Sonne und Stahl - Yukio Mishima - E-Book

Sonne und Stahl E-Book

Yukio Mishima

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Beschreibung

»,Sonne und Stahl‘ ist eine Darstellung meines fast schicksalhaften dualistischen Denkens und eine Erzählung über die physiologische Notwendigkeit, dualistisches Denken zu entwickeln.« Yukio Mishima Yukio Mishima gilt als einer der bedeutendsten und meistübersetzten Autoren Japans. Er wurde nicht nur durch seinen Roman „Bekenntnisse einer Maske“, sondern auch durch seinen Selbstmord 1970 weltbekannt. Damals hatte er in Tokio in einer theatralischen Aktion einen Putsch zugunsten des japanischen Kaisers ausgerufen und dann vor aller Augen Harakiri begangen. In seinem autobiografischen Spätwerk „Sonne und Stahl“, das 1968 als Gesamttext veröffentlicht wurde, reflektiert Mi­shima vor dem Hintergrund seiner intellektuellen, spirituellen und physischen Entwicklung insbesondere die Beziehung zum eigenen Körper, zu dem er erst in seiner zweiten Lebenshälfte durch obsessives Training in Bodybuilding und Kampfkunst sowie einer Episode beim japanischen Militär einen positiven Bezug entwickeln konnte. Mittels einer eigenwillig subversiven und elektrisierend poetischen Metaphorik lässt er uns teilhaben an seiner Verwandlung vom „Mann der Worte“ zum „Mann der Tat.“ In dieser paradoxen Verfassung kreiert er, den parasitären Worten zum Trotz, eine mystische Sprache des Körpers, um seine persönliche „Fleischwerdung des Logos“ zu inszenieren.

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Taiyō to Tetsu

Inhalt

Kapital 1

Epilog – F104

Seit einiger Zeit habe ich oft das Gefühl, dass sich in mir alle möglichen Dinge anstauen, die sich in einer herkömmlichen Kunstgattung wie dem Roman nur schwer darstellen lassen. Andererseits bin ich kein zwanzigjähriger Lyriker mehr beziehungsweise bin auch nie einer gewesen. Auf der Suche nach einem alternativen Genre für mein persönliches Anliegen stieß ich schließlich auf eine hybride Form, die, angesiedelt zwischen Bekenntnis und kritischer Abhandlung, eine subtile, zweideutige Form darstellt – eine ‚persönliche Reflexion‘ gewissermaßen. Eine Art Zwielicht im Grenzbereich zwischen Nacht des Bekenntnisses und helllichtem Tag der Kritik, im Grenzbereich des tasogare1 – Wer ist er? – im etymologischen Sinn.

Das ‚Ich‘, von dem ich spreche, ist nicht dasjenige, das im strengen Sinne zu mir gehört. Denn es strömen nicht alle von mir geäußerten Worte in mein Inneres zurück, sondern es bleibt etwas übrig – ein Rest, der nicht zurückströmt oder mir zuzuordnen ist. Eben auf diesen beziehe ich mich, wenn ich von meinem ‚Ich‘ spreche.

Beim Nachdenken über die Beschaffenheit dieses ‚Ich‘ kam ich zu dem Schluss, dass es genau den Raum markiert, den ich physisch einnehme. Was ich also suchte, war eine Sprache2 meines ‚Körpers‘.

Wenn mein ‚Selbst‘ meine Heimstatt ist, dann ist mein Körper eine Art Obstgarten, den ich entweder bis zur Perfektion kultivieren oder aber verwahrlosen lassen kann. Ich habe zwar die freie Wahl, aber es ist keine leicht zu begreifende Freiheit. Die meisten Menschen würden ihren heimischen Garten sogar als ‚schicksalsgegeben‘ bezeichnen.

Eines Tages kam ich auf die Idee, meinen Obstgarten intensiv zu bewirtschaften. Dazu dienten mir Sonne und Stahl. Kontinuierliches Sonnenlicht und stählerne Gerätschaften wurden zu den beiden wichtigsten Elementen meiner Kultivierung. Und als der Garten allmählich Früchte trug, begann mein Körper einen erheblichen Teil meiner Gedanken einzunehmen.

So etwas geschieht natürlich nicht über Nacht und auch nicht ohne einen tief verborgenen Antrieb.

Denke ich an meine Kindheit zurück, dann scheinen die Erinnerungen an Worte viel weiter in die Vergangenheit zu reichen als die an meinen Körper. Während bei den meisten Menschen der Körper den Worten vorausgehen dürfte, war es bei mir genau andersherum: zuerst die Worte und erst viel später – und das ziemlich unwillig – das Körperliche, das zu diesem Zeitpunkt bereits mit bestimmten abstrakten Konzepten einherging. Selbstredend war es da schon durch Worte heillos zerfressen.

Normalerweise steht zuerst der Pfahl aus rohem Holz und dann kommen die Termiten, um ihn zu zernagen. In meinem Fall jedoch tauchten zuerst die Termiten auf und erst später der rohe Pfahl, schon halb morsch.

Meine Leser mögen es mir nachsehen, dass ich die Worte, die grundlegender Bestandteil meines Handwerks sind, als Termiten bezeichne. Jede Wortkunst beruht grundsätzlich auf ihrer ätzenden Wirkung, wie Salpetersäure sie bei der Radierung hat, und bei der Erschaffung unserer Werke machen wir uns diese die Wirklichkeit zersetzende Kraft der Sprache zunutze. Doch der Vergleich hinkt, denn die bei der Radierung verwendeten Elemente Kupfer und Salpetersäure entstammen beide der Natur, während das Verhältnis von Wörtern und Wirklichkeit nicht auf der gleichen Ebene angesiedelt ist. Wörter sind ein Medium, das die Wirklichkeit auf eine abstrakte Ebene überführt, um sie unserem rationalen Verstand zu vermitteln. Daher läuft ihre zersetzende Wirkung unweigerlich Gefahr, dass die Worte selbst zersetzt werden.

Ein passenderer Vergleich wäre vielleicht der mit der Wirkung überschüssiger Magensäure, die ihr Organ selbst verdaut und zerfrisst.

Die meisten Menschen dürften bezweifeln, dass sich dieser Vorgang bereits im frühesten Lebensstadium ereignet. Aber genau das ist mir untrüglich widerfahren und hat zwei widersprüchliche Neigungen in mir angelegt. Zum einen meine Entschlossenheit, die ätzende Wirkung von Worten konsequent voranzutreiben und dies zu meinem Beruf zu machen, zum anderen meine Sehnsucht, in einer Sphäre jenseits von Worten mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen.

In einem ‚gesunden‘ Entwicklungsprozess besteht kein Konflikt zwischen diesen beiden Bedürfnissen, nicht einmal bei geborenen Schriftstellern. Sie ergänzen sich vielmehr mit dem meist glücklichen Resultat, dass das Erlernen von Wörtern zu einer Neuentdeckung der Wirklichkeit führt. Aber hierbei handelt es sich um eine ‚Wiederentdeckung‘, die voraussetzt, dass der Betreffende zu Beginn seines Lebens über eine unverfälschte Körpererfahrung verfügte, die nicht schon vorher durch Worte kontaminiert war, was auf mich nun mal nicht zutraf.

In der Schule reagierten die Japanischlehrer3 oft verständnislos auf meine fantasiereichen Aufsätze, deren Inhalte niemals einen Bezug zur Realität aufwiesen. Vermutlich hatte ich bereits in frühesten Jahren eine unbewusste Ahnung von den subtilen und pedantischen Gesetzen der Sprache. Ich wusste intuitiv, dass es besser sei, den Kontakt zur Wirklichkeit mittels Worten nach Möglichkeit zu vermeiden. Anders gesagt, es galt, nur die Fühler der positiven Ätztechnik auszustrecken, jedoch die zersetzungsanfälligen Objekte zu meiden, um mir ausschließlich die positiv zersetzende Kraft von Worten zunutze zu machen und ihren negativen Auswirkungen zu entgehen – einfacher ausgedrückt: um den Worten ihre Reinheit zu bewahren.

Die natürliche Reaktion darauf war, dass ich die Existenz von Wirklichkeit und Körperlichkeit frei und offen nur in Bereichen zuließ, wo Worte keine Rolle spielten. Wirklichkeit und Körper sind für mich zu Synonymen geworden, zu Objekten eines fetischistischen Interesses. Mein Faible für Worte begann sich dann zweifellos, wenn auch unbewusst, auf diesen anderen Bereich auszudehnen, sodass jener Fetischismus mit meinem Wort-Fetischismus genau korrespondierte.

In der ersten Phase schlug ich mich selbst logischerweise voll und ganz auf die Seite der Worte, während ich den Komplex Körper/Wirklichkeit/Handeln den Anderen zugeordnete. Fest steht ebenso, dass diese von mir geschaffene Antinomie meiner Voreingenommenheit für Sprache weiteren Vorschub leistete, während sich zugleich ein tief verwurzeltes Unverständnis von Körper/Wirklichkeit/Handeln in mir heranbildete.

Diese Spaltung fußte auf der Vorstellung, dass ich weder Körper noch Wirklichkeit oder Handeln als mir zugehörig empfand. Der Körper suchte mich ja mit erheblicher Verspätung in meiner ersten Lebensphase auf, sodass ich ihn bereits mit Worten ausgestattet empfing und aufgrund besagter ursprünglicher Neigungen vermutlich nicht sogleich als ‚mein eigenes Fleisch‘ erkannte. Hätte ich ihn akzeptiert, wäre die Reinheit meiner Sprache verloren gegangen. Aus mir wäre ein von der Realität befallenes Subjekt geworden, ich hätte ihr nicht mehr entkommen können.

Das Kuriose war jedoch, dass ich dem Körperlichen4 vor allem deshalb so hartnäckig trotzte, weil in meiner Auffassung vom Körper von vornherein ein entzückendes Missverständnis steckte. Ich wusste nicht, dass der männliche Körper sich per se niemals als ‚Existenz‘ offenbart. In meiner Auffassung jedoch musste er sich partout als ‚Existenz‘ manifestieren. Deshalb erschrak ich mächtig, als sich mein Körper schließlich unverhohlen als schreckliches Paradoxon entpuppte – nämlich als eine Form des Seins, das seine eigene Existenz negiert. Ich geriet in Panik, als wäre ich einem Ungeheuer begegnet, und bildete mir ein, ich wäre die große Ausnahme. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass es anderen Männern, praktisch allen, genauso erging wie mir.

Insofern ist es kein Wunder, dass ein solches Schockerlebnis, auch wenn es offenkundig auf einem Missverständnis beruht, zwangsläufig zur Fiktion eines ‚idealen Körpers‘, einer ‚idealen Wirklichkeit‘ führt. Nicht mal im Traum hätte ich daran gedacht, dass ein Körper, dessen Daseinsform die eigene Existenz negiert, im Allgemeinen den Prototyp des männlichen Körpers abgibt. Stattdessen erschuf ich meinen ‚idealen Körper‘, indem ich versuchte, ihm genau die entgegengesetzten Eigenschaften zu verleihen. Und da mein eigenes leibliches Sein in seiner vermeintlichen Abnormität vermutlich ein Produkt der intellektuellen Zersetzung durch Worte war, musste der von mir erdachte ‚ideale Körper‘ sowie die ‚ideale Wirklichkeit‘ absolut frei von sprachlicher Beeinflussung sein. Mein Idealkörper zeichnete sich durch zwei Merkmale aus: die Schönheit der Gestalt und das Schweigen.

Wenn aber die zersetzende Kraft der Worte zugleich eine gestalterische Funktion besitzt, dachte ich mir, dann musste sie ihr Vorbild in der formalen Schönheit dieses ‚idealen Körpers‘ finden. Demnach beruht das Ideal der Sprachkunst auf der Nachahmung körperlicher Schönheit – mit anderen Worten: Es liegt im Streben nach einer Wirklichkeit, die nie zersetzt wird.

Dies war ganz klar ein Widerspruch in sich, der auf den Versuch hinauslief, die Worte ihrer wesentlichen Funktion und die Wirklichkeit ihrer wesentlichen Merkmale zu berauben.

In anderer Hinsicht war es jedoch eine äußerst clevere, raffinierte Methode, um sicherzustellen, dass die Worte und ihr Objekt, die Wirklichkeit, niemals miteinander in Berührung kamen.

Indem sich mein Verstand, wenn auch unbewusst, beide Widersprüche als zwei Eisen im Feuer hielt, konnte er sie nach eigenem Gutdünken, von einem gottgleichen Standpunkt aus, manipulieren. Auf diese Weise begann ich Romane zu schreiben, was mein Verlangen nach Wirklichkeit und Körper noch verstärkte.

Erst sehr viel später lernte ich, dank Sonne und Stahl, die Sprache des Körpers kennen, so, wie man sich eine Fremdsprache aneignet. Diese second language war meine prägende Bildung, und nun ist es an der Zeit, darüber zu sprechen. Es wird vermutlich eine beispiellose Chronik einer Bildung werden, aber zugleich auch eine äußerst komplizierte.

Als Kind sah ich einst den mikoshi5-Trägern zu, wie sie völlig verzückt mit einem unbeschreiblich hingebungsvollen Gesichtsausdruck den Schrein durch die Straßen transportierten. Den Blick zum Himmel gewandt, hatten einige sogar den Kopf komplett zurückgelegt und sich ganz der Tragestange im Nacken überlassen, wobei mich vor allem das Mysterium faszinierte, das sich in ihren Augen widerspiegelte.

Ich konnte mir nicht vorstellen, was für eine ekstatische Vision eine derartige körperliche Strapaze hervorzurufen vermochte. Dieses Mysterium ging mir lange Zeit nicht aus dem Kopf. Erst viele Jahre später, als ich die Sprache des Körpers zu erlernen begann, war ich selbst aus freien Stücken an einer solchen Prozession beteiligt, was mir die Gelegenheit bot, das drängende Geheimnis aus Kindheitstagen zu lüften. Die Männer blickten einfach nur zum Himmel. Es gab keine Visionen in ihren Augen, sondern dort spiegelte sich einzig und allein der unendlich blaue Himmel eines frühen Herbsttages. Es war allerdings ein seltsamer Himmel, wie ich ihn vielleicht kein zweites Mal erleben werde: Wenn ich mich von ihm in höchste Höhen geschraubt fühlte, dann stürzte er in eine Art tiefen Abgrund – ein ständiger Wandel, luzide und wahnsinnig zugleich. Dieses Erlebnis erschien mir so bedeutsam, dass ich sogleich eine kleine Abhandlung dazu verfasste.

Ich war nämlich an einem Punkt angelangt, wo es keinen Zweifel mehr gab, dass der blaue Himmel, den ich kraft meiner poetischen Intuition geschaut hatte, mit dem, der sich in den Augen der jungen Burschen aus dem Straßenvolk spiegelte, identisch war. Dieser Moment der Erkenntnis, den ich so lange ersehnt hatte, war nichts anderes als ein Geschenk von Sonne und Stahl.

Es gibt keinen Grund, an der Identität dieser kollektiven Erfahrung zu zweifeln, denn die Unterschiede der individuellen Empfindungen sind durch etliche Faktoren auf ein absolutes Minimum beschränkt, sofern wir über ähnliche physische Voraussetzungen verfügen und die körperliche Belastung untereinander aufteilen, ein jeder ein vergleichbares Quantum an Strapazen erleidet und sich vom Rausch gleichermaßen mitreißen lässt. Wenn dabei introspektive Elemente wie Halluzinationen durch Drogen weitgehend ausgeschlossen werden können, dann lässt sich mit Sicherheit behaupten, dass es damals keine rein persönliche Einbildung meinerseits war, sondern ich definitiv Anteil hatte an einer kollektiven Erfahrung. Meine poetische Intuition erhielt erst hinterher den Vorrang, nachdem ich die kollektive Erfahrung verbal in mir wachgerufen und rekonstruiert hatte, während mir im Kontakt mit dem schwankenden blauen Himmel das Pathos eines Handelnden in seinem innersten Kern erfahrbar wurde.

In diesem unsteten Himmel, der wie ein ungestümer Riesenvogel mit ausladenden Schwingen auf und ab wogte, erkannte ich das wahre Wesen dessen, was ich schon lange als ‚das Tragische‘ bezeichnet hatte.

Nach meiner Definition entsteht das Pathos des Tragischen, wenn eine ganz durchschnittliche individuelle Empfindsamkeit in einem gewissen Moment eine privilegierte Erhabenheit erlangt, die nicht jedem vergönnt ist, und es bleibt aus, wenn eine außergewöhnliche Empfindsamkeit ihr Privileg zur Schau stellt. Diejenigen, die mit Worten agieren, können demzufolge zwar Tragödien erschaffen, aber nicht an ihnen teilhaben. Außerdem muss die privilegierte Erhabenheit unbedingt auf einer gewissen körperlichen Kühnheit beruhen. Alle Elemente des Tragischen, seien es todesmutige Entschlüsse, Rauschzustände, Klarsicht usw., entstehen dadurch, dass eine mit physischer Kraft ausgestattete durchschnittliche Empfindsamkeit auf einen privilegierten Moment trifft, der nur ihr vorbehalten ist. Die Tragödie erfordert eine anti-tragische Vitalität, Ignoranz und eine gewisse ‚Inadäquatheit‘. Um in einem bestimmten Moment ein göttliches Wesen zu sein, darf man unter normalen Umständen weder ein Gott noch gottgleich sein. Nur solch ein Individuum vermag diesen wundersamen heiligen Himmel zu erblicken, und erst als ich ihn mit meinen eigenen Augen sah, war ich imstande, der Allgemeingültigkeit meiner Empfindungen zu vertrauen, war mein Verlangen gestillt und mein krankhaft verblendeter Glaube an die Funktion der Worte ausgelöscht. In jenem Moment war ich Teil der Tragödie, war Teil eines allumfassenden Seins.

Infolge dieses Erlebnisses begriff ich vieles, was ich bis dahin noch nicht verstanden hatte. Das, was die Worte mystifiziert hatten, wurde durch die Betätigung der Muskeln spielend leicht entschlüsselt. Eine ähnliche Erfahrung ist es, wenn man die Bedeutung der Erotik erfasst. Allmählich erschloss sich mir das Gefühl des Daseins und des Handelns.

Insoweit hätte dies jedoch lediglich dazu geführt, dass ich, wenn auch mit Verzögerung, denselben Pfad wie andere beschritten hätte. Mir schwebte hingegen ein anderes, eher persönliches, eigenwilliges Konzept vor. In der Welt des Geistes wäre es kein bemerkenswertes Ereignis, wenn ein bestimmter Gedanke sich dort einnistet, anschwillt und ihn schließlich ganz für sich in Anspruch nimmt. Inzwischen allerdings, wo ich des Dualismus von Körper und Geist überdrüssig geworden war, keimte in mir die naheliegende Frage auf, wieso ein solches Ereignis unbedingt nur innerhalb des Geistes auftreten und an dessen Peripherie enden sollte. Natürlich gibt es in der Psychosomatik Fälle, wo beispielsweise eine mentale Belastung Magengeschwüre verursacht. Aber meine Überlegungen gingen darüber hinaus. Wenn davon auszugehen war, dass mein infantiler Körper sich zunächst, von Worten zerfressen, ausschließlich in seiner intellektuellen Gestalt gezeigt hatte, sollte es dann nicht genauso möglich sein, den beschriebenen Prozess für ein anderes Ziel nutzbar zu machen? Soll heißen, den Geltungsbereich einer Idee vom Geist auf den Körper auszudehnen, bis der gesamte Leib zu einer Rüstung wird, die aus dem Metall dieser Idee geschmiedet ist.

Wie ich bereits in meiner Definition des Tragischen angedeutet habe, besitzt eine Idee von vornherein die Eigenschaft, in der Idee des Körpers aufzugehen. Außerdem erschien es mir durchaus denkbar, dass der Körper noch hochgradiger ideell sei als der Geist und eine intimere Affinität zur Idee besitze.