Sommergrollen & Sterbeläuten - Helen Endemann - E-Book

Sommergrollen & Sterbeläuten E-Book

Helen Endemann

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Beschreibung

Ein Dorf mit tödlichen Geheimnissen – ein Pfarrer auf der Suche nach der Wahrheit … SOMMERGROLLEN: Die Ordnung in der kleinen Gemeinde Sulzbach wird erschüttert, als der Patriarch der angesehenen Familie Dornbusch zu Tode kommt. Doch nur der idealistische Dorfpfarrer Henry scheint echtes Interesse zu haben, das Verbrechen aufzuklären. Er weiß nur zu gut um das schwierige Verhältnis zwischen dem Toten und seinem Erben – aber würde Christian Dornbusch seinen eigenen Vater ermorden? STERBELÄUTEN: Zunächst vermutet niemand ein Verbrechen, als eine betagte Dame tot in ihrer Sulzbacher Wohnung aufgefunden wird. Aber ist das geschätzte Gemeindemitglied wirklich friedlich entschlafen – oder das Opfer eines perfiden Spiels? Gleichzeitig sorgt eine rätselhafte Einbruchserie für Unruhe in dem beschaulichen Dorf: Als wertvollen Akten aus der Dorfkirche entwendet werden, erahnt einzig Pfarrer Henry die wahren Motive der Täter … Die ersten zwei Bände der Taunus-Krimireihe »Ein Fall für Pfarrer Henry« für alle Fans von Wolfgang Burger und Andreas Föhr. Im dritten Band, »Totenklage«, wird bei einer Kirchenfeier eine nackte Frauenleiche im Park gefunden. Sie führt Pfarrer Henry in die dunkle Vergangenheit seiner Gemeinde …

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Seitenzahl: 640

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Über dieses Buch:

SOMMERGROLLEN: Die Ordnung in der kleinen Gemeinde Sulzbach wird erschüttert, als der Patriarch der angesehenen Familie Dornbusch zu Tode kommt. Doch nur der idealistische Dorfpfarrer Henry scheint echtes Interesse zu haben, das Verbrechen aufzuklären. Er weiß nur zu gut um das schwierige Verhältnis zwischen dem Toten und seinem Erben – aber würde Christian Dornbusch seinen eigenen Vater ermorden?

STERBELÄUTEN: Zunächst vermutet niemand ein Verbrechen, als eine betagte Dame tot in ihrer Sulzbacher Wohnung aufgefunden wird. Aber ist das geschätzte Gemeindemitglied wirklich friedlich entschlafen – oder das Opfer eines perfiden Spiels? Gleichzeitig sorgt eine rätselhafte Einbruchserie für Unruhe in dem beschaulichen Dorf: Als wertvollen Akten aus der Dorfkirche entwendet werden, erahnt einzig Pfarrer Henry die wahren Motive der Täter …

Über die Autorin:

Helen Endemann, geboren 1970 in Frankfurt am Main, studierte Jura in Passau, Helsinki und Heidelberg. Sie war 20 Jahre für verschiedene Unternehmen im Deutsche Bahn Konzern tätig und arbeitet heute als Rechtsanwältin. Ihr erstes Buch erschien 2013. Sie ist Mutter von drei Kindern und mit einem evangelischen Pfarrer verheiratet.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Krimi-Reihe rund um den Sulzbacher Pfarrer Henry: »Sommergrollen«, »Sterbeläuten« und »Totenklage«.

Die Website der Autorin: www.helenendemann.jimdofree.com

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Sammelband-Originalausgabe Oktober 2024

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Die Originalausgabe von »Sommergrollen« erschien erstmals 2014 bei Röschen Verlag, Frankfurt/Main; Copyright © 2014 by Röschen Verlag, Johanna-Kirchner-Straße 20, D-60488 Frankfurt/Main. Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München.

Die Originalausgabe von »Sterbeläuten« erschien erstmals 2013 bei Röschen Verlag, Frankfurt/Main; Copyright © 2013 by Röschen Verlag, Johanna-Kirchner-Straße 20, D-60488 Frankfurt/Main. Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-497-2

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Helen Endemann

Sommergrollen & Sterbeläuten

Zwei Krimis in einem eBook

dotbooks.

Sommergrollen

Schon seit Generationen hat die wohlhabende Familie Dornbusch im kleinen Ort Sulzbach im Taunus das Sagen. Doch nun wird die dörfliche Ordnung erschüttert, als der Patriarch Heinrich Dornbusch zu Tode kommt. Niemand scheint echtes Interesse zu haben, das Verbrechen aufzuklären – außer dem idealistischen Pfarrer der Gemeinde. Henry weiß nur zu gut um das schwierige Verhältnis zwischen dem Toten und seinem Erben, der plötzlich alle Fäden in der Hand hält, um ein umstrittenes Bauprojekt zu verwirklichen. Aber würde Christian Dornbusch wirklich seinen eigenen Vater umbringen lassen? Als es in einer Gewitternacht zu einem weiteren Todesfall kommt, muss Henry zu seiner Bestürzung erkennen, dass der Mörder ihnen allen viel näher ist, als sie gedacht hätten – denn er kann nur aus der Mitte der Dorfgemeinschaft stammen …

Kapitel 1

Wenn ich den Fuß aus deinem Haus setze, fällt die Sehnsucht über mich wie ein Mantel. Er hüllt mich ein und begleitet mich auf Schritt und Tritt. Er schmiegt sich an meine Haut, wenn ich gehe, wenn ich stehe, wenn ich sitze. Wenn ich mich abends ausziehe und schlafen lege, spüre ich noch seinen kühlen Stoff auf meiner Haut. Wenn ich morgens aufstehe, ist er schon um mich. Geduldig schaut er meinem Tagwerk zu, hört er mit, wenn ich Belanglosigkeiten austausche, mit belanglosen Menschen. Nichts dringt durch diesen Mantel in mein Inneres. Ich bewege mich inmitten von Menschen und bin doch ganz allein und denke nur an dich. Nur, wenn ich mit dir sein kann, fällt der Mantel von mir ab. Du kannst mich sehen, wie ich bin. Vor dir bin ich nackt. Du siehst mir bis ins Herz, viel weiter und tiefer, als ich selbst mich sehen kann. Und ich bin voller Scham, und doch kann ich nur in deiner Nähe ganz und gar ich sein, kann ich nur in deiner Nähe sein. Kann sonst nicht sein.

Auf einer Skala von eins bis zehn gab Henry dieser Beerdigung eine Drei. Er sah sich im barocken Schiff seiner Kirche um. Alle Bänke waren besetzt. Durch hohe Fenster schien die Sonne. Staubkörnchen tanzten in der Luft, vibrierten in den letzten Klängen der Orgel, die sich unter das Rascheln, Raunen und Flüstern in den Kirchenbänken mischten und verstummten. Eine Zehn bekamen die Kinder.

Henry stand auf und trat ans Rednerpult.

Neun bis sieben waren für junge Eltern, die kleine Kinder hinterließen, die dann blass und fassungslos vor Henry in der Bank saßen oder bei einem Babysitter zu Hause, damit ihnen der Horror erspart bliebe, den Sarg mit der Mutter oder dem Vater in der Erde verschwinden zu sehen.

Henry warf einen Blick auf seine Zettel, vergewisserte sich, dass sie alle da und in der richtigen Reihenfolge waren. Dann sah er auf und in die erwartungsvollen Gesichter der Trauergemeinde.

Sie leuchteten wie helle Flecken in einem Meer von schwarzen Anzügen, Blusen, Kostümen. Die volle Kirche stand im Widerspruch zur Zahl der Angehörigen, die der Verstorbene hinterließ: eine Schwester von 83 Jahren und einen erwachsenen Sohn, der abwesend war. Die Schwester, Bärbel Knapp, saß mit einem verkrumpelten Taschentuch in der Hand in der ersten Reihe, umringt von der »Friedhofs-Gang«. Zur Friedhofs-Gang gehörten außer Bärbel Knapp noch Lia Rinser, Gertrud Panke, Hans Schlesinger und Alfred Schröck, zusammen über vierhundert Jahre alt. Die fünf sah man täglich auf dem Friedhof zusammensitzen. Alle hatten Gräber, die sie besuchten und pflegten. Hinterher schwätzten sie miteinander. Sie waren außerdem treue Besucher von Henrys Beerdigungen. Heute freilich hätte sowieso keiner von ihnen es sich nehmen lassen, Bärbel dabei beizustehen, wie sie als einzige Hinterbliebene ihrem Bruder Heinrich das letzte Geleit gab. Die Gemeinde wurde still.

Von sechs abwärts war die Einteilung nicht mehr so einfach. Egal wie alt der Verstorbene war, die Menschen, die ihn liebten, waren immer traurig. Und wenn nicht, dann war das traurig.

»Wir haben uns heute versammelt, um von Heinrich Wolfgang Dornbusch Abschied zu nehmen, der am vergangenen Dienstag im Alter von 76 Jahren gestorben ist«, begann Henry seine Ansprache. Heinrich Dornbusch war bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr Kirchenvorsteher in der evangelischen Kirchengemeinde in Sulzbach gewesen.

Er hatte dem Kreisbauernverband angehört und der Sulzbacher Gemeindevertretung.

Dornbuschs Engagement im Ort erklärte, warum die Trauerfeier so gut besucht war. Dornbusch war lange einer gewesen, an dem man in Sulzbach nicht vorbeikam. Er hatte kompromisslos seine Ansichten vertreten, häufig polarisiert, sich Freunde und Gegner gemacht; und Freunde wie Gegner waren heute gekommen.

Alle wollten den Abschied des alten Dornbusch aus dieser Welt miterleben. Ein Abschied, der manchen wie ein Abschied von einer ganzen Epoche schien. Von einer Zeit, in der man sich engagierte, in der Politik, im Verein. Einer Zeit, in der im Ort jeder jeden kannte. Es war ein Abschied, der auch Dornbuschs Gegner nicht kaltließ. Nicht dass Henry auf Feindschaften oder alte Streitigkeiten einging. Er bewegte sich, um Neutralität bedacht, in den Grenzen der allgemein bekannten Fakten. Über Persönliches sprach er nur knapp. Dass der Verstorbene zwei Ehefrauen und dann auch noch die eigene Tochter hatte zu Grabe tragen müssen.

Wovon Henry nicht sprach – was auch keinen etwas anging, gleichwohl jeder alteingesessene Sulzbacher wusste – war die Tatsache, dass der alte Dornbusch ein, gelinde gesagt, schwieriges Verhältnis zu seinen Kindern gehabt hatte. Die Tochter war gestorben, ohne dass es zu einer Versöhnung zwischen ihr und dem Vater gekommen war. Dass der Sohn nicht einmal zur Trauerfeier erschien, diente vielen als weiterer Beweis für den tiefen Bruch, der durch die Beziehung des Vaters zu seinen Kindern gegangen war. Aber solche Dinge gehörten nicht in eine Beerdigungsansprache.

Dabei waren es doch diese Dinge, die am Ende wichtig waren, dachte Henry plötzlich, nicht der Vereinsvorsitz hier und der Ehrentitel dort. Ging es nicht darum, das Leben des Verstorbenen mit Gottes Augen zu betrachten?

Henry wurde sich eines Raunens aus der Trauergemeinde bewusst. Er hatte wohl aufgehört zu sprechen. Verflixt, wann hatte er denn aufgehört? Er sah auf seine Zettel. Unmöglich zu sagen, wann und wo in seiner Ansprache er abgetaucht war. Immerhin war er schon beim letzten Blatt gewesen. Henry schwitzte unter seinem Talar. Unglaublich, wie stickig diese Kirche im Sommer werden konnte.

Wie hatte er sich so aus dem Konzept bringen lassen? Und das von einer Beerdigung, die auf der Henry’schen Härtegrad-Skala eine läppische Drei erreichte? Ein Mensch, der nach einem langen, erfüllten Leben starb. Die Angehörige traurig, aber nicht verzweifelt. Henry riss sich von den Blättern los und sah in die Gesichterflecken.

Was mussten sie von ihm halten? Erst stolperte er auf dem Dornbusch’schen Lebensweg entlang wie in einem Irrgarten, handelte die offiziellen Wegmarken ab, die man ihm erzählt hatte und die alle Anwesenden besser kannten als er. Nun hatte er den Faden ganz verloren. Bestenfalls hatten sie Mitleid mit ihm, schlimmstenfalls hielten sie ihn für einen Volltrottel. Ein Volltrottel, der seine Sterbefälle auf einer Skala von eins bis zehn sortierte. Gut, dass das wenigstens keiner wusste.

Henry beschloss, dass er alles gesagt hatte, was zu sagen war. Besser, die Rede hier zu beenden, als sich zu wiederholen oder etwas völlig Zusammenhangloses von sich zu geben.

»Den letzten Dingen können Worte oft nicht mehr gerecht werden. So wollen wir das Leben und das Sterben von Heinrich Wolfgang Dornbusch unserem Herrn Jesus Christus anbefehlen und um seinen Segen bitten«, schloss Henry seine Ansprache zum Erstaunen der Gemeinde.

»Na, was wird jetzt aus dem Heinrich seinen Äckern?«, sprach Egon Reichenbach aus, was alle dachten. Die Trauerfeier war überstanden. Im Alten Schulhaus, der Gaststätte auf dem Kirchplatz, schwitzten die Kuchenstücke mit den Gästen um die Wette. Wespen umschwirrten Kuchenstücke und Gäste. Junge Mädchen schleppten immer wieder schwere Thermoskannen mit dampfend heißem Kaffee an die Tische. Es war Juni und schon hochsommerlich warm. Am Stammtisch hatten sich die Sulzbacher Bauern zusammengefunden.

»Weiß der Kuckuck, was da jetzt draus wird«, sagte Holger Fitz, von den Alteingesessenen »der Tann-Fitz« genannt. Er betrieb seit Jahrzehnten eine Baumschule für Fichten und Tannen, die halb Sulzbach alljährlich mit Weihnachtsbäumen versorgte.

»Der Junior ist anscheints noch am Leben«, sagte Bolt, der – obwohl schon seit über fünfzig Jahren Landwirt in Sulzbach – ein Außenseiter in der Runde war, »der Pfarrer hat nur von der Tochter gesprochen, die tot ist.«

Darauf sagte niemand etwas. Die anderen Bauern schienen fast ein bisschen von Bolt wegzurücken. Das hatte man hier nicht gern, wenn die Zugezogenen sich in Dorfinterna einmischten, gar schmutzige Wäsche der Alteingesessenen in der Öffentlichkeit waschen wollten.

Dornbusch hatte in Sulzbach zuletzt zwei Äcker besessen, die er aber schon seit Jahren nicht mehr selbst bewirtschaftete. Die Äcker waren verpachtet. Dann war da noch ein großes Grundstück inmitten des Flickenteppichs, der den Sulzbacher Außenbezirk bildete. Auf dem Grundstück befand sich ein altes Lagerhaus, in dem Dornbusch früher seine landwirtschaftlichen Geräte und seine nicht unbeträchtlichen Ernteerzeugnisse zwischengelagert hatte. Nachdem Dornbusch aber einen Acker nach dem anderen als Bauland verkauft und den eigenen Betrieb schließlich eingestellt hatte, war die Halle nicht mehr genutzt worden und verfiel.

»Landwirtschaft wird der Junior mit den Grundstücken jedenfalls nicht betreiben«, meldete sich schließlich Anton Kirchner zu Wort, »so viel ist schon mal sicher.« Die anderen nickten zustimmend. Der Dornbusch-Junior war als junger Mann nach Amerika ausgewandert. Zwanzig Jahre war das sicher her. Der Alte hatte kein Händchen mit seinen Kindern gehabt, beide waren, so schnell sie konnten, ausgezogen und seitdem kaum mehr gesehen worden. Die Tochter war ja dann gestorben. Der Junior hatte es zu etwas gebracht. Er war, wie man munkelte, ein erfolgreicher Geschäftsmann. Mitte vierzig musste er wohl sein. Für die angrenzenden Nachbarn und für die, die wenig Land hatten und immer auf Pachtgrundstücke aus waren, war es von großem Interesse, was der Junior mit seinem Erbe vorhatte, wenn er denn Erbe war. Dem alten Dornbusch wäre es zuzutrauen gewesen, dass er den abtrünnigen Sohnemann enterbt hätte. Oder auch nicht.

»Mir kann´ s egal sein«, dachte Kirchner bei sich. Er hatte seine Schäflein im Trockenen mit den Doppelhaushälften, die er auf seinen ehemaligen Äckern bauen würde und für die er gerade die Baugenehmigung erhalten hatte. Sie würden in einer neu anzulegenden, ruhigen Stichstraße am Ortsrand stehen und malerisch über einen Hügel blicken, der sanft zum Sulzbach hin abfiel, an dessen Ufer sich Weiden mit ihrer zartgrünen Blätterpracht im Wind wiegten. Ein romantischer Glanz kam in Kirchners Augen. Teufel auch, er würde glatt selbst dort einziehen! Trotz der ländlichen Idylle waren es von den Häusern nur wenige Gehminuten in die Ortsmitte und zum S-Bahnhof, eine ideale Lage eben. Die Doppelhaushälften wollte er für 380.000 Euro das Stück, zuzüglich Maklergebühren, anbieten, und er war sich sicher, dass sie weggehen würden wie warme Semmeln. Der Vertrag mit der Baufirma aus dem Osten war auch schon unter Dach und Fach. Die Firma würde sämtliche Arbeiten koordinieren und die jeweils benötigten Arbeiter und Handwerker selbst mitbringen. Die armen Hunde würden jeden Montag aus Sachsen mit dem Bus kommen und die Woche über in den Baucontainern nächtigen, um freitags um zwei wieder in den Bus nach Hause zu steigen. Das war nicht nur billig, sondern garantierte Kirchner auch eine zügige Fertigstellung der Häuser, wie er hoffte. Vor Ort würde man freilich saure Gesichter machen, wenn herauskam, dass nicht ein Auftrag an die Handwerker am Ort gehen würde, das war klar. Aber das war die Bedingung des Sachsen gewesen. Und es war doch so: Die verwöhnten Bürschchen im Speckgürtel des Main- und Hoch-Taunus-Kreises konnte kein Geschäftsmann, der noch bei Trost war, bezahlen; jedenfalls nicht, wenn bei der Sache auch ein Gewinn herauskommen sollte. Kirchner zog sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich die Stirn. Sie würden sich schon wieder beruhigen.

Auf dem kurzen Weg vom Alten Schulhaus nach Hause traf Henry Thomas, den Küster und Hausmeister, der gerade die Kirche abschloss. Kirche, Pfarrhaus und Gemeindehaus standen in Sulzbach nahe beieinander, dazwischen lag ein großer Hof, in dessen Mitte eine große, wenn auch etwas ramponierte Platane stand. Im ersten Stock des Gemeindehauses war der evangelische Kindergarten. Der Hof wurde durch ein großes schmiedeeisernes Tor abgeschlossen. Hinter der Kirche, auf dem Gelände des ehemaligen Friedhofs, lag der Kindergartenspielplatz, beschattet von einer großen alten Kastanie, die noch nie eine ihrer stacheligen Früchte auf den Kopf eines Kindes hatte fallen lassen, obwohl die Dinger im Herbst mit lautem Ploppen herunterregneten. An den Spielplatz grenzte der Garten des Pfarrhauses, der von einer großen alten Mauer umgeben war, die vielleicht zur alten Stadtmauer gehörte. Thomas wohnte mit seinen Kindern im dritten Stock des Gemeindehauses. Kurze Arbeitswege hatten Thomas und Henry, und Henry wunderte sich, wie oft sie sich kreuzten, vor allem wenn Thomas das wollte. Oder wenn Henry gerade gar keine Lust dazu hatte.

»Alles klar?«, brummte Thomas.

»Wieso nicht?«, antwortete Henry.

»So, so.«

Henry ging erleichtert weiter. Thomas war eigen. Er hatte vor einigen Jahren seine Frau verloren und lebte seitdem allein mit seinen Kindern, Miriam und Samuel. Er ging nicht gerne aus und hatte im Verlauf der Jahre jeden Ehrgeiz verloren, Smalltalk zu machen. Er kam ohne Umschweife zur Sache. Henry war nicht selten überfordert, wenn er Thomas zwischen Tür und Angel oder eben zwischen Kirche und Pfarrhaus über das Ewige Leben, den Heiligen Geist oder die Sünde gegen denselben Rede und Antwort stehen sollte. Aber heute hatte er wohl nichts auf dem Herzen gehabt. Henry hängte seinen Talar über den Bügel. Gesangbuch und Bibel stellte er an ihren Platz ins Regal. Er betrachtete den abgegriffenen Einband des Gesangbuchs, das ihm seine Mutter zur Konfirmation geschenkt hatte. Hatte die Beerdigung ihn so aus dem Konzept gebracht, weil er an seine Eltern dachte? Am Wochenende war er mit Elisabeth und den Kindern in Münster zu Besuch bei ihnen gewesen. Sein Vater war 76, seine Mutter 74. Henry war darüber erschrocken, wie alt besonders sein Vater ausgesehen hatte. Es war nicht nur das Aussehen. Der Vater war immer sehr bestimmend gewesen. Er erwartete viel von seinen fünf Kindern, und Henry hatte nie ganz aufgehört, es seinem Vater recht machen zu wollen. Auch wenn er ihm nicht den Gefallen getan hatte und Arzt geworden war, wie der Vater es wollte. Vielleicht gerade deshalb? Die Meinung seines Vaters war Henry jedenfalls wichtig. Bei größeren Entscheidungen dachte er, was wohl der Vater dazu sagen würde. Aber diesmal … Der Vater wirkte still und zurückgezogen. Zu Henrys und Elisabeths Überlegungen, welches Auto ihre altersschwache Familienkutsche ersetzen sollte, hatte er nur die immer schmaler werdenden Schultern gezuckt. Henry werde das schon richtig entscheiden. So sehr er manches Mal unter dem Willen und der Dominanz seines Vaters gelitten hatte, das war Henry nun auch nicht recht. Er dachte daran, wie es sein musste, irgendwann keine Eltern mehr zu haben. Sein Platz in der Welt war doch gut und richtig, so wie es war. Dort waren die Eltern, hier war er, da die eigenen Kinder. Was, wenn die Eltern nicht mehr sein würden? Alles geriete aus dem Gleichgewicht. Henry sah auf die Zettel mit den Stichpunkten seiner Ansprache, die er nicht zu Ende gebracht hatte, und die nun durcheinander auf seinem Schreibtisch lagen. Er warf sie in den Papierkorb.

Markus und Lukas Steinhaus und Samuel Uhrig, der Sohn des Küsters und beste Freund der Zwillinge, machten am Nachmittag eine Radtour durch die Felder. Sie fuhren zu einem entfernten Spielplatz jenseits der Autobahn. Der Spielplatz lag idyllisch in einem Park, durch den der Sulzbach floss, wurde von den Jungen aber links liegen gelassen. Sie waren zu alt für Spielplätze. Aber am Bach wuchsen Weiden, auf denen die Jungen wie Affen herumkletterten. Danach war ihnen heiß und sie kühlten ihre nackten Füße und Waden im Bach. Da fiel ihnen auf, dass das Bachbett ganz offensichtlich einiger Korrekturen bedurfte, und Markus, Lukas und Samuel nahmen sich dessen an. Sie bauten Dämme und gruben mit bloßen Händen kleine Nebenarme und Auffangbecken.

Auf dem Rückweg durch den Tunnel unter der Autobahn spuckten sie in den einbetonierten Sulzbach und gruselten sich, während über ihnen die Autos hinwegdonnerten. Hier sollte mal jemand ermordet worden sein, ein Kind. Hatte jemand erzählt, den keiner mehr kannte. Im Bachbett hätte es gelegen, wollte Samuel wissen. Er hörte viele Geschichten, wenn er zum Kuchenessen an den Seniorennachmittagen ging, die sein Vater leitete. Nicht alle waren für Kinderohren gedacht.

Jetzt traten sie wieder in die Pedalen und sausten auf den asphaltierten Wegen zwischen Feldern entlang, die vergeblich golden in der Abendsonne leuchteten, denn für solche Dinge haben zehnjährige Jungen keinen Sinn. Vor ihnen tauchte das verfallene Lagerhaus des alten Dornbusch auf, der letzte Woche gestorben war. Dort machten die Jungen halt. Sie hatten das Haus in diesem Sommer als Spielplatz entdeckt. Es war ihnen schon Burg, Piratenschiff und Schmuggler-Hauptquartier gewesen, und damit waren die Möglichkeiten dieses Hauses längst noch nicht ausgeschöpft. Die Kinder ließen ihre Fahrräder ins Gras fallen und betraten die Halle im Erdgeschoss durch eine Türöffnung, der die Tür abhanden gekommen war. Innen war es deutlich kühler und roch ganz eigenartig, nach Gras oder Heu.

»Ob der Dornbusch jetzt hier spukt?«, fragte Lukas in die Stille des verlassenen Hauses hinein.

»Warum ausgerechnet hier?«, fragte Samuel zurück. »Er hat doch auch ein Haus im Ort.«

»Da hat er es aber als Gespenst nicht so gemütlich wie hier, mit den Spinnweben und dem Wind, der nachts durch die zerbrochenen Scheiben heult«, malte sich Markus das Spuken des alten Dornbusch genüsslich aus. »Also, ich würde jedenfalls hier spuken, wenn ich der Dornbusch wäre.«

»Guck mal, da hat wieder einer Feuer gemacht.« Samuel zeigte auf die Überreste eines kleinen Lagerfeuers auf dem nackten Steinboden der Halle. Da lag auch noch etwas Reisig und Zeitungspapier. Manchmal übernachteten Obdachlose im alten Lagerhaus, so wohl auch vor kurzem.

»Alter, wir machen uns einen Joint!«, rief Markus.

»Wie denn?«, fragte Samuel.

»Ja, mit der Zeitung hier und den Zweigen. Und mit Gras! Das heißt doch so: Gras rauchen«, sagte Markus.

»Das ist gefährlich«, sagte Lukas.

»Ja, wenn man es zur Gewohnheit werden lässt«, belehrte ihn Markus, »klar, dann wird man süchtig und magert ab und beklaut seine Freunde, und wenn man nicht mehr rauchen darf, bepinkelt und bekotzt man sich, das habe ich im Fernsehen gesehen. Aber wir probieren ja nur mal. Außerdem ist das sicher nicht das richtige Gras, das man braucht.«

Markus war schon dabei, ein Büschel Gras draußen auszureißen, und rollte ihn dann mit dem Reisig in einem Stück Zeitungspapier ein.

»Und womit willst du es anzünden?« Lukas war nicht von der Gras-Raucherei überzeugt, wusste aber, dass es wenig Sinn hatte, Markus einen Plan auszureden, wenn dieser mal in Fahrt war.

»Wir haben doch unsere Notration«, antwortete Markus. »Da sind auch Streichhölzer dabei.«

Die Jungen hatten einen kleinen Koffer mit überlebenswichtigen Dingen wie Keksen, Kompass, Wasser, Schleudern (gegen Feinde), Comics und eben Streichhölzern im Lagerhaus deponiert. Für den Fall, dass man mal ganz schnell fliehen und untertauchen musste. Der Koffer war oben in einer kleinen Kammer unter dem Dach versteckt, weil es dort dunkel war und man schwer hochkam. Markus fing schon an, die Treppe zum Obergeschoss hinaufzulaufen. Die anderen folgten ihm. Vom ersten Stock brauchte man eine Leiter, um in die Kammer zu klettern. Die hatten sie in der Halle gefunden, nach oben geschleppt und hinter einem Mauervorsprung versteckt. Sie war aus grobem, unbehandeltem Holz, irgendwer hatte jedes Mal einen Splitter, wenn sie sie benutzt hatten.

»Helft mal mit!«, rief Markus jetzt, und Lukas und Samuel packten mit an. Zu dritt trugen sie die Leiter an die Öffnung der Dachkammer und stellten sie dort auf. Schweigend kletterten sie nacheinander hoch. Die Öffnung war eigentlich nur eine Luke, deren Tür nach oben aufgeklappt und an einem Haken an der Decke aufgehängt wurde. Die Jungen stemmten sie gemeinsam auf und hängten den Riegel mit seiner Öse in den Haken ein. In der Kammer roch es nach warmem Holz. Markus griff sich den Koffer. Er setzte sich auf den staubigen Boden, auf dem auch die Kinder nur gebückt stehen konnten.

»Alles noch an seinem Platz«, stellte Markus zufrieden fest. Er holte die Streichhölzer heraus und zündete eins an.

»Willst du den Joint hier rauchen?«, fragte Samuel.

»Ja, wieso denn nicht?«, antwortete Markus. »Dann müssen wir nicht nachher die Schachtel wieder hier hochbringen und in den Koffer tun.«

»Und wenn dir schlecht wird und du nicht wieder nach unten klettern kannst?«, fragte Lukas.

»Dann müsst ihr mich tragen«, sagte Markus vergnügt. Er hielt das Streichholz an die gefüllte Zeitungsrolle, die ein bisschen anfing zu glühen und dann wieder ausging.

»Du musst dran ziehen«, sagte Samuel.

»Wie ziehen?«, fragte Markus.

»Ja, mit dem Mund, wie bei einer Zigarette halt, die Luft einatmen.«

Markus hielt den »Joint« an den Mund und zog daran. Sofort musste er husten. Es brannte entsetzlich in seinem Hals, und er warf den »Joint« zu Boden. Samuel sprang auf, stieß sich den Kopf an der Decke und trat auf den »Joint« ein. Plötzlich tat es einen Schlag und es wurde stockdunkel. Augenblicklich waren alle still, bis Markus wieder husten musste.

»Was ist passiert?«, fragte Samuel.

»Die Luke ist zugefallen«, sagte Lukas. So baufällig das alte Lagerhaus war, in diese Kammer drang durch keine Ritze Licht. Die Jungen tasteten sich zur Luke hin und versuchten, sie aufzudrücken. Sie bewegte sich nicht.

»Vielleicht klemmt sie«, sagte Samuel.

»Wir müssen alle drei, so fest wir können, drücken.« Markus hustete.

»Aber vorsichtig, sonst fallen wir raus, wenn sie plötzlich aufgeht«, warnte Lukas.

Sie stemmten sich zu dritt gegen die Luke, aber sie gab nicht nach.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Lukas.

»Hat einer ein Handy mit?« Markus’ Stimme klang belegt, vielleicht vom Husten oder aus Angst.

»Nein«, kam es kleinlaut von Samuel und Lukas. Die Zwillinge besaßen kein Handy und Samuels lag auf seinem Schreibtisch im Kinderzimmer. Vater würde sauer sein, wenn Samuel zu spät nach Hause käme, er machte sich immer Sorgen.

»Mama wartet bestimmt schon auf uns«, sagte Lukas.

»Ja«, sagte Markus. »Leider hat sie keine Ahnung, wo wir sind.«

»Pst! Seid mal leise!« Samuel flüsterte.

»Was ist denn?« Lukas flüsterte jetzt auch. Markus hustete unterdrückt.

»Hört ihr das?«, fragte Samuel, »da ist jemand.«

Jetzt hörten Markus und Lukas die Schritte auch. Jemand kam die Treppe zum Obergeschoss hoch.

»Sollen wir rufen?«, flüsterte Lukas.

»Und wenn es ein Verbrecher ist?«, flüsterte Samuel zurück.

»Was denn für ein Verbrecher?« Markus hustete leise.

»Vielleicht hat er die Luke zugeworfen. Vielleicht hat er uns mit Absicht gefangen«, sagte Samuel.

»Dann weiß er auch, dass wir hier sind«, sagte Markus. »Los, wir rufen, das ist unsere einzige Chance.«

In diesem Moment hörten sie die Schritte ganz nahe herkommen und unmittelbar vor der Luke stehen bleiben. Etwas knirschte laut und im nächsten Moment wurde die Luke aufgerissen. Die Jungen schrien vor Schreck auf. Helles Licht drang in die Kammer, so dass der Mann zuerst nur als eine schwarze Gestalt im Licht zu sehen war.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte er.

»Nix«, sagte Markus. »Wir spielen.«

»Mit dem Feuer«, stellte der Mann fest.

»Nein, wir …« Markus sah auf den ausgetretenen »Joint« und es fiel ihm nichts wirklich Ehrenrettendes ein, zumal man den Rauch auch noch ziemlich gut riechen konnte. Zum Glück musste er wieder husten und war am Weiterreden gehindert.

»Und jetzt?«, fragte der Mann, den sie mittlerweile besser sehen konnten. Er war nicht sehr groß, aber schlank und drahtig, trug Jeans und ein helles Hemd. Er hatte schwarze volle Haare. Sein Kinn war irgendwie eckig. Er sah ein bisschen aus wie ein Nussknacker.

»Jetzt wollen wir nach Hause gehen«, sagte Lukas vorsichtig.

»Das halte ich für eine gute Idee.« Der Mann drehte sich um und ging ihnen voran nach unten. Vor der Lagerhalle blieb er stehen und sah schweigend zu, wie die Jungen auf ihre Fahrräder stiegen und davonfuhren.

Henry zog sich das T-Shirt über den Kopf und starrte seinen entblößten Bauch an. Er hob den Kopf und sah sich um, ob die Leute ihn anstarrten und lachten oder ihm angewiderte Blicke zuwarfen. Sein Bauch war kalkweiß. Er war so weiß, als hätte ihn jemand mit der gleichen fluoreszierenden Leuchtfarbe angemalt, aus denen die Gummiskelette waren, die im Kinderzimmer seiner Söhne im Dunkeln leuchteten. Und ihn trotzdem nicht davor bewahrten, barfuß auf Legosteine zu treten, wenn er nach den Jungen sehen wollte.

Die anderen Schwimmbadbesucher zeigten sich unbeeindruckt von Henrys Bauch. Er lehnte sich beruhigt auf seinem Handtuch zurück und lag nun auf die Ellbogen gestützt auf dem Rücken. Vielleicht würde sich das Bauchproblem im Verlauf dieses Nachmittages schon etwas entschärfen, denn die Sonne strahlte unermüdlich vom blauen Sommerhimmel. Henrys andere Sorge hinsichtlich des Schwimmbadbesuchs hatte sich schon bald nach Betreten des übervollen Freibades in Luft aufgelöst. Da war es um die Badehose gegangen. Als Henry seiner Frau Elisabeth erzählt hatte, dass er am kommenden Samstag mit der Vater-Kind-Gruppe ins Schwimmbad gehen müsse, war diese ein paar Tage später mit einer neuen Badehose vom Einkaufen zurückgekommen. Mit einer Frauenbadehose, wie Henry meinte. Nicht dass er vorher geahnt hätte, dass es so etwas wie Frauenbadehosen gab – was trugen sie neuerdings denn oben?, fragte er sich. Aber es war ganz eindeutig: Die Hose war aus langem wallenden Stoff, der überall mit großen roten Blumen und grünen Blättern bedruckt war.

»So was ziehe ich nicht an!«, erklärte Henry.

»Und was ziehst du an?«, hatte Elisabeth gefragt.

»Meine alte Badehose, natürlich.«

»Die habe ich weggeworfen.« Elisabeth sah ihn mit diesem Blick an, der sagte, ich hab vier Kinder, drei Schulkinder und einen Mann.

»Warum?«

»Weil sie ein Loch hatte, wie du sehr wohl weißt.«

»Lieber ein Loch als Blumen …«, versuchte Henry noch zu argumentieren, aber es half ja nichts.

Schon auf dem Weg zu den Schwimmbecken stellte Henry dann teils verwundert, teils erleichtert fest, dass diese langen Blumenbadehosen keineswegs nur von wenigen eingeschüchterten, blassbäuchigen Ehemännern getragen wurden, für die man einen eigenen Bereich eingerichtet hatte, ähnlich einem Hunde- oder FKK-Strand. Nein, sie hingen so ziemlich an jedem männlichen Becken unter 25 herab, ja sie wurden vielleicht sogar besonders häufig von muskulösen, braungebrannten Sechzehnjährigen getragen, von denen Henry einige als ehemalige Konfirmanden wiedererkannte. Woher wusste Elisabeth solche Dinge?, fragte er sich.

Markus und Lukas und ihre sechsjährige Schwester Marlene wären auch gerne mit Henry ins Schwimmbad gegangen. Aber da hatte er sich durchgesetzt.

»Das ist dienstlich«, hatte er erklärt. »Ich bin dort mit meiner Vater-Kind-Gruppe und da kann ich mich nicht um euch kümmern.«

»Warum denn kümmern?«, die Zwillinge waren entrüstet. »Wir haben Silber. Du brauchst dich um gar nichts zu kümmern. Wir fahren mit dir hin, dann schwimmen wir, und du kannst einen auf Vater-Kind machen, nur dass du kein Kind hast, und am Ende fahren wir wieder mit dir nach Hause. Wenn du willst, dann tun wir so, als ob wir dich gar nicht kennen«, wollte Markus seinen Vater beruhigen.

»Ich will nicht, dass ihr so tut, als ob ihr mich nicht kennt«, erwiderte Henry. »Ich will aber auch nicht auf Marlene aufpassen, die gerade erst das Seepferdchen hat, und ich will nicht mit euch über Pommes und Eis am Kiosk streiten, ich will nicht gerufen werden, weil ihr mir einen Salto vom Dreier zeigen wollt, und ich will nicht über die Lautsprecheranlage hören, dass die Rutsche geschlossen wird, weil gewisse Zwillinge mit Namen Markus und Lukas mit ihren Freunden versucht haben, als Doppeldecker-Sandwich herunterzurutschen.«

»Das war ein Mal, Papa, du bist unfair«, sagte Lukas, »diesmal machen wir nix, wir schwören es.«

Henry war hart geblieben.

Er dachte daran, dass im selben Sommer auch jemand Geschirrspülmittel von oben in die Rutsche geschüttet hatte. Die weißen Wolken waren über ganz Bad Soden geflogen. Im Schwimmbad hatte es ausgesehen, als läge Schnee im Hochsommer. Die Täterschaft dieses Streichs war nicht aufgeklärt worden, obwohl selbst Paul, der Dorfpolizist, damit befasst worden war. Er hatte unter anderem im Rewe nachfragen müssen, ob die Kassiererinnen sich an auffällige Kunden erinnerten, die Geschirrspülmittel kauften. Sie hatten sich allerdings an ihre überarbeiteten Stirnen getippt, wie Paul erzählte. Henry wollte nicht glauben, dass seine Söhne etwas damit zu tun hatten, und Paul hatte ihm dies auch nie auf den Kopf zugesagt, er war sich aber bis heute nicht sicher.

Jetzt kam Lars Meinert mit seiner elfjährigen Tochter Larissa auf das Handtuchlager zu, das die Mitglieder der Gruppe um Henry herum gebildet hatten. Sie waren tropfnass. Larissa trainierte für Gold, und es fehlten ihr noch die fünfzehn Meter Streckentauchen, die schaffte sie noch nicht. Lars hatte mit ihr zusammen geübt. Jetzt warfen sie sich auf die Handtücher und Larissa rubbelte ihre nassen Haare trocken.

»Warum gehst du nicht ins Wasser?«, wollte sie von Henry wissen, »es ist toll!«

»Ich gehe vielleicht gleich mal«, log Henry. Er hasste es, zwischen Horden von Kindern im überfüllten Becken zu schwimmen.

Sie saßen einige Zeit schweigend da und genossen die warmen Sonnenstrahlen.

»Meine Eltern wollen sich scheiden lassen«, sagte Larissa.

Henry machte einen komischen Fiepton, als er Luft holte. Lars sah gequält zur Seite. Larissa sah die Männer herausfordernd an, bis sich Tränen in ihren Augen sammelten, und sie aufstand und weglief. Lars lief ihr hinterher. Henry sah, wie er sie in einiger Entfernung einholte und auf sie einredete. Er kam sich blöd vor, wie er so untätig auf seinem Handtuch sitzen blieb, aber er wusste wirklich nicht, was er in diesem Moment tun sollte. Er sah, wie Larissa den Arm ihres Vaters abschüttelte und sich von ihm abwendete. Lars redete noch eine Weile auf ihren Rücken ein. Dann kam er langsam zu Henry zurück. Larissa setzte sich auf eine Mauer.

Lars ließ sich auf seinem Handtuch nieder. »Tja, jetzt weißt du es.«

Henry hatte schon lange gewusst, dass Lars´ Beziehung mit seiner Frau schwierig war. Lars hatte ihm am Rande der Vater-Kind-Treffen, zu denen er seit mehr als einem Jahr mit Larissa kam, von seinen Eheproblemen erzählt. Henry seufzte. Er hatte sehr gehofft und gebetet, dass es nicht zu einer Scheidung kommen würde.

Tatsächlich waren die Vater-Kind-Treffen ein Stein des Anstoßes für Lars´ Frau Ariane gewesen, wie Henry von Lars wusste. Sie nannte sie albern. Ob Lars denn keine eigenen Ideen hätte, was er mit Larissa unternehmen könnte. Und warum die Mütter ausgeschlossen sein sollten. Ob Lars jetzt anfangen würde, in die Kirche zu rennen. Aber da war Lars standhaft geblieben. Er hatte nach einem Weg gesucht, seine Beziehung zu Larissa zu vertiefen. Er hatte nach einem Platz für sich in Larissas Leben gesucht und das war nicht einfach gewesen. Als Larissa noch ein Baby war, war Ariane ganz klar die wichtigste, ja einzige Bezugsperson für Larissa gewesen. Sie allein konnte stillen, sie allein konnte richtig wickeln und sie allein wusste, was dem Baby fehlte, wenn es schrie. Da kam Lars nicht rein und nicht ran. Er machte alles falsch, brachte das Baby zum Weinen, zog ihm die falschen Sachen an, rührte die Milch zu heiß, zu kalt, zu dick oder zu dünn an. Lars hatte Henry erzählt, wie er manchmal auf Zehenspitzen um das Bettchen des schlafenden Babys geschlichen war, es bewundert und sich danach gesehnt hatte, diesem Kind irgendetwas geben zu können, was seine Liebe wenigstens ansatzweise ausdrücken könnte. Und er hatte sich gefragt, ob er für immer nur ein Bewunderer aus der Ferne im Leben seines Kindes bleiben würde.

Erst als Larissa schon drei war und in den Kindergarten ging, konnte Lars ihr Herz auch für sich erobern, mit Späßen, damit, dass er sie auf seinen Schultern trug, ihr geduldig ein ums andere Mal ihr langweiliges Lieblingsbuch vorlas oder stundenlang nachts an ihrem Bett saß, wenn sie krank war.

Das waren alles in allem gute Zeiten gewesen, auch wenn Lars sich in den Tobe-, Schmuse- oder Albermomenten manchmal von Ariane beäugt fühlte, als – ja, wie denn? Er wusste es nicht. Aber Larissa wurde älter, selbständiger und erwachsener. Das Tragen auf den Schultern wurde unmöglich und die Albernheiten konnten nicht mehr alles richten. Da war Lars auf die Vater-Kind-Gruppe gekommen. Sie bot einen Rahmen, in dem er etwas mit Larissa unternehmen und erleben konnte. Larissa fand Spaß daran, auch weil es noch andere Kinder in ihrem Alter gab und mit den Vätern immer etwas los war. Dass es sich dabei um eine kirchliche Veranstaltung handelte, so hätte Lars damals sicher gesagt, störte ihn nicht. Heute konnte es sogar schon mal vorkommen, dass Lars und Larissa einen Sonntagsgottesdienst besuchten, wenn Henry besonders charismatisch dafür geworben hatte.

»Ariane und ich haben uns gestern wieder gestritten«, erklärte Lars jetzt. »Ariane ist ständig gereizt. Ich kann machen, was ich will, nichts ist ihr recht. Immer hat sie etwas auszusetzen, an jeder Kleinigkeit. Es hat mir einfach gereicht. Ich habe sie gefragt, ob es auch irgendetwas gibt, das sie an mir gut findet.« Lars hob den Kopf und sah nach Larissa, die sich auf der warmen Mauer auf den Bauch gelegt hatte. »Das hätte ich wohl nicht fragen sollen. Ariane hat mir ins Gesicht gesehen und nein gesagt. Ich finde nichts an dir gut.«

»Das ist eine krasse Aussage«, sagte Henry.

»Und dabei war sie gar nicht wütend. Sie war ganz ruhig. Sie hat es absolut ernst gemeint. Da habe ich es endlich kapiert, Henry. Es hat keinen Sinn mehr. Ich hab weiß Gott lange genug versucht, das schönzureden und zu –denken. Dachte, das ist eine Phase, das wird wieder. Und wenn wir nur durchhalten, bis Larissa älter ist und sich eine Trennung nicht mehr so zu Herzen nimmt. Aber so eine totale Absage an meine ganze Person? Damit kann ich nicht weitermachen. Keiner könnte das. - Aber das war nicht das Schlimmste«, fuhr Lars fort.

Henry sah ihn an. Was konnte denn jetzt noch kommen?

»Larissa stand in der Tür, als Ariane ihr Urteil über mich gefällt hat. Sie hat es im Originalton mitgehört.« Lars schwieg wieder einen Moment lang. »Als ich Larissa später Gute Nacht sagen wollte, hat sie mich gefragt, ob wir uns scheiden lassen. Ich musste ehrlich zu ihr sein.«

»Was meinst du, wer dieser Mann war, heute Nachmittag an der Lagerhalle?«, fragte Lukas. Es war später Abend und sie lagen in ihren Betten.

»Keine Ahnung.«

»Wie ein Penner sah er nicht aus«, meinte Lukas.

»Nee, dazu war er zu gut angezogen. Stank auch nicht.«

»Ich hab mich voll erschreckt, als der plötzlich die Luke aufgerissen hat.«

»Das war voll hart, Mann. Wie der Basilisk in der Kammer des Schreckens«, begeisterte sich Markus.

»Nee, eher wie die Schlange im letzten Teil, in dem Haus mit der alten Frau«, fand Lukas.

»Ja, das war auch krass.«

»Ob wir da jetzt nicht mehr spielen können?«, fragte Lukas.

»Wieso denn?«

»Na, wenn der Mann jetzt öfter dahin kommt?«

»Wieso sollte er?«

»Wieso war er denn heute da? Wenn er kein Penner ist.«

»Er hat uns ja auch gar nichts getan.«

»Nee, heute nicht.«

»Ach was, der kommt schon nicht wieder.« Markus drehte sich zur Wand und war schon bald eingeschlafen. Lukas hatte keine große Lust mehr, sobald wieder am Lagerhaus zu spielen. Er horchte auf die Grillen, die draußen zirpten. Seine Eltern redeten unten auf der Terrasse, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten.

»Wie war die Badehose?«, fragte Elisabeth.

Sie saßen auf den Stufen der Treppe, die von Henrys Arbeitszimmer auf die Terrasse führte. Die Stufen waren noch warm von der Sonne und die Luft war irgendwie weich und samtig. Hinter dem Kirschbaum schritt der Nachbarskater durchs Gras.

»Okay«, sagte Henry.

»Okay?« Elisabeth zog die Augenbrauen hoch.

»Sehr okay«, gab Henry zu.

»Keine Frauenbadehose?«

»Nein, kann man nicht sagen, keineswegs. Sie atmet Männlichkeit aus jeder ihrer schnell trocknenden Kunstfaserporen. Wenn ich auch nicht begreife, wieso.«

»Und wie war es sonst so im Schwimmbad?«

»Lars und seine Frau lassen sich scheiden. Larissa ist damit rausgeplatzt.«

»Oh«, sagte Elisabeth, »Mist.«

»Ja, traurig. Besonders für Larissa ist das schwer.«

»Und Lars? Der wollte das doch nicht?«

»Nee, aber der ist jetzt auch an einem Punkt angelangt, wo er nicht mehr weiterkann«, sagte Henry.

»Wie ist die denn so, Lars´ Frau?«

»Ne Zicke, wenn du mich fragst.« Henry hatte Ariane einmal flüchtig auf einem Grillfest der Vater-Kind-Gruppe kennengelernt.

»Hm.«

Sie sahen dem Kater zu, wie er einen Satz machte, aber offenbar nichts erbeutete, denn er setzte sich und lauerte.

»Kommst du auch schlafen?«, fragte Elisabeth schließlich.

»Später. Ich will hier noch was nachgucken«, Henry stand auf und nahm die Pfarrchronik der Kirchengemeinde vom Schreibtisch, ein vergilbtes, braunes hochformatiges Buch.

Der Sulzbacher Kirchengemeinde gehörten einige Grundstücke von nicht unbeträchtlichem Wert. Neben dem denkmalgeschützten Areal um die Kirche und dem Gemeindehaus mit dem Kindergarten und dem Pfarrhaus in der Ortsmitte zählten dazu auch einige landwirtschaftlich genutzte Grundstücke im Außenbereich. Diese Grundstücke verpachtete der Kirchenvorstand für die Dauer von jeweils sieben Jahren an interessierte Bauern. In diesem Sommer liefen die Pachtverträge aus und standen zur Neuvergabe an, ein Ereignis von einigem öffentlichen Interesse im Ort. In Sulzbach gab es noch aktive Landwirte, von denen einige ihren Anbau gerne noch auf die Kirchenäcker ausweiteten. Das Interesse war im Vergleich zu früheren Jahren noch gestiegen, seit vor zwei Jahren in Höchst eine Biogasanlage eröffnet worden war. Jetzt hatten sich etliche Landwirte auf den Anbau von Silomais verlegt, den sie nach Höchst lieferten. Schon etwa ein Jahr vor Auslaufen der Pachtverträge hatte es angefangen, in Sulzbach zu rumoren. Ältere Landwirte wurden von den jüngeren gefragt, ob sie nicht langsam daran dächten, sich zur Ruhe zu setzen. Henry war anlässlich des »Parlamentarischen Abends« schon von einem Bauern zur Seite genommen und gefragt worden, wie man es denn dieses Mal mit der Pachtvergabe halten wollte.

Ja, wenn ich das wüsste, hatte Henry erschrocken gedacht. Sicher würde man doch dieses Mal diejenigen zum Zuge kommen lassen, die letztes Mal leer ausgegangen waren, meinten die einen. Sicher würde man dieses Mal besonders darauf achten, dass die Grundstücke an diejenigen gingen, die man auch mal in der Kirche sah und die sich in der Gemeinde engagierten, meinten andere.

Henry war bei der letzten Vergabe der Kirchenpacht noch nicht in Sulzbach gewesen und hatte so etwas auch anderswo noch nicht mitgemacht. Selbstredend war er auf solche Dinge auch nicht in seiner Ausbildung vorbereitet worden. Jetzt wollte er sich darüber informieren, wie man die Pachtvergabe in Sulzbach in der Vergangenheit gehandhabt hatte. Bevor er bei den alten Hasen im Kirchenvorstand nachfragte, wollte Henry aber wissen, wie seine Vorgänger über das Thema gedacht hatten. Dazu hatte er sich heute die Pfarrchronik vorgenommen und begann, nach einem entsprechenden Eintrag zu suchen.

Die »Kirchengemeinden- und Pfarrchronik« war laut Chronikverordnung vom geschäftsführenden Pfarrer wie eine Art Tagebuch zu führen. Wichtige Ereignisse im Leben der Kirchengemeinde waren dort chronologisch »unter dem frischen Eindruck des Geschehens«, aber unter »abgewogener Beurteilung« zu vermerken. Die Chronik war allein dem Pfarrer und dem Dekan zugänglich. Sie war unter Verschluss aufzubewahren. Letzterem kam Henry nach, indem er die Chronik dort aufbewahrte, wo sie seit Pfarrer Müllers Zeiten aufbewahrt wurde, nämlich in dessen schönen antiken Schreibtisch, in einer verschließbaren Schublade. Den Schreibtisch hatte Müller nicht mitgenommen, als er von Sulzbach Gottes etwas plötzlichem Ruf nach Afrika gefolgt war, um dort von Kriegen traumatisierte Kinder zu betreuen. Nur ein halbes Jahr später war Müller bei einer Schießerei getötet worden. Henry sah sich durch diesen Verlauf in seiner Einstellung zu missionarischen Einsätzen in gefährlichen Ländern bestätigt. Man musste ein Märtyrer sein. Keinesfalls konnte man darauf vertrauen, dass Gott den Mut und die Entbehrungen mit einem langen und gesunden Leben belohnen würde. Müllers Nachfolger und Henrys Vorgänger Eigner hatte den Schreibtisch bei seinem Auszug mitnehmen wollen, aber der Kirchenvorstand wusste dies zu verhindern, denn der Schreibtisch war wertvoll und gehörte, wie man hier fand, nach Müllers tragischem Tod zum Besitz der Kirchengemeinde.

Die letzte Vergabe der Kirchenpacht musste im Jahr 2003 erfolgt sein. Henry blätterte in der Chronik zurück. Er kniff die Augen zusammen, um im Schein der Leselampe Eigners Handschrift zu entziffern. Da waren Einträge über Konfessionsdebatten im Kindergarten, über die Pensionierung des Kantors, über die Debatte über die Verkürzung des Konfirmandenunterrichts von zwei Jahren auf ein Jahr. Schließlich fand Henry den gesuchten Eintrag. Er las ihn und lehnte sich gleich wieder enttäuscht in seinen Sessel zurück. Eigner hatte nur aufgeschrieben, welche Grundstücke an wen verpachtet worden waren. Dann stand in einem späteren Eintrag: »Kirchenaustritt Uwe Rötzheim wg. Nichtberücksichtigung bei Pachtvergabe«.

Na toll, dachte Henry. Das klang ja ermutigend.

Er saß einen Moment lang still und horchte auf die Geräusche des hundertjährigen Pfarrhauses, das jetzt, von seinem Arbeitszimmer abgesehen, völlig im Dunkeln lag. Irgendwo knarzte und knackte es immer in einem solchen Haus. Henry spürte, wie er langsam müde wurde, und überlegte, ob er ins Bett gehen sollte. Von draußen hörte er einen seltsamen Schrei, den er erst nach einigen Augenblicken als den Laut einer Katze identifizierte. Er hatte eine Gänsehaut bekommen. Er schüttelte sich und zwang seine Aufmerksamkeit zurück zur Chronik. Vielleicht verriet die Chronik mehr über die Pachtvergabe vor vierzehn Jahren. Eigner war nur kurz in Sulzbach gewesen. Henry hoffte, dass Eigners Vorgänger Müller mitteilsamer gewesen war. Henry blätterte in den vergilbten, steifen Seiten. Plötzlich hielt er inne, weil ihm ein Datum ins Auge stach. Der 9.9.99. Da gab es sicher viele Hochzeiten, dachte Henry und begann den Eintrag zu lesen.

»9.9.99. Die Sonne geht bereits auf. Eine schlimme Nacht. Wurde in die Taunusklinik gerufen. Eine junge Mutter hat ein totes Kind geboren und ist kurz nach der Entbindung selbst gestorben. Herr, zeige mir den richtigen Weg, damit ich in Treue zu dir mein Leben führe! Lass es meine einzige Sorge sein, dich zu ehren und dir zu gehorchen!«

Henry runzelte die Stirn. Was für eine merkwürdige Reaktion auf ein trauriges Erlebnis. Nicht nur bezog Müller das Geschehen auf sich selbst; er kleidete seine Gedanken in die Worte eines Psalms, in dem Gott für seine Taten gepriesen wurde. Ein komischer Mensch musste dieser Müller gewesen sein. Henry las weiter, ob Müller noch mehr zu den Ereignissen geschrieben hatte, aber es war Müllers letzter Eintrag gewesen. Dann kamen schon Eigners erste Einträge, in denen er sich vorwiegend darüber beschwerte, dass sein Vorgänger so Hals über Kopf in die »Mission« (in Anführungsstrichen) gegangen war, dass er ihm die Amtsgeschäfte wie Kraut und Rüben überlassen habe. Na ja, Eigner war allerdings auch etwas pedantisch gewesen, wie Henry fand. Er besann sich auf sein eigentliches Vorhaben, nach Einträgen zur Kirchenpacht zu suchen. Aber die krakeligen Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, so dass er schließlich aufgab und ins Bett ging.

Punkdiva: K.o.-Tropfen – wie kommt man an die dran?

bin voll mit k.o.-tropfen gelinkt worden. weiß nicht von wem. aber ich finde die sau. was wisst ihr? wie kommt man an die tropfen ran? in frankfurt und vordertaunus so. kennt ihr typen die die haben.

Hexe666: Krasse scheiße

Keine ahnung, aber krasse scheiße das. Drücke dir die daumen, das du ihn findest. Was machst du dann mit ihm? Kastrieren?

Sweetpain: ist mir auch passiert

im Route66. Habe voll gekotzt und war auf intensiv. Hat er dich vergewaltigt?

Punkdiva: ja

Sweetpain: Scheiße

Hexe666: megascheiße

Horrorbarbie: Wer geht denn ins route66???

Pandora: stimmt (kicher)

Kapitel 2

Wie kann die Blume sich nicht nach der Sonne strecken? Wie kann der Verdurstende nicht vom kühlen, sauberen Wasser trinken? Wer will dem Mond verbieten, um die Erde zu kreisen? Wie kannst du sagen, es darf nicht sein? Wenn dieses Leben jemals einen Sinn ergeben hat, dann nur mit dir! Es ist, als sängen die Vögel nur ein Lied, und es handelt von dir und mir. Als flüsterte der Wind in den Blättern zärtlich unsere Namen. Die aufgehende Sonne malt Farben an den Himmel, und sie leuchten wie meine Augen, wenn sie dich ansehen. Verschließe nicht länger deine Augen und Ohren. Verschließe nicht dein Herz.

»Hast du deine Ansprache diesmal zu Ende geschrieben?«

Henry fuhr erschrocken zusammen und ärgerte sich sofort darüber. Hinter der Eibe auf dem Pfarrhof war Thomas hervorgetreten. Er hatte eine Astschere in der Hand und trug Arbeitskleidung. Henry war auf dem Weg in die Kirche, das Gesangbuch und seine Zettel in der Hand.

»Was meinst du?«

»Bei der Ansprache für den alten Dornbusch fehlte ein Stück.«

Diesmal hatte er Henry also doch erwischt. »Wieso, was hat dir denn gefehlt?«

»Ach, mir fehlt so manches bei deiner Verkündigung«, brummte Thomas. »Langjähriges Engagement im Kirchenvorstand, Gemeindevorstand, Dies-Vorstand, Das-Vorstand …. Der Prediger sagt, alles ist eitel. Wir sind nackt in diese Welt gekommen und nackt werden wir dahinfahren. Fragt sich nur, wohin wir fahren. Darum geht es doch.« Thomas ließ die scharfen Klingen der Astschere um einen Rosenzweig zusammenschnappen, der sinnbildlich für die Vergänglichkeit des Lebens mit seinen verwelkten Blüten auf die Erde fiel.

»Zum Glück geht es heute aber nicht darum. Heute wird geheiratet.« Henry wollte weitergehen.

»Dein Mund ist nicht, wo dein Herz ist.«

»Wie bitte?« Henry blieb stehen.

»Du verzettelst dich. Du rennst von einer Beerdigung zur nächsten Trauung und hast deine Erdung verloren.«

»Ich hab gar nicht mitgekriegt, dass du unter die Therapeuten gegangen bist. Hast du eine Fortbildung gemacht? Zum Seelsorger in drei Samstagskursen?«

»Henry.« Thomas war nah an Henry herangetreten und sah ihn aufmerksam an. »Wann hast du zum letzten Mal Stille Zeit gemacht?«

»Was?«

»Stille Zeit. Du weißt schon, Bibellesen, Beten. 10 Minuten am Tag allein mit Gott, in aller Ruhe.«

Wie Thomas sich das vorstellte. Dafür hatte Henry keine Zeit. Jetzt schon gar nicht.

»Thomas, also ehrlich. Wir reden wann anders weiter. Jetzt muss ich ein paar Leute verheiraten gehen, wenn du entschuldigst.«

Henry fragte sich, wie Thomas es immer wieder schaffte, dass Henry meinte, sich verteidigen zu müssen. Außerdem hatte er mit seinen Bemerkungen über die Beerdigung voll ins Schwarze getroffen. Es war unheimlich, wie Thomas zu wissen schien, was in Henrys Kopf vor sich ging. Henry schüttelte den Kopf, wie um die Begegnung abzuschütteln. Er musste sich konzentrieren. Nicht dass er wieder den Faden verlor. Diese Hochzeit war womöglich ein noch größeres gesellschaftliches Ereignis in Sulzbach als die Beerdigung des alten Dornbusch.

Aus der Kirche ertönte schon der Marsch zum Einzug des Brautpaars. Henry vergewisserte sich, dass das Brautpaar bereit war und betrat ihnen voran die volle Kirche. Dort waren ungefähr dieselben Gäste wie bei Dornbuschs Beerdigung und noch mal so viele junge Leute versammelt. Von den geschnitzten Enden der Kirchenbänke hingen kleine Rosensträußchen, auf dem Altar stand ein großer bunter Rosenstrauß. Die Gemeinde erhob sich und die Leute wandten sich zum Eingang, um den Einzug des Brautpaares zu sehen. Die Augen der Frauen leuchteten beim Anblick der Braut, einer schlanken, hochgewachsenen Mittdreißigerin in einem elegant geschnittenen naturweißen Brautkleid. Die Braut trug ihre braunen langen Haare in einen romantischen Knoten hochgesteckt, von dem die Andeutung eines Schleiers in einigen transparenten naturweißen Bändern hinunterfloss. Ihr sonnengebräuntes Gesicht war nahezu ungeschminkt und sie wirkte etwas unsicher in ihrer Aufmachung, obwohl alles tadellos war. Der Mann an ihrer Seite war ebenfalls groß, schlank und hatte dunkle Haare. Die beiden hätten Geschwister sein können.

Kirchner, der Brautvater, beobachtete den Einzug seiner Tochter mit gemischten Gefühlen. Dass er seine Tochter nicht zum Altar führen durfte, machte ihm in Wahrheit nicht so viel aus. Er hatte pro forma etwas gekränkt getan, als man ihm das Gottesdienst-Protokoll erklärte. Aber eigentlich war er froh, nicht würdevoll im Takt zur Orgel den Gang entlangschreiten zu müssen, wenn ganz Sulzbach zuschaute. Und heute war man ja emanzipiert. Ach, die Janina hatte sowieso schon immer ihren eigenen Kopf gehabt. Die brauchte keine Emanzipation dazu. Kirchner dachte daran, wie sie ihm eröffnete, dass sie die Hotelfachlehre geschmissen hatte und nun BWL studierte. Heimlich, gegen seinen Willen. Aber sie hatte es geschafft, seine Janina, den Abschluss gemacht und Arbeit gefunden. Biss hatte sie und Energie, schon als Kleinkind, oh Gott, oh Gott, wenn er daran dachte. Kirchner tupfte sich die Stirn mit seinem Taschentuch.

Ja, das hatte sie doch ganz gut gemacht, mit dem Studium. Aber der Junge, der hier heute mit dem Segen der Kirche zu seinem Schwiegersohn gekürt werden sollte … Das war typisch Janina. Von allen ordentlichen jungen Männern brachte sie den einen an, der … Er war ja sicher nicht verkehrt, dieser Roman. Was war das überhaupt für ein Name? Aber die Situation, in die ihn das brachte! Die Tochter heiratete ausgerechnet den Sohn vom Anhalt, dem Dorfgrünen, diesem Sozialisten. Es war sicher nicht übertrieben zu sagen, dass Gerald Anhalt für alles stand, was Kirchner ein Gräuel war. Als Student in der DKP gewesen. Kurz nur, zugegeben, aber trotzdem. Jetzt ein Grüner, der bei jeder Gelegenheit die Umwelt und jedes erdenkliche Öko-Gedöns anführte, sei es, um sinnvolle Bauvorhaben zu torpedieren oder gegen die Autofahrer zu hetzen oder sonst die Freiheit rechtschaffener Bürger einzuschränken. Manches Mal waren Kirchner und Anhalt in der Gemeindevertretung aneinandergeraten. Alle Welt wusste, was Kirchner von Anhalt hielt, und Kirchner war sicher, dass man sich hinter seinem Rücken auf die Schenkel schlug vor Lachen darüber, dass seine Tochter ausgerechnet den Sohn vom Anhalt heiratete. Kirchner sah mit finsterem Blick hinüber zur Seite des Bräutigams. Da saß der Vater des Bräutigams mit seinem schlohweißen langen Zopf, das sagte doch schon alles. Kirchner verschränkte die Arme über seinem kräftigen Bauch und lehnte sich gegen die Kirchenbank. Wie ein stolzer Brautvater sah er nicht aus.

Anhalts Blick war auf eine Ameise gerichtet, die auf dem weißen Altartuch herumkrabbelte. Sie war vermutlich mit dem Blumenschmuck hereingekommen und erkundete das neue Terrain. Das Brautpaar konnte Anhalt nur von hinten sehen, sie saßen mit dem Rücken zur Gemeinde vor dem Altar. Janina sah bezaubernd aus, auch wenn sie noch kurz vor dem Gottesdienst geklagt hatte, dass sie sich verkleidet fühlte. Auch Roman machte eine gute Figur im Anzug. Die beiden hatten jedenfalls beim Einzug sehr glücklich ausgesehen, und das war die Hauptsache, fand Gerald Anhalt. Hoffentlich blieb das so. Seine eigene Ehe hatte nicht gehalten. Die Ameise krabbelte jetzt senkrecht an dem Tuch nach unten, der Schwerkraft trotzend.

Statistisch gesehen scheiterten Scheidungskinder ja in ihren eigenen Ehen häufiger als Kinder aus stabilen Ehen. Anhalts Frau Marion hatte zu spät gemerkt, dass sie nicht mit einem Bauern verheiratet sein wollte. Überhaupt war ihr Sulzbach viel zu spießig und miefig gewesen. Jedes Mal, wenn die Bauern ihre Felder düngten, bekam sie die Krise. Schließlich verließ sie ihn und Roman. Roman, der mit vier nur in Gummistiefeln herumlief und mit zwölf schon wusste, dass er Landwirt werden wollte, war lieber bei seinem Vater geblieben. Jetzt war Marion mit einem Sachbearbeiter verheiratet, aber die Ironie schien ihr nicht bewusst zu sein. Sich selbst bezeichnete sie als »freie Künstlerin«. Anhalt nickte Marion zu, die mit ihrem Sachbearbeiter am anderen Ende der Bank saß und gerade zu ihm hinguckte. Ihm konnte es recht sein.

Janina schien dagegen zu wissen, was sie tat. Sie liebte das Landleben und besonders ihr Pferd und die Reiterei mit allem drum herum. Und sie liebte Roman, das merkte man. Anhalt wünschte, er könnte Roman einen auskömmlichen Betrieb übergeben. Aber davon war er weit entfernt. Öko-Lebensmittel waren zwar das, was alle angeblich wollten, aber wenn die Früchte dann nicht perfekt aussahen und auch noch teuer waren, blieben sie eben doch in den Regalen liegen. Vielleicht sollte er auf Silomais umstellen, aber das war ihm nicht geheuer. Sicher war an erneuerbarer Energie nichts auszusetzen. Andererseits widerstrebte ihm der Gedanke, nur noch Mais zu sehen, wohin das Auge blickte, diese Monokultur!

Die Ameise war jetzt hinter dem Tuch verschwunden. Anhalt war überrascht, als das Brautpaar plötzlich aufstand. Anscheinend kam jetzt schon die Trauzeremonie. In der Kirche herrschte eine erwartungsvolle Stille, als plötzlich deutlich hörbar die Kirchentür geöffnet wurde. Die Sommersonne fiel durch die Türöffnung ins Dämmerlicht des Mittelgangs. Sie schien so hell, dass zunächst nur eine schwarze Gestalt zu erkennen war. Ein Mann hatte den Kopf durch die Tür gesteckt, einen Moment lang überrascht gezögert und war dann eingetreten. Es gab niemanden in der Gemeinde, der sich nicht umdrehte und den Mann anstarrte. Die Tür fiel zu und der Mann stellte sich hinter der letzten Kirchenbank an die Wand. Henry räusperte sich und die Leute wandten sich wieder um. Ganz leise wurde es aber nicht so schnell wieder, ein gewisses Flüstern und Raunen ging noch durch die Bänke. Henry erklärte, dass das Brautpaar sein eigenes Trauversprechen formuliert habe und dieses nun sprechen werde. Da wurde es endlich still und Roman trat näher ans Mikrofon.

»Janina, mit Gottes Hilfe habe ich dich gefunden. Mit dir möchte ich durch das Leben gehen, Gutes gemeinsam und dankbar mit dir erleben, in schlimmen Zeiten zu dir stehen, dich trösten und mich von dir trösten lassen. So wie nichts uns trennen kann von Gottes Liebe, wollen auch wir uns nicht mehr trennen.«

Janina antwortete: »Roman, mit Gottes Hilfe habe ich dich gefunden. Mit dir möchte ich zusammen sein, mit dir möchte ich fröhlich sein und wenn Trauer und Schmerz in unser Leben kommen, wollen wir zusammenhalten. Ich nehme dich aus Gottes Hand.«

Unter dem Schnäuzen und Schniefen der weiblichen Hochzeitsgäste segnete Henry das frischvermählte Ehepaar.

Die alten Sulzbacher hatten den jungen Dornbusch sofort erkannt. Mit seinen kantigen Zügen war er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, jedenfalls wenn man diesen in seiner Jugend gekannt hatte. Beim anschließenden Sektempfang wurde Christian Dornbusch beinahe genauso belagert wie das Brautpaar. Warum er nicht bei der Trauerfeier gewesen sei. Wo er jetzt herkomme. Irgendwer war sich auch nicht zu gut zu fragen, was er denn jetzt mit dem Erbe vorhatte. So brachte man in Erfahrung, dass Christian Dornbusch vom Tod seines Vaters erst mit Verspätung erfuhr, weil er sich auf einer Geschäftsreise in Saudi-Arabien befunden hatte. Er habe es sehr bedauert, die Trauerfeier verpasst zu haben. Was das Erbe betreffe, sei er gerade dabei zu sichten, woraus das eigentlich bestehe. Für das Lagerhaus habe er schon eine Idee, aber es sei noch zu früh, konkreter zu werden. Natürlich gratulierte Dornbusch auch dem Brautpaar und entschuldigte sich für die Störung. Er habe eigentlich nur mal schauen wollen, ob die Kirche offen sei und einen Moment darin verbringen wollen, da er doch die Trauerfeier seines Vaters verpasst habe. Als er die Kirche dann überraschend mitten im Vollzug einer Trauung vorgefunden hatte, sei er einfach dageblieben.

Roman sah, wie alle Farbe aus Janinas Gesicht wich, als Christian Dornbusch ihr die Hand hinhielt, um ihr zur Hochzeit zu gratulieren. Einen Moment lang dachte er, sie würde die ausgestreckte Hand gar nicht nehmen. Schließlich hob sie doch ihre schmale Hand, an der der neue Ehering noch ungewohnt glitzerte, wie in Zeitlupe und legte sie in die große Hand des Überraschungsgastes. Sie sagte nichts und lächelte auch nicht. Sein dramatisches Auftreten vor den Trauversprechen musste sie gewaltig aus dem Konzept gebracht haben, dachte Roman. Es war ja auch just der Moment gewesen, in dem der Pfarrer im Film gefragt hätte, ob jemand etwas gegen die Vermählung einzuwenden habe, wenn ja, möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.

Welche höhere Dramaturgie hatte Christian auf diese Weise in ihre Hochzeit hineinplatzen lassen? Janina schüttelte ablehnend den Kopf, als der Kellner ihr ein Tablett mit Sektgläsern präsentierte. Ihr war so schon schwindlig. Wollte Christian sie in Verlegenheit bringen? War es wirklich Zufall, und er hatte nichts von ihrer Hochzeit mit Roman gewusst? Janina entschuldigte sich bei ihren Gästen und lief die Treppen des Alten Schulhauses zur Toilette hinunter. Hier im Keller der Wirtschaft war es kühl, und zum Glück war niemand da. Janina lehnte die Stirn gegen den kühlen Spiegel und schloss die Augen. Viel verstörender als die Tatsache, dass Christian überhaupt aufgetaucht war, waren die Gefühle, die sein Anblick in ihr auslöste. Von der Berührung seiner Hand gar nicht zu sprechen. Fast hätte sie ihm ihre Hand gar nicht gegeben, hatte sie doch geahnt, mit welchem Stromschlag die Berührung ihren Körper treffen würde. Janina drehte den Wasserhahn auf und trank von dem kalten Wasser. Sie war sich ganz sicher, dass sie Roman wollte. Sie liebte ihn. Daran bestand kein Zweifel.

Aber die Wirkung, die Christian immer noch auf sie hatte, machte ihr Angst. Der Gedanke an Christian hier und heute von allen Tagen war unerträglich und gleichzeitig so aufregend. Hand aufs Herz, das mit Christian war eine Achterbahnfahrt gewesen, von der ihr heute noch schwindlig war. Janina hoffte, dass Christians Auftauchen sie nicht aus der Bahn werfen würde.

»Ach, hier bist du!«

Janina fuhr zusammen. Eva, ihre Freundin, kam in den Waschraum.

»Alle suchen dich schon. Der Fotograf will noch ein Gruppenfoto machen. Zeig mal, wie sieht du denn aus!« Eva fing an, an Janinas Schleier herumzuzupfen.

»Sag mal, dieser Mann eben.« Eva holte Puder aus ihrer Handtasche und klopfte mit der Quaste auf Janinas Nase herum. »War der nicht mal Gast bei uns?«

Janina kannte Eva aus dem Frankfurter Hof, in dem beide als Empfangsdamen gearbeitet hatten. In den langen Nächten hatten sie sich gegenseitig wachgehalten, indem sie sich praktisch alles erzählten, was sie in ihrem jungen Leben jemals erlebt hatten. Kein Wunder, dass sie Freundinnen geworden waren.

»Mir kommt sein Gesicht bekannt vor. So ein Nussknackergesicht.« Eva steckte den Puder ein und betrachtete Janina prüfend.

»Kann sein«, sagte Janina.

»Wir kennen uns, glaube ich?«