenden musste.
Und ebenso wusste er, dass er sich beeilen musste, wenn er noch etwas ausrichten wollte.
„Warte doch!“, rief Mister Smith. „Was soll das denn? Die Polizei ist doch gleich hier!“
Etwas unbeholfen hetzte der Hausmeister der High School von Saint Morn dann hinter dem neuen Schüler her, den er eigentlich nur vom Bahnhof hatte abholen und nicht auf einen Waldlauf hatte begleiten wollen.
Brian rannte so schnell er konnte, sprang über einen umgestürzten Baum, kämpfte sich durch dichtes Gestrüpp und erreichte dann ein paar Augenblicke später eine Lichtung.
Das ist es!, durchfuhr es ihn.
Auch wenn seine Vision eine nächtliche Szenerie gezeigt hatte, war er sich doch vollkommen sicher – dies war die Lichtung, die Waldlichtung, auf der sich der Mann mit dem Ledermantel in einen Wolf verwandelt hatte...
An einen Baumstumpf gelehnt, bemerkte Brian den Deputy Sheriff. Er saß am Boden und lud seinen Revolver nach. Sein Hemd war an der Schulter blutig. Offenbar war er schwer verletzt.
„Verschwinde!“, ächzte er Brian entgegen. „Hau ab! Sofort!“
Brian blieb unschlüssig stehen.
Aus der Ferne hörte er Mister Smith rufen, der einfach nicht mit seinem Lauftempo hatte mithalten können.
Dann war ein Knurren zu hören.
Am Waldrand war das Gras sehr hoch. Brian sah, wie es sich bewegte. Dann sprang einer jener riesenhaften Wölfe daraus hervor, wie Brian sie in seiner Vision gesehen hatte.
Es war jener Wolf, dessen Fell graue Strähne hatte... Die Zeichnung stimmte exakt überein!
Deputy Sheriff Meyers schoss seinen Revolver ab. Alle sechs Patronen feuerte er kurz hintereinander auf den Wolf. Die Kugeln trafen das Monstrum. Die Wucht der Geschosse riss den Wolf zurück. Er wand sich am Boden und jaulte laut auf.
Dann schleppte er sich ein Stück davon, knurrte dabei wütend. Die Schusswunden waren deutlich zu sehen. Blut quoll aus ihnen heraus, aber es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis die Wunden sich wieder schlossen. Der Wolf streckte sich, leckte mit der langen Zunge das Blut aus dem Fell und schien dann erneut angreifen zu wollen.
Die Kugeln aus dem Revolver schienen ihm nichts anhaben zu können.
Der Deputy lud erneut voller Hektik die Waffe nach. Aber es gab keine Grund anzunehmen, warum die Kugeln diesmal irgendeine Wirkung haben sollten. Der Wolf hatte sich wieder aufgerappelt. Am Waldrand erschien derweil ein zweiter. Etwas kleiner und mit einem vollkommen schwarzen Fell.
Der kleinere Wolf schien abzuwarten.
Der größere fletschte die Zähne.
Brian lief ihm entgegen.
„Bist du wahnsinnig?“, rief Mister Smith, der inzwischen auch die Lichtung erreicht hatte. Damit lenkte er allerdings die Aufmerksamkeit beider Wölfe auf sich.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin griffen beide im selben Moment an. Sie schnellten auf Brian zu. Die Mäuler waren weit aufgerissen. Knurrend stürzten sich beide Bestien auf Brian.
Dieser hob die Hände und stieß einen lauten Schrei aus.
Mitten im Sprung wurden die beiden zähnefletschenden Bestien gestoppt. Der erste von ihnen kam noch an Brians Arm, und er spürte für den Bruchteil einer Sekunde eine kalte Schnauze. Der zweite wurde schon früher fortgerissen. Es war, als würden die Bestien plötzlich gegen eine unsichtbare Wand aus Glas prallen. Eine schier übermächtige Kraft erfasste sie und warf sie fast zwei Meter zurück. Sie rollten sich am Boden ab, kamen wieder auf die Beine und probierten es gleich noch einmal. Wieder stieß Brian einen durchdringenden Schrei aus.
Die unheimliche Kraft packte sie erneut und schleuderte sie noch einmal ein ganzes Stück zurück. Jaulend rappelten sie sich wieder auf.
Mister Smith öffnete den Mund, als er das sah und vergaß, ihn wieder zu schließen. Der verletzte Deputy starrte Brian auf eine Weise an, die verriet, wie fassungslos er war.
Brian ging mit langsamen Schritten auf die beiden Werwölfe zu. Sie schienen noch nicht entschieden zu haben, ob sie noch einen weiteren Angriff wagen sollten. Ihre Köpfe waren gesenkt. Sie fletschten die Zähne und knurrten Brian drohend an
Dieser hob den linken Arm.
Du musst dich jetzt sehr konzentrieren... Sammle alle Kraft!, ging es ihm durch den Kopf. Er schloss die Augen, aber trotzdem sah er mit seinem inneren Auge alles, was um ihn herum geschah. Sein Gesicht wirkte angestrengt, so als würde er etwas sehr Schweres heben.
Dann krümmte er seine Finger, so als würde er etwas umfassen und riss anschließend den linke Arm ruckartig zurück.
An einem der Bäume, die am Waldrand standen, brach daraufhin ein Ast ab. Wie ein Peitschenschlag fuhr dieser auf die beide Wölfe herab, die daraufhin jaulend davonstoben.
Augenblicke später war der Spuk vorbei.
Es war nichts mehr von den Bestien zu sehen.
„Jetzt weiß ich, was deine besondere Begabung ist!“, murmelte Mister Smith. Und der Hausmeister von Saint Morn war erfahren genug, um sich gut vorstellen zu können, dass Brian Hunter sich mit diesen Kräften in der Vergangenheit nicht unbedingt nur Freunde gemacht hatte...
Mister Smith kümmerte sich zuerst um den verletzten Deputy. Dessen Schulter sah übel aus. Trotzdem war er erleichtert. „Ihre Kollegen sind gleich hier!“, versicherte Smith.
Deputy Meyers atmete tief durch.
„Ich hole den Erste Hilfe Kasten aus dem Wagen!“, kündigte Smith an.
„Nein, nein, das sieht schlimmer aus, als es ist!“, widersprach Deputy Meyers. Er versuchte aufzustehen und schaffte es schließlich. Schwankend stand er da und steckte den Revolver ein. Dann betastete er seine Schulter.
„Wo ist der Fahrer des Van?“, fragte Brian.
Deputy Meyers lachte heiser auf. „Diese Bestien... Ich fand den Van mitten auf der Straße – leer. Als ich ausstieg, hörte ich Schreie und bin sofort losgelaufen. Ich habe noch nicht einmal im Büro des Sheriffs Bescheid sagen können...“ Er schluckte. „Bis hierher bin ich gekommen, dann wurde ich angegriffen und habe versucht, mich zu verteidigen. Aber diese Biester scheinen mir extrem widerstandsfähig zu sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Wie kann das sein, dass die Kugeln sie nicht töten? Das sind Teilmantelgeschosse, die müssten sie eigentlich zerfetzen!“
„Vielleicht haben Sie ja nicht richtig getroffen“, meinte Mister Smith. Er zuckte die breiten Schultern, als Deputy Meyers ihn darauf hin verständnislos ansah. „Naja, kann doch sein! Also ich würde in so einer Situation nicht einmal einen Elefanten treffen, wenn er zwei Meter entfernt wäre!“
„Aber Sie sind auch kein Polizist und trainieren regelmäßig auf dem Schießstand!“, erwiderte er ziemlich aufgebracht. Dann wandte er sich an Brian. „Was hast du gerade eigentlich gemacht?“, fragte er.
Brian schluckte.
Je weniger Menschen von seinen besonderen Fähigkeiten wussten, desto besser. Diese Erfahrung hatte er bereits gemacht. Und das galt sowohl für seine Visionen, als auch für die anderen Kräfte, die er einsetzen konnte. Brian hatte sich darüber informiert. Telekinese nannte man das, was er konnte, wohl. Dinge durch seinen puren Willen bewegen – darauf lief es letztlich hinaus. Allerdings war es umstritten, ob es telekinetische Fähigkeiten überhaupt gab.
Für Brian war das natürlich keine Frage. Er wusste, dass es so war, denn schließlich hatte er seit frühester Kindheit lernen müssen, mit diesen Kräften umzugehen. Mit der Zeit waren sie immer stärker geworden. Ganz zu Anfang, als er noch sehr klein war, hatte er sie nur benutzt, um kleine Spielzeugautos von selbst fahren zu lassen.
„Ich kann einfach nur gut mit Hunden umgehen“, sagte Brian und hoffte, dass Deputy Meyers ihn dann in Ruhe ließ.
„Ich nehme an, Sie brauchen jetzt etwas Ruhe“, mischte sich Mister Smith ein. „Wenn man so etwas erlebt hat, dann kann es schon sein, dass man an den Dingen zweifelt, die...“
„Ich weiß, was ich gesehen habe!“, unterbrach ihn der Deputy. „Man erzählt sich alles Mögliche an seltsamen Geschichten über die Jugendlichen in dem Internat, in dem Sie tätig sind, Mister Smith.“
„Alles Vorurteile!“, erwiderte Smith.
Deputy Meyers atmete tief durch. „Teufel, da kann man schonmal den Verstand verlieren, was?“
„Ich würde diesen Namen nicht zu laut aussprechen, Deputy“, murmelte Smith.
Erstaunlich schnell trafen weitere Einsatzwagen des örtlichen County Sherrifs ein. Außerdem ein Rettungswagen. Von Mister Smith erfuhr Brian Hunter, dass sich die Zentrale des County Sheriffs ganz in der Nähe befand. „Saint Morn ist nicht groß, aber wir haben hier alles, was man braucht – und vor allem kann man alles zu Fuß erreichen“, meinte Smith.
Brian verdrehte die Augen.
„Das hört sich fast wie die Werbesprüche an, die meine Eltern für dieses Internat abgelassen haben.“
„Es ist die Wahrheit, Brian! Und auch wenn dieses Ereignis hier wohl deinen ersten Tag in Saint Morn überschatten wird – du wirst dich über kurz oder lang wohlfühlen. Das ist ziemlich sicher!“
Brian zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen, ob eine Gegend mit Wölfen was für mich ist!“, meinte er. „Eigentlich haben mir schon die giftigen Terrier gereicht, die die feinen Ladys in Manhattan von Hundeausführern durch den Central Park führen lassen.“
Brian holte ein Kaugummi aus der Hosentasche. Das war der Augenblick, als er den roten, leicht blutenden Striemen bemerkte, der sich quer über seine linke Hand zog.
Ist sicher ein Ast gewesen!, dachte Brian.
Mister Smith reichte ihm ohne Worte ein Papiertaschentuch.
„Können Sie Gedanken lesen oder so was?“, fragte Brian. „Ich dachte, Sie wären ein Normalo – also ohne besondere Fähigkeiten.“
„Manchmal reicht gesunder Menschenverstand völlig aus“, gab Mister Smith zurück.
Sheriff Clancy kam in diesem Moment auf Smith zu und begrüßte ihn. Die beiden kannten sich offenbar. So fasste der Hausmeister die Geschehnisse für den etwas korpulenten Leiter der örtlichen Polizeibehörde des County Sheriffs, die für das gesamte Umland zuständig war, zusammen.
„Und du hast diese Wölfe dann in die Flucht geschlagen?“, erkundigte sich Clancy anschließend bei Brian.
„So ist es, Sir.“
„Du wirst noch in unser Büro kommen müssen, damit wir deine Aussage zu dieser Sache aufnehmen können.“
„Kein Problem.“
Einer der anderen Beamten des Sheriffs rief nach seinem Chef. „Ich muss da mal hin!“, sagte Clancy. Einer der Deputies wirkte bleich wie eine Wand. „So was haben Sie auch noch nicht gesehen“, stammelte er. „Wir habe vermutlich die sterblichen Überreste des Van-Fahrers gefunden... Sir, das ist so furchtbar.“
„Du musst nicht denken, dass es hier jeden Tag so zu geht, Brian. Eigentlich ist das ein ganz gemütlicher Ort“, sagte Mister Smith, als sie weder im Wagen saßen und weiter fuhren.
„Genau das befürchte ich“, meinte er. „Ich meine, wo gibt es denn einen Sheriff? Nur in winzigen Nestern, die zu klein sind, um eine eigene Polizei zu unterhalten!“ Er schüttelte den Kopf. „Das meine Eltern mir das antun mussten...“
„Jeder, der nach Saint Morn kommt, ist auserwählt, Brian. Daran solltest du immer denken...“
„Na großartig. Das klingt ja fast, als wäre das hier eine Sekte oder sowas...“
„Unser Schulleiter wird es dir gleich erklären.“
Eigentlich wäre Brian noch gerne auf der Lichtung zurückgeblieben, um mitzubekommen, was bei den weiteren Ermittlungen von Sheriff Clancy und seinen Leuten herauskam. Aber Mister Smith war dagegen gewesen. Der Grund dafür leuchtete ein. Sie waren schon sehr spät dran. Und Mister Galway, der Leiter von Saint Morn, hasste Unpünktlichkeit, wie Brian durch den Hausmeister erfuhr. „Dass wir eine gute Ausrede hätten, spielt bei ihm leider keine so große Rolle.“
Es dauerte nicht lange und der Wagen erreichte ein von Wald umgebenes Herrenhaus aus grauem Stein, zu dem noch ein paar Nebengebäude gehörten.
Die hohen Giebel waren von wildem Wein überwuchert, der sich am Maurwerk emporrankte.
Einige der Bäume, die in der Nähe standen, wirkten seltsam verwachsen und man hatte den Eindruck, als würden sich fratzenhafte Gesichter auf der Rinde abzeichnen. Diese Bäume schienen ebenso alt zu ein, wie das ganze Anwesen. In so manchen dieser verformten oder gespaltenen Stämme musste irgendwann einmal der Blitz hineingefahren sein.
„Oh Mann, das sieht ja aus wie ein Postkartenmotiv aus der Gruft!“, stieß Brian hervor. „Das ist ja alles uralt. Als ob die Pilgerväter hier noch selbst die Steine aufeinander geschichtet hätten!“
„Ungefähr 350 Jahre ist die Schule von Saint Morn alt“, erklärte Mister Smith. „Das Haupthaus war eines der ersten Steingebäude von ganz Massachusetts.“
„Man hätte hier ein Gruselschloss als Kulisse für Horror-Filme einrichten sollen – aber nichts, wo man wirklich leben soll! Das verstößt ja gegen die Menschenwürde!“
„Es hat seinen eigenen Charme, Brian. Und hol deine Sachen aus dem Kofferraum. Das ist zwar ein hochherrschaftliches Haus, aber seit es ein Internat ist, hat man hier keine Dienerschaft mehr – wenn du verstehst, was ich meine!“
„Vollkommen“, murmelte Brian.
Brian hatte nur eine kleine Sporttasche mitgenommen. Leichtes Gepäck. Er ging irgendwie stillschweigend davon aus, dass es sowieso bald wieder Ärger geben würde und er auch Saint Morn vorzeitig verlassen musste. So war das auch an den High Schools gewesen, die er zuvor besucht hatte.
Zusammen mit Mister Smith ging er die Stufen des Portals hinauf. Die Tür aus dunklem Ebenholz war mit Schnitzereien verziert. Fratzenhafte Geistergesichter vor allem, die Brian an die Totempfähle mancher Indianerstämme erinnerten.
Über der Tür waren drei messingfarbene Ringe, die ineinanderfassten, in den Stein eingelassen.
Darunter war ein Spruch eingraviert. Die Buchstaben waren etwas verschnörkelt, so dass man genau hinsehen musste, um die drei Worte lesen zu können.
Übles dem Übel, stand dort.
„Oh mein Gott! Kluge Sprüche für jeden Neuling, oder was soll das?“
„Es ist der Leitspruch unserer Schule“, sagte Mister Smith.
„Und was sollen die drei Ringe da oben? Olympia für Arme? Hat man dem Handwerker nicht genug Geld für fünf Ringe gegeben?“
„Die drei ineinander fassenden Ringe sind ein uraltes Zeichen“, erklärte Mister Smith. „Mister Galway kann dazu gewiss sehr viel mehr sagen, aber soweit ich weiß, ist es das Symbol des Polyversums!“
„Was soll das denn sein?“
„Die Gesamtheit aller möglichen Universen und Welten. Es ist das Zeichen unseres Internats.“
„Klingt abgefahren“, meinte Brian. „Übles dem Übel... Da könnte man jetzt noch ergänzen: Jeden Tag eine gute Tat, wie bei den Pfadfindern!“
„Es gibt Dinge, über die sollte man sich nicht lustig machen, Brian“, erwiderte Mister Smith sehr ernst.
Smith öffnete die Tür mit eine durchdringenden Knarren. „Das Gespensterschloss lässt grüßen“, witzelte Brian noch. Sie traten in die hohe Eingangshalle.
Ein Mädchen in Brians Alter saß dort auf ihren Sachen. Mindestens fünf Taschen hatte sie dabei. Sie hatte langes, dunkles Haar und meergrüne Augen. Was ihre Klamotten betraf, schien sie nur eine einzige Farbe zu kennen – schwarz.
Offenbar war sie auch gerade erst angekommen und nun saß sie hier wie bestellt und nicht abgeholt.
Als sie Brian bemerkte, sah sie zu ihm hinüber und grinste ihn an.
Brian grinste zurück.
Aber schon in nächsten Moment wurde seine Aufmerksamkeit durch schwere Schritte abgelenkt. Ein hochgewachsener sehr hagerer, grauhaariger Mann im dunklen Anzug kam die Treppe herab. Er trug ein in Leder gebundenes Buch unter dem Arm. Fast hätte man denken können, dass es ein Gebetbuch war, wenn auf dem Ledereinband nicht ein Pentagramm zu sehen gewesen wäre.
Das Gesicht des Grauhaarigen wirkte mumienhaft, die graue Haut wie Pergament.
Er blieb stehen und hob das Kinn.
Sein Blick traf zunächst das Mädchen in Schwarz und dann Brian. Ein Blick, der Brian sehr abschätzig vorkam.
„Mister Smith, sind das die neuen?“
„Ja, also...“, stammelte Mister Smith, der plötzlich selber wie ein Schuljunge wirkte.
„Dann bringen Sie die beiden sofort zu Mister Galway.“
„Jawohl, Mister Van Ray“, versicherte der Hausmeister.
Van Ray wandte sich der Dunkelhaarigen zu. „Du musst Rebecca McKee sein, nicht wahr.“
Sie nickte und erhob sich.
„Bin ich!“
„Neben der Beherrschung deiner Fähigkeiten wirst du hier sicherlich noch lernen, wie man sich benimmt, Rebecca – und nicht wie ein nasser Sack auf seinem Gepäck sitzen bleibt, wenn man seinem zukünftigen Lehrer begegnet.“
„Tut mir Leid, Sir“, sagte Rebecca sichtlich irritiert.
Mister Van Ray nickte abschätzig und sah auf eine Weise auf Rebecca herab, die ihn nicht gerade sympathisch erscheinen ließ. Wenn das einer der Lehrer hier ist – na dann gute Nacht!, ging es Brian durch den Kopf. Wahrscheinlich brauche ich dann meine Sachen gar nicht erst auszupacken, so schnell fliege ich in Saint Morn heraus!
Van Ray wandte sich nun Brian zu, näherte sich mit zwei Schritten und musterte ihn stirnrunzelnd.
„Und du musst Brian Hunter sein...“
„Ja, Sir.“
„Ich habe deine Akte gelesen. Da steht nicht viel Gutes drin, Brian. Wirklich nicht viel Gutes...“
Brian bemerkte, wie sich der Kronleuchter, der an langen Ketten von der Decke hing bewegte. Er schwang zur Seite, sodass er genau über Mister Van Rays Kopf schwebte.
Aber anstatt zurückzuschwingen, blieb der Leuchter so und es sah nun aus, als ob über Mister Van Ray ein Heiligenschein schweben würde.
Es sah aus, als hätte eine unsichtbare Hand den Leuchter bewegt.
Brian warf einen kurzen Blick zu Rebecca McKee hinüber, die alles nur Mögliche tat, um ihr Grinsen zu unterdrücken und dabei trotzdem gleichzeitig ein möglichst ernsthaftes Gesicht zu machen – passend zu Mister Van Rays Leichenbittermiene. Aha, dachte Brian. Du hast also ein Talent, das meinem sehr ähnlich ist...
Nur Rebecca kam schließlich für die Bewegung des Leuchters infrage – denn Brian selbst war das nicht und Mister Smith bezeichnete sich selbst ja als völlig untalentiert.
„Ich will sehr hoffen, dass du auch noch so ein fröhliches Gesicht machst, wenn du einige Zeit hier auf Saint Morn warst und wir dich zurechtgebogen haben! Unruhestifter dulden wir hier jedenfalls nicht! Das solltest du von Anfang an wissen!“
„An mir soll es nicht liegen“, meinte Brian.
„Natürlich nicht. Wahrscheinlich liegt es immer an den anderen! Wie üblich“, erwiderte Van Ray.
Brian konzentrierte sich auf die Haare seines Gegenübers. Na los, kommt schon..., dachte er. Manche Dinge ließen sich besser beeinflussen als andere. Woran das jeweils lag, davon hatte Brian keine Ahnung. Aber vielleicht würde er das hier ja lernen... Zwei Haarsträhnen richteten sich an Van Rays Kopf auf, ohne dass dieser etwas davon bemerkte. Brian zwirbelte sie mit seinen Kräften etwas, so dass sie an die Antennen eines Außerirdischen erinnerten.
Rebecca konnte kam noch an sich halten und es war reine Glücksache, dass Van Ray sich nicht ausgerechnet in diesem Augenblick zu ihr umdrehte.
Das wäre wirklich kein gelungener Einstand in Saint Morn gewesen.
„Also dann. Seid fleißig und gelehrsam“, sagte Van Ray mit einem Tonfall, der so streng und scharf war, dass sowohl Rebecca als auch Brian sofort jeder Gedanke an ein unziemliches Grinsen verging. „Und bedenkt eines: Das Motto unserer Schule heißt Übles dem Übel. Falls einer von euch dem Übel zuzurechnen ist, wird es ihm hier nicht gut gehen!“
„Daran zweifle ich nicht, Sir“, gab Brian zurück.
„Dann ist es ja gut“, sagte Van Ray und ging dann davon.
Er hatte den Eingang zum Flur in den Westflügel schon fast erreicht, da drehte er sich noch einmal um – genau in dem Moment, in dem Rebecca die Konzentration ihrer Kräfte offenbar nicht mehr aufrecht erhalten konnte, sodass der Kronleuchter nun zurückschwang und ein paarmal ziemlich heftig hin und her pendelte.
Mister Van Ray streckte einen der dürren Finger seiner rechten Hand aus und deutete auf den hin und her schwingenden Kronleuchter.
„Man sollte seine Talente niemals für so einen Unsinn verschwenden!“, erklärte er streng, bevor er im nächsten Moment in den Flur zum Westflügel entschwand.
„Puh, wer war das denn? Das Schlossgespenst?“, fragte Brian, als Mister Van Rays Schritte verhallt waren.
„Ich dachte, solche Lehrer gab es schon nicht mehr als mein Großvater zur Schule hing!“, ergänzte Rebecca.
„Also wenn ich euch einen kleinen Tipp geben darf: Mit Mister Van Ray sollte man sich besser nicht anlegen“, mischte sich Smith ein. „Mit dem ist nicht zu spaßen!“
„Das haben wir gemerkt!“, meinte Brian.
„Aber dafür hatten wir unseren Spaß“, meinte Rebecca. Sie lächelte Brian an. „Das mit den Haaren war cool!“
„Wir haben offensichtlich ein ähnliches Talent.“
„Auf jeden Fall schön zu wissen, dass man hier nicht allein damit ist... Brian!“
„Ja, finde ich auch“, nickte Brian.
Das Gepäck ließen sie in dieser Zeit in der Eingangshalle. „Hier stiehlt niemand etwas“, versprach Mister Smith, als er bemerkte, dass sowohl Rebecca als auch Brian zögerten, ihre Sachen zurückzulassen. „Das ist wirklich die Wahrheit“, fügte Mister Smith hinzu. „Dies ist keine High School, wie ihr sie ansonsten kennen mögt. Wir haben hier nur wenige Schüler – und davon abgesehen ist hier jeder Teil einer Gemeinschaft und würde sich nicht an den Sachen eines anderen vergreifen.“
„Also in New York City...“, begann Brian, aber das wollte Mister Smith nicht gelten lassen und schnitt ihm sofort das Wort ab.
„In einer High School in New York City würdest du wahrscheinlich auffallen, wenn du deine Sachen irgendwo liegen lässt – hier fällst du auf, wenn du das nicht tust.“
„Auf Ihre Verantwortung, Mister Smith“, meinte Brian.
„Nein – die nimmt dir hier niemand ab, Brian. Aber falls es euch ein Trost ist: Wir haben hier an der Schule sowohl unter den Schülern als auch unter den Lehrern die unterschiedlichsten übersinnlichen Talente versammelt. Falls doch jemand sich an euren Sachen zu schaffen machen sollte, würde man das sehr schnell aufklären können...“
„Na, dann brauchen wir uns ja wohl um nichts Sorgen zu machen!“, meinte Rebecca McKee schulterzuckend.
Smith führte sie die Treppe hinauf zum Büro des Schulleiters.
James Galway, Direktor – so stand es an der Tür aus dunklem Ebenholz, in die dasselbe Zeichen eingelassen worden war, das auch schon am Eingang zu finden war: Drei messingfarbene Ringe, die ineinander fassten.
Mister Smith hob die Hand zum Klopfen, aber noch bevor sie die Tür überhaupt berührt hatte, war von der anderen Seite ein kräftiges „Herein!“ zu hören.
Der Hausmeister hob die Augenbrauen.
„Tja, Mister Galway hat ein äußerst empfindliches Gehör. Ich bin sicher, dass er uns bereits kommen hörte, als wir die Treppe hinauf gingen.“
„Wollen Sie uns auf den Arm nehmen?“, fragte Rebecca.
Smith schüttelte den Kopf. „Nein, aber wie ich schon erwähnte, hier haben fast alle ein paar außergewöhnliche Fähigkeiten – von mir mal abgesehen. Ich bin völlig durchschnittlich.“
Smith öffnete die Tür und sie traten ein.
Das Büro des Schuleiters war ein sehr hoher Raum, dessen Wände mit Bücherregalen bedeckt waren. Dicke, in Leder gebundene Bände reihten sich da aneinander. Ein paar eigenartige Titel fielen Brian auf. „Absonderliche Kulte“ oder „Zeichen der Geheimen Macht“ und „Meta-Magisches Lehrbuch für fortgeschrittene Schüler übersinnlicher Künste“ hießen einige von ihnen.
Wirklich seltsam war allerdings die dicke Schicht Schaumstoff, die die Tür abdämpfte. Wie in einem Tonstudio!, dachte Brian. Eigentlich hätte der lärmempfindliche Mister Galway keinen Ton mehr aus den Fluren hören können - geschweige denn von der Treppe oder gar aus der Eingangshalle!
Entweder da will mich der Hausmeister auf den Arm nehmen oder Mister Galway hat ein so empfindliches Gehör, dass er damit ins Guinness Buch der Rekorde kommen könnte!, ging es Brian immer noch fassungslos durch den Kopf.
Mister Galway war ein freundlich wirkender Mann in einem dreiteiligen Anzug. Sein Alter war schwer zu schätzen, das Haar dunkel, aber von grauen Strähnen durchwirkt. Aber wenigstens wirkte er nett. Brian war jedenfalls schon mal sehr froh darüber, dass es unter der Lehrerschaft der High School von Saint Morn auch sympathischere Personen als Mister Van Ray gab, der ja bereits eine anschauliche Kostprobe seiner schlechten Laune gegeben hatte.
Mister Galway kam hinter seinem Schreibtisch hervor und klappte die Lesebrille zusammen. „Sie können dann gehen, Mister Smith“, sagte er an den Hausmeister gewandt. „Über die Sache mit den Wölfen haben wir ja bereits gesprochen...“
„Ja, Sir“, nickte Mister Smith.
Brian runzelte verwundert die Stirn. Wann sollten die beiden miteinander gesprochen haben? Davon hatte er nichts mitbekommen. Aber vielleicht hatte Mister Smith per Handy mit dem Schulleiter telefoniert, während er auf der Lichtung auf andere Dinge geachtet hatte. So musste es wohl gewesen sein.
„Und wenn Sie zufällig in den Heizungskeller kommen, dann wäre es schön, wenn Sie mal überprüfen würden, was da in den Leitungen so gurgelt“, fuhr Galway dann noch fort. „Diese Geräusche sind ja kaum erträglich!“
„In Ordnung, ich werde mich gleich darum kümmern“, versprach Mister Smith und verließ dann den Raum.
„Ihr seid neu hier“, sagte Mister Galway, als die Tür hinter dem Hausmeister ins Schloss gefallen war. „Und dies ist der Moment, ein paar grundsätzliche Dinge klarzustellen, die das Leben in Saint Morn betreffen. Die Regeln unterscheiden sich nicht großartig von anderen High Schools, die als Internat geführt werden. Ich will euch also jetzt nichts über das Aufräumen eurer Zimmer, den Umgang mit euren Mitschülern, den Fleiß im Unterricht und all die anderen Dingen erzählen, die hier von euch erwartet werden. Das werdet ihr alles schon mit der Zeit mitbekommen.“
„Ich werde mir alle Mühe geben, keinen Ärger zu machen“, versprach Brian.
„Davon bin ich überzeugt“, erklärt Mister Galway. „Vielleicht habt ihr bisher den Eindruck, dass ihr hier seid, weil ihr anderswo nicht zurecht gekommen seid. Das gilt nicht für alle, die hier unterrichtet werden, aber für viele. Aber das ist eine falsche Sichtweise. In Wahrheit seid ihr auserwählt worden. Es gibt eine Vereinigung, die sich Ritter des Heiligen Lichts nennt und die eure Stipendien bezahlt. Das geschieht nur dann, wenn diese Vereinigung absolut davon überzeugt ist, dass das Potenzial an übersinnlichen oder sagen wir mal einfach besonderen Fähigkeiten ausreichend ist, um gefördert und ausgebildet zu werden. Bislang hattet ihr vielleicht Schwierigkeiten dadurch, dass ihr anders wart – hier in Saint Morn ist es die Voraussetzung dafür, dass ihr überhaupt hier sein dürft.“
„Darf ich fragen, woher Sie von unseren Fähigkeiten überhaupt so genau Bescheid wissen?“, fragte Rebecca. „Das klingt ja fast, als hätten diese Ritter vom Heiligen Licht uns beobachtet...“
Mister Galway nickte. „Genau so war es auch. Wir sind ständig auf der Suche nach Talenten...“
„Uh, das klingt ja nach einer Sekte oder Geheimgesellschaft oder so was“, meinte Brian. „Ehrlich gesagt gefällt mir das nicht so besonders.“
„Wir sind weder eine Sekte noch geheim“, erklärte Galway. „Die Ritter des Heilgen Lichts haben sich dem Kampf gegen die Mächte des Bösen verschrieben. Und dafür suche wir gezielt Jugendliche mit einem übersinnlichen Talent aus. Deshalb seid ihr hier – denn ihr werdet gebraucht. Die Welt ist bedroht durch Kräfte, von deren Existenz die meisten Menschen nichts ahnen und diejenigen, die es eigentlich besser wissen müssen, wollen die Bedrohung nicht zur Kenntnis nehmen...“
Brian wusste im ersten Augenblick nicht so recht, was er dazu sagen sollte. Dass es Dinge gab, die durch die herkömmliche Wissenschaft wahrscheinlich noch nicht so richtig zu erklären waren, hatte er am eigenen Leib erfahren. Daran zweifelte er nicht. Und was die Bedrohung durch die Mächte der Finsternis anging... Der Kerl spricht ja nicht zufällig von mordlustigen Werwölfen?, ging es Brian durch den Kopf.
„Ihr seid hier jedenfalls nichts Besonderes“, stellte Mister Galway fest. „Jeder der hier her kommt, hat ein übersinnliches Talent. Das mag bei den einzelnen Schülern unterschiedlich ausgeprägt sein und äußert sich auch nicht immer in denselben Fähigkeiten. Aber es ist dieselbe Kraft, die all dem zu Grunde liegt. Man kann sie Magie nennen oder Psi-Kraft. Es gibt unterschiedliche Namen dafür. Wir werden euch hier beizubringen versuchen, wie man diese Kräfte kontrolliert, wie man sie verantwortlich einsetzt, ohne dass man anderen schadet. Ihr werdet hier in Weißer Magie ausgebildet, damit ihr den übersinnlichen Bedrohungen, die unsere Welt bedrohen begegnen könnt. Alles weitere werdet ihr mit der Zeit schon mitbekommen... Gibt es von eurer Seite irgendwelche Fragen?“
„Das klingt ja fast, als würde da im Verborgenen eine Art Krieg gegen irgendwelche finsteren Mächte ablaufen...“
„Es sind nicht irgendwelche Mächte“, widersprach Galway. „Es ist immer wieder dieselbe Macht: Das Böse.“
„Existiert so etwas überhaupt?“
„Ja, es existiert“, sagte Rebecca McKee mit großer Bestimmtheit. „Es ist sehr stark und kann von jedem Besitz ergreifen.“
„Das klingt nach Erfahrung“, meinte Brian.
„Ich kann es spüren“ behauptete Rebecca.
„Wie bitte?“
„Ich kann die Anwesenheit des Böen spüren, Brian. Das hängt mit meinem Talent zusammen.“
„Wenn das so ist, fällt es dir vermutlich etwas leichter, zu akzeptieren, was ich euch gesagt habe“ mischte sich Mister Galway ein. „Aber die Fähigkeit, das Böse sehen oder spüren zu können, ist durchaus nichts Außergewöhnliches!“
Brian schien da etwas skeptischer zu sein. „Hat das, was Sie da gerade gesagt haben, auch etwas mit den Wölfen zu tun, die...“
„Mister Smith hat mir von eurem Erlebnis am Telefon erzählt“, unterbrach ihn der Schulleiter. „Und genau darüber möchte ich jetzt als nächstes sprechen. Ich möchte alles darüber wissen.“
Brian zuckte mit den Achseln. „So viel weiß ich gar nicht darüber...“
„Du weißt mehr als du glaubst“, sagte er.
„Ich hatte eine Vision von einem Mann, der sich auf einer Waldlichtung in einen Wolf verwandelt hat. Es war Vollmond. Und dann haben wir den Van auf der Straße stehen sehen und es war klar, dass da irgend etwas geschehen sein musste.“
Brian berichtete, was sich zugetragen hatte und Mister Galway hörte interessiert zu. Sein Gesicht veränderte sich. Die Falten auf seiner Stirn wurden immer tiefer und schließlich nickte er wissend. „Es hat hier schon sehr lange keine Wölfe gegeben“, sagte er. „Und natürlich auch keine Werwölfe... Dass sie wieder aufgetaucht sind, ist kein gutes Zeichen!“
„Und was gedenken Sie gegen diese Kreaturen zu unternehmen?“, fragte Brian.
„Jedenfalls werde ich nicht die Hände in den Schoß legen und tatenlos zusehen, wie sie weitere Menschen ermorden. Vergesst alles, was ihr über Werwölfe gehört habe mögt. Silberkugeln und Vollmond, das ist nur eine Erfindung von Hollywood. Aber sie töten Menschen – und wenn sie jemanden nicht töten, dann nur deshalb, um ihn zu einem der ihren zu machen... Ich werde eure Hilfe brauchen. Vor allem deine, Brian, denn du hast sie in deiner Vision gesehen...“
Eigentlich hatte Mister Galway wohl noch etwas sagen wollen. Er öffnete halb den Mund, aber kein einziges Wort kam über seine Lippen. Stattdessen verzog er das Gesicht, so als würde er einen starken Schmerz verspüren. Er presste sich dabei die Hände auf die Ohren! „Ah, muss das denn sein!“, rief er, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und lief geradewegs auf die Tür zu. Er riss sie förmlich auf. „So ein Krach ist doch nicht auszuhalten!“, rief er, während er auf den Flur hinauslief.
„Ein Geist!“, schrie jemand. „Was hat der hier zu suchen?“
Brian überlegte, ebenfalls hinauszueilen, denn er war ziemlich neugierig, was da draußen auf dem Flur wohl für ein Theater war.
Rebeccas Blick fiel auf die Stelle an Brians Hand, wo er sich verletzt hatte. Ehe er sich versah hatte, hatte sie seine Hand genommen. Ein eigenartiges Kribbeln durchlief ihn. Er war verblüfft.
„Was...?“
„Ist gleich vorbei!“, sagte sie.
Brian blickte auf seine Hand. Die blutigen Striemen bildeten sich vor seinen Augen zurück.
„Gehört zu meinem Talent“, erklärte sie lapidar.
„Ganz schön praktisch!“
„Kann manchmal den Arzt ersparen!“
„Ich sag's ja! Ganz schön cool, solche Heilkräfte!“
„Funktioniert leider nicht bei jedem.“ Rebecca zuckte mit den Schultern. „Und bei mir selbst leider überhaupt nicht!“
„Wieso das denn nicht?“
„Ist einfach so. Ich habe es oft genug ausprobiert, aber es geht nur bei anderen.“
Mehr als ein Dutzend Stimmen redeten draußen auf dem Flur plötzlich durcheinander. Eine Klassentür schlug auf, wieder zu und Mister Galways Stimme stellte innerhalb eines Augenblicks die Ordnung mit den Worten her: „Geht das nicht auch leise? Ich kann ja in meinem Büro mein eigenes Wort nicht verstehen!“
Brian stand auf und ging ebenfalls auf den Flur. Rebecca folgte ihm.
Vor eine der Klassenräume war ein kleiner Menschenauflauf entstanden. Die Schüler und ihrer Lehrerin bildeten einen Halbkreis. Mister Galway stand auch in der Nähe. Seine pure Anwesenheit reichte normalerweise aus, um die Ordnung herzustellen. Aber das galt offenbar nicht für den dunkelhaarigen Kerl mit den leicht gelockten Haaren, der völlig außer sich zu sein schien. Er deutete auf eine Marmorsäule. „Da ist er! Was hat dieser Totengeist dort zu suchen? Achtet denn hier niemand darauf, dass die Mächte der Finsternis hier keinen Zutritt haben?“
Brian blickte angestrengt zu der Marmorsäule, in der der Wahlspruch der Schule eingemeißelt war: Übles dem Übel.
„Bin ich blind, oder wieso sehe ich da nichts?“, fragte Brian.
„Jetzt beruhige dich bitte, Rick!“, sagte Mister Galway. „Vor allem ist das alles kein Grund für so ein Geschrei!“
„Dann ist es in Ordnung, dass Geister hier durch das Haus spazieren, sich in den Unterricht setzen und sich über uns lustig machen? Seht ihn euch an, den Kerl mit dem großen Hut! Er tut jetzt genau dasselbe!“
Mister Galway wechselte einen Blick mit der Lehrerin, einer Frau in den mittleren Jahren mit sehr dicken Brillengläsern und einem mondförmigen Gesicht. „Sie können nichts feststellen, Mrs. Monroe?“, fragte Galway.
Die mondgesichtige Frau schüttelte den Kopf. „Tut mir leid! Aber um ehrlich zu sein, ist Totenbeschwörung auch nicht unbedingt meine Stärke. Ich bin hier als Lehrerin für die Geschichte der Weißen Magie und nicht...“
„Schon gut, Mrs. Monroe“, unterbrach Galway sie.
Der dunkelhaarige Rick trat unterdessen einen Schritt auf die Säule zu und sprach mit dem Geist, den außer ihm niemand sah. „Na, los, du könntet auch mal was dazu sagen! Macht es dir Spaß, dich über uns lustig zu machen oder hast du einfach nur nicht damit gerechnet, dass dich jemand sieht, so wie ich? Ist zugegebenermaßen auch keine alltägliche Fähigkeit... Aber an einem Ort wie diesem sollte man als Geist schon damit rechnen!“ Rick wirkte so, als würde er angestrengt zuhören. „Das sind doch alles nur Ausreden! Verschwinde hier! Du hast hier nichts zu suchen.“ Eine weitere Pause entstand. „Wie bitte? Ich habe hier nichts zu suchen und soll mich nicht so aufspielen? Umgekehrt wird ja wohl ein Schuh daraus.“
„Rick!“, sagte Mister Galway jetzt streng.
Rick drehte sich zu Mister Galway um und zuckte mit den Schultern. Sein Blick wirkte verständnislos. „Er sagt, ich soll verschwinden und er hätte die älteren Rechte hier!“
Mister Galway seufzte. „Eigentlich dachte ich, dass wir dieses Problem gelöst hätten... Wie sieht der Geist aus, den du siehst? Du sprachst von einem großen Hut...“
„Ja, und einen weißen Kragen hat er, dazu einen dunklen Anzug. Außerdem einen Spitzbart. Und er trägt einen Krückstock mit einem silbernen Griff, der wie ein Totenschädel geformt ist.“
„Das ist der Geist von Oliver Grant. Er hat dieses Haus errichten lassen und starb im Jahr 1699... Und um entsprechende Fragen gleich zu beantworten: Nein, er gehört nicht zu den Mächten der Finsternis und ist etwas lästig, aber harmlos!“ Mister Galway sah sich suchend um. „Rick? Wo ist er jetzt?“
„Hinter Ihnen, Mister Galway. Er macht Ihnen gerade Hasenohren!“, gab Rick Auskunft.
Mister Galway drehte sich blitzschnell um und hob die Hand. Ein grellweißer Lichtball entstand in seiner Hand. Mister Galway warf ihn dorthin, wo er den Geist vermutete und rechnete wohl dabei mit ein, dass er sich von ihm fortbewegte.
Der Lichtball prallte auf etwas Unsichtbarem auf. Es gab einen Lichtblitz. Und dann sah man eine Gestalt mit einem großen Hut und einem Stock, wie Rick ihn beschrieben hatte. Die Gestalt wirkte geisterhaft, war durchscheinend und leuchtete. „Mister Grant, Sie sind entlarvt!“, sagte Galway. „Sie haben die Erlaubnis in Ihrem Mausoleum im Garten zu spuken, aber nicht hier im Schulhaus!“
„Ja, Sir, ich weiß“, sagte der Geist von Oliver Grant, der ein paar Augenblicke brauchte, um zu begreifen, dass er im Moment gegen seinen Willen für alle sichtbar war.
„Ich möchte ungern mit weißmagischen Mitteln gegen Sie vorgehen müssen, Mister Grant. Also halten Sie sich in Zukunft vom Schulgebäude fern.“
„Ja, Sir.“
„Ihre Verdienste um diese Schule sind unbestritten. Schließlich haben Sie damals Ihr Erbe den Rittern vom Heiligen Licht vermacht. Aber meine Geduld ist nun zu Ende. Wenn Sie den Unterricht stören, muss ich Maßnahmen ergreifen!“
Der Geist verbeugte sich und stolperte davon. „Die schreckliche Langeweile! Ihr müsst mich verstehen...“
„Nein, dass verstehe ich keineswegs“, widersprach Galway. „Schließlich machen wir das alles hier nicht zum Spaß, sondern um den Mächten der Finsternis zu widerstehen. Das sollten Sie doch verstehen können, Mister Grant! Oder haben Sie nicht Ihren einzigen Sohn damals bei der schlimmen Werwolf-Plage von 1685 verloren?“
Der Geist lief auf die Wand zu und verschwand dann darin. Er lief einfach weiter und man sah für ein paar Augenblicke noch den Stein in eigenartiger Weise schimmern. „Lebt wohl!“, rief eine Stimme, von der sich Brian nicht ganz sicher war, ob er sie tatsächlich hörte oder diese Worte nur in seinem Kopf gesprochen wurden.
Mister Galway wandte sich nun zu den Schülern.
„Wie ihr seht, ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Panik. Jeder, der diese Schule besucht, sollte in den ersten Tagen schon gelernt haben, dass hier nicht alles so ist, wie er es vielleicht von zu Hause her erwarten würde...“ Galway machte eine weit ausholende Armbewegung, die offenbar Rebecca und Brian galt. „Es spricht nichts dagegen, den Unterricht jetzt fortzusetzen, aber zuvor möchte ich noch Rebecca McKee und Brian Hunter vorstellen, zwei neue Schüler an der Mystic High School von Saint Morn!“
„Hi“, sagte Rebecca etwas schüchtern.
Brian nickte nur knapp.
Der dunkelhaarige Rick trat einen Schritt vor und deutete in seine Richtung. „Ist das vielleicht der Typ, der auf mein Zimmer kommen soll?“
„Ganz genau“, nickte Mister Galway. „Wir hatten ja darüber gesprochen.“ Der Schulleiter wandte sich an Brian und sagte: „Dies ist Rick Sabano aus Los Angeles.“
„Freut mich“, meinte Brian etwas verhalten.
„Ich hoffe, ihr kommt miteinander klar“, fügte Mister Galway in einem Tonfall hinzu, der deutlich machte, dass ohnehin nichts anderes duldete und in so fern keiner der Beteiligten irgendeine Wahl hatte.
„Ich bin sehr tolerant und komme mit jedem gut klar“, behauptete Rick. „Allerdings kann ich Leute nicht leiden, die ihre tote Verwandtschaft andauernd in Form von nervigen Geistern im Schlepptau hat.“
Brian zuckte mit den Schultern. „Kein Problem. Ich pflege keinen Kontakt zur Geisterwelt und halte auch nichts von Seancen und solchen Dingen.“
Rick seufzte. „Das sind meistens die Schlimmsten.“
„Wieso?“
„Weil die Totengeister hinter denen am meisten hinterher sind, die sie missachten. Da bilden sich dann manchmal regelrechte Geister-Aufläufe, und das liegt dann nur daran, weil der Betreffende einfach nicht mit den armen Toten sprechen will...“
„Ach, ja?“
„Naja, ich hoffe es werden bei dir nicht noch mehr als im Moment...“
„Noch mehr als im Moment?“ Brian runzelte die Stirn. „Was soll das denn heißen?“ Unwillkürlich drehte sich Brian um und schalt sich dann einen Narren. Der will mich doch nur auf den Arm nehmen!, ging es ihm durch den Kopf.
„Naja, da sind ein paar Geister, die dich andauernd verfolgen, aber ich hoffe, dass du den Rest deines Anhangs in New York gelassen hast...“
„Ich wusste gar nicht, dass ich dir erzählt habe, dass ich aus New York komme“, runzelte Brian die Stirn. Er fühlte sich jetzt doch ein wenig unbehaglich.
„Nein, hast du auch nicht. Das hat einer der Geister getan, die immer in deiner Nähe herumhängen. Sorry, ich sollte dir das bei Gelegenheit vielleicht mal etwas genauer erklären...“
„Aber nicht jetzt!“, schritt jetzt die mondgesichtige Mrs. Monroe ein. „Durch diese Störung durch den Geist von Oliver Grant haben wir wertvolle Unterrichtszeit verloren, die wir bis zum Ende des Schuljahres dann irgendwie wieder aufholen müssen...“
Die Schüler gingen etwas widerstrebend in die Klasse zurück.
Am Rande hatte Brian mitbekommen, wie Mister Galway Rebecca auch ihrer Zimmerpartnerin vorgestellt hatte. Sie hieß Nora Baily, war rotblond und trug ein verschlungenes Zeichen mitten auf der Stirn. Jedenfalls glaubte Brian das im ersten Moment. Als er dann noch einmal flüchtig zu ihr hinübersah, war das Zeichen anscheinend nicht mehr da und Brian glaubte einen Augenblick lang, dass er sich getäuscht hätte.
„Du hast dich nicht getäuscht“, erklärte sie, fast so als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Es war nicht möglich, weiter darüber zu sprechen, denn nun zeigte sich die mondgesichtige Mrs. Monroe von ihrer energischen Seite. „Schluss jetzt! Keine Endlos-Gespräche mehr auf dem Flur! Der Unterricht geht weiter und ich schlage vor, die beiden Neuen nehmen an dieser Stunde gleich teil! Es geht nämlich um ein sehr wichtiges Thema!“
„Das sagt sie von jedem Thema“, meinte Rick Sabano und begab sich nun ebenfalls in den Klassenraum.
„Wir müssen erst noch unsere Sachen...“, begann Rebecca, aber Mister Galway schnitt ihr sogleich das Wort ab. „Los, geht nur! Eure Zimmer könnt ihr auch noch nachher beziehen und was eure Sachen angeht, so sind die im Flur gut aufgehoben, wie ich euch ja bereits gesagt habe...“
„Tja, Pech gehabt, da gibt's wohl keinen Aufschub mehr“, grinste Brian Rebecca an.
„Einen Versuch war es wert“, meinte sie.
Im Klassenraum mussten sich die Neuen auf die freien Plätze setzen. „Eure Mitschüler werdet ihr sicher im Laufe der Zeit näher kennen lernen, aber das braucht nicht hier im Unterricht zu geschehen“, erklärte Mrs. Monroe. „Wie ich ja schon mal gesagt habe, ist die Zeit, in denen ich euch die Grundlage der Geschichte der Weißen Magie nahebringen kann, einfach zu wertvoll, um sie mit irgend etwas anderem zu verbringen als mit dem was vom Stoffplan her vorgesehen ist, Und dieser Plan ist - wie soll ich mich da angemessen ausdrücken, ohne hochnäsig zu wirken? - durchaus anspruchsvoll, wenn ihr versteht, was ich damit meine.“
Ein Seufzen ging durch die Klasse.
Offenbar konnten sich alle Anwesenden außer vielleicht Rebecca und Brian sehr gut vorstellen, was Mrs. Monroe damit meinte.
Der Zufall wollte es, dass Brian neben einem Jungen mit dicker Brille saß, der auch während Mrs. Monroes ermahnender Worte sich nicht davon abhalten ließ, in einem dicken Buch zu lesen. Brian warf einen Blick auf die Seiten, die mit eigenartigen Zeichen nur so gespickt waren. Magischen Zeichen, so schien es.
Wahrscheinlich ein ätzender Streber!, dachte Brian.
Er war sich noch nicht einmal sicher, ob er den Kerl eigentlich draußen auf dem Flur gesehen hatte, als sich Rick Sabano so heftig über den Spuk eines Geistes aufgeregt hatte, der angeblich die Seele von Oliver Grant war, der hier vor über dreihundert Jahren gelebt hatte.
„Wie heißt du?“, flüsterte Brian.
Der Brillenträger gab ihm erst keine Antwort, schien Brian auch gar nicht weiter zu bemerken, sondern stattdessen vollkommen in seine Lektüre vertieft zu sein. Dabei murmelte er ein paar Worte, die ziemlich seltsam klangen. Wie Zauberformeln oder etwas Vergleichbares. Vielleicht aber auch nur einfach irgendein ganz banaler Satz in einer fremden Sprache, die Brian nicht kannte. Naja, Spanisch ist das jedenfalls nicht!, ging es ihm nachdenklich durch den Kopf.
Er stieß seinen Nachbarn an und wiederholte seine Frage.
Jetzt endlich schien der Kerl mit der dicken Brille ihn überhaupt erst zur Kenntnis zu nehmen.
Ein Ruck ging durch seinen Körper, fast so als hätte man ihn bei irgend etwas Verbotenem erwischt. „Alec Murphy heiße ich - was willst du denn?“, flüsterte er.
Mrs. Monroe hatte inzwischen Brian und den Jungen mit der dicken Brille als Quelle von aufkommender Unruhe ausgemacht. „Es wäre freundlich, wenn ich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller hier im Raum hätte“, sagte er sie und dabei betonte sie das Wort aller auf eine Weise, wie Brian das auch von Lehrerinnen an anderen Schulen kannte, auf die er schon gegangen war.
Alec Murphy begann leise vor sich hinzumurmeln. Er flüsterte beinahe, schaute aber jetzt nicht in das Buch. Seine Augen veränderten sich dabei. Es blitzte plötzlich ein Licht darin auf.
Mrs. Monroe hatte sich bereits zur Tafel umgedreht. „Du solltest nicht versuchen, dein Gehör magisch abzudämpfen, damit du meine Stimme nicht mehr hörst und ich dich weniger beim Lesen störe, Alec!“, sagte Mrs. Monroe, ohne sich dabei umzudrehen.
Alec war sichtlich verdutzt. Das Leuchten in seinen Augen verschwand. Mrs. Monroe begann damit, etwas an die Tafel zu schreiben. „Um deine Frage gleich zu beantworten, Alec: Nein, ich höre nicht so gut wie Mister Galway...“
„Aber...“
„...da du es immer wieder versuchst, ist es nicht schwer, vorauszusehen, was du als Nächstes versuchst. Abgesehen davon hast du doch schon mindestens die Hälfte der Bücher in unserer Bibliothek ausgelesen – du solltest dir vielleicht noch etwas für das nächste Schuljahr übrig lassen...“
Mrs. Monroe schrieb dann an die Tafel:
Franz von Borsody, geboren in Budapest 1814, gestorben in Wien 1913.
„Dieser Mann hat ein sehr wichtiges Buch geschrieben...“
„'Zeichen der geheimen Macht'!“, murmelte Alec Murphy vor sich hin und es war wohl zu vermuten, dass er es von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen hatte.
„Alec wird uns scher etwas darüber sagen können“, meinte Mrs. Monroe.
„Es enthält magische Kraftzeichen, mit denen man sich vor allen möglichen Kreaturen schützen kann. Aber man sollte sich nicht auf die erste Auflage verlassen, denn es enthält einige Fehler, die in der zweiten ausgemerzt wurden...“
„So, so...“ sagte Mrs. Monroe stirnrunzelnd.
Brian dachte im ersten Moment: Typisch! Lehrerinnen können es meistens schlecht leiden, wenn ein Schüler mehr weiß als sie selbst. Aber der Grund von Mrs. Monroes Stirnrunzeln hatte noch einen anderen Grund, den er erst später erfahren sollte...
„Ihr mögt vieles über so genannte Schwarze oder Weiße Magie gehört haben. Vergesst am besten das meiste davon. Weiße Magie wurde im Sinn einer gezielten Anwendung von übersinnlichen Kräften von dem österreichisch-ungarischen Geisterseher und Okkultisten Franz von Borsody erfunden, um ein Wesen zu bekämpfen, das er einen Dämon nannte. Ein gehörntes, namenloses Wesen, das immer wieder versucht in unserer Welt zu erscheinen und und die Herrschaft zu ergreifen. Dazu beeinflusst es Menschen, Tiere und Wesen, von denen viele gar nicht ahnen, dass es sie auf der Welt gibt... Häufig beginnen diejenigen, die unter dem Einfluss des Gehörnten stehen, sich zu verändern. Manchmal wechseln sie zeitweise sogar die Gestalt...“
„So wie Werwölfe?“, fragte Brian.
Mrs. Monroe nickte etwas überrascht.
„Ja, das trifft zu. Viele Legenden über Werwölfe haben wahrscheinlich diesen Hintergrund“, bestätigte sie.
Nach dem Unterricht traf Brian erneut mit Rebecca zusammen, die sich im Schlepptau von Nora Baily befand. Wieder sah Brian das Zeichen auf Noras Stirn – und diesmal verschwand es auch nicht so schnell, wie bei ihrer ersten Begegnung.
„Das ist ein Druidenzeichen“, sagte Nora, noch bevor Brian sie danach fragen konnte. „Ich komme aus Irland. Dass du dieses Zeichen sehen kannst, hängt damit zusammen, dass du offenbar ein starkes übersinnliches Talent besitzt...“
„Ach so...“, murmelte Brian. „Und – welchen Zweck hat dieses Zeichen?“
„In Irland wurden immer schon übersinnlich Talentierte mit einem solchen Zeichen gezeichnet, damit sie sich untereinander erkennen konnten. Am besten, du störst dich nicht weiter daran. Und wenn du nicht allzu konzentrierst hinsiehst, ist es auch verschwunden – nur für den Fall, dass du es hässlich findest.“
„Nein, nein, es sieht cool aus.“
Rebecca und Nora gingen davon, um Rebeccas Sachen aufs Zimmer zu bringen.
Brian bekam durch die offene Tür noch mit, wie Mrs. Monroe den Bücherwurm Alec Murphy zur Rede stellte.
„Woher weißt du von der zweite Auflage von Borsodys 'Zeichen der geheimen Macht`?“, fragte Mrs. Monroe. „Das einzige Exemplar, dass wir davon haben, steht im Geheimbereich der Bibliothek, zu die die Schüler gar keinen Zutritt haben.“
„Ach, wirklich?“
„Ja, wirklich!“
„Daran habe ich gerade wohl nicht gedacht“, meinte Alec kleinlaut. „Vielleicht habe ich ich auch einfach nur vertan oder Sie haben die zweite Auflage mal erwähnt...“
„Nein, ich ganz gewiss nicht!“
„Oder Mister Galway?“
„Das würde mich schon sehr wundern, denn er hat ja angeordnet, dass unser Exemplar der zweiten Auflage zunächst mal im geheimen Teil der Bibliothek bleibt, bis wir genauer untersucht haben, ob es nicht eine Fälschung ist!“
„Upss!“, meinte Alec.
„Weißt du, was ich glaube?“, fragte Mrs. Monroe. „Du hast dein magisches Wissen dazu benutzt, um irgendwie in den Geheimbereich der Bibliothek zu gelangen und da herumzustöbern!“
„Aber Mrs. Monroe, so was denken Sie von mir?“
„Ohne weiteres!“, gab die mondgesichtige Lehrerin im Fach Geschichte der Weißen Magie unumwunden zurück. „Ich möchte das ungern mit Mister Galway besprechen müssen – wenn der nicht inzwischen schon irgend etwas gehört hat. Und ich kann dir nur den guten Rat geben, dich vom geheimen Teil der Bibliothek fernzuhalten! Klar?“
Alec atmete tief durch.
„Klar!“, sagte er, aber selbst für Brian klang das alles andere als überzeugend. Vermutlich dachte der Junge mit der dicken Brille nicht im Traum daran, sich an die Anweisungen von Mrs. Monroe zu halten.
Dazu war er wohl einfach zu wissbegierig.
Und wer schon in aller Seelenruhe im Klassenzimmer sitzen blieb und sein Buch weiterlas, während ein unruhiger Totengeist herumspukte und den Unterricht ganz erheblich störte, der ließ sich wohl auch nicht von ein paar gut gemeinten Ratschlägen davon abhalten, im geheimen Teil der Bibliothek von Saint Morn herumzustöbern.
Einem Bereich, der wahrscheinlich sowieso der viel interessantere Teil war!, ging es Brian durch den Kopf.
Was danach zwischen Alec und Mrs. Monroe besprochen wurde, konnte er leider nicht mehr verstehen, denn jetzt knuffte ihm jemand in die Seite. Es war Rick Sabano.
„Na los, Mister Galway erwartet von mir, dass ich dich etwas herumführe und dir das Zimmer zeige, dass wir uns in nächster Zeit teilen werden. Und jetzt hätte ich etwas Zeit... Bevor wir zum essen gehen müssen...“
„In Ordnung“, antwortete Brian.
„Wo sind deine Sachen? Lass mich raten: Unten im Flur!“
„Genau.“
„Da braucht man kein übersinnliches Talent dazu, um das zu wissen. Mister Galway ändert sich eben nicht...“
„Und bei dir war es genauso?“
„Ja.“
„Wie lange bist du schon hier?“
„Ein paar Wochen. Die meisten Neuen kommen hier ja nicht zum Schuljahresbeginn, sondern irgendwann zwischendurch, sobald mit ihrem Stipendium, alles klar ist und diese ominösen Ritter des Heiligen Lichts zu dem Schluss kommen, dass dein Talent eben stark genug ist, um hier mithalten zu können...“
„Ja, so war es bei mir auch. Es hieß dann, ich sollte keine weitere Zeit verlieren und so schnell wie möglich nach Saint Morn wechseln.“
Sie gingen die Treppe hinunter.
Brians Tasche stand tatsächlich immer noch im Flur und Brian sah zuerst einmal kurz hinein, ob irgend etwas fehlte.
„Das ist Mister Galways erster Test: Hast du genug Vertrauen, um deine Tasche hier stehen zu lassen“, war Rick Sabano überzeugt. „Hier geht das – in Los Angeles wäre sie an jeder öffentlichen Schule längst weg gewesen.“
Brian nahm die Tasche über die Schulter. Dann brachte Rick ihn in den Westflügel, wo sich das Zimmer befand, das sie sich in Zukunft teilen mussten.
Die Einrichtung war einfach, aber zweckmäßig.
Für jeden ein Bett und ein Arbeitsplatz inklusive Laptop. „Alles, was man so braucht, um ein richtiger Streber zu werden!“, meinte Rick. „Aber ganz im ernst, es ist schon ganz in Ordnung hier. Bis auf das Wetter... Ich komme aus Los Angeles und das Surfen an der Westküste, die Sonne und so weiter. Das vermisse ich hier natürlich schon. Und außerdem habe ich das Gefühl, dass selbst die Totengeister hier eine schlechtere Laune haben, als in Kalifornien...“
„Du kannst sie wirklich sehen?“, fragte Brian, der das noch immer nicht so wirklich fassen konnte.
„Klar. Die Seelen ruheloser Toter umgeben uns andauernd. Sie sind überall. Manche sind sehr aufdringlich und man muss ihnen gegenüber ziemlich deutlich werden, um sie zu vertreiben und sich ein bisschen Privatsphäre zu bewahren...“
„Da bin ich aber wirklich froh, dass ich diese Fähigkeit nicht habe!“, gab Brian zurück.
Rick machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, es gibt Schlimmeres! Glaub mir! Mein Talent ist ja noch nicht mal besonders außergewöhnlich, wenn ich mir so ansehe, womit an dieser Schule andere geschlagen sind...“
„Wen meinst du zum Beispiel? Dieses Mädchen mit dem Zeichen auf der Stirn?“
„Die hätte auf einer normalen Schule bleiben sollen, dann würde das hässliche Ding ja niemand sehen“, glaubte Rick. „Naja, das muss ja jeder selbst wissen. Für mich ist diese Schule hier wahrscheinlich die letzte Rettung...“
„Bei dir auch?“, echote Brian.
„Weißt du, das mit der Geisterseherei hört sich für manche Leute ja recht witzig an, aber das ist es nicht, wie ich dir versichern kann. Allerdings hat es einen Vorteil: Man kann von den Toten eine Menge erfahren, wenn man weiß, wie man sie fragen muss, damit sie auch mit einem sprechen und sich nicht beleidigt abwenden! Und genau das ist mir beinahe zu Verhängnis geworden...“
Brian zuckte mit den Schultern, öffnete seine Tasche und fing damit an, seine wenigen Sachen in den freien Schrank zu räumen.
„Ganz einfach: In L.A. bin ich in eine Gang geraten, die mit Drogen gedealt hat. Und meine Aufgabe war es, immer herauszufinden, wann die Polizei gerade jemanden beobachtet und eine Razzia plant... Du glaubst ja gar nicht, wie viele Totengeister im Hauptgebäude des Police Departments herumlaufen! Naja, aber aus der Nummer bin ich raus...“
„Hast du schon einmal was über Werwölfe hier in der Gegend gehört?“, fragte Brian plötzlich.
„Meinst du das, was die Toten flüstern – oder etwas, was einem die Lehrer erzählen, von denen der eine oder andere auch schon gewisse Ähnlichkeiten mit einer Mumie hat?“
„Egal.“
Rick Sabanos Augen wurden schmal. „Das Thema hat dich vorhin im Unterricht schon besonders interessiert, nicht wahr?“
„Nachdem ich auf dem Weg hier her einen Werwolf-Angriff überstehen musste, ist das doch vielleicht verständlich, oder?“
Rick Sabano sah Brian ziemlich fassungslos an. „Ist das jetzt dein Ernst, oder wolltest du nur mal sehen, wie ich dumm aus der Wäsche schaue“, fragte er dann.
„Es ist mein Ernst.“