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Du hast Angst, den Verstand zu verlieren, anima mia. Dabei gehört er bereits mir - genau wie der Rest von dir. Als Juliana Zeugin eines Mordes wird, kann sie nicht glauben, dass ausgerechnet ihr attraktiver Mitschüler Rune dem Opfer das Blut ausgesaugt hat. Statt sie jedoch ebenfalls zu töten, lässt er sie nicht mehr aus den Augen und zieht sie immer tiefer in seine dunkle Welt. Denn er gehört zu den Soulkeepern - einer Gruppe untoter Seelenfresser, die geschaffen wurden, um die Menschheit vor den abtrünnigen Seelen zu retten, und denen lediglich eines fehlt, um die Welt zu zerstören: Julianas Blut. Nun soll ausgerechnet Rune ihr nicht mehr von der Seite weichen, dabei dürstet es ihm nach weit mehr als ihrer Seele. Er möchte ihr Herz und Juliana weiß nicht, ob sie es vor ihm beschützen kann.
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Seitenzahl: 449
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Soulkeeper
Seine Küsse schmecken nach Blut
Liz Rosen
Über die Autorin:
Liz Rosen wurde 1999 in Wien geboren und veröffentlicht erotische Liebesromane mit Thriller-Elementen und einer großen Portion Liebe, die in regelmäßigen Abständen erscheinen. Ihre Storys bestehen aus Herzschmerzmomenten, einer Prise Humor und vielen ernsten Problemstellungen, die spätestens beim garantierten Happy End von den Protagonisten gemeistert werden.
Buchbeschreibung:
Du hast Angst, den Verstand zu verlieren, anima mia.
Dabei gehört er bereits mir - genau wie der Rest von dir.
Als Juliana Zeugin eines Mordes wird, kann sie nicht glauben, dass ausgerechnet ihr attraktiver Mitschüler Rune dem Opfer das Blut ausgesaugt hat.
Statt sie jedoch ebenfalls zu töten, lässt er sie nicht mehr aus den Augen und zieht sie immer tiefer in seine dunkle Welt. Denn er gehört zu den Soulkeepern - einer Gruppe untoter Seelenfresser, die geschaffen wurden, um die Menschheit vor den abtrünnigen Seelen zu retten, und denen lediglich eines fehlt, um die Welt zu zerstören: Julianas Blut.
Nun soll ausgerechnet Rune ihr nicht mehr von der Seite weichen, dabei dürstet es ihm nach weit mehr als ihrer Seele. Er möchte ihr Herz und Juliana weiß nicht, ob sie es vor ihm beschützen kann.
Soulkeeper
Seine Küsse schmecken nach Blut
Liz Rosen
Impressum
Titel: Soulkeeper – Seine Küsse schmecken nach Blut
Autorin: Liz Rosen
ISBN: 978-3-98942-245-2
© 2023 Lycrow Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Verlag verantwortlich. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Lycrow Verlag GbR
Schillerstraße 8
17266 Teterow
Bestellung und Vertrieb:
Nova MD GmbH, Vachendorf
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Triggerwarnung
Prolog
Schatten der Vergangenheit (Rune)
Kapitel 1
Der Tod ist (k)ein gerechter Mann (Rune)
Kapitel 2
Der Tod ist (nicht) das Ende (Rune)
Kapitel 3
Zwei Tote aus der Vergangenheit (Rune)
Kapitel 4
Tod den Toten (Juliana)
Kapitel 5
Liebesdrama der Vergangenheit (Juliana)
Kapitel 6
Blutsbande bedeuten gar nichts (Juliana)
Kapitel 7
Familie ist alles (Rune)
Kapitel 8
Blutlust (Rune)
Kapitel 9
Blutiges Erwachen (Juliana)
Kapitel 10
Ein Abbild der Wahrheit (Rune)
Kapitel 11
Vergangene Geschichten (Rune)
Kapitel 12
Kalte Nächte (Juliana)
Kapitel 13
Mörderisches Roulette (Rune)
Kapitel 14
Ava (Rune)
Kapitel 15
Das Leben ist ein Albtraum (Juliana)
Kapitel 16
Herz und Seele (Juliana)
Kapitel 17
Anima Rapinam (Juliana)
Kapitel 18
Liebe und Verrat (Rune)
Kapitel 19
Lucius und Ava (Juliana)
Kapitel 20
Die Dunkelheit der Nacht (Juliana)
Kapitel 21
Bitterkeit der Liebe (Rune)
Epilog
Der Tod und das Leben (Rune)
Danksagung
Playlist
Triggerwarnung
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Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Triggerwarnung
Triggerwarnung
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Widmung
Es gibt nur einen Menschen, der entscheidet, was am
Ende des Tages richtig oder falsch für dich ist:
Du selbst.
Du musst zufrieden mit deinen Taten sein, denn du bist
die einzige Person, die sich nicht von dir abwenden kann,
wenn ihr deine Entscheidung missfällt.
Triggerwarnung
Anima mia, die Dunkelheit ist nichts für dich. Sie ist kalt, leer und grausam. All das, was du nicht bist. Was du niemals sein wirst. Nicht so wie ich.
Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Wie es in mir aussieht. Welche Dinge ich mit dir anstellen möchte und wie sehr ich mich nach deinem Licht sehne, es beherrschen möchte. Denn in mir regiert die Dunkelheit. Das Böse.
Und genau darum geht es in dieser Geschichte. Um all die widerwärtigen Dinge, die wir anrichten können, solange wir auf Erden wandeln. Einige von uns nehmen ihre Verbrechen mit ins Grab. Ich habe das getan, anima mia, und ich bereue es nicht. Genauso wenig wie meine Gier nach dir.
Vielleicht ist es meine Strafe für all die Taten, die ich verbrochen habe, aber ich habe noch nie zuvor etwas so sehr begehrt wie deinen köstlichen Duft, deine warme Haut und dein erhitztes Blut. Es brodelt in deinen Adern und lockt mich zu sich. Ich kann mich nicht dagegen wehren.
Und fuck, ein Teil von mir möchte es auch gar nicht. Ich will dich, anima mia. Deinen Körper. Dein Leben. Du leuchtest, strahlst mit der Sonne um die Wette und erhellst jeden trostlosen Winkel. Aber genau das wird dir zum Verhängnis werden. Wo Licht ist, sind auch Schatten, und meine kommen immer näher an dich heran. Sie drohen, dich zu verschlingen und dich zu zerstören.
Bist du bereit, dich von ihnen einnehmen zu lassen, auch wenn sie dich vernichten werden? Ich hoffe es, anima mia, denn schon jetzt gehört deine Seele mir. Du wurdest geboren, um an meiner Seite zu sein.
Ob du willst, oder nicht.
Was? Das reicht dir als Warnung nicht?
Du möchtest ganz genau wissen, was ich mit dir und
deiner unschuldigen Seele vorhabe?
Dann findest du eine vollständige Liste aller Themen
am Ende des Buches.
Es ist deine letzte Chance, um doch noch
dem Pfad der Dunkelheit zu entgehen.
Nutze sie, anima mia, ansonsten
hole ich mir alles von dir.
Versprochen.
Prolog
Schatten der Vergangenheit (Rune)
Winter 1764
Das verbrannte Fleisch stank schlimmer als die Hinterlassenschaften der herannahenden Vögel, die nach Stunden mit mir den Flammen beim Erlöschen zusahen. Der Geruch kroch mir in die Nase, setzte sich darin fest und vertrieb all die anderen Aromen der Stadt, die sonst durch die verlassenen Straßen florierten. Von dem Gemisch aus Urin, schlechtem Kaffee und beißendem Alkohol war nicht einmal ein Hauch wahrzunehmen. Es wurde einfach von dem Rauch abgelöst, der in die Luft aufstieg und die Gegend verpestete.
Dennoch bewegte ich mich kein Stück, auch als das Feuer zu einer sanften Glut wurde. Sie bildete das einzige Licht in der Dunkelheit. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich bereits hier verweilte, doch von der Sonne war inzwischen nichts mehr zu sehen. Nur noch das Brennen an meinen Wangen erinnerte daran, dass sie mittags viel zu stark auf mein Gesicht geschienen hatte. Meine Lippen spannten.
Ich sollte gehen und die ausgetrocknete Haut schonen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Vielleicht waren sie einfach nur auf dem Boden festgefroren, doch ein Teil von mir wusste, dass es mehr war als das. Ich wollte sie nicht verlassen. Selbst jetzt nicht, obwohl nichts mehr von ihr übriggeblieben war. Ihr Leben war zu Ende, ihre Leiche zerstört.
Nichts deutete mehr darauf hin, dass es sie jemals gegeben hatte.
Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Leise genug, dass es niemand gehört hätte, selbst wenn irgendjemand sich bei diesem Wetter vor die Tür getraut hätte. Doch sie alle saßen in ihren kalten Häusern und suchten Schutz vor dem eisigen Wind, der um mich peitschte und mir die schwarzen Haare ins Gesicht wehte. Der Rauch des Feuers brannte in meinen Augen. Ich blinzelte dagegen an, erreichte jedoch nur, dass Tränen aufstiegen und meine Sicht verschwamm.
Die angekokelten, feuchten Holzscheite verwischten mit der Glut und dem weißen Untergrund zu einem hässlichen Grauton. Eine dicke Schneeschicht lag über meinen Schuhen und ließ mich mit dem Bild der eisigen Landschaft verschmelzen, während die Schneeflocken unablässig vom Himmel fielen. Es war kalt. Anders konnte ich es nicht beschreiben.
Meine Finger waren schon lange gerötet und ich spürte meine Zehen nicht mehr. Die Feuchtigkeit kroch mir in die Glieder, meine Kleidung saugte sich mit dem Schnee voll. Wenn ich noch länger an Ort und Stelle blieb, würde ich vermutlich zu einem Eiszapfen erstarren. Es kümmerte mich allerdings nicht. Diese Art zu sterben wäre genauso gut wie jede andere, nicht wahr?
Wenigstens würden sie und ich dann wieder zusammen sein. Die Vorstellung gefiel mir, doch die Klinge in meiner zitternden Hand strafte meine Worte Lügen. Noch durfte ich nicht von dieser Welt scheiden. Davor musste ich ein Unrecht wiedergutmachen.
Ich zog mit der freien Hand meinen dünnen Mantel enger um mich. Die Nässe hatte dafür gesorgt, dass es eine halbe Ewigkeit gedauert hatte, bis das Holz richtig brannte. Das war jedoch egal gewesen. Immer mehr trockenes Stroh war auf dem Scheiterhaufen gelandet, bis das Feuer hoch genug loderte, um ihre Haut zu berühren. Noch immer vernahm ich die Schreie, den Jubel der Zuschauer und das Leid, das sie empfunden haben musste, während die Hitze jeden Winkel verschlang. Blasen waren überall auf dem gepeinigten Körper entstanden. Es war ein Gemälde des Grauens gewesen - immer begleitet von dem Grinsen des Mannes, der für die Hinrichtung verantwortlich gewesen war.
Nein, das war nicht richtig. Nicht er war schuld, sondern ich. Wahrscheinlich wartete ich deshalb bis zum Morgengrauen, ehe ich meine Stiefel vom Schnee befreite und einen letzten Blick auf den Scheiterhaufen warf. Ich wollte sie nicht allein lassen. Bis zum Schluss.
Die Krähen begangen zu krächzen. Sie freuten sich bereits auf das Festmahl, das die verbrannten Überreste ihnen bieten würden. Ich hatte es dutzende Male zuvor gesehen. Vögel, die mit ihren Schnäbeln an dem rußverschmierten Pfahl pickten, um auch noch die letzten Überreste des Fleisches zu erhaschen. Das Geräusch von schlagenden Flügeln, das den Rauch vertrieb. Das Krächzen, das bei jedem Schluck ausgestoßen wurde, als würden die Vögel um mehr bitten.
Es war widerlich. Abstoßend. Und für die Richter dieser Stadt ein würdiges Ende für all jene, die es gewagt hatten, gegen die Regeln zu verstoßen.
So würde auch mein Ende aussehen. Das wusste ich. Es würde nicht mehr lange dauern. Mit etwas Glück war bis dahin die Erde wieder trocken und das Holz schnell brennbar. Kurz hielt ich inne und dachte darüber nach, es mir anders zu überlegen. Mein Leben einfach weiterzuleben. Doch das Messer in meiner Hand wog plötzlich schwerer.
Sie verdiente das. Rache.
Für all das, was ihr angetan wurde.
Ich wollte bleiben. Ihr beistehen. Aber schon jetzt wusste ich, dass ich es nicht ertragen würde, zu beobachten, wie die letzten Stücke von ihr auch noch von den Tieren auseinandergerissen wurden.
Während die erste Krähe also auf den abgebrannten Scheiterhaufen zuflog, setzte ich mich endlich in Bewegung. Ich drehte dem Marktplatz den Rücken zu, umfing die Klinge fester mit meinen Fingern und stapfte durch den Schnee.
Wissend, dass ich die nächste Nacht nicht erleben würde.
Kapitel 1
Der Tod ist (k)ein gerechter Mann (Rune)
Gegenwart
„Er ist tot, richtig?“
Klaras laute Schreie hallten in der kühlen Nacht wider. Die Laute scheuchten einen Schwarm Raben auf, die in der Nähe saßen und wiederholt ein Krächzen von sich gaben, ehe sie ihre Flügel ausbreiteten und verschreckt davonflogen. Das Geräusch der raschelnden Federn lenkte mich einen Moment von dem Körper ab, der zu meinen Füßen lag und für Klaras Ausbruch verantwortlich war.
Gern wäre ich wütend auf sie gewesen, weil sie sich professionell verhalten sollte, doch ich schaffte es nicht. Ich war nicht weniger erschüttert als sie. Dieser Teil meiner Arbeit wurde nicht einfacher.
Nie.
Die Jahrhunderte zogen an uns allen vorbei, doch jeder Tag kam mir vor wie der letzte. Ich war den Kampf leid, genau wie den Schrecken der Welt, der sich mir offenbarte wie niemand anderem. Aber ich konnte ihm nicht entfliehen. Genauso wenig wie der Tatsache, dass wir schon wieder versagt hatten.
Ich musste den Körper auf dem Boden nicht berühren, um zu wissen, dass er nicht mehr atmete.
Mein Gehör hatte mir schon verraten, dass kein Blut mehr durch seine Adern strömte.
Und hätte ich meinen Ohren nicht getraut, hätten mir meine Augen bestätigt, dass er unmöglich noch leben konnte. Der blasse Körper war von dunklen Arterien durchzogen, die ein schwarzes Geflecht unter der Haut bildeten, als hätte ihn jemand vergiftet. Sein Teint erinnerte an ein weißes Bettlaken, und sein weit gespreizter Mund leuchtete in einem blutigen Rot auf wie ein Warnsignal. Seine Lippen glänzten feucht, die Mundwinkel waren bis zu den Wangenknochen eingerissen und seine Eckzähne fehlten, sodass an ihrer Stelle große Löcher prangten.
Wobei, das war nicht ganz richtig. Die Zähne waren da, lagen aber einen Meter vom Besitzer entfernt. Man hatte sie ihm gezogen. Einen nach dem anderen und sie einfach auf die Straße geworfen. Das Opfer musste entsetzliche Schmerzen gehabt haben, bevor es endlich sterben durfte. Sie hatten ihn gefoltert. Stunden-, vielleicht sogar tagelang und dann hatten sie ihn einfach irgendwo abgelegt. Auf offener Straße, als wäre er nichts als Müll.
Ich schluckte bei dem Gedanken. Wahrscheinlich waren wir das für sie auch. Wertloser Müll.
„Nicht so laut, Klara! Beruhige dich!“, zischte ich ihr zu und beugte mich über die Leiche. Der Geruch nach Verwesung kroch mir in die Nase. Ich hielt die Luft an. Es stank nach verbranntem Fleisch und rostigem Eisen - beides Aromen, die meinen Magen grummeln ließen und Erinnerungen hervorriefen, die ich am liebsten vergessen würde. Der Körper musste schon eine Weile hier gelegen haben, bevor Klara ihn auf ihrer nächtlichen Patrouille gefunden hatte. Das getrocknete Blut war überall verteilt und die Farbe erinnerte mehr an Braun als an sattes Rot.
Obwohl der Leichnam auf dem Gehsteig lag, war die Flüssigkeit auf die Straße geronnen und hatte einen riesigen Fleck gebildet, der sich immer weiter in den Asphalt fraß.
Ein Wunder, dass bisher niemand die Polizei gerufen hatte. Aber wenigstens eine Auseinandersetzung mit den Behörden blieb uns dieses Mal erspart, sodass wir die Leiche wegräumen und dann … ja, was? Weitermachen würden, als wäre nichts gewesen?
Nein, bestimmt nicht. Ich konnte bereits in Klaras Gesicht sehen, dass sie nicht einfach in ihren Alltag zurückgehen und freudestrahlend den Tag in Angriff nehmen würde. Sie litt und sie hatte Angst.
Fuck, eigentlich hatten wir das alle.
„Ich soll mich beruhigen? Du weißt, wo wir sind, oder? Keine zehn Kilometer von unserem Haus entfernt. Sie hätten Simon auch vor unsere Tür legen können.“
Klara strich eine ihrer platinblonden Strähnen zur Seite, die ihr sofort wieder vor die Augen fiel, als sie die Hände vor der Brust verschränkte. Ihr Körper bebte. Sie schluckte nervös und ging einen Schritt auf mich zu, um im nächsten Moment den Blick abzuwenden. Mitleid für sie keimte in mir auf. Sie hatte den Toten gekannt, schon bevor die beiden das erste Mal gestorben waren. Er war ein guter Junge gewesen. Na gut, zumindest nicht schlechter als jeder andere von uns. Niemand hatte es verdient, so zu sterben, auch er nicht. Trotzdem hatten sie ihm das angetan und wenn wir nicht aufpassten, waren wir die Nächsten. Sie waren uns nah. Daran hatte ich keinen Zweifel.
Wir konnten uns nicht länger verstecken. Wir mussten etwas tun.
Irgendwas. Ich hatte nur keine Ahnung, was genau. Im schlimmsten Fall würden wir alle enden wie Simon und dann … Ich seufzte.
Dann würde die Welt zugrunde gehen.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Geräusche der Umgebung, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn ein Passant uns mit einer Leiche entdecken würde, die schon vor einem knappen Jahrhundert für tot erklärt worden war. Und genau das war Simon. Er hatte einen Autounfall gehabt, als er von einem Tatort eines Mordes geflüchtet war, den er selbst begangen hatte. Er war gestorben. So wie wir alle.
Und er kam zurück. Genau wie der Rest von uns.
Ich schnaubte. An manchen Tagen fragte ich mich tatsächlich, ob es nicht besser gewesen wäre, einfach in einem Sarg von Maden zerfressen zu werden. Dann hätte ich mir all das ersparen können. Dafür war es allerdings zu spät und mir blieb nichts anderes übrig, als wenigstens zu versuchen, Klara zu beruhigen.
„Sie haben ihn aber nicht vor unser Haus gelegt. Also wissen sie nicht, wo wir sind.“ Meine Stimme klang kraftvoll, überzeugt, auch wenn ich es besser wusste. Unsere Gegner hatten einen schrägen Sinn für Humor und sie waren uns immer einen Schritt voraus. Vielleicht fühlte ich mich deshalb, als würden wir ständig auf der Verliererseite stehen.
Klara prustete.
Sie glaubte mir nicht.
Aber wieso sollte sie auch? Ich glaubte mir ja selbst nicht. Sie hätten die Leiche nicht einfach für alle sichtbar liegen gelassen. Sicher, sie fürchteten sich nicht vor den Menschen und hielten alle Sterblichen für Ungeziefer. Aber auch sie versuchten, unser Geheimnis zu bewahren und Massenpanik zu verhindern. Zumindest solange es meine Familie gab, die ihren Plan durchkreuzen konnte.
Diese Message - Simons Leiche - war eine erneute Kampfansage. Sie wollten uns zerstören.
Endgültig.
Und wir hatten ihnen nichts entgegenzusetzen.
„Warum bist du dir so sicher? Vielleicht haben sie uns gefunden und warten darauf, dass wir eine falsche Bewegung machen.“ Klaras spitze Eckzähne blitzten in der Dunkelheit auf. Sie knurrte erzürnt und überbrückte die letzten Meter, sodass sie mir gegenüberstand. Ihre schwarzen Iriden glänzten, als hätte sie geweint.
Aber das hatte sie nicht. Das konnte sie gar nicht. Nicht mehr. Keiner von uns.
Weil wir genau genommen tot waren.
„Wir sollten hier weg, solange wir noch die Möglichkeit haben.“
Ich unterdrückte ein weiteres Seufzen. War sie es nicht leid, mit mir diese Diskussion zu führen? Jedes Mal dasselbe, wenn wir jemanden verloren. Statt zu trauern, diskutierten wir. Stundenlang.
Langsam waren wir alle müde und erschöpft. Die Angst machte uns rastlos, aggressiv. Wir verloren das Ziel aus den Augen und das durften wir nicht.
Leider schien ich der Einzige zu sein, der daran dachte, während der Rest meiner Familie weiterhin auf die Leiche starrte.
„Wir werden nicht schon wieder umziehen“, bestimmte ich.
Gleichzeitig überlegte ich mir aber, wohin wir im Notfall gehen konnten. Das tat ich immer. Wir waren schon überall auf der Welt gewesen. In den Vereinigten Staaten, Skandinavien, Asien – sogar in Afrika, obwohl uns die Hitze dort zu schaffen gemacht hatte. Dennoch hatten sie uns immer gefunden.
Aus unserer letzten Heimat hatten wir über Nacht fliehen müssen. Und nun waren wir hier gelandet.
In Hardegg. Der kleinsten Stadt mit genügend Infrastruktur, die ich hatte finden können.
Ich war es leid, ständig den Ort zu wechseln.
Nirgendwo waren wir zu Hause. So hatte ich mir die Ewigkeit nicht ausgemalt. Aber das war immer noch besser, als seelenlos zu sterben, richtig? Ich hoffte es.
„Wieso nicht?“ Klara stemmte die Hände in die Hüften und zog einen Schmollmund, der mich daran erinnerte, wie jung sie im Gegensatz zum Rest von uns war. Noch kein Jahrhundert alt. Klara wusste noch, wie es war, atmen zu müssen, um zu überleben, und sie war es noch nicht leid, auf diese Weise zu existieren. Mal abgesehen davon, dass sie auch sehr jung gewesen war, als sie das erste Mal sterben musste.
Kaum erwachsen. Aber gut, das war ein Schicksal, das wir alle teilten. Wir alle hatten unser menschliches Leben viel zu schnell hinter uns lassen müssen.
„Worauf sollen wir warten? Ich habe keine Lust, so zu enden wie die anderen“, schoss Klara hinterher und sah sich in der Dunkelheit um, als hätte sie Angst, irgendwer könnte uns belauschen.
Oder schlimmer: Uns auflauern und uns umbringen.
Die anderen. Das klang, als wären sie nicht ein Teil von uns gewesen. Dabei waren sie wie wir. Sie gehörten zu den „Soulkeepern“. Das verband und unterschied uns gleichzeitig von den Schlächtern, die den Toten wie Vieh am Straßenrand liegen gelassen hatten.
Wir hatten eine gemeinsame Aufgabe:
Die Menschheit vor den Schatten, die im Dunkeln lauerten, zu beschützen.
Na ja, wir hatten eine gemeinsame Aufgabe gehabt. Inzwischen war kaum noch etwas von den Soulkeepern übrig. Wir waren beinahe ausgelöscht und es würde nicht mehr lange dauern, bis unsere Gegner auch den mickrigen Rest unschädlich machen würden.
„Wir sind noch kein Jahr an diesem Ort“, mischte sich Magnus ein und löste sich endlich aus seiner Starre. Dennoch konnte ich den Schock und die Angst in seinen Augen sehen, die sich auch in Klaras Gesicht wiederfanden. Doch in Magnus‘ Züge mischte sich noch etwas anderes. Sorge. Er hatte nicht nur Panik vor seinem eigenen Tod.
Nein, er wusste, was auch ich bereits ahnte. Schon bald würden wir jemanden aus unseren Reihen, aus unserer Familie verlieren und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Ich auch nicht, aber damit würde ich mich gezwungenermaßen auseinandersetzen, wenn es so weit war.
„Sie finden uns schneller. Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen“, murmelte ich, beugte mich hinunter und strich über die eiskalte Haut des Toten. Seine Lippen waren verkohlt, seine Zunge fehlte. Sie waren nicht zimperlich gewesen. Er musste unheimlich gelitten haben, als sie ihm die Seele aus dem Leib gesaugt und diese anschließend gefressen hatten. Ob er geschrien oder um seine Existenz gebettelt hatte? Würde ich es tun, wenn ich an der Reihe war?
Klara schlug meine Hand weg und schenkte mir einen erzürnten Blick, als würde sie sich Sorgen machen, ich könnte Simon verletzen. Der Gedanke war lächerlich, immerhin würde ihm nie wieder etwas schaden können, dennoch zog ich meine Finger weg.
„Und was sollen wir tun? Wir sind zu wenige“, erinnerte sie mich und streichelte sanft über Simons Hand, oder über das, was davon noch übrig war. Auch hier war die Haut geschwärzt und tiefe Wunden waren im Fleisch zu erkennen. Es war furchtbar.
Ein Gemälde aus Grauen und Schmerz.
„Wir sind alle, die noch übrig sind“, entgegnete Magnus und schob mit dem Mittelfinger seine Brille mit Fenstergläsern auf die Nase. Wieso er sie auch nachts trug, obwohl er sie nur tagsüber nutzte, um normal auszusehen, wusste ich nicht.
Vielleicht aus Gewohnheit, oder weil sie Aleksandra gefiel und er alles tat, damit sie glücklich war.
Was passieren würde, wenn wir sie verlieren würden? Die beiden hatten Jahrhunderte miteinander geteilt, während Maria und ich nur ein paar Jahre zusammen verbracht hatten, und dennoch hatte mich ihr Tod … zerstört. Besser konnte ich es nicht beschreiben.
Wieder an diesem Tag kamen mir die schrecklichen Bilder von damals in den Sinn, doch ich kämpfte dagegen an und konzentrierte mich auf Klara, die mich anklagend ansah, als wäre es meine Schuld, dass Simon tot war.
Doch das war ich nicht. Ich wusste es und sie ebenfalls, aber an den richtigen Schuldigen konnte sie keinen Dampf ablassen, weshalb sie mir all ihre Wut entgegen schrie.
„Weil die anderen tot sind.“ Klara schnalzte mit der Zunge und schüttelte verständnislos mit dem Kopf, während ihre Stimme weiter anschwoll, bis sie ihren Höhepunkt erreichte.
Ihre Worte lösten ein schmerzhaftes Klingeln in meinen empfindlichen Ohren aus. Gerne hätte ich sie erneut ermahnt, die Klappe zu halten, aber sie hatte nicht unrecht.
Als ich vor drei Jahrhunderten zum Soulkeeper wurde, gab es noch neunzig Mitglieder. Bei Klaras Wiedergeburt waren davon nicht einmal mehr die Hälfte übrig und nun standen die letzten Mitglieder mit vor Schrecken geweiteten Augen um uns herum.
Insgesamt acht. Mehr existierten nicht mehr von uns.
Wie konnte das in der kurzen Zeit passiert sein? Unsere Zahl schrumpfte gefühlt täglich, während die Masse unserer Feinde wuchs. Schon jetzt hatte ich den Überblick verloren, wer sich alles unseren Gegnern angeschlossen hatte.
„Wenn wir nicht aufpassen, sind wir die Nächsten.“
Klara senkte die Stimme und versuchte, uns ins Gewissen zu reden.
Mir. Und es funktionierte.
Je länger ich ihr zuhörte, desto größer wurde der Drang in mir, ihr beizupflichten. Doch immer wieder hörte ich dieses Betteln in meinem Hinterkopf, das mich anflehte, zu bleiben. Ich wusste nicht, woher es kam, oder weshalb ich es hörte. Doch es klang zu wichtig, um es zu ignorieren. Es war keine Stimme, die zu mir sprach, eher ein Gefühl. Es sagte mir, dass wir sterben würden, wenn wir weggingen.
Irgendetwas war hier. Und wir brauchten es, um zu gewinnen, um das Blatt noch einmal zu wenden. Es war dasselbe Gefühl, das mich erst dazu gebracht hatte, meine Familie nach Hardegg zu lotsen.
Aber das konnte ich Klara schlecht sagen. Sie würde mich für verrückt erklären, wenn ich unser aller Leben aufs Spiel setzte, nur weil sich mir der Magen umdrehte. Und fuck, auch damit hatte sie recht. Dennoch … wir durften nicht gehen. Noch nicht.
Vielleicht nie. Ich wollte ein Zuhause. Ein richtiges.
Das Leben als Nomade wurde anstrengend und ich war nicht der Einzige, dem es so ging. Auch der Rest hatte die Welt schon dreimal gesehen. Sie verlor irgendwann ihren Charme, wenn man bereits jeden Winkel erkundet hatte.
„Was schlägst du vor?“, erkundigte sich Magnus bei Klara, ging auf die Knie und durchsuchte die Taschen des Toten. Telefon, Geldbörse, Schlüssel – nichts Aufregendes. Es waren Gebrauchsgegenstände der heutigen Zeit. Die Hälfte davon mochte ich nicht. Vielleicht hörte ich mich dabei alt an, aber früher war tatsächlich vieles besser. Einfacher. Uns zu verstecken zum Beispiel.
„Du weißt genau wie wir alle, dass wir irgendwann auffallen, wenn wir alle paar Monate den Ort wechseln, Klara. Die Menschen fangen an, Fragen zu stellen, und in den ersten Städten werden sie uns noch glauben, aber dann? Schon jetzt ist unsere Geschichte dürftig und würde keiner genaueren Überprüfung standhalten.“
Er hatte recht. Anfangs hatten wir noch behauptet, wir wären alle blutsverwandt und eine große glückliche Familie. Das hatte auch ganz gut funktioniert, bevor ein Teil von uns beschlossen hatte, dass die Ewigkeit allein trist und langweilig war.
Als die Ersten von uns sich zu Paaren zusammengeschlossen und angefangen hatten, miteinander zu ficken, waren wir noch versucht gewesen, die Scharade aufrecht zu erhalten.
Die anderen hatten sich bemüht, ihre Gefühle füreinander zu verstecken, aber sie waren eben, wie sie waren, und nachdem wir aus einer Stadt wegen Inzestvorwürfen fliehen mussten, bevor unsere Feinde uns aufspüren konnten, hatten wir die Geschichte abgeändert.
Offiziell waren wir alle volljährige Waisen und hatten uns zusammengeschlossen, weil wir unsere befreundeten Eltern beim selben Schiffsunglück verloren hatten.
Es war eine gute Ausrede. Solide.
Niemand wollte mit Waisen über deren Eltern sprechen, sodass niemand von uns je in Bedrängnis kam, weitere Fragen zu dem Vorfall zu beantworten. Zumindest nicht, solange wir nicht auffielen. Und das taten wir nicht. Dafür sorgten wir.
Es war anstrengend, aber notwendig.
Klara schnaubte. Sie warf erneut eine ihrer Locken zurück und zog die Augenbrauen zusammen, sodass ihre Stirn sich leicht in Falten legte. Die Furchen passten nicht auf ihr makelloses Gesicht, das sie sonst wie eine Puppe aussehen ließ.
„Und die Lösung ist, zu bleiben und darauf zu warten, dass sie uns erwischen?“ Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Kämpferisch hob sie das Kinn und wartete auf Magnus‘ Reaktion.
Es war Vorsicht geboten. Klara war die Emotionalste von uns. Dafür liebte ich sie, aber an manchen Tagen schlug sie deshalb um sich und dann schaffte es niemand mehr, sie zu bremsen. Das war auch Magnus klar, der verstummte und sich hilfesuchend nach seiner Frau umsah, die nur wenige Schritte entfernt stand.
Aleksandra reagierte sofort. Sie überbrückte die Distanz zwischen uns innerhalb eines Wimpernschlags.
Mit einem beruhigenden Lächeln sah sie auf Klara herab und hielt ihr auffordernd die Hand entgegen, um sie an sich zu ziehen. Sanft drückte Aleksandra Klara und strahlte dabei, als wäre sie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.
„Egal, was wir tun, wir sollten die Entscheidung schnell treffen. In wenigen Minuten geht die Sonne auf und der Unterricht beginnt“, gab sie zu bedenken und veranlasste Klara damit, das Thema fallen zu lassen, bevor es eskalieren konnte. Wenigstens vorerst.
Diese Sache war noch nicht vorbei.
Klara hatte viel Schlimmes erlebt, als sie noch ein Mensch gewesen war. Eigentlich alle von uns.
Dieses Trauma verschwand nicht von heute auf morgen. Auch nicht innerhalb eines Jahrhunderts. Manches begleitet uns sogar noch lange nach dem Tod. In ihrem Fall war es so.
Für mich war klar, dass die Familie über allem stand. Nur so hatte man eine Chance zu überleben.
Bei ihr war das nicht so.
Sie wollte leben und würde alles opfern, wenn sie dafür ihre Existenz retten konnte.
Die Frage war nur, ob sie uns auch verlassen würde, wenn es hart auf hart kam. Ich betete, dass es nicht dazu kommen würde. Wir brauchten sie.
Jeder Einzelne von uns war inzwischen unentbehrlich.
„Aleksandra hat recht. Einige von uns dürfen den Unterricht nicht verpassen. Nicht schon wieder.“ Magnus sprang auf den Zug auf und wechselte das Thema. Schule.
Das hätte ich beinahe vergessen. Die Ferien waren vorbei, der Unterricht begann. Ich würde in die Abschlussklasse kommen. Wieder einmal.
„Wir klären das, wenn ihr zurückkommt. Ich werde in der Zwischenzeit die Grenze ablaufen“, schoss Magnus hinterher. Statt zum Unterricht zu gehen, weil ich es mir leisten konnte zu fehlen. Er sagte es nicht, aber ich hörte den verbalen Seitenhieb.
Ich hatte das vergangene Semester kaum Zeit in der Schule verbracht. Wieso auch? Ich kannte den Stoff in- und auswendig. Dennoch war es aufgefallen, sodass ich versprochen hatte, dieses Mal mit weniger Abwesenheit zu glänzen. Inzwischen wusste ich nicht mehr, wie oft ich das letzte Jahr gemacht habe.
Anfangs hatte ich mitgezählt, aber irgendwann hatte es seinen Reiz verloren, genauso wie der Unterrichtsstoff, der nur noch langweilig war. Keine Frage: Faust, Romeo und Julia und die Odyssee waren fantastische Werke, aber wenn man sie zum gefühlt millionsten Mal lesen und analysieren muss, hängen sie allen zum Hals raus und man kann sie nicht mehr sehen. Dennoch würde ich mich durchbeißen und mein Bestes geben. Für die Familie.
„Allein?“, hinterfragte ich gespielt besorgt Magnus‘ Aussage. Ich witterte meine Chance, den heutigen Schultag ausfallen lassen zu können. Dafür würde ich praktisch alles geben.
Ein Teil von mir mochte das Schulsystem und die Tatsache, dass inzwischen alle daran teilnehmen mussten. Was ich jedoch verabscheute, war der Zickenkrieg, das Mobbing und die Gruppenbildungen. Früher wurde man in einer Kirche und wegen Hexerei angeklagt, wenn man einen Ehemann seiner Ehefrau ausgespannt hatte. Nun wurde man einfach quer über den Schulhof als Schlampe beschimpft und danach von allen verbal gesteinigt. Es tat genauso weh, wie in den Flammen zu verbrennen, aber es nahm kein Ende. Am Scheiterhaufen ging das Feuer irgendwann aus, doch der Hass unter Schülern endete niemals. Er blieb bestehen, bis man seinen Abschluss in der Tasche hatte und alles hinter sich ließ.
„Das ist keine gute Idee. Du solltest nicht allein sein. Keiner von uns. Ich werde bleiben und dich unterstützen“, sagte ich bestimmt und grinste Magnus an. Ich erhob mich ebenfalls, während Maxim aus dem Hintergrund trat und Aleksandra schweigend einen Benzinkanister reichte. Die Flüssigkeit darin schwappte durch die Bewegung ein wenig hin und her, ehe Aleksandra sie über die Leiche schüttete und anschließend ein Feuerzeug aus der Hosentasche zog, das sie achtlos auf den nassen Leichnam warf.
Es zischte. Ein Knistern erklang. Die Flüssigkeit entzündete sich eilig und Rauch stieg auf. Flammen schossen aus dem Nichts und breiteten sich über der Leiche aus. Der Gestank von angekokeltem Fleisch kroch in meine Nase und wurde gleich darauf vom Wind fortgetragen.
Dennoch holte der Geruch unangenehme Erinnerungen an die Oberfläche. Ob es Zufall war, dass ich heute vermehrt an damals denken musste? Lag es daran, dass Klara recht hatte und wir tatsächlich alle bald sterben würden?
Vielleicht. Glauben wollte ich es allerdings nicht. Wir hatten so hart gekämpft. Es musste eine Möglichkeit geben. Irgendeine.
Doch es fiel mir schwer, klar zu denken. All die Bilder der Vergangenheit schwirrten in meinem Kopf herum und Simons brennende Leiche vermischte sich mit den angebrannten braunen Locken, den aufgerissenen blauen Augen und den roten Lippen von Maria. Ich schluckte schwer und drängte die Erinnerungen zurück an ihren Platz. Es gelang mir nicht ganz. Der Geruch nach Blumen, der sich mit dem Gestank des Brand mischte, haftete in meiner Nase, als hätte ihn jemand an dieser Stelle festgeklebt.
„Bestimmt nicht, Rune! Du wirst zur Schule gehen!“, widersprach Magnus und machte mit diesen Worten meine Hoffnungen zunichte, während das Feuer loderte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis außer einem Haufen Asche nichts mehr von dem Toten übrigblieb. Ausgelöscht für immer. Ich hörte Klara schluchzen, während Magnus die Funken des Feuers mit dem Fuß austrat und dann seine Finger mit denen von Aleksandra verschränkte.
Aleks lächelte immer noch, doch der Zug um ihre Mundwinkel wirkte angespannt. Gezwungen.
Zeitgleich streichelte sie mit einer Hand immer noch über Klaras Handrücken, während sie sich an Magnus lehnte. In Momenten wie diesen konnte ich sehen, wie sehr wir alle einander ans Herz gewachsen waren.
Niemand von uns müsste dem anderen Trost spenden und dennoch taten wir es. Zwar reichten die kleinen Gesten noch lange nicht, um all die Streitigkeiten zwischen uns zu vergessen, doch vielleicht machten gerade sie uns alle zu einer richtigen Familie.
„Du hast am meisten Fehlstunden. Du wärst letztes Mal fast nicht versetzt worden“, erinnerte mich Magnus streng, auch wenn er es nicht tun müsste. Wir hatten kaum über etwas anderes am Ende des letzten Semesters gesprochen. Dabei machte es für mich persönlich keinen Unterschied, sollte ich nicht bestehen. Ich würde kurzzeitig von der Bildfläche verschwinden und in einer anderen Stadt wieder von Neuem mit der Schule beginnen. Es war einfach, wenn man die Ewigkeit zur Verfügung hatte. Doch wir wollten hierbleiben. Noch nie war der Drang, wenigstens einmal zehn Jahre am Stück irgendwo zu sein, so groß wie jetzt.
„Aber…“, fing ich an und wurde sofort von Magnus mit einem wütenden Blick zum Schweigen gebracht. Es gab nicht viele Personen, die es schafften, mich einzuschüchtern. Doch Magnus war eine Klasse für sich.
Mit einem stolzen Alter von 570 Jahren war er nicht nur der Älteste von uns, er kümmerte sich auch um organisatorische Angelegenheiten. Er hatte den Überblick über unsere Finanzen und verwaltete das Geld, das sich über die Jahrhunderte angehäuft hatte, besorgte jedem von uns in regelmäßigen Abständen neue Dokumente und hielt uns von unnötigen Gefahren fern. Er war wie ein Vater für uns. Für mich.
Und das hasste ich an manchen Tagen. So wie jetzt.
Ich verschränkte die Hände vor der Brust und setzte erneut zum Sprechen an. Aleksandra kam mir jedoch zuvor, ehe ich wieder protestieren konnte. Dabei wollte ich mich wirklich nur ins Bett verkriechen und nicht mehr nachdenken müssen, um die Bilder in meinem Kopf zu vergessen.
Stattdessen durfte ich mich in wenigen Minuten mit einer Reihe von Schülern herumschlagen, die tatsächlich dachten, sie wären der Mittelpunkt der Welt.
Sie waren es aber nicht. Keiner von ihnen.
In spätestens hundert Jahren waren sie alle tot und dann interessierte es niemanden mehr, ob sie im Unterricht geschminkt gewesen waren, ihre Hausaufgaben gemacht oder sich mit der Oberzicke angefreundet hatten. Nein, alle von uns wurden als Niemand geboren und starben auch genauso.
Unbedeutend für die Welt und die Menschheit.
Es gab nur sehr wenige Ausnahmen und selbst von denen waren nur ihre größten Verbrechen oder ihre besten Errungenschaften bekannt. Und nicht, mit wem sie auf irgendeiner Party knutschten.
„Ich werde bleiben“, erklärte Aleksandra einfühlsam und führte Magnus Handrücken an ihren Mund, um ihn zu küssen. Ein Stich fuhr schmerzhaft durch mein Herz. Ich biss die Zähne zusammen, um keinen Ton von mir zu geben.
Die Geste hatte auf mich etwas Beruhigendes. Die beiden liebten sich auch nach all den Jahren immer noch. Jeder Blinde konnte das sehen. Sie waren füreinander bestimmt und bildeten eine Konstante. Egal, was passierte – ob menschliche Arbeiter von Maschinen abgelöst wurden oder Kriege das Land verwüsteten - man konnte darauf zählen, dass sie zusammenblieben.
Ich freute mich für sie, gleichzeitig war es ein schmerzhafter Anblick.
Die beiden waren beneidenswert. Sie hatten sich gesucht, gefunden und waren niemals vom Schicksal getrennt worden.
Anders als ich und …
Schnell schloss ich die Augen und atmete tief durch, als aus dem einen Stich viele wurden. Sie prasselten auf mein Herz ein und durchlöcherten es, bis kaum noch etwas davon übrigblieb. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Mein Brustkorb hob und senkte sich, dennoch drohte ich zu ersticken. Dabei konnte ich das gar nicht.
Ich brauchte keine Luft zum Atmen. Ich war bereits tot. Trotzdem dauerte es eine Ewigkeit, ehe sich der Schmerz wieder legte und ich die Lider öffnen konnte. Der Druck in meiner Brust blieb allerdings und war eine ständige Erinnerung an meinen Verlust.
Gott, ich hatte sie geliebt. So sehr. Auch nach all den Jahren hatte ich das Gefühl, jemand hätte nicht nur sie getötet, sondern auch mich.
„Ihr solltet gehen. Die Sonne geht auf und keiner von euch hat irgendwas dabei. So könnt ihr nicht zur Schule“, warf Aleksandra mit einem Blick gen Himmel ein und blickte zu Klara, die sich keinen Millimeter rührte. Sie starrte auf Simons Asche.
Für einen Moment und noch einen.
Die Zeit verstrich, doch Klara löste sich einfach nicht von dem Anblick. Nicht freiwillig.
Irgendwann beschloss Maxim, dass es reichte. Er schnappte sich ihr Handgelenk, rannte los und zog Klara hinter sich her. Sie ließ es zu. Wie mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, während ein Ausdruck völliger Leere auf ihrem Gesicht lag.
Mit einem flehenden Blick in Magnus‘ Richtung, der mir nur ein Seufzen des Älteren einbrachte, folgte ich Maxim und Klara. Eilig lief ich durch die endende Nacht und genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit beim Rennen. Geübt nahm ich an Geschwindigkeit auf und wurde immer schneller, bis ich vom menschlichen Auge nicht mehr gesehen werden konnte. Um diese Zeit trauten sich die ersten Menschen vor die Tür und ich wollte keine Massenpanik auslösen. Sie würden nur einen Schatten sehen, der an ihnen vorbeihuschte. Eine Begegnung - so flüchtig -, dass sie daran zweifeln würden, überhaupt etwas gesehen zu haben.
Denn genau das sollten wir sein. Unsichtbar. Nicht existent. Damit sie weiterhin in Frieden leben und sich um ihre eigenen kleinen Probleme kümmern konnten, während wir still und heimlich ihre Welt retteten, die sie mit Füßen traten. Jeden Tag.
Der Wind zog an mir vorbei und ich fühlte mich mit jedem Schritt, den ich mich von Simons Überresten entfernte, leichter. Dabei würde die Entfernung die scheußliche Tat, die an ihm begangen worden war, nicht ungeschehen machen.
Dennoch verspürte ich Erleichterung, nicht mehr den Geruch wahrnehmen zu müssen. Vielleicht könnte ich die Liebe meines Lebens dann für einen Augenblick vergessen. Und damit auch den Schmerz loswerden, der in meiner Brust nistete, seit ich sie verloren hatte.
Ich rannte über den Asphalt der Straße, flitzte über eine Brücke und raste in den angrenzenden Wald, der von einer Farbenpracht durchzogen wurde.
Klara hatte ich dabei fest im Blick, die sich von Maxim losriss und lieber ihrem eigenen Weg folgte. Ihre Haare verfingen sich in einem Ast, während sie wie ein Tier auf einen Baum huschte und von einer Krone zur nächsten sprang. Ihre helle Haut hob sich von den Blättern ab, die sich unter ihrem Gewicht lösten und zu Boden segelten. Sie gaben ein Rascheln von sich und fielen auf den matschigen Boden, dessen Erde vom letzten Regenguss rutschig war.
Langsam ging der Sommer in den Herbst über. Trotzdem sah man Anfang September nicht oft eine derartige Vielfalt im Wald. Während an einigen Knospen noch Blüten sprossen und saftige grüne Blätter wucherten, verfärbten sich andere schon. Es war wunderschön. Eines Gemäldes würdig, das ich nur zu gern gemalt hätte, doch dafür fehlte die Zeit. Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal einen Pinsel in der Hand gehabt hatte.
Doch, eigentlich schon, aber daran wollte ich nicht denken.
Nicht, wenn die Erinnerung so schmerzhaft war.
Kapitel 2
Der Tod ist (nicht) das Ende (Rune)
„Wir werden es nicht schaffen, oder?“ Klara stoppte, ließ sich auf einem Ast nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm.
Ihr Blick traf meinen. Ihre blauen Augen bohrten sich direkt in mein Gesicht, während Maxim mit Rinara und Colette im Schlepptau an uns vorbeilief. Sie beachteten Klara nicht, überbrückten die letzten Meter zur Hütte, in der wir wohnten, und verschwanden im Inneren des Hauses.
Wir besaßen die Wohnmöglichkeit, die am nächsten zur Ortsgrenze war. Perfekt für uns, um zwischen den Städten zu pendeln und gleichzeitig weit weg von anderen Häusern zu sein, sodass wir unsere Ruhe hatten und nicht unter Beobachtung waren.
Wir bekamen keine Gäste. Nie. Und das war auch gut so. Vielleicht wäre die Absonderung für einen von uns allein furchtbar einsam gewesen, aber in diesem Haus mit sieben Mitbewohnern war es mir sogar manchmal zu viel. Zu laut, zu lebhaft, zu fröhlich.
Es waren einfach viel zu viele Zus.
Ich verringerte das Tempo. Meine Schuhe hinterließen matschige Abdrücke in der Erde und bei jedem Schritt ertönte ein saugendes Geräusch, das ich nur schwer ausblenden konnte, sodass ich entschied, eine Pause einzulegen, und mich gegen den Baum lehnte, der sich gegenüber von Klara befand.
Mit erhobenen Augenbrauen sah ich zu ihr auf. Obwohl sie ein Stück entfernt war, konnte ich jeden Millimeter ihres Anblicks begutachten, als würde sie direkt vor mir sitzen.
In dieser Haltung fiel kaum auf, dass sie keine eineinhalb Meter groß war. Doch ihre Größe passte zu dem Porzellangesicht und den Helden-Augen, die mich musterten. Die Wut, die eben noch darin zu sehen gewesen war, hatte sich verflüchtigt.
Stattdessen stand nun ein anderer Ausdruck darin, der mich erzittern ließ.
Panik.
Sie hatte Angst, dass wir wirklich versagen könnten. Nicht diese Art von Angst, die jeder vor dem Scheitern hat, sondern richtige, alles verzehrende Angst.
Sie wusste, was auf dem Spiel stand. Es war nicht wie bei den Menschen, die einen Fehler machen und es am nächsten Tag wieder versuchen konnten.
Nein, unser Scheitern würde mit dem Tod enden.
„Hör auf damit, Klara! Du redest dir das ein. Es wird alles gut werden.“ Meine Stimme wurde vom Wind zu Klara getragen und wieder zurück zu mir, sodass im Wald ein Echo zu hören war.
Es verlieh der Szenerie einen düsteren Beigeschmack, der noch vom Nebel verstärkt wurde, der sich schleichend durch die Bäume bewegte.
„Ich bin Realistin, Rune. Simon war der Letzte seines Clans. Sie haben ihn und seine Familie wie Tiere gejagt und abgeschlachtet. Wir werden die Nächsten sein. Niemand anderer ist noch da. Ich überlege, wer der Erste sein wird. Valentin? Rinara? Aleksandra? Oder ich?“
Ein trauriger Unterton mischte sich in ihre Stimme.
Auch mein Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken, einen meiner Brüder oder Schwestern als Leiche am Straßenrand zu finden.
Wir waren ein Team, eine Familie. Ich wollte niemanden von ihnen verlieren. Nicht schon wieder. Außerdem würden einige von uns es nicht verkraften, erneut jemanden beerdigen zu müssen.
Maxims Gefährtin war schon jahrelang tot und war eine der Ersten gewesen, die Simons Schicksal ereilt hatte. Auch wenn Maxim sich uns angeschlossen hatte und für unsere Überzeugungen kämpfte, wusste ich, sie fehlte ihm. Dieser Schmerz war so tief in ihm verankert, dass er ihn nicht loswurde. Wahrscheinlich hielt er sich deshalb immer im Hintergrund. Dabei konnte ich ihn verstehen. Ich wusste, wie es war, das Wichtigste im Leben zu verlieren.
„Und? Weglaufen ist keine Lösung“, murmelte ich gedankenversunken und kämpfte erneut gegen die Bilder an, die in mir hochstiegen. Das war wohl alles, was ich inzwischen tat.
Kämpfen, kämpfen, kämpfen.
Magnus, der in einen Tank voller Weihwasser eingesperrt war und langsam von der geheiligten Flüssigkeit aufgelöst wurde. Klara, die an ein Kreuz genagelt verbrannte, bis ihre Schmerzensschreie verstummten. Mein eigener Körper, dem die Seele durch den Mund ausgesaugt wurde.
Menschen sind fasziniert davon, dass wir für Unsterblichkeit stehen. Aber wir sind genauso verwundbar. Es gab so viele Arten, uns zu töten.
Sie sind nur anders. Ich schluckte schon wieder und verschränkte die Arme vor der Brust, um das Zittern meiner Finger vor Klara zu verstecken. Sie brauchte jetzt Sicherheit und nicht jemanden, der vor ihr zusammenbrach.
„Vielleicht nicht.“ Klara schluchzte. „Aber ich habe Angst, Rune. Mehr als du dir vorstellen kannst. Ich bin einmal gestorben, das möchte ich nie wieder erleben.“ Klaras Stimme war nur noch ein Hauchen.
Es zerriss mir das Herz, sie so zu sehen. Keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, aber von all meinen selbstgewählten Schwestern war sie mir die liebste. Sie war zu jeder Schandtat bereit und kämpfte härter als jeder von uns. Aber es gab eine Sache, die sie fürchtete: das Fegefeuer. Und das, was dort auf sie wartete.
Auf uns alle. Vor ihrer Erweckung war sie nur wenige Stunden im Schlund der Hölle gewesen, ehe sie wieder auf die Erde zurückgekommen war. Es hatte jedoch gereicht, um ihr einen Vorgeschmack darauf zu geben, wie ihre Ewigkeit aussehen würde.
Uns allen war das widerfahren. Wir hatten schreckliche, abscheuliche Dinge getan und waren gestorben. Dafür waren wir in der Unterwelt gelandet. Doch wir hatten eine zweite Chance bekommen, um unsere Taten wiedergutzumachen. Man hatte uns auserwählt, weil wir in unserem Leben auch Gutes geleistet hatten.
Klara war das beste Beispiel dafür. Sie hatte im Zweiten Weltkrieg versteckt für den Frieden gearbeitet und sich um die Menschen gekümmert, die aufgrund ihrer Abstammung zum Tode verurteilt waren. In meinen Augen war sie eine Heldin. Leider hatte sie aber auch ihren Bruder und ihren Vater getötet. Ob es ein Unfall war, wusste ich nicht. Klara sprach nie darüber, doch für mein Empfinden war es um die beiden Vergewaltiger, die den Schrecken der Zeit ausgenutzt hatten, um noch mehr Leid zu verbreiten, nicht schade gewesen.
„Wir leben gemeinsam, wir sterben gemeinsam. Schon vergessen?“, erinnerte ich sie an das Versprechen, dass wir einander gegeben hatten, als wir uns zusammengeschlossen hatten.
Eine der besten Entscheidungen meiner Existenz.
Ich war nach meiner Erweckung nicht lange allein gewesen, bis ich auf Magnus traf. Die Zeit war in meiner Erinnerung verschwommen.
Doch ich weiß, dass ich ein Monster gewesen war.
Rücksichtslos, egoistisch, vom Schmerz zerfressen.
Dahin wollte ich niemals wieder zurück. Dann würde ich lieber zusammen mit den anderen sterben und die Hand meiner Schwester halten, wenn wir gemeinsam im Fegefeuer landeten.
Klara nickte zögerlich, erhob sich vom Ast und balancierte auf ihm wie eine Tänzerin, bevor sie hinuntersprang. Sie fiel galant auf ihre Füße.
Der Wind wehte durch ihre Haare und trug ihren Duft in meine Richtung. Sie roch nach Erdbeeren. Gestern waren es noch Äpfel gewesen und am Tag davor irgendwelche Aprikosen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es anstellte, aber es gelang ihr immer, mich mit einer neuen Duftnote zu überraschen, als wäre sie ein Obstgarten. Klaras Stimme war gesenkt und ein trauriger Zug umspielte ihre Lippen, als sie zu einer Antwort ansetzte. Ihre Augen glänzten verräterisch.
„Nein, ich habe es nicht vergessen, aber ich hätte nie gedacht, dass Letzteres so schnell eintreten würde. Ich hätte gerne noch eine lange Zeit mit euch gelebt.“
Ich auch. Aber niemand rechnet mit dem Schlimmsten, bevor es passiert. Ansonsten würden viele von uns ihr Leben anders leben.
Ich hatte auch nicht geglaubt, dass ich eines Tages in der Hölle aufwachen würde, statt in meinem Bett, und die Entscheidung hätte, für immer meine Taten abzubüßen oder lieber gegen das Böse in der Welt zu kämpfen. Mit den Flammen des Fegefeuers vor Augen war mir die Wahl nicht schwergefallen. Damals.
Würde ich mich heute anders entscheiden?
Ich wusste es nicht.
„Wenn ihr noch länger rumsteht, kommen wir zu spät“, rief Rinara von der Haustür aus und schulterte ihren Rucksack.
Ungeduldig sah sie zu uns, während sie zu ihrem Dacia Lodgy schlenderte. Mit einem Grinsen beobachtete ich, wie sie sich ins schwarze Auto setzte und hinter den getönten Scheiben verschwand.
Jetzt hieß es schnell handeln. Rinara würde nicht auf uns warten. Das tat sie nie. Zuspätkommen war für sie keine Option. Dafür bewunderte ich sie, auch wenn ich mich fragte, wie man nach all den Jahren immer noch motiviert sein konnte.
Aber vielleicht waren wir einfach zu verschieden, als dass ich sie verstehen konnte. Sie liebte die gegenwärtige Zeit, in der es kaum Kriege und jede Menge Wohlstand unter den Menschen gab.
Ich sah das ein wenig anders. Meiner Meinung nach waren die Probleme nicht verschwunden, sie hatten sich nur verlagert. In andere Länder, andere Gesellschaftsschichten und in andere Medien. Früher wurden Bücher verbrannt, nun regelte die Vorherrschaft von Shitstorms in den sozialen Medien, worüber gesprochen werden durfte und worüber nicht.
„Es wird alles gut“, redete ich Klara weiterhin zu, ergriff ihre Hand und zog sie hinter mir her, damit wir doch noch von Rinara zur Schule gefahren wurden, statt mühselig in menschlicher Geschwindigkeit laufen zu müssen. „Vertrau mir! Schon bald haben wir es hinter uns.“
Ich log. Wir beide wussten es. Aber irgendwas in meiner Stimme ließ Klara tatsächlich nicken und ich schwor mir, diesen kleinen Hoffnungsschimmer zu bewahren, solange ich konnte. Leider reichte er kaum, bis wir vor dem Schulgelände vorfuhren, was hauptsächlich an Rinara lag, die zweimal hupte, um uns ihre Drohung noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
Eilig rannte ich mit Klara ins Haus, nahm die erste Tasche, die ich finden konnte - unglücklicherweise war es nicht die mit meinen Schulbüchern – und stieg zu Rinara in den Wagen. Während ich neben der Fahrerin Platz nahm, machte es sich Klara auf der Rückbank bequem.
„Neues Jahr, neues Glück.“ Mit einem freudigen Lächeln lenkte Rinara das Auto auf den Weg, der aus dem Wald führte, und drückte das Gaspedal durch. Die Reifen gaben ein Quietschen auf dem feuchten Untergrund von sich, als sie beschleunigten und uns sicher über den erdigen Boden führten.
„Wie machst du das nur, Rinara? Ich kenne niemanden, der sich so auf die Schule freut wie du“, fragte Colette mit leichtem Singsang in ihrer Stimme, doch ein Blick in den Rückspiegel verriet, dass die Antwort sie nicht wirklich kümmerte. Sie griff nach Klaras Hand und verschränkte ihre Finger mit denen ihrer Gefährtin.
Zeitgleich legte sie ihren Kopf auf die Schulter von Klara, die ihr daraufhin über die kurzen Haare strich. Nebeneinander sahen die beiden aus wie Tag und Nacht. Wobei Colette mit ihrer schwarzen Mähne und den Tätowierungen auf den Händen, die ihre Brandnarben verdecken sollten, definitiv die Dunkelheit repräsentierte. Trotzdem waren beide glücklich und schienen perfekt zueinander zu passen.
Klaras Mundwinkel zuckten. Ihre Sorgen waren für kurze Zeit vergessen. Wenn sie sich bei Colette aufhielt, schien sie immer zu strahlen.
Wieder spürte ich einen Stich der Eifersucht in meiner Brust. Ich war schon seit Jahrhunderten allein und bisher hatte es mir nie etwas ausgemacht.