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"Menschen, die am meisten brauchen, geben mehr als sie haben. Menschen, denen es an nichts fehlt, nehmen alles und mehr." Dodeka trauert um den Tod seines Vaters. Auf einer Reise durch den Dschungel Zilahas, trifft er auf einen fast vergessenen Gott, der ihm mächtige Zauberkräfte verleiht. Diese sollen ihm dabei helfen das Land Zilaha und ihr unterdrücktes Volk aus den Fängen des grausamen Königs zu befreien. Die Geschichte führt durch die Trauer eines Jungen, auf dessen Schultern große Verantwortungen lasten. Um seinen inneren Frieden zu finden, sucht er verzweifelt nach Antworten. Doch auch vor den Toren des Schlosses drängt das leidende Volk auf den langersehnten Frieden. Ein unumgänglicher Krieg zwischen der Magie der Machtwahrenden und der Menschheit bahnt sich an und wird Zilahas Schicksal für immer besudeln.
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Seitenzahl: 298
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IMPRESSUM
1. Auflage August 2021
© K. F. Horzela
Covergestaltung, Illustrationen, Gedichte und Text:
K. F. Horzela
(Instagram: @kevinhorzela)
Korrektorat:
Cao Krawallo
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44. 22359 Hamburg
ISBN 978-3-347-37619-9 (Hardcover) ISBN 978-3-347-37620-5 (e-Book)
Für jeden geliebten Menschen, den ich an den Sternenhimmel verloren habe.
»Es werden Tage kommen, die Nächte verschlingen. Es werden Lieder vergessen, die Flatterdrachen singen.«
- aus der 75. Heiligenschrift Tempes »Prophezeiungen des Mannes mit den tausend Namen«
Prolog
DER MONDPALAST
Ein Feind der uralten Magie versuchte, die Legende aus den Köpfen seiner Untertanen zu tilgen. Jede Erwähnung des alten Gottes und der Glaube an seine vollbrachten Wunder waren ein Verstoß gegen das Gesetz. Der Neid der Sterblichen war der Schreiber ihrer Trauerlieder. Jeder Glockenschlag, der aus dem Schloss der Narvik kam, stand für eine Seele, die durch die Hand des Königs gebrochen wurde.
In der Ferne versteckt, wo die Legende lebte und atmete, weilte im Nebel des tropischen Regenwaldes ein gigantischer Baum. Seine Wurzeln waren verbunden mit jedem Leben, der endlichen Zeit und dem Land, Zilaha, das viele grausame Geschichten zu erzählen hatte. Glaubenskriege und Armut besudelten wie Tintenflecke die langen Kapitel dieses Landes.
Im Stamm des Baumes versteckte sich eine Macht, die sich kein Sterblicher vorzustellen vermochte. Sie fürchtete sich vor den zerstörerischen Waffen der Könige und kapselte sich deshalb von den Menschen ab, die sie vergötterten.
Die überlieferten Geschichten fesselten die Anhänger dieses Gottes. Da sie ihn nie zu Gesicht bekamen, malten sich die Menschen ihr eigenes Bild von der Legende. Ihre Gebetsbücher beschrieben einen starken und großen Mann mit weißen Haaren, mit einem Bart und kristallblauen Augen. Er war ihr Held, der dem Volk Mut geschenkt und in Aussichtslosigkeit Zuversicht gespendet hatte. Der neugekrönte König suchte diese göttliche Flamme der Hoffnung auf, die die Zilahaer Tempe nannten, um sie endgültig zu löschen. Er wollte das einzige Feuer sein, das in Zilaha brannte. Er wollte das Zentrum jeder Macht sein. Und er allein wollte vergöttert werden.
*
Heute war der Geburtstag der entführten Prinzessin Dalia. Ihre Abwesenheit, setzte dem Gemüt der Königsfamilie zu, die Grund genug hatte, ihre Tochter zu rächen. Und um das Fass zum Überlaufen zu bringen, wurde heute eine Versammlung der Machtwahrenden einberufen.
Nicht alle waren erpicht auf friedvolle Verhandlungen. Es waren viele Jahre vergangen, seit die Mitglieder das letzte Mal zusammen an einem Tisch gesessen und die Belange der Menschen und der Machtwahrenden in Würde und mit gegenseitigem Respekt besprochen hatten. Vor langer Zeit hatten gebrochene Eide und Verschwörungen zu einer Dreiteilung der Macht in Zilaha geführt: das Königshaus Narvik, die Legende von Tempe und die radikalen Isegrim.
Vor den Toren des Mondpalastes, wo sich die meisten für klein und unwichtig hielten, marschierten heute Männer über eine Brücke aus weißem Gestein. Ihre schweren Uniformen aus goldenem Metall wurden in feinster Handwerkskunst auf den Räuberinseln gefertigt und funkelten im Sternenlicht des frühen Abends. Das Gold ihrer Rüstung schimmerte, wenn das Licht es küsste. Für jeden Jungkrieger, der das erste Mal die Armierung der Narvik überreicht bekam, war es ein mit Stolz erfüllender Augenblick. Es war der erste Moment, in dem sie mit Zauberei in Berührung kamen. Das Metall, das sie als Sterngold bezeichneten, reflektierte das Licht des Nachthimmels und war magisch. Nur den Rittern des Königs, der Garde der Narvik, war es gestattet, dieser Ehre beizuwohnen. Sie schworen auf ihr Leben, das Geheimnis des Sterngolds zu Grabe zu tragen.
Die in Bronze gepanzerten Dschungelhirsche der Garde standen diszipliniert in Formation auf der Steinbrücke. Auf ihrem Geweih wuchs Moos, und ihre Klauenschalen waren mit demselben Gold geschmückt wie die Rüstung ihrer Reiter.
In der Mitte der Truppen bildete sich eine weite Gasse, durch die ein graubärtiger Mann mit gelblicher Haut und schulterlangen braunen Haaren auf seinem Dschungelhirsch direkt vor die Tore des Palastes stolzierte. An seine Hüfte war sein Kriegsbogen geschnallt, den er wie ein Haustier streichelte. Hinter dem Reiter saß ein kleiner, blondhaariger Junge, der sich zitternd am Sattel festhielt und Höhenangst hatte. Sie waren die Einzigen, die keine Helme trugen, und es erfüllte die Garde wieder mit Stolz, dass sie mit ihrer Freizügigkeit vor dem Feind Stärke bewiesen. Anstatt undurchdringbarer Helme trugen der Mann und der kleine Junge schwere Kronen auf dem Haupt und waren in Gewänder aus Falkenfedern und Grünbärfell gekleidet, die mit ihrem Emblem verziert waren. Das Zeichen des Hauses Narvik war ein in Blut getränkter, gekrönter Falke, der hinter einer Armbrust seine Flügel ausbreitete.
Vor dem verschlossenen Eingang zum Palast standen sich zwei riesige Statuen von wolfsähnlicher Gestalt gegenüber und bewachten das mit Blumen geschmückte Tor.
»Ich erkläre dir den Krieg, Tempe! Teile deine Geheimnisse über deine Kräfte unverzüglich mit dem wahren Herrscher Zilahas!«, rief König Akira aus dem Hause der Narvik. »Meine Vorgänger haben dir vor Jahrhunderten deinen Untergang versprochen. Den wirst du kriegen. Alles wird brennen, deine Macht und deine lächerlichen Krieger. Und am Ende brennst du. Zeige dich endlich und steh deinen Mann. Komm aus deinem Versteck. Die Menschen in Zilaha haben aufgehört, an dich zu glauben, aufgehört zu dir zu beten. Dein König will dich sehen.«
Akira und seine Truppen waren mit jeder Faser ihres Körpers bereit, den Hirschen den Schenkel zu geben und den Palast zu stürmen.
Die hinteren Kolonnen entzündeten ihre Fackeln und die vorderen erhoben ihre Armbrüste.
Wie lange Akira und seine Familie Versuche unternommen hatten, die Macht von Tempe zu stehlen, vermochte niemand mit Sicherheit zu sagen. Dieselbe Macht verwehrte jetzt dem König und seinen Anhängern den Eintritt in den Mondpalast.
Sie hatten keine Chance. Das gewaltige Gittertor war durch einen Mantelzauber, der sich in Form weißer Sternrosendornen um das Tor wickelte, vor ungewollten Eindringlingen geschützt.
In der Ferne erschienen zwei Lichtkugeln. Sie wurden immer größer, bis schließlich hinter den Toren ein vierbeiniges Wesen zu erkennen war, doppelt so groß wie die Dschungelhirsche der Ritter. Es waren die Augen eines Wesens, dem Akira bereits etliche Male begegnet war. Dieses Tier war ein Bediensteter von Tempe, ein Nachtkind, so viel wusste er. Es hatte die Form eines riesigen schwarzen Wolfes mit dunklen Hörnern und einer pechschwarzen Mähne wie die eines Falkenlöwen, der vor langer Zeit den Himmel Zilahas besiedelt hatte. In seinem Fell schimmerten Muster und Symbole, die Akira nur zu gut kannte - und verachtete.
Die Gestalt des Wesens glich den Statuen am Eingang des Palastes. Es waren Skulpturen von Nachtkindern, die den Mondpalast schmückten und mit ihren leuchtenden Augen den Zauber der Sternrosen beschwörten.
Es war kein gutgemeintes Lachen, das Akira dem Tier entgegenbrachte.
Die Narvikritter grummelten durch den engen Schlitz der Helme und ihre Dschungelhirsche stampften auf der bebenden Brücke, bis der Wolf sie durch sein Brüllen zum Schweigen brachte.
Der Tumult verstummte auf der Stelle.
Aus Furcht vor dem riesigen Wolf wurden die Fackeln niedergelegt und die Armbrüste gesenkt. Das Nachtkind drehte sich um und schritt zurück in den Palast.
Die Augen der Statuen erleuchteten wie neugeborene Sterne und das Tor öffnete sich mit dem Verwelken der Sternrosen.
Akira und sein Sohn stiegen vom Reittier. Der König nahm eine Tasche aus dem Seitenfach des Sattels und warf es dem Jungen vor die Füße.
»Hier, Stahn, halte das. Du begleitest mich. Gib keinen Laut von dir und verliere dieses dreckige Viech von Wolf nicht aus den Augen. Es wird das letzte Mal sein, dass die Narvik an dieser Versammlung teilnehmen.«
Die Augen des kleinen Jungen waren glasig. Seine Tränen trieften wie ein Fluss, der einer dunklen Höhle entsprang und sein Ende in Kummer fand. Er hatte Angst vor seinem Vater, der ihn verhöhnte und sich für seine Gehbeeinträchtigung schämte. Einmal seine Liebe zu spüren, danach sehnte er sich so sehr.
Der Prinz ließ seinen Gehstock in der Satteltasche zurück, um kein Aufsehen zu erregen, und folgte seinem Vater, begleitet von Schmerzen im Rückgrat.
Akira betrat den Palast und Stahn schaute wehmütig zur Garde. Sie befanden sich auf einer kleinen Insel vor der Küste der Schlossmauern, wo eine Brücke symbolisch die Menschenwelt und die Welt der Machtwahrenden verband. Sein Großvater hatte ihm vor seinem Tod versprochen, dass dieser Palast bald den Narvik gehören würde und er ihn sein Zuhause nennen könnte. War dieser Tag gekommen?
Die Männer auf der Brücke fingen an zu lachen, als der König nicht mehr zu sehen war. Sie verspotteten den jungen Prinzen, weil er auf den Stufen stolperte und sie ihn keineswegs als einen würdigen Thronfolger ansahen.
Obwohl er beabsichtigte, keine Schwäche zu zeigen, wandte sich Stahns Gesicht wehmütig zum Steinboden. Damit sollte Schluss sein, hatte er sich versprochen.
Stahn war jung, aber nicht dumm. Wenn die Leute in seiner Umgebung lachten, hatten sie ihn verletzt. Er konnte nichts für seinen Gehstock und so schämte sich der Prinz, für etwas vorgeführt zu werden, das nicht sein Verschulden war. Niemand zeigte ihm Mitgefühl außer seiner Mutter, die ihn am liebsten in einen Turm sperren würde, damit er von dem Gelächter und den verächtlichen Blicken der ignoranten Ritter verschont bliebe. Aber das machte sie selbst zu einer von ihnen. Mit dieser übermäßigen Bemutterung gab sie ihm keine Luft zum Atmen. Ständig fühlte er sich eingeengt und versteckt. Versteckt vor dem Leben und vor Abenteuern.
Stahn war kein Einzelschicksal und so dachte er oft an die anderen Kinder in den Dörfern und fragte sich, ob sie zu Hause eingesperrt waren. Durften sie kein normales Leben führen?
Der Prinz wusste nicht um den Umgang mit seinesgleichen in den Reihen des gemeinen Volkes. Er hatte sie nie getroffen und dennoch war ihm bewusst, dass sie keinen Titel trugen, der sie schützen würde. Obwohl die Königin alles Mögliche unternahm, um ihren Sohn von der Außenwelt zu isolieren, hörte Stahn die Schreie des Volkes. Selbst im Schloss der Narvik hatten die Bediensteten Angst vor seinem Vater. Einmal wurde Stahn von einem Jäger verprügelt, der nicht wusste, dass er den Prinzen vor sich hatte. Hätte er es seinem Vater erzählt, wäre der junge Jäger gehängt worden.
Das Tor fiel wieder zu. Stahn und Akira waren jetzt im Palast.
Eine Gruppe von Sonnenkindern, Wahrer der Erinnerungen oder – wie sein Vater sie bezeichnete – Missgeburten in alten Lumpen, standen vor den Eingängen des Sitzungssaals in ihren langen, schwebenden Roben.
Der Prinz staunte über die Größe der Gänge und die Verzierungen an den Wänden. Die Räume waren mit alten Malereien und Kristallen verziert.
Er entdeckte Bilder von Paaren – Männer und Frauen in unterschiedlichen Konstellationen – die sich an den Händen hielten und an der Wand nebeneinander gemalt waren. Ein Bild stach besonders hervor. Vor der Zeichnung von zwei Frauen, die sich an den Händen hielten, blieb Stahn stehen. Sie trugen weite Blumenkleider und hatten beide ein Mal auf ihrem rechten Schulterblatt.
»Trödel nicht, du Nichtsnutz!«
Die Säulen des Palastes durften mindestens zehn Meter hoch sein und waren mit lila schillernden Schriften bemustert, die Stahn noch nicht lesen konnte. Er wollte hier Ewigkeiten verbringen und mit seinem umherhallenden Echo spielen, aber sein Vater hatte keine Zeit.
»Hierher und sei jetzt still!«
Akira warf einem Sonnenkind einen ernsten und fiesen Blick zu. Es verneigte sich und lächelte die Beleidigung weg.
»Spare dir deine Mühe«, sagte Akira.
Stahn bestaunte die über dem dunkelblauen Boden schwebende bordeauxfarbene Robe des Sonnenkindes. Die weißen Tätowierungen im Gesicht und die großen, grauen Augen des Wesens fand er bewundernswert. Leuchtende Dreiecke verzierten das Antlitz des Wesens und eine schwere Kette aus Stahl war um seine Taille gewickelt.
Stahn hatte Bilder von ihnen in Märchenbüchern gesehen, die ihm zum Einschlafen von den Zofen vorgelesen wurden und auf Geheiß seines Vaters erst gestern im ganzen Land verbrannt wurden. Daheim würde es keiner für wahr halten, dass er ein Sonnenkind getroffen hatte. Für Zilahaerinnen und Zilahaer waren sie bloß Teil der alten Legenden. Stahns Zusammentreffen mit ihnen war also eine sagenhafte Begegnung, ein unvergessliches magisches Abenteuer außerhalb der langweiligen Schlossmauern.
»Du bleibst hier«, sagte Akira befehlend. Er senkte seinen Kopf und flüsterte seinem Sohn etwas zu: »Gib mir die Tasche. Sobald du einen Kampf hörst, holst du unsere Hirsche.«
Die riesige Tür öffnete sich und Akira stürmte den Hauptsaal des Mondpalastes. Die Decke im Sitzungssaal war eine mondförmige Kuppel, die dem Palast seinen Namen gab. Die Tische und Stühle waren aus dem Weg geräumt. Einzig der Mondstrahl schoss von der Kuppel durch ihre Glasfenster auf den Boden, der außen herum von Finsternis umgeben war.
Aus der Dunkelheit trat eine menschliche Gestalt hervor. Es war nicht die Person, die der König erwartet hatte.
»Akira, es ist vorbei. Du kannst nicht dein Leben lang nach Vergeltung suchen. Deine Rache gründet auf einer Lüge«, sagte ein in braunem Stoff verhüllter Mann, der etwas älter als Akira war. Der Zopf des Mannes hatte dieselbe Länge wie die Haare des Königs. Die Augen, die am Tor geleuchtet hatten, bewegten sich im nebligen Hintergrund und schwebten beschützend in der Düsterkeit.
Der König ließ sich von dem Mann und den Leuchtaugen seines Nachtkindes nicht einschüchtern. »Du denkst wohl, deine Worte könnten die Vergangenheit ungeschehen machen, Sula. Mein Vater war anwesend, als Tempe dich und deine Frau zu dem machte, was ihr heute seid. Wo ist er überhaupt? Will er sich dem neuen Falkenkönig nicht vorstellen?«
Der König nahm sich vor, überlegen zu wirken, aber Sula blieb gelassen und ließ seine Vernunft sprechen, für die er bekannt war.
»Das wirst du noch früh genug erfahren. Du bestehst darauf, das zu zerstören, was uns allen heilig ist. Solltest du als König nicht der Beschützer der Welten sein?«
»Seit langer Zeit hat dieser Tempe seine Macht missbraucht. Die anderen Machtwahrenden werden ihre Vergeltung bekommen. Du bist ein Verräter unserer Rasse!«
»Nein, Akira. Du bist unser aller König, nicht nur der Menschen. Wir sind eins. Ich kann es dir erklären.«
»Ich brauche keine Schilderungen von dir. Seit Jahrhunderten streiten sich die Krone und die Machtwahrenden. Meine Vorfahren sahen schon immer diese Machtbesessenheit in ihren vergifteten Seelen. Dieser Tag wird in Zilahas Geschichte eingehen. Das Königreich spaltet sich vom Glauben an seine Magie ab. Ein für alle Mal. Mein Plan ist aufgegangen. Uns ist es bestimmt, seine Kräfte zu haben, Fähigkeiten zu besitzen, die die Zeit manipulieren.«
Akira zückte den Bogen und nahm seine Kampfstellung ein.
»Es ist zwecklos. Dein Wesen ist verdorben. Du verstehst nicht, dass unsere Heimat untergehen wird, wenn du versuchst, diese Magie zu stehlen. Ein Machtwahrender zu werden ist eine zu enorme Verantwortung, die du nicht tragen kannst«, warnte Sula ihn und nahm armekreuzend eine Schutzstellung ein.
Unbeeindruckt legte Akira seine zweite Hand an den Bogen und spannte ihn an. »Ich werde sie stehlen. Und wenn ich sie nicht bekomme, dann bekommt sie niemand.«
Der Flitz seines Bogens wurde von Sulas Schutzzauber aufgefangen und weggeschleudert. Akiras Blick wanderte hoch zu der Kuppel des Mondpalastes und er versetze sich in die Lage seiner Vorväter, die es mit Tempe aufnehmen wollten und kläglich gescheitert waren. Er sammelte all seine Kraft und rannte mit ausgestreckten Händen auf Sula zu, um ihn zu erdrosseln. Doch das Tier mit den blau leuchtenden Augen sprang ihn aus dem Hintergrund heraus an und warf ihn zurück auf den harten Marmorboden. Nach seinem Überraschungsangriff verschwand das Wesen auf Sulas Befehl wieder in der Dunkelheit und ließ die Männer im Schein des Mondes ringen.
Akira misslang es, an Sula heranzukommen, der einem Gott diente, den er verachtete und um seine magischen Kräfte beneidete, und schrie aus Wut und Verzweiflung. Er nahm seinen Bogen, der eine lange Klinge am Rücken hatte, und schlug damit auf Sula ein, als sei er ein Schwert. Sula ließ Blitze und Funken aus seinen Fingerspitzen sprühen, um sich gegen die Schläge zu verteidigen. In einem Ritual hatte er Tempe ewige Treue geschworen und war dafür mit unermesslichen Fähigkeiten belohnt worden.
»Warum gibst du nicht auf? Hast du es nicht verstanden? Ich gewinne Zeit und du hast bereits verloren. Tempe hat den Palast verlassen und die anderen Machtwahrenden sind auf dem Weg ins Exil. Nur ich, mein Nachtkind und dein Sohn sind hier. Weder du noch deine Männer können sie aufhalten. Ihr unterschätzt die Magie dieses Landes und das ist dein Verhängnis«, sagte Sula, dessen glühende Fingerspitzen abkühlten. Er ergab sich dem Feind.
Akira war außer sich, weil er sich hatte täuschen lassen. Seine Hände fassten den Bogen und er rannte mit der Spitze auf Sula los. Die leuchtenden Augen traten erneut aus der Dunkelheit hervor, wie Akira es erwartete.
Das Nachtkind mit den scharfkantigen Hörnern lief mit hoher Geschwindigkeit auf den König zu, doch er schlug das Tier nieder. Schwer getroffen lag es auf dem kalten Boden, um Kraft für einen neuen Angriff zu sammeln. Durch die harte Wucht fiel es in einen Schlaf.
Sula blieb nüchtern stehen und ließ Akira auf sich zukommen. Mit offenen Armen empfing Sula den König, der ihm mit der Spitze des Bogens direkt in sein Herz stach. Er leistete keinen Widerstand.
»Du wirst mehr verlieren, als du besitzt«, waren Sulas letzte Worte, bevor er zu Boden fiel und wie ein ausgetobtes Kind einschlief, das die Welten umwandert hatte.
Das Nachtkind war wieder erwacht und bei Kräften und bemerkte, dass sein Reiter und treuer Freund verblutete.
Akira, mit seinem markanten Lächeln im Gesicht, das auf der linken Seite immer breiter als auf der rechten war, drehte sich um und verließ den Saal.
Die Sonnenkinder hatten Stahn gefesselt und suchten das Weite, während sein Vater gegen Sula und das Nachtkind kämpfte.
Akira fand ihn und löste die rostigen Fesseln seines Sohnes mit dem blutbeschmierten Bogen.
In den Fluren des Palastes war es wieder still geworden. Sula hatte Recht. Er hatte Zeit gewinnen wollen, damit seine Freunde verschwinden konnten. Außer sich, dass sein Sohn die Sonnenkinder hatte entkommen lassen, verpasste Akira ihm eine Ohrfeige.
»Du bist ein Nichtsnutz, eine Schande.«
Der König schaute durch den Flur zurück in den Saal auf den gefallenen Sula, an den sich der große Wolf mit den leuchtenden Augen schmiegte. Wieder hatte er Tempe nicht zu fassen bekommen, aber wenigstens war einer seiner stärksten und mächtigsten Krieger tot.
Akira und Stahn kletterten zurück auf ihre Dschungelhirsche und ritten durch die Gasse zwischen der Garde.
Die Narvik hatten keine Chance gegen die Machtwahrenden. Sie hatten sich wie durch Zauberhand an Akira vorbeigeschlichen. Solange sie Tempe nicht ebenbürtig waren, schien es zwecklos.
Selbstbewusst strahlte der König vor Glückseligkeit, weil er Niederlagen nie wirklich einsehen konnte. Er hob seine Arme hoch in die Lüfte und brachte seine Ritter zum Jubeln.
»Was jetzt, Vater?«, fragte Stahn und bereute es gleich wieder, einen Laut von sich gegeben zu haben.
»Mein Königreich kennt keinen Gott mehr und ich habe einen Zeitgeist getötet. Was für ein Triumph für unsere Familie.«
Stahn streichelte enttäuscht das struppige Fell seines Dschungelhirsches. Jetzt hatte er begriffen, dass die Legenden und Mythen der Wahrheit entsprachen, und sein Vater dabei war, sie zu zerstören. Es waren die fantastischen Geschichten und der Glaube an Tempe, die Zilaha zu einem außergewöhnlichen Ort machten.
Dem Volk standen Jahre der Unterdrückung und Unterwerfung bevor und es war ihm verboten, in den alten Lehren Trost zu suchen oder sich den Isegrim anzuschließen, die in Tempes Namen die Narvik stürzen wollten.
All die Gebetsbücher und Legenden waren verbannt, und der junge Stahn sah schwarzes Pech für dieses Königreich, dessen Scherben er eines Tages erben würde.
»Wenn die Sterne und ihr Glanz dein letzter Besitz sind, und du dich nährst am Salz deiner nächtlichen Tränen, gibt es immer noch den allwissenden Mond, mein Kind. Wir werden uns schon bald wieder sehen.«
- die letzten Worte eines Wächters der Räuberinseln, hingerichtet auf Befehl des Königs Rater der II. des Hauses Narvik
Kapitel 1
DER JUNGE SCHLEICHHÄNDLER
Biestige Klauen waren hinter ihm her und griffen nach seiner Kehle. Es war ein Wettrennen um Leben und Tod und er rannte so schnell wie der Wind an den Stränden der Küsten, die er so selten besuchte.
Zwölf Nächte waren vergangen und Dodeka hatte wieder denselben Alptraum.
Er saß unter einem vertrockneten Kirschbaum und schaute mit seinen mandebraunen Augen, die einen leichten Grünstich besaßen, in die Tiefen eines dunklen Waldes. Der Mond schien grell und blutrot. Alles, was Dodeka vor sich sah, waren tanzende Schatten und zwei leuchtende Augen, die ihn anstarrten.
Sein Körper zuckte im Schlaf und beinahe wäre er aus der Hängematte gefallen. Zumindest hätte ihn der Sturz wachgerüttelt, aber der Traum blieb hartnäckig.
Das wilde Tier heulte auf und jagte dem Jungen einen Schrecken ein. Er suchte in den vertrockneten Büschen nach einem Ausgang und pikte sich an den Dornen derumgebenden Sträucher. Das Jaulen verhallte und jedes einzelne Härchen stand Dodeka zu Berge. Eine schwarze Wolke folgte seinen Schritten und holte ihn fast ein. Sie hatte den Umriss eines Wolfes mit Hörnern und war hinter ihm her – hungrig und willig, zu töten.
»Wann – wann hört es auf?«, murmelte Dodeka im Schlaf.
Das Raubtier versuchte, in seine Beine zu beißen.
Als ihn die schattige Wolfswolke gerade packen wollte, wachte er schweißgebadet auf dem Holzboden seines Baumhauses wieder auf. Er war also doch wieder aus seiner Hängematte gefallen. Dodeka bekam kaum Luft und nahm eine Kelbennuss, die er am Morgen von den Palmen gesammelt hatte, öffnete sie mit einem scharfen Messer aus Sandholz und trank ihre süßliche Milch. Sein Herz pochte rasend schnell, seine Hände zitterten und seine langen schwarzen Haare waren durchnässt vom Schweiß seines Fiebertraums.
Es war dunkel und der Vollmond schien nicht nur in seinem Traum. Sein Schein zeichnete die Schatten der Äste in Dodekas Baumhaus und auf seine Hängematte, aus der er gefallen war. An diesen schaurigen Anblick, der manch anderen vom Schlafen abhalten würde, hatte er sich gewöhnt. Das Einzige, was ihn störte, war der tote Baum direkt vor seinem Fenster, dessen Schatten in Nächten wie dieser an seinen Wänden tanzten.
Seine beste Freundin Amicitia riet ihm, Vorhänge anzubringen. Weil er es liebte, in die Ferne zu schauen und Wildaffen beim Singen zu beobachten, ignorierte er ihren Vorschlag. Vor allem jetzt im Sommerjahr, wo die Wildaffen mit ihren Kleinen umherwanderten und schrille Töne von sich gaben. Sie machten es den Jägern der Narvik leicht, aufgespürt zu werden, und nicht selten sah man ihre Knochen und Schädel als Schmuck oder Waffe in den Dörfern. Erst letzte Woche war ein Wildaffenkleines auf Dodekas Baumhaus gepurzelt. Er teilte seinen mickrigen Vorrat und ließ den Affen an der Grenze des Dschungels frei, von der er nicht weit entfernt wohnte.
Er erholte sich von seinem Alptraum und begutachtete eine Tasche, die er kurz vor dem Schlafengehen gepackt hatte. Morgen fuhr die Elevengruppe der einzigen Dorfschule durch die tiefen Regenwälder bis an die Dünengrenzen. Ein verlassener Ort, der Dorfmenschen wie Dodeka nicht interessierte. Die meisten Jäger fürchteten den Dschungel und wagten es nicht, ihn bis zu seinem Ende zu durchqueren. Vor allem Jäger des Königs kehrten jedes Mal heim, wenn sie auf einen Grünbären im Regenwald trafen. Sie waren ein böses Omen. Ihre Haut war zu dick, um sie mit bloßen Pfeilen zu penetrieren. Zudem waren sie schnelle Läufer und hatten scharfe Reißzähne. Zum Glück der Dorfbewohner hielten sich diese Raubtiere nahe der Dünen auf und schliefen die meiste Zeit in den Wurzellöchern toter Bäume.
Dodekas Schulmeisterin, Professorin Abrams, bestand darauf, ihnen zu zeigen, wie die Welt hinter den Dörfern aussah und was sich dort für aufregende Dinge verborgen hielten. Sie war schon immer vom Dschungel fasziniert gewesen und sprach in letzter Zeit von nichts anderem mehr. Ich suche nach einer bislang unbekannten Blumenart, die blau leuchtet. Ich brauche sie für meine Studien. Sie genoss hohe Anerkennung unter den Eleven, auch wenn sich die Begeisterung über die Expedition bei ihren Schülern in Grenzen hielt.
Dodeka hatte Amicitia von Abrams erzählt.
Die Almater auf der Schlossseite, eine Schule, in der nur Nachfahren von Adelsblut oder Kinder von Bediensteten aus dem Schloss unterrichtet wurden, bot Abrams eine Stelle als hauseigene Direktorin an. Es hieß, Königin Edith persönlich hätte sie aufgesucht. Alle Schulmeister der Almater genossen hohes Ansehen für ihre erfolgreichen Studien und essentiellen Beiträge für die königliche Registratur und waren zudem Berater der Krone. Aber Abrams war enttäuscht, dass es keine bezahlbare Bildungsstätte für Dorfkinder und Waisen gab. Eleven, die ihre Akademie aufsuchten, sollten nach Wissen streben und erpicht darauf sein, die Kultur dieses Landes zu lernen, die einst von Tempes Lehren geprägt gewesen war.
Und so hatte Abrams ein Pendant zur Almater der Falken geschaffen. Eine Akademie für das gemeine Volk, die Nicht-Falken. Alle Adlige und Schlossbedienstete trugen den Titel des Falken. Eine Ehre, die ihnen zuteil kam, weil sie für ihren Falkenkönig über Leichen gehen würden – zumindest wurde das von ihnen erwartet.
Dodeka und die restlichen Schüler, die ihn Dode nannten, empfanden es als Privileg, Abrams als Schulmeisterin zu haben, weil sie der Königin eine Abfuhr erteilt und keinerlei Konsequenzen dafür getragen hatte. Sogar die Falken hatten Respekt vor dieser jungen und weisen Frau.
Nicht alle waren von der Idee einer Reise außerhalb der Dörfer begeistert. Gemunkel brach darüber aus, dass die Königin Abrams keine Wahl ließ, die Eleven aus der Almater auf die langgeplante Expedition mitzunehmen. Auch sie sollten endlich einen Blick hinter die Schlossmauern wagen dürfen.
Dode war es egal, wo sie hinfuhren. Hauptsache, er musste für eine Weile keinen Schrott auf dem Marktplatz verkaufen. Die Kosten für Abrams Akademie, die von ihr niedrig gehalten wurden, und für die Expedition bezahlte er damit, dass er Figuren und Ringflöten aus Sandholz und Müll, den er auf dem Markt stahl, schnitzte und verkaufte. Wie oft war er schon um Haaresbreite von der Garde der Narvik erwischt und weggesperrt worden, als er auf dem Basar seine Schnitzereien unerlaubt an den Mann brachte oder gestohlenes Obst und Gemüse verkaufte. Für einen eigenen Stand waren die Anmeldegebühren und Steuern zu hoch und das Silber reichte vorn und hinten nicht aus, um wie die anderen Händler, die seit Generationen dabei waren und weniger Abgaben zahlten, Gewinne zu machen. Er versorgte sich selbst und versteckte sich vor der steuereintreibenden Narvikgarde. Zumindest besuchte er bereitwillig die Schule, denn die bezahlte er schließlich aus eigener Tasche.
Seine einzig wahre Freundin Amicitia, Ami, war eine Elevin der Almater. Ihre Eltern arbeiteten und lebten die meiste Zeit im Schloss, was sie und damit auch Ami zu Falken machte. Ihre Aufgabe war es, die Dienerinnen und Diener des Adels auszubilden, sodass sie ihre Tochter kaum noch zu Gesicht bekamen.
Dode hatte Ami auf dem großen Markt kennengelernt, als er ihr selbstgebaute Feuerwerkskörper und selbstgeschnitzte Spielsteine andrehte. An dem Tag feierten die Zilahaer heimlich den Tempe-Tag. Sie beteten zu ihrem verbotenen Gott und trotzten den Verordnungen des Königshauses. Der Feiertag sollte immer mehr in Vergessenheit geraten und der König verbannte das traditionelle nächtliche Feuerwerk und alles, was nur im Geringsten mit Tempe in Verbindung stand. Er wäre erbost gewesen, wenn er erfahren hätte, dass selbst seine engsten Berater am Tempe-Tag zu ihrem Gott sprachen. Akira unterschätzte die langwierigen Traditionen des Glaubens und drohte mit harten Strafen, die viele in Kauf nahmen, weil ihnen Tempe, wie der Mond am Nachthimmel, Licht schenkte.
Dode war überrascht, als Ami ihm die Sachen abkaufte. Seitdem sie sich kannten, machte Ami sein gefährliches Leben als Schleichhändler erträglicher. So nannte man in Zilaha einen Händler, der auf den geheimen Wegen des Schwarzmarktes schlich und schon bald dabei erwischt werden würde.
Sie verstanden sich deshalb so blendend, weil sie beide früh lernten, selbständig zu sein. Als Kleinkind hatte Ami ihr Kindermädchen Hera, das ihr Gesellschaft leistete. Die Hilfe, für die sie eingestellt worden war, brauchte Ami irgendwann nicht mehr, sodass Hera nur noch ab und an zu Besuch kam und sich von Ami mit Kelbennussbrot verwöhnen ließ.
Amis Eltern hatten sich gänzlich auf ihre Stellung im Königshaus konzentriert. Ihre Prioritäten lagen bei der Krone und nicht bei ihrer klugen Tochter. Es war ihnen keineswegs schwergefallen, Ami in fremde Hände zu geben und mit goldenen Schmuckstücken bei Laune zu halten. Ihr Mädchen verbrachte ihre Kindheit die meiste Zeit in den Schlossmauern, bis sie Ami ein Anwesen in der Nähe von Dodes Baumhaus kauften. Schon immer hatten sie ihre Anerkennung in Form von Geschenken gezeigt. Ihre Tochter stand ihnen im Schloss im Weg. Ami platzte in ihren Ausbildungsunterricht, um zu spielen, oder weil sie um neue Geschichten winselte. So sorgte sie für unnötige Aufmerksamkeit. Wenn man eine angesehene Persönlichkeit im Narvikschloss sein wollte, war Aufmerksamkeit das Letzte, was man erregen sollte.
Dode und Ami sahen die Welt in all ihren bunten Farben und hatten keine Angst vor dem Fremden, lebten allein und liebten ihre Unabhängigkeit. In den Zeiten, in denen sie sich einsam fühlten, hatten sie sich.
Dode lag wieder im Bett und überlegte, warum ihn dieser Albtraum wieder nicht verschonte. Er griff nach der Ringflöte seines Vaters, setzte sich an sein rundes Fenster und spielte sylphidenhafte Melodien aus dem alten Zilaha, wo jeder, der in Not war, sich mit diesem Lied an Tempe gewandt hatte.
Der Text zu dem Stück handelte von einer Welt, in der wundersame Wesen zusammen mit Menschen in Frieden und Einklang, und die Monarchie in Versöhnung mit den alten Legenden der damaligen Zeit lebten. Es war ein Kinderlied, dessen Melodien Wärme und Zuversicht spendeten und Kindern lehrte, tolerant und mit einem offenen Herzen zu leben:
»Zwischen den Welten der Menschen und Tiere,
leben wir Kinder auf allen vieren.
Uns gibt es in allen Farben und Größen,
liebe den Nächsten und die Verstoßenen.«
»Es gibt keine Götter. Und wenn doch, dann haben sie uns im Stich gelassen«, hatte Elias, Dodes Vater, wieder und wieder zu seinem Sohn gesagt, als er noch lebte. Heute schien sein Stern am Himmel.
Er, sein Baby und viele andere Söhne von Schmieden verließen die Räuberinseln auf Anweisung des Königs vor fast eineinhalb Jahrzehnten. Damals hatte Elias seinen jüngeren Bruder Danis im Streit zurückgelassen. Seit er sich von seiner Heimat trennen musste, war Elias nie mehr derselbe witzige und leidenschaftliche Mann gewesen, der bei allen beliebt war. Auch später genoss er weiterhin hohes Ansehen, aber es waren Fremde, die ihn allein wegen seiner Unterhaltungskunst als Freund schätzten und sein exzessives Trinken tolerierten.
Dode bewahrte den Abschiedsbrief seines Vaters auf – versteckt, falls sein Baumhaus von der Garde der Narvik durchsucht werden würde. Die Truppen des Königs schicken Elternlose in das Waisenhaus auf den Räuberinseln. Dort schufteten sie in den Arbeitslagern und Mienenbergen. Waren sie einmal rekrutiert, gab es für viele kein Zurück mehr. Das Sterngold in den Bergen war dann das einzige Licht, das sie umgab und den Mut aus ihnen heraussog. Die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter, die schon als Kinder auf die Räuberinseln kamen, konnten sich dann kein Leben in den Dörfern des Festlandes mehr vorstellen. Die Suche nach Arbeit und Essen, die ständige Kontrolle durch die Garde – auf den Räuberinseln waren sie weit weg von alldem und für sich. Solange sie die Bestellungen des Königs fertigstellen konnten, gab er ihnen Ruhe. Sie hatten den schlechten Umgang hingenommen.
Elias, der wegen der Anordnung des Königs in die Dörfer ziehen musste, hatte mit seinem Sohn nie über seine Mutter gesprochen. Der konfliktmeidende Dode wollte ihn nicht reizen, fand sich damit ab und glaubte, sie sei bei seiner Geburt gestorben. Jetzt war es zu spät, um nach ihr zu fragen.
Er vermisste, wie ihm sein Vater Lieder vorspielte und Geschichten vortrug. Immer wieder gab es gute Tage, an denen er sich mit ihm an den kleinen Dingen im Leben erfreuen konnte. Elias hatte dem jungen Dode erzählt, dass sein Name aus den alten Zeiten stammte und für Dodeka, die Zahl Zwölf stand. ›Mein Sohn, du gehst mir auf den Zeiger. Deshalb dieser Name.‹
Jetzt wo er nicht mehr lebte, war Dode auf seinen Vater nicht gut zu sprechen, weil die Wunden, die sich in sein Herz gefressen hatten, bislang nicht verheilt waren. Hin und wieder hatten ihn alte Trinkkumpane von Elias angesprochen, wenn er auf dem Weg zum Marktplatz war, um Schnitzfiguren zu vertreiben. Heute machte er einen großen Bogen um sie, weil er sie für den Tod seines Vaters als mitschuldig ansah. Heimlich hatten sie ihm mehr Kelbenlikör eingeschenkt, damit er nicht aufhörte, zu singen. Nach solchen Feiern hatte Dode seinen Vater bis ins Baumhaus getragen und gesäubert, in der Hoffnung, er wüsche die Beschämung mit weg.
Es war für alles zu spät. Dode brachte es nicht über seine Seele, das Kinderlied zu Ende zu spielen, weil Erinnerungen an die Töne geknotet waren. Die himmlischen Klänge, die Dode mit der Ringflöte erzeugte, durfte niemand vergessen, aber er war zu wütend, um zum Ende des Liedes zu kommen. Er setzte die Ringflöte ab und legte sich aufgelöst in seine gemütliche Hängematte, in der früher sein Vater geschlafen hatte. Auch ich hatte Schuld an seinem Tod, dachte Dode.
Der Mond schien heute Nacht wieder über ihn zu wachen. Dode kämpfte mit den Tränen und schlief mit Mühe zusammengekauert ein.
»Hinter rostigen Schlössern und gewaltigen Toren, sind wir allesamt verloren. Hinter Bogenfenstern und loderndem Feuer, erwarten uns Abenteuer.«
- überliefertes Zitat des 256. Zeitgeistes Laro
Kapitel 2
DULCIAS AUGEN
Vor seinem Baumhaus saß Dode auf einem Stein und mied die Blicke seiner Nachbarn. Sie hatten Mitleid mit dem Waisenjungen, boten aber anderweitig keine Unterstützung. Jeder war auf sich allein gestellt.
An einem großen Steinbrocken kreuzte sich der Pfad der meisten Eleven aus den Dörfern, die sich in Abrams kleine Akademie begaben.
»Ich komme ja schon«, rief Ami aus weiter Entfernung. »Viel Schlaf hattest du wohl heute Nacht nicht. Irgendwann besorge ich dir diese Augenklappen«, sagte sie und inspizierte die dunklen Ringe unter Dodes Augen.
»Sowas brauche ich nicht. Das tragen nur die Falken, um wegzuschauen«, antwortete Dode mit einem ironischen Blick, und sie brachen auf.
Für einen kurzen Moment schämte Ami sich. Sie trug goldene Armreife und Ohrringe, die aussahen wie zilahanische Krokuslilien. Außerhalb des Schlosses legte sie üblicherweise ihren Schmuck ab. Seit sie und Dode mehr Zeit miteinander verbrachten, hoffte sie insgeheim, dass er ihre braunen Augen, die durch das Gold der Schmuckstücke zur Geltung kamen, bemerken würde. Heute war ihm der Schmuck aufgefallen.
»Hast du nicht Angst, jemand wird uns überfallen?«
»Na gut, ich nehme sie ab. Ich fand sie schon immer hässlich. Warst du schon abseits der Dörfer?«, fragte Ami und packte ihren Schmuck in ihre beige Tunika.
»Es ist lange her. Ich wohnte als Wickelkind jenseits der Dorfgrenzen.«
Ami hakte nicht mehr nach und ließ das Thema wie den Flatterdrachen vorbeiziehen, der über ihren Köpfen sein Nest suchte und vor sich hin trällerte. Dode strich sein langes schwarzes Haar hinter sein rechtes Ohr und richtete seinen Blick zurück auf den Schulpfad.
»Ich hoffe, Abrams hat sich nicht zu viel vorgenommen. Gestern habe ich die Karte studiert. Bis wir an die Dünengrenzen kommen, muss der ganze Regenwald durchkreuzt werden und das wird Tage dauern«, seufzte Ami, die zum ersten Mal den Regenwald erkunden würde.
»Mach dir nicht so viele Gedanken um Abrams. Sie weiß schon, was sie tut.«
Im Sommerhalbjahr gab es Tage, an denen es stundenlang regnete. Am Morgen waren die Wege voller Pfützen. Ami wich ihnen im großen Bogen aus und Dode schien absichtlich reinzutreten. Er peilte eine an, berührte das Wasser mit seinem Stiefel und urplötzlich erschienen zwei hell leuchtende Punkte.
Träumte er?
Erschrocken warf er einen Blick hoch zu den Bäumen und wunderte sich, ob es womöglich die Augen von Wildaffen waren, die sich in der Pfütze spiegelten. Lass es bloß nicht dieser Wolf sein, sagte er zu sich selbst und bekam eine Gänsehaut.
»Meinst du, wir müssen unsere Mahlzeiten selber besorgen?«, fragte er, um sich abzulenken.
»Ich habe das hier mitgebracht.« Ami zeigte ihm in ihrem Flechtbeutel ein Buch mit dem Titel Sammlertechniken von Professorin Lilia Abrams.
»Wenn wir die Grenzen hinter den Dünen erreichen, wirst du keine Beeren oder Blätter finden. Du wirst jagen müssen.«
»Eher verhungere ich und laufe den Grünbären in den Schoß«, quiekte Ami und wandte sich wieder dem Weg zu.