Source Code - Bill Gates - E-Book

Source Code E-Book

Bill Gates

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Beschreibung

Die geschäftlichen Erfolge von Bill Gates sind weithin bekannt: der 20-Jährige, der sein Studium in Harvard abbrach, um ein Softwareunternehmen zu gründen, das zu einem Branchenriesen wurde und die Art und Weise, wie die Welt arbeitet und lebt, veränderte; der mehrfache Milliardär, der sich philanthropischen Aufgaben zuwandte, um den Klimawandel, die globale Gesundheit und die Bildung anzugehen.   In Source Code geht es nicht um Microsoft, die Gates Stiftung oder die Zukunft der Technologie. Es ist die menschliche, persönliche Geschichte, wie Bill Gates zu dem wurde, was er heute ist: seine Kindheit, seine frühen Leidenschaften und Ziele. Es ist die Geschichte seiner prinzipientreuen Großmutter und seiner ehrgeizigen Eltern, seiner ersten tiefen Freundschaften und des plötzlichen Todes seines besten Freundes; von seinen Kämpfen, sich anzupassen, und seiner Entdeckung der Welt des Programmierens und der Computer in der Morgendämmerung einer neuen Ära; von seinem Start als Teenager auf einem Weg, der ihn von nächtlichen Eskapaden in einem nahegelegenen Computerzentrum bis in sein Studentenwohnheim führte, wo er eine Revolution auslöste, die die Welt für immer verändern sollte. Bill Gates erzählt zum ersten Mal seine eigene Geschichte: weise, warmherzig, aufschlussreich - ein faszinierendes Porträt eines amerikanischen Lebens. 

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel Source Codebei Alfred A. Knopf, an imprint of The Knopf Doubleday Group, a division of Penguin Random House, LLC, New York.

© by Bill Gates, 2025

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Schriftart Cover: Modern Typewriter von Lukas Krakora, typewriterfonts.net

Covergestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München, nach einem Entwurf von John Gall

Covermotiv: © Wallace Ackermann Photography

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Motto

Prolog

Kapitel eins – Trey

Kapitel zwei – View Ridge

Kapitel drei – Rational

Kapitel vier – Glückskind

Kapitel fünf – Lakeside

Kapitel sechs – Freie Zeit

Kapitel sieben – Nur kleine Jungs?

Kapitel acht – Die raue Wirklichkeit

Kapitel neun – Ein Akt und fünf Neunen

Kapitel zehn – Frühreif

Kapitel elf – Joker

Kapitel zwölf – Sei korrekt

Kapitel dreizehn – Micro-Soft

Kapitel vierzehn – Source Code

Epilog

Dank

Bildteil

Abbildungsverzeichnis

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

In Erinnerung an meine ElternBill Gates und Mary Maxwell Gates

und an meine SchwesternKristi und Libby

Motto

The prize is the pleasure of finding the thing out.

– Richard Feynman

Prolog

Mit dreizehn schloss ich mich einer Jungengruppe an, die sich regelmäßig zu langen Wanderungen in den Bergen rund um Seattle traf. Eigentlich hatten wir uns bei den Pfadfindern kennengelernt und waren mit ihnen auch viel wandern und zelten gegangen, aber dann hatte sich unser kleiner Trupp abgespalten, um eigene Expeditionen zu unternehmen – ja, Expeditionen, nichts anderes sahen wir darin. Wir wünschten uns mehr Freiheit und mehr Wagnis, als die Pfadfinderausflüge uns boten.

Meist waren wir zu fünft unterwegs – Mike, Rocky, Reilly, Danny und ich. Mike war der Anführer; er war ein paar Jahre älter als wir anderen und hatte viel mehr Erfahrung mit dem Leben im Freien. Innerhalb von rund drei Jahren sind wir viele Hundert Meilen zusammen gewandert. Wir haben den Olympic National Forest westlich von Seattle und die Glacier Peak Wilderness nordöstlich durchquert und haben Touren entlang der Pazifikküste unternommen. Oft waren wir sieben Tage oder länger am Stück unterwegs, unsere topografischen Karten führten uns durch alte Wälder und über felsige Strände, wo wir die Gezeiten beachten mussten, wenn wir Landzungen umrundeten. In den Winterferien unternahmen wir ausgedehnte Ausflüge und wanderten und zelteten bei jedem Wetter, was in diesem Gebiet im pazifischen Nordwesten durchnässte, kratzende Wollhosen aus Armeebeständen, die immerfort verschrumpelt waren, bedeutete. Es gab keine Kletterpartien an Felswänden, weder mit Seil noch ohne, es war einfach nur stures, anstrengendes Wandern. Unsere Touren waren nicht gefährlich, abgesehen davon, dass da eine Gruppe Halbwüchsiger mitten in den Bergen unterwegs war, Hilfe mehrere Stunden entfernt lag und an Handys nicht zu denken war.

Mit der Zeit wuchsen wir zu einem vertrauensvollen, eingeschworenen Team zusammen. Wenn wir uns nach einem langen und anstrengenden Wandertag für einen Schlafplatz entschieden, brauchte es keine langen Worte zur Verteilung der Aufgaben. Mike und Rocky befestigten die Plane, die uns für die Nacht als Dach dienen würde, Danny suchte trockenes Holz zusammen, Reilly und ich brachten mit einem Anzünder und Zweigen ein Lagerfeuer zum Brennen.

Und dann gab es Essen. Günstige Lebensmittel, die leicht zu transportieren waren, uns aber ordentlich stärkten. Nichts hat jemals besser geschmeckt. Zum Abendessen öffneten wir eine Dose Pökelfleisch und mischten ihm eine Fertigtüte »Hamburger Helper« oder »Beef Stroganoff« unter. Morgens gab es »Carnation Instant Breakfast« oder ein anderes Pulver, das sich unter Zugabe von Wasser in ein Western-Omelett verwandelte – zumindest laut Verpackung. Mein Lieblingsfrühstück waren »Oscar Mayer Smokie Links«: geräucherte Würstchen, beworben als »100 % Fleisch«, die heute nicht mehr erhältlich sind. Wir hatten nur eine Bratpfanne für die Zubereitung des Essens und aßen aus leeren Konservendosen, die bei jedem von uns am Rucksack hingen. Diese Dosen waren Wassereimer, Kochtopf und Haferflockenschüssel in einem. Ich weiß nicht, wer von uns das heiße Himbeergetränk erfunden hat. Eine großartige kulinarische Innovation war es zwar nicht, man musste nur Wackelpuddingpulver in kochendes Wasser geben, aber es war perfekt als Dessert oder als morgendlicher Zuckerschub vor einem Wandertag.

Wir waren ohne Aufsicht unserer Eltern, ohne jede Kontrolle durch Erwachsene, wir entschieden selbst, wohin wir gingen, was wir aßen und wann wir schliefen, und auch welche Risiken wir eingingen. In der Schule gehörten wir nicht etwa zu den Coolen. Nur Danny war in einer Sportmannschaft, er spielte Basketball, aber er gab es bald auf, um Zeit für unsere Touren zu haben. Ich war der dünnste in der Gruppe und meist der kälteste, und ich hatte immer das Gefühl, dass ich schwächer war als die anderen. Aber ich mochte die körperliche Herausforderung und das Gefühl der Autonomie. Wandern wurde damals in unserer Gegend zwar immer beliebter, aber Jugendliche, die acht Tage allein durch die Wälder stapften, traf man nicht so oft.

Allerdings war das in den 1970er Jahren, und die Einstellung zur Kindererziehung war lockerer als heute. Kinder hatten im Allgemeinen mehr Freiheiten. Und als ich in meinen frühen Teenagerjahren war, hatten meine Eltern akzeptiert, dass ich anders war als viele meiner Altersgenossen, und sie hatten sich mit der Tatsache abgefunden, dass ich ein gewisses Maß an Unabhängigkeit brauchte, um mir meinen Weg durch die Welt zu bahnen. Diese Akzeptanz war hart erkämpft, vor allem für meine Mutter, aber sie sollte eine entscheidende Rolle dabei spielen, wer ich werden sollte.

Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich mir sicher, dass wir alle auf diesen Ausflügen etwas anderes suchten als Kameradschaft und das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Wir waren in dem Alter, in dem Kinder ihre Grenzen austesten, mit verschiedenen Identitäten experimentieren – und manchmal auch eine Sehnsucht nach größeren, sogar transzendenten Erfahrungen verspüren. Ich hatte begonnen, eine klare Sehnsucht zu spüren, um herauszufinden, was mein Weg sein würde. Ich war mir nicht sicher, in welche Richtung es gehen sollte, aber es musste etwas Interessantes und Bedeutsames sein.

Auch mit einer anderen Jungengruppe verbrachte ich damals viel Zeit: Kent, Paul, Ric und ich gingen auf dieselbe Schule, die Lakeside School, die eine Möglichkeit für Schüler eingerichtet hatte, sich über eine Telefonleitung mit einem Großrechner zu verbinden. Dass Teenager überhaupt Zugang zu einem Computer hatten, war damals eine absolute Seltenheit. Wir vier waren begeistert und verbrachten unsere gesamte Freizeit damit, immer komplexere Programme zu schreiben und zu erforschen, was wir mit dieser elektronischen Maschine alles anstellen könnten.

Oberflächlich betrachtet hätte der Unterschied zwischen Wandern und Programmieren nicht größer sein können. Aber beides fühlte sich an wie ein Abenteuer. Mit beiden Freundesgruppen erkundete ich neue Welten und reiste an Orte, die selbst viele Erwachsene nicht erreichen konnten. Wie das Wandern passte auch das Programmieren zu mir, weil es mir erlaubte, mein eigenes Maß an Erfolg zu definieren, und es schien grenzenlos zu sein, nicht davon abhängig, wie schnell ich laufen oder wie weit ich werfen konnte. Die Logik, die Konzentration und die Ausdauer, die man braucht, um lange, komplizierte Programme zu schreiben, waren für mich selbstverständlich. Anders als beim Wandern war ich in diesem Freundeskreis der Anführer.

Gegen Ende meines zweiten Studienjahres, im Juni 1971, rief mich Mike mitten im Dezember an und erzählte mir, welche Tour als Nächstes geplant war: 50 Meilen durch die Olympic Mountains. Die von ihm ausgewählte Route hieß »Press Expedition Trail«, benannt nach einer Gruppe, die im Jahr 1890, von einer Zeitung finanziert, die Gegend erkundet hatte. Ob er die Unternehmung meinte, bei der die Teilnehmer fast verhungert wären und ihnen die Kleidung am Körper verrottet war? Ja, bestätigte er, aber das sei doch lange her.

Acht Jahrzehnte später ist die Wanderung immer noch anstrengend; in jenem Jahr gab es eine Menge Schnee, was sie zu einem besonders entmutigenden Unterfangen machte. Da aber alle anderen – Rocky, Reilly und Danny – Feuer und Flamme waren, konnte ich mich wohl kaum drücken. Außerdem war ein jüngerer Pfadfinder namens Chip bereit, sich uns anzuschließen. Ich musste mit.

Geplant war, den Low Divide Pass zu erklimmen, zum Quinault River hinabzusteigen und dann denselben Weg zurückzuwandern, wobei wir in Blockhütten entlang des Weges übernachten würden. Die Tour würde sieben oder acht Tage in Anspruch nehmen. Der erste Tag war noch recht leicht, wir verbrachten die Nacht auf einer wunderschönen schneebedeckten Wiese. Während der nächsten ein, zwei Tage, beim Aufstieg zum Low Divide, wurde der Schnee tiefer. Als wir unser Nachtquartier erreichten, lag die Hütte unter Schnee begraben. Innerlich freute ich mich schon. Bestimmt würden wir umkehren, dachte ich, und zu der weitaus einladenderen Schutzhütte absteigen, an der wir schon vorbeigekommen waren. Dort würden wir ein Feuer machen, uns aufwärmen und essen.

Mike meinte, wir sollten abstimmen: umkehren oder weiterwandern bis zum Fluss. Beide Optionen bedeuteten eine mehrstündige Wanderung. »Die Schutzhütte, an der wir vorbeigekommen sind, liegt 500 Meter weiter unten. Wir können dorthin zurückkehren, oder aber wir wandern weiter zum Quinault River«, erklärte Mike. Dass wir mit dem Abstieg unsere Mission, nämlich den Fluss zu erreichen, aufgeben müssten, brauchte er nicht weiter auszuführen.

»Was meinst du, Dan?«, fragte Mike. Danny war der inoffizielle stellvertretende Anführer unserer kleinen Gruppe. Er war größer als alle anderen, ein ausdauernder Wanderer mit langen Beinen, die offenbar nie ermüdeten. Was auch immer er antwortete, würde die Entscheidung beeinflussen.

»Gehen wir weiter, wir sind fast da, vielleicht sollten wir einfach weitergehen«, sagte Danny. Als die Hände hochgingen, war klar, dass ich in der Minderheit war. Wir würden weitermachen.

Später, als wir schon wieder durch den Schnee stapften, sagte ich zu ihm: »Danny, ich bin echt enttäuscht von dir. Du hättest das hier verhindern können.« Das meinte ich im Scherz, aber nur halb.

Ich erinnere mich deutlich, wie kalt und elend mir an diesem Tag war. Und ich erinnere mich auch, was ich dagegen tat: Ich zog mich in meine Gedanken zurück.

Vor meinem inneren Auge hatte ich Programmiersprache.

Etwa zur selben Zeit hatte jemand der Lakeside einen Computer überlassen, einen sogenannten PDP-8, hergestellt von der Digital Equipment Corporation. Das war 1971, und obwohl ich mich bereits intensiv mit der aufkommenden Welt der Computer beschäftigte, hatte ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Bis dahin hatten meine Freunde und ich nur riesige Großrechner genutzt, mit denen mehrere Personen gleichzeitig arbeiteten. Entweder standen diese in einem gesonderten Raum, oder aber wir stellten über eine Telefonleitung eine Verbindung zu ihnen her. Der PDP-8 aber war für die direkte Nutzung durch eine Person konzipiert und immerhin so klein, dass er neben einem auf einem Tisch stand. Die 36 Kilo schwere, 8500 Dollar teure Maschine war wahrscheinlich das, was den ein Jahrzehnt später auf den Markt kommenden Personal Computern am nächsten kam. Ich nahm mir vor, eine Version der BASIC-Programmiersprache für den neuen Computer zu schreiben.

Vor der Wanderung hatte ich an dem Teil des Programms gearbeitet, der dem Computer die Reihenfolge vorgibt, in der er Operationen ausführen soll, etwa wenn jemand eine Rechenaufgabe wie 3(2 + 5) × 8 – 3 eingibt oder auch ein Spiel erstellen will, das komplexe Mathematik erfordert. Beim Programmieren spricht man hier von einem »Formula Evaluator«, also einer Art »Ausdrucksauswertung«. Nun stapfte ich also durch den Schnee, hatte den Blick auf den Boden geheftet und grübelte darüber nach, welche Schritte für die Ausführung der Operationen erforderlich waren. Die Devise lautete: So wenige wie möglich. Computer hatten damals nur sehr wenig Speicher, daher mussten Programme schlank sein und mit wenig Befehlen auskommen, um den Speicher nicht zu überlasten. Der PDP-8 hatte nur 6 Kilobyte Arbeitsspeicher. Ich ging im Kopf durch, wie der Computer meine Befehle befolgen würde. Der Rhythmus meiner Schritte half mir beim Denken, ähnlich wie meine Angewohnheit, auf der Stelle zu wippen. Den restlichen Tag über war ich in mein Programmierrätsel vertieft. Als wir ins Tal hinabstiegen, wich der Schnee einem sanft abfallenden Pfad durch einen alten Fichten- und Tannenwald. Wir erreichten den Fluss, schlugen unser Lager auf, aßen unseren Spam Stroganoff und konnten endlich schlafen.

Früh am nächsten Morgen stiegen wir wieder zum Low Divide hinauf, der Wind peitschte uns die Graupel ins Gesicht. Wir hielten lange genug unter einem Baum an, um uns eine Packung Ritz Crackers zu teilen, und gingen weiter. Jedes Lager, das wir fanden, war voll mit anderen Wanderern, die den Sturm abwarteten. Also gingen wir einfach weiter und fügten einem unendlich langen Tag weitere Stunden hinzu. Beim Überqueren eines Baches stürzte Chip und schlug sich das Knie auf. Mike säuberte die Wunde und verband sie mit einem Schmetterlingsverband; wir kamen nur noch so schnell voran, wie Chip humpelte. Die ganze Zeit über analysierte ich schweigend meinen Code. Während der zwanzig Meilen, die wir an diesem Tag gewandert sind, habe ich kaum ein Wort gesprochen. Schließlich kamen wir zu einem Unterstand, der Platz für uns bot, und schlugen unser Lager auf.

Wie der berühmte Ausspruch »Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich einen kürzeren Brief geschrieben« nahelegt, ist es einfacher, ein Programm in unpräzisem Code zu schreiben, der sich über mehrere Seiten erstreckt, als für dasselbe Programm nur eine Seite zu benötigen. Die unpräzise Version läuft langsamer und verbraucht mehr Speicherplatz. Unsere Wanderung bot mir genug Zeit, mich kurz zu fassen. An diesem langen Tag konnte ich mein Programm weiter reduzieren, so als würde ich kleine Stücke von einem Stock schnitzen, um seine Spitze zu schärfen. Das Ergebnis erschien mir effizient und erfreulich simpel. Es war mit Abstand der beste Code, den ich je geschrieben habe.

Als wir uns am nächsten Nachmittag auf den Rückweg zum Ausgangspunkt machten, wich der Regen endlich einem klaren Himmel und der Wärme des Sonnenlichts. Ich fühlte das Hochgefühl, das mich nach einer Wanderung immer überkommt, wenn die ganze harte Arbeit hinter mir liegt.

Als die Schule im Herbst wieder anfing, hatte derjenige, der uns den PDP-8 geliehen hatte, ihn zurückverlangt. Ich habe mein BASIC-Projekt nie beendet. Aber der Code, den ich auf dieser Wanderung schrieb, mein Ausdrucksauswerter und seine Schönheit blieben mir erhalten.

Dreieinhalb Jahre später war ich Student im zweiten Semester und wusste nicht, welchen Weg ich einschlagen sollte, als Paul, einer meiner Freunde aus Lakeside, mit der Nachricht von einem bahnbrechenden Computer in mein Wohnheimzimmer platzte. Ich wusste, dass wir eine BASIC-Sprache für ihn schreiben konnten: Wir hatten einen Vorsprung. Das erste, was ich tat, war, mich an diesen elenden Tag auf der Low Divide zu erinnern und den von mir geschriebenen Auswertecode aus meinem Gedächtnis zu holen. Ich tippte ihn in einen Computer ein und legte damit den Grundstein für eines der größten Unternehmen der Welt und den Beginn eines neuen Industriezweigs.

Kapitel eins –Trey

Irgendwann würde es ein großes Unternehmen geben, würden Millionen Zeilen lange Softwareprogramme in Milliarden von überall auf der Welt verwendeten Computern stecken. Es würde Reichtum und Rivalen geben und die ständige Sorge, wie man sich an der Spitze einer technologischen Revolution behauptet.

Vor all dem aber gab es ein Kartenspiel und nur ein Ziel: meine Großmutter zu schlagen.

In meiner Familie konnte man besonders schnell zu Ruhm kommen, wenn man ein guter Spieler war. Gerade Kartenspiele hatten es uns angetan. Wer Rommé, Bridge oder Canasta beherrschte, dem war unser Respekt sicher. Meine Großmutter mütterlicherseits, Adelle Thompson, machte diese Spielebegeisterung zu einer Familienlegende. »Die beste Kartenspielerin ist und bleibt Gami«, hieß es in meiner Kindheit immer.

Gami wuchs in der Eisenbahnstadt Enumclaw im Bundesstaat Washington auf. Der Ort liegt weniger als 50 Meilen von Seattle entfernt, aber im Jahr 1902, dem Jahr ihrer Geburt, war er vollkommen abgeschieden. Gamis Vater arbeitete als Telegrafist bei der Eisenbahn, und ihre Mutter Ida Thompson – Lala genannt – verdiente sich mit dem Backen von Kuchen und dem Verkauf von Kriegsanleihen in der örtlichen Sägemühle ein bescheidenes Einkommen. Schon Lala spielte gern. Ihre Bridge-Partnerinnen, zu denen Bankiersgattinnen und die Frau des Sägemühlenbesitzers gehörten, kamen aus der feinen Gesellschaft. Diese Damen hatten vielleicht mehr Geld oder einen höheren sozialen Status, aber Lala glich das Gefälle aus, indem sie sie beim Kartenspielen besiegte. Dieses Talent wurde an Gami und bis zu einem gewissen Grad an deren einziges Kind, meine Mutter, weitergegeben.

Meine Einführung in die familiäre Spielkultur begann früh. Ich lag noch in den Windeln, da nannte Lala mich schon »Trey«, im Kartenspielerjargon das Wort für die »Drei«. Der Name lehnte daran an, dass ich nach meinem Vater und Großvater der dritte Bill Gates der Familie war. (Eigentlich bin ich Nummer vier, aber mein Vater entschied sich für den »Junior«, also wurde ich Bill Gates III genannt.) Als ich fünf war, brachte Gami mir das Quartettspielen bei. Darauf folgten Jahre mit unzähligen Kartenrunden. Wir spielten zum Spaß, wir spielten, um uns gegenseitig zu ärgern und zum Zeitvertreib. Aber meine Großmutter spielte vor allem, weil sie gewinnen wollte. Und sie gewann immer.

Ihre Überlegenheit erstaunte mich. Warum war sie nur so gut? War das schon immer so gewesen? Vielleicht war es eine Art Gottesgabe? Schließlich war sie ein gläubiger Mensch. Lange fand ich keine Antwort darauf. Ich wusste nur, dass sie jedes Mal gewann. Egal bei welchem Spiel. Egal wie sehr ich mich anstrengte.

Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Religionsgemeinschaft der Christian Scientists immer mehr Verbreitung an der Westküste fand, wurden sowohl die Familie meiner Mutter als auch die meines Vaters zu frommen Anhängern. Ich nehme an, die Eltern meiner Mutter schöpften Kraft aus der »Christlichen Wissenschaft« und teilten deren Überzeugung, dass die wahre Identität eines Menschen im Spirituellen und nicht im Materiellen zu finden sei. Für die Mitglieder der Christian Science ist das chronologische Alter nicht von Bedeutung, und so feierte Gami keine Geburtstage und gab ihr Alter nicht preis, ja noch nicht einmal ihr Geburtsjahr. Dabei drängte meine Großmutter ihre Überzeugungen anderen nicht auf. Meine Mutter und unsere Kernfamilie hingen der Religion nicht an. Gami versuchte jedoch nie, uns dazu zu überreden.

Wahrscheinlich trug ihr Glaube dazu bei, dass sie so starke Prinzipien an den Tag legte. Schon damals konnte ich erkennen, dass Gami strenge persönliche Anforderungen in Bezug auf Fairness, Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit hatte. Ein gutes Leben war für sie ein einfaches Leben, in dem man seinen Mitmenschen Zeit und Geld schenkte und vor allem auch seinen Verstand benutzte und sich mit der Welt beschäftigte. Meine Großmutter verlor nie die Beherrschung, sie tratschte und kritisierte nicht. Sie war zu keiner Hinterlist fähig. Oft war sie die klügste Person im Raum, aber sie achtete darauf, niemanden in den Schatten zu stellen. Sie war im Grunde eine schüchterne Person, doch sie besaß ein inneres Selbstvertrauen, das sich in einer Zen-ähnlichen Gelassenheit zeigte.

Zwei Monate vor meinem fünften Geburtstag starb mein Großvater J. W. Maxwell Jr. an Krebs. Er wurde nur 59 Jahre alt. Als Anhänger der Christian Science hatte er moderne medizinische Eingriffe abgelehnt. Seine letzten Jahre waren qualvoll, und Gami als seine Pflegerin hatte ebenso zu leiden. Wie ich später erfuhr, bildete sich mein Großvater ein, er sei so krank geworden, weil Gami etwas getan hatte, das Gott als Sünde ansah und nun ihn bestrafte. Trotzdem stand sie stoisch an seiner Seite und pflegte ihn bis zu seinem Tod. Zu meinen deutlichsten Kindheitserinnerungen gehört, dass meine Eltern mich nicht zu seiner Beerdigung gehen ließen. Ich ahnte nur, was da vor sich ging, bekam aber mit, dass meine Mutter, mein Vater und meine ältere Schwester ihn verabschieden durften, während ich mit einem Babysitter zurückblieb. Ein Jahr später starb meine Urgroßmutter Lala, als sie gerade bei Gami zu Besuch war.

Von da an konzentrierte Gami all ihre Liebe und Aufmerksamkeit auf mich und meine ältere Schwester Kristi, später dann auch auf meine jüngere Schwester Libby. Sie hat uns durch Kindheit und Jugend begleitet und unsere Persönlichkeit tiefgreifend geprägt. Sie las mir vor, bevor ich ein Buch halten konnte, und auch noch in den Jahren danach, Klassiker wie Der Wind in den Weiden, Die Abenteuer des Tom Sawyer und Wilbur und Charlotte. Nach dem Tod meines Großvaters brachte Gami mir das Lesen bei und ließ mich zunächst die Wörter aus damals beliebten amerikanischen Kinderbüchern wie The Nine Friendly Dogs und It’s a Lovely Day nachsprechen. Später fuhr sie mit mir zur Bibliothek und versorgte uns so mit weiteren Büchern. Mir war klar, dass sie viel las und über viele Dinge Bescheid wusste.

Meine Großeltern hatten ein Haus in Windermere gebaut, einem gehobeneren Viertel Seattles. Es sollte genug Platz für Enkelkinder und Familienfeiern haben. Gami blieb dort wohnen, nachdem mein Großvater gestorben war. An manchen Wochenenden übernachteten Kristi und ich in dem Haus, abwechselnd hatte einer von uns das Privileg, in Gamis Zimmer zu schlafen. Der andere schlief im Zimmer nebenan, in dem alles, von den Wänden bis zu den Vorhängen, hellblau war. Das Straßenlicht und vorbeifahrende Autos warfen unheimliche Schatten in diesen blauen Raum. Ich hatte Angst, dort zu übernachten, und war immer erleichtert, wenn ich in Gamis Zimmer bleiben durfte.

Diese Wochenendbesuche waren etwas Besonderes. Das Haus meiner Großmutter lag nur ein paar Meilen von unserem entfernt, aber die Zeit dort fühlte sich an wie Urlaub. Gami hatte einen Pool und einen kleinen Minigolfplatz, den mein Großvater angelegt hatte. Außerdem durften wir fernsehen – ein Vergnügen, das bei uns zu Hause streng dosiert wurde. Gami war für alles zu haben. Dank ihr wurden meine Schwestern und ich zu begeisterten Spielern, die alles – Monopoly, Risiko, Memory – zu einem Wettkampfsport machten. Manchmal kauften wir zwei Exemplare eines Puzzles und wetteiferten, wer zuerst fertig würde. Wir wussten jedoch, was sie am liebsten spielte: An den meisten Abenden teilte sie nach dem Essen die Karten aus und zeigte uns wieder einmal, was eine Harke ist.

Mit etwa acht Jahren bekam ich zum ersten Mal eine Ahnung davon, wie sie das machte. Ich erinnere mich noch genau an den Tag: Ich saß meiner Großmutter am Esstisch gegenüber, Kristi neben mir. Im Zimmer stand eines dieser riesigen alten Holzradios, das schon damals ein Relikt der Vergangenheit war. An einer anderen Wand thronte ein großer Schrank, in dem Gami das gute Geschirr aufbewahrte, das nur sonntags benutzt wurde.

Es ist ruhig, man hört nur, wie die Karten auf den Tisch klatschen, die wir im Schnellfeuer aufdecken und ablegen. Wir spielen Pounce, eine Art schnelles Solitaire mit mehreren Spielern. Ein Pounce-Dauergewinner weiß nicht nur, was er auf der Hand hat, sondern auch welche Karten in den einzelnen Stapeln der Spieler auftauchen und was in den gemeinsamen Stapeln auf dem Tisch liegt. Das Spiel belohnt ein gutes Arbeitsgedächtnis und die Fähigkeit, Muster zu erkennen, wodurch man sofort weiß, wie eine aufgedeckte Karte zu dem passt, was man auf der Hand hat. Ich aber weiß davon nichts. Ich weiß nur, dass Gami irgendetwas besitzt, womit sie das Glück auf ihre Seite zieht.

Ich starre meine Karten an und versuche verzweifelt, Anlegemöglichkeiten zu finden. Dann höre ich Gami sagen: »Deine Sechs passt.« Und dann: »Deine Neun passt.« Sie leitet meine Schwester und mich an, während sie gleichzeitig ihr eigenes Blatt spielt. Sie bekommt irgendwie alles mit, was am Tisch passiert, und scheint sogar die Karten zu kennen, die jeder von uns auf der Hand hält. Wie macht sie das bloß? Für echte Kartenspieler ist das nichts Besonderes: Je genauer man das Blatt seines Gegners verfolgt, desto besser sind die Gewinnchancen. Für mich kleinen Jungen ist es dennoch eine Offenbarung. Ich erkenne zum ersten Mal, dass es bei all dem Rätselraten und Glückhaben auch Dinge gibt, die ich lernen kann, um meine Gewinnchancen zu erhöhen. Mir wird klar, dass Gami nicht nur Glück oder Talent hat. Sie hat ihr Gehirn trainiert. Und das kann ich auch.

Von da an begann ich ein Kartenspiel mit dem Bewusstsein, dass jedes ausgeteilte Blatt die Möglichkeit bietet, etwas zu lernen. Ich musste diese Möglichkeit nur ergreifen. Genau das wusste auch Gami. Dennoch machte sie es mir nicht leicht. Sie hätte sich auch einfach mit mir hinsetzen und mir die Strategien und Taktiken verschiedener Spiele erklären können. Aber das war nicht ihre Art. Sie war nicht belehrend. Lieber ging sie mit gutem Beispiel voran. Wir spielten einfach immer weiter.

Wir spielten Pounce, Gin Rummy, Hearts und Sevens, mein Lieblingsspiel. Und wir spielten ihr Lieblingsspiel, eine komplizierte Variante von Gin, die sie Coast Guard Rummy nannte. Ein wenig Bridge spielten wir auch. Wir spielten uns von vorne bis hinten durch Edmond Hoyles Official Rules of Card Games und probierten bekannte wie unbekannte Kartenspiele, bis hin zu Binokel.

Die ganze Zeit behielt ich meine Großmutter genau im Auge. In der Informatik gibt es einen sogenannten Zustandsautomaten, wobei es sich um einen Programmteil handelt, der eine Eingabe erhält und basierend auf dem aktuellen Zustand einer Reihe von Bedingungen die optimale Aktion ausführt. Meine Großmutter besaß einen fein abgestimmten Zustandsautomaten für Karten. Ihr gedanklicher Algorithmus arbeitete sich methodisch durch Wahrscheinlichkeiten, Entscheidungsbäume und Spieltheorie. Solche Konzepte hätte ich damals nie artikulieren können, ich begann jedoch, sie intuitiv zu erfassen. Ich bemerkte, dass sie selbst in unvorhergesehenen Momenten eines Spiels, bei einer nie da gewesenen Kombination aus möglichen Zügen und Chancen, meist treffsicher den optimalen Zug machte. Wenn sie mal eine gute Karte verlor, erkannte ich im Nachhinein, dass sie sie aus einem bestimmten Grund geopfert hatte: nämlich um ihren Sieg vorzubereiten.

Wir spielten und spielten, und ich verlor eine Partie nach der anderen. Aber ich beobachtete alles und verbesserte mich. Gami hörte nicht auf, mich zu ermutigen. »Denk smart, Trey. Denk smart«, sagte sie, während ich meinen nächsten Zug abwog. Wenn ich meinen Verstand benutzte und konzentriert blieb, so die Idee dahinter, würde ich schon herausfinden, welche Karte ich spielen musste. Ich hatte die Chance, zu gewinnen.

Was ich eines Tages auch tat.

Es gab keine Fanfare. Keinen Hauptpreis. Kein Abklatschen. Ich kann mich nicht einmal erinnern, welches Spiel wir gespielt haben, als ich zum ersten Mal mehr Partien gewann als sie. Ich weiß aber, dass meine Großmutter sich freute. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie anerkennend lächelte, weil ich mich offenbar weiterentwickelte.

Irgendwann – es brauchte noch fünf Jahre – gewann ich regelmäßig. Ich war fast ein Teenager, das Wetteifern lag mir. Ich genoss das mentale Ringen ebenso wie das befriedigende Gefühl, das das Erlernen einer neuen Fähigkeit mit sich bringt. Vor allem hat mich das Kartenspiel gelehrt: Ganz gleich, wie kompliziert oder gar rätselhaft etwas erscheint, man kann meist dahinterkommen. Die Welt kann begriffen werden.

Ich wurde am 28. Oktober 1955 als zweites von drei Kindern geboren. Meine Schwester Kristi, Jahrgang 1954, war 21 Monate älter; meine Schwester Libby erschien erst knapp ein Jahrzehnt später auf der Bildfläche. Als Baby wurde ich »Happy Boy« genannt, weil mir angeblich ständig ein breites Grinsen im Gesicht stand. Bestimmt war es so, dass ich auch mal geweint habe, aber die sichtliche Freude überwog wohl. Eine weitere Eigenschaft, die ich als Kind an den Tag legte, könnte man als überschüssige Energie einordnen: Ich wippte gern. Zuerst auf einem Gummipferd, und das über Stunden. Als ich älter wurde, ging es ohne das Pferd weiter, ich wippte im Sitzen und im Stehen und wann immer ich Zeit hatte, mich in Gedanken zu vertiefen. Schaukeln war wie ein Metronom für mein Gehirn. Das ist es immer noch.

Schon früh merkten meine Eltern, dass sich der Takt in meinem Kopf von dem anderer Kinder unterschied. Kristi zum Beispiel tat, was man ihr sagte, spielte problemlos mit anderen Kindern und hatte von Anfang an gute Noten. Ich tat nichts dergleichen. Meine Mutter machte sich Sorgen um mich, und als ich in die Vorschule, die Acorn Academy, kommen sollte, warnte sie die Lehrer vorsichtshalber vor. Am Ende meines ersten Jahres schrieb der Schulleiter: »Seine Mutter hatte uns vorbereitet, denn sie ahnte wohl, dass er in deutlichem Kontrast zu seiner Schwester steht. Wir können uns dieser Einschätzung nur von Herzen anschließen, denn er wirkte entschlossen, uns mit seiner vollkommenen Sorglosigkeit gegenüber sämtlichen Aspekten des Schullebens zu beeindrucken. Er wusste nicht oder wollte nicht wissen, wie man eine Schere benutzt oder wie man seine Jacke anzieht, war damit aber absolut zufrieden.« (Lustig auch, dass zu Kristis frühesten Erinnerungen gehört, dass sie die frustrierende Aufgabe hatte, mich in meinen Anorak zu zwingen, und sie mich am Ende auf den Boden legte, damit ich stillhielt und sie den Reißverschluss zumachen konnte.)

Mein zweites Jahr an der Acorn Academy begann ich als »neuerdings aggressives, rebellisches Kind«: ein Vierjähriger, der gern vor sich hinsang und imaginäre Reisen unternahm. Ich raufte mit anderen Kindern und war »die meiste Zeit frustriert und unglücklich«, berichtete der Direktor. Immerhin wurden meine Lehrer von meinen Zukunftsplänen wohlwollend gestimmt: »Wir fühlen uns von ihm sehr akzeptiert, da er uns als Passagiere auf seinem geplanten Mondflug vorsieht«, schrieben sie. (Ich war Kennedy wohl um ein paar Jahre voraus.)

Was den Pädagogen und meinen Eltern da auffiel, waren frühe Hinweise auf das, was kommen würde. Mit demselben Nachdruck, mit dem ich später das Rätsel um Gamis Kartenspielerfolge lösen wollte, verfolgte ich alles, was mich interessierte – und beachtete alles andere nicht. Zu den Dingen, die mich interessierten, gehörten Lesen, Mathematik und meinen Gedanken nachzugehen. Zu den Dingen, die mich nicht interessierten, gehörten die täglichen Abläufe des Lebens und der Schule, Handschrift, Kunst und Sport. Außerdem fast alles, was meine Mutter von mir verlangte.

Der Kampf meiner Eltern mit ihrem überaktiven, intelligenten und oft widerspenstigen, ungestümen Sohn sollte einen Großteil ihrer Energie während meiner Kindheit absorbieren und unsere Familie unauslöschlich prägen. Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, wie sehr sie dazu beigetragen haben, meinen unkonventionellen Weg ins Erwachsenenleben zu ebnen.

Mein Vater war ein zwei Meter großer sanfter Riese. Er besaß eine zurückgenommene Höflichkeit, die man von einem Mann, der meist alle anderen überragte, nicht erwarten würde. Im direkten Umgang war er geradeheraus und entschlossen, was ihm in seinem Beruf entgegenkam: Als Rechtsanwalt beriet er Unternehmen und Vorstände, später war er unser erster Stiftungsrat. Er war ein höflicher Mensch, zugleich aber scheute er sich nicht, seine Anliegen klar zu äußern. Und als Student war es ihm ein dringendes Anliegen, eine Tanzpartnerin zu haben.

Im Herbst 1946 hatte er zu den Millionen Veteranen gehört, denen ein großzügiges Regierungsprogramm eine Ausbildung ermöglichte. Aus Sicht meines Vaters war der einzige Nachteil der Maßnahme, dass sich auf dem Campus der University of Washington nun viel mehr Männer als Frauen befanden. Es bestanden daher eher geringe Chancen, eine Tanzpartnerin zu finden. Irgendwann bat er eine Freundin um Hilfe. Ihr Name war Mary Maxwell.

Er wusste, dass sie der studentischen Frauenverbindung Kappa Kappa Gamma angehörte und dort vielleicht jemanden kannte, der Interesse daran haben könnte, mit einem ziemlich großen Mann tanzen zu gehen. Sie versprach nachzufragen. Als sich daraufhin längere Zeit nichts tat und die beiden eines Tages direkt vor dem Verbindungshaus spazieren gingen, fragte mein Vater sie erneut, ob sie nicht jemanden kenne.

»Ich habe da eine Person im Sinn«, sagte sie. »Mich.«

Meine Mutter war 1,70 Meter groß, und mein Vater sagte ihr, sie sei dem Job als Tanzpartnerin buchstäblich nicht gewachsen. »Mary«, antwortete er, »du bist zu klein.«

Meine Mutter hüpfte an ihn heran, stellte sich auf Zehenspitzen, legte die flache Hand auf den Kopf und erwiderte: »Bin ich nicht! Ich bin groß.«

Der Annahme, er habe meine Mutter nur gebeten, ihm eine Tanzpartnerin zu besorgen, um sich ihr anzunähern, widersprach mein Vater beharrlich. Aber genau so geschah es. »Donnerwetter«, sagte er, »dann gehen wir doch zusammen aus.« Die Dinge nahmen ihren Lauf, zwei Jahre später heirateten die beiden.

Ich habe diese Geschichte immer gern gehört, weil sie die Charaktere meiner Eltern so wunderbar treffend einfängt. Mein Vater: überlegt und unverblümt pragmatisch, manchmal sogar in Herzensangelegenheiten. Meine Mutter: kontaktfreudig und auch nicht gerade schüchtern, wenn es darum ging, zu bekommen, was sie wollte. Es war eine lustige Begebenheit, die sich in die größere Geschichte fügte, welche von Unterschieden handelte, die über die Körpergröße hinausgingen und beeinflussen sollten, wer ich wurde.

Meine Mutter hat ihr Leben sorgfältig dokumentiert, sie stellte Alben mit Fotos von Familienausflügen und Schulmusicals zusammen und sammelte Zeitungsausschnitte und Telegramme. Vor Kurzem habe ich einen Stoß Briefe gefunden, die sie und mein Vater in dem Jahr vor ihrer Hochzeit im Frühjahr 1951 ausgetauscht haben. Sechs Monate vor der Hochzeit war mein Vater in seiner Heimatstadt als Anwalt tätig, es war seine erste Stelle nach dem Jura-Examen. Meine Mutter war zurück an der Uni, im letzten Studienjahr. Einen im Oktober verfassten Brief beginnt sie mit der Hoffnung, dass auf den folgenden Seiten das »emotionale Ungleichgewicht« vermieden würde, das sie in einem Gespräch vom Vortag empfunden hatte. Sie geht nicht näher darauf ein, aber es gab offenbar Bedenken mit Blick auf ihre Ehe, und sie sorgte sich, wie sich bestimmte Differenzen zwischen ihnen ausräumen lassen könnten. Sie schreibt:

Mein objektives Fazit zu unserer Beziehung ist, dass wir viel gemeinsam und damit etwas sehr Wertvolles haben. Wir haben ganz ähnliche Vorstellungen von unserem gesellschaftlichen Leben und unserem Familienleben. Ich glaube, es trifft zu, dass wir beide eine sehr enge Ehe führen möchten – das heißt, wir wünschen uns, dass wir zwei eins sein mögen. Obwohl unsere sozialen und familiären Hintergründe verschieden sind, meine ich, dass wir in der Lage sind, Verständnis für daraus resultierende Probleme aufzubringen, denn als Individuen sind wir uns sehr ähnlich. Wir beschäftigen uns beide gern mit Ideen, wir möchten immerfort denken und lernen … Wir wollen beide dasselbe, nämlich den größtmöglichen Erfolg auf der Welt, den man auf ehrliche und anständige Weise erreichen kann. Obwohl wir Erfolg sehr hoch schätzen, wäre er es keinem von uns wert, ungerecht zu werden und andere niederzumachen. Wir wünschen uns, dass unsere Kinder diese Grundwerte teilen. Vielleicht würden sich unsere »Mittel« etwas unterscheiden, aber ich möchte doch annehmen, dass wir eine feste Einheit bilden könnten, in der sich unsere beiden Standpunkte ergänzen … Weißt du, Bill, wenn du mich nur immer wirklich liebtest, täte ich alles auf der Welt für dich.

Ich liebe dich, Bill

Mary

Mit dem Brief erhaschte ich einen Blick auf die privaten Aussprachen, welche sicher meine gesamte Kindheit hindurch und auch darüber hinaus angedauert haben. Meine Eltern behielten fast immer ihre »feste Einheit« bei: Ihre Differenzen, die zum Großteil aus ihrer unterschiedlichen Erziehung herrührten, lösten sie unter sich.

Meine Mutter, Mary Maxwell, wurde im Schoße einer Familientradition erzogen, die ihr Großvater geprägt hatte: J. W. Maxwell war Bankier, vernarrt in meine Mutter und ein Vorbild dafür, wie man sein Leben erfolgreich in die Hand nimmt. Aufgewachsen war er in Nebraska, wo er als junger Spund die Schule abbrach und einen Job beim örtlichen Bankeigentümer ergatterte: Er hub den Keller für dessen Haus aus und erhielt dafür Geld, Unterkunft und Verpflegung. Als J. W. zwei Monate später seine Schaufel niederlegte, bot ihm der Mann eine Stelle in seiner Bank an. Da war er fünfzehn. Nachdem er das Bankgeschäft über einige Jahre erlernt hatte, zog er in den Bundesstaat Washington, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Doch die Depression von 1893 kostete seine frisch gegründete Bank die Existenz. Die Küstenstadt, auf deren Aufschwung er gesetzt hatte, ging pleite. J. W. nahm am Ende eine Behördenstelle als Bankprüfer an. Die damit verbundene Reisetätigkeit hielt ihn monatelang von seiner Familie fern. Er reiste zu Pferd, mit der Kutsche und dem Zug durch den Westen und überprüfte die Solidität kleiner Banken. Schließlich gelang es ihm doch noch, eine eigene Bank zu gründen. Als er 1951 im Alter von 86 Jahren starb, war mein Urgroßvater Vorsitzender einer großen Bank und eine gesellschaftlich engagierte Führungspersönlichkeit. Im Laufe seines Lebens war er Bürgermeister, Parlamentsabgeordneter, Notenbankleiter und Schulvorstand gewesen.

Dank der von J. W. geschaffenen und von meinem Großvater, der ebenfalls Bankier war, weitergeführten Grundlage aus Wohlstand und offenstehenden Möglichkeiten fehlte es meiner Mutter an nichts. Sie war eine großartige Schülerin mit einem vollen Programm aus Sport und Aktivitäten im Familien- und Freundeskreis. Sonntags gab es Familienpicknicks, und an Sommertagen ging es zum Schwimmen in das Strandhaus ihrer Großeltern am Puget Sound. Sport und Spiele waren ein wesentlicher Bestandteil jeder Zusammenkunft, wobei Croquet, Shuffleboard und Hufeisenwerfen nicht fehlen durften. Es stand außer Frage, dass meine Mutter Tennis spielen, reiten und eine elegante Skifahrerin werden würde. Die Maxwells maßen Sport eine weitreichende Bedeutung zu. Golf etwa war ein Stellvertreter für das Bankwesen, denn beides, so ihr Großvater, erfordere »Geschicklichkeit, Übung, Nüchternheit, Geduld, Ausdauer und Wachsamkeit«.

In einem Album meiner Mutter befindet sich ein Foto, das sie im Alter von drei oder vier Jahren zeigt. Jemand hatte die Dreirad fahrenden Kinder der Nachbarschaft zu einem Schnappschuss versammelt. Auf der Rückseite hat Gami die Geschichte zu der Aufnahme notiert: Meine Mutter wollte ihr Dreirad unbedingt mit einem Jungen tauschen, der das größte Dreirad besaß, und konnte es ihm am Ende tatsächlich abluchsen. Auf dem Foto überragt meine strahlende Mutter die anderen Kinder um einen ganzen Kopf. Sie hatte nie Scheu, Stärke zu zeigen und Raum einzunehmen.

Ihr Selbstvertrauen und ihren Ehrgeiz hat meine Mutter wahrscheinlich zu gleichen Teilen von den Maxwells und von Gami. Letztere war nicht nur eine scharfsinnige Kartenspielerin, sondern auch die Jahrgangsbeste an ihrer Highschool, eine begabte Basketballerin und eine belesene junge Frau, die ein besseres Leben außerhalb ihrer Heimatstadt anstrebte. Meinen Großvater lernte sie an der University of Washington kennen, an der 1946 auch meine Mutter ihr Studium begann – mit der vollen Unterstützung zweier ehrgeiziger Eltern und der Erwartung der ganzen Familie, dass sie es erfolgreich meistern würde.

In Seattle, auf der anderen Seite des Puget Sound, war Bremerton, die Heimatstadt meines Vaters, vor allem für seine Marinewerft bekannt, in der kampfmüde Kriegsschiffe repariert wurden. Nicht allzu viele Jahre zuvor hatte Bremerton noch als Spielerstadt gegolten, mit mehr Kneipen, als man an einem Tag unsicher machen konnte.

Als Kinder fuhren Kristi und ich mit der Fähre nach Bremerton und besuchten dort die Eltern meines Vaters. Von der Fähre aus liefen wir ein kurzes Stück den Hügel hinauf zu dem Haus, in dem mein Vater aufgewachsen war. Das kleine blaue Craftsman-Haus lag an einer ruhigen Straße. Wir blieben ein oder zwei Nächte bei unseren Großeltern. Falls der Fernseher überhaupt lief, schaute mein Großvater Boxen, so ziemlich die einzige Abwechslung, die er sich erlaubte. Meine Großmutter väterlicherseits, Lillian Elizabeth Gates, begeisterte sich ebenso fürs Kartenspielen wie Gami, sodass wir zwischendurch oft ein paar Partien spielten. Wie meine Großeltern mütterlicherseits gehörten auch die Eltern meines Vaters den Christian Scientists an, und so erinnere ich mich unter anderem, wie meine Großmutter ihrem Mann morgens bei einer Tasse Kaffee die tägliche Bibellektion von Mary Baker Eddy, der Gründerin der Religionsgemeinschaft, vorlas.

Wenn mein Vater über seine Kindheit und insbesondere seinen eigenen Vater sprach, hörte man immer Wehmut aus seinen Worten. Er beschrieb ihn als einen Arbeitssüchtigen, der kaum Zeit für etwas anderes in seinem Leben ließ. Er besaß ein Möbelgeschäft, das er von meinem Urgroßvater übernommen hatte. Es hatte die Weltwirtschaftskrise nur knapp überstanden. Die ständige Sorge um das Auskommen der Familie kettete meinen Großvater an das Geschäft. Auf dem Heimweg von der Arbeit nahm er eine Gasse, auf der manchmal Kohlestücke lagen, die vom Lastwagen gefallen waren. Nie sei er ins Kino gegangen oder habe seinen Sohn zu einem Baseballspiel mitgenommen. Für ihn waren das nur Ablenkungen, die dem Geschäft Zeit raubten. Es wirkte, als sei er in ständiger Angst, so mein Vater.

In gewisser Weise konnte man das meinem Großvater nicht verübeln. Während seiner Kindheit in Nome, Alaska, hatte er Armut erlebt, da seine Familie nur mit Mühe über die Runden kam, während mein Urgroßvater, der erste Bill Gates in unserer Familie, sein Glück im Goldrausch des späten 19. Jahrhunderts suchte. Bill Jr. musste die Schule in der achten Klasse abbrechen, um Geld zu verdienen. Er verkaufte Zeitungen auf den eisigen Straßen von Nome und nahm jeden Job an, den er kriegen konnte, während sein Vater schürfen ging. Irgendwann zog die Familie zurück nach Seattle und stieg in die Möbelbranche ein. Die Zeiten wurden besser, aber die mit diesen frühen Erlebnissen verbundenen Ängste verschwanden nie.

Mein Großvater habe zudem eine sehr eingeschränkte Sicht auf die Welt besessen, befand mein Vater, und führte dies zum Teil auf Unsicherheiten zurück. Da er keine richtige Ausbildung genossen hatte, hielt mein Großvater an bestimmten Axiomen fest, wie sich mein Vater ausdrückte: Er hing starren Grundsätzen in Bezug auf die Welt und das Leben an. »Lerne Geldverdienen, mein Sohn, lerne Geldverdienen«, beschwor er meinen Vater. Bildung bestand darin, die Fähigkeiten zu erwerben, die man für einen Job benötigte. Mehr nicht.

Meine Großmutter, stolze Zweitbeste ihrer Highschool-Klasse, hatte ihr eigenes Axiom und beeinflusste damit Vaters Ansichten zur Selbstoptimierung: »Je mehr man weiß, desto mehr weiß man nicht.« Zu Hause hatte sie es nicht immer leicht. Während Frauen in der Gesellschaft neue Wege beschritten, verharrte der Vater meines Vaters in einer längst vergangenen Zeit. Der älteren Schwester meines Vaters, Merridy, erlaubte er nicht, den Führerschein zu machen. Er dachte nicht daran, sie aufs College zu schicken. Die Fähigkeiten, die eine Frau brauchte, beschränkten sich auf den Haushalt.

Mein Vater war sich der intellektuellen Kluft zwischen ihm und seinem Vater sehr bewusst. Er war zwar kein Analphabet, doch konnte sein Vater kaum lesen, während mein Vater seinen Kopf benutzen und studieren wollte. Dem Plan seines Vaters, in das Möbelgeschäft einzusteigen, wollte er sich keinesfalls beugen.

Neben dem Elternhaus meines Vaters befand sich ein Gebäude wie aus einem Märchen: ein Backsteinhaus im normannischen Stil mit Stuck und Buntglasfenstern und einem von einem Spitzdach gekrönten Turm. Es hob sich so stark von den umliegenden Bungalows im Craftsman-Stil ab, dass die Anwohner es »das Schloss« nannten. Mit den Besuchen im Schloss der Bramans begann mein Vater seine Reise in ein besseres Leben. Jimmy, der älteste der Söhne, war zu Jugendzeiten sein engster Freund. Er bewunderte Jimmys Fähigkeit, verrückte Ideen in die Tat umzusetzen, erzählte mein Vater. Die beiden waren dauernd damit beschäftigt, sich alle möglichen Projekte und Unternehmen auszudenken. Sie betrieben einen Hamburgerstand vor dem Haus und hielten im Garten eine Zirkusvorstellung ab. Es ist schon lustig, wenn man sich vorstellt, dass die Kinder dafür bezahlt haben, sich anzusehen, wie mein Vater mit nacktem Oberkörper auf einem Nagelbrett lag. Die beiden gaben auch eine Zeitung namens The Weekly Receiver heraus, aus der ihre siebzig Abonnenten für ein paar Cent aus dem Radio abgegriffene Nachrichten und Spielstände von lokalen Schulfußball- und Baseballspielen erfuhren.

Mein Vater wurde ein Ersatzsohn der Bramans. In Jimmys Vater fand er einen Mentor und ein Vorbild für die Art von Persönlichkeit, die auch er werden könnte. Dorm Braman, ein Schulabbrecher, hatte Bremertons größtes Sägewerk gegründet, war Offizier bei der Marine, wurde zum Bürgermeister von Seattle gewählt und diente im Anschluss als stellvertretender Verkehrsminister in der Nixon-Regierung. Das unverwechselbare Familienhaus hatte er eigenhändig geplant und gebaut.

Dorm »kannte keine eigenen Grenzen«, sagte mein Vater bewundernd. Eben dieses Ethos vermittelte Dorm seinen Söhnen und den Jungen in seiner Pfadfindergruppe, der mein Vater beitrat, sobald er zwölf wurde.

Mein Großvater und Dorm waren beide Schulabbrecher, aber sie gingen mit dieser Herausforderung auf ganz unterschiedliche Weise um, wodurch sich auch ganz unterschiedliche Chancen ergaben. Mein Großvater lebte in ständiger Angst und klammerte sich an seine starren Regeln. Dorm hielt sich nicht damit auf, woran es ihm mangelte, sondern konzentrierte sich darauf, was er aus sich machen wollte. Und mein Vater bevorzugte Dorms Sicht auf die Welt.

Er war im vorletzten Jahr auf der Highschool, als er sich 85 Dollar aus seiner Kommode griff, zu einem Gebrauchtwagenhändler in der Nähe lief und sich ein altes Ford-Coupé von 1939 mit Ballonreifen kaufte. Sein Vater erlaubte ihm nicht, das Familienauto zu fahren, das sei zu riskant für einen Teenager. Mein Vater war noch nicht alt genug, um das Auto legal zu kaufen, also unterschrieb seine Schwester den Fahrzeugbrief. (Manchmal, wenn er die Geschichte erzählte, sagte mein Vater, dass sie das Auto sogar als Geburtstagsgeschenk für ihn gekauft hatte).

Er tat dies in dem Wissen, dass sein Vater wütend sein würde – und nicht nur auf ihn. Niemals hätte der alte Herr Geld ausgegeben, um seinem Sohn ein Auto zu kaufen. Und noch dazu war die Tochter, die nicht fahren durfte, zur stolzen Autobesitzerin geworden.

Nun fuhr mein Vater also mit einem verbeulten hellgrünen Coupé zu Hause vor. Aufgeschreckt von dem Gebrüll vor dem Haus, holte meine Großmutter Vater und Sohn ins Haus, setzte sie an einen Tisch und zwang sie, Frieden zu schließen. Mein Vater behauptete, der Unterhalt des Wagens würde nicht viel kosten, und überredete seinen Vater schließlich, mit ihm eine Spritztour zu machen. Ich stelle mir gern vor, wie die beiden nebeneinandersitzen und das unnachgiebige Familienoberhaupt ob der Begeisterung seines Sohnes weich wird. Nachts stand mein Vater zweimal auf, nur um einen Blick auf seinen Neuerwerb zu werfen. »Ich konnte es kaum fassen – endlich Unabhängigkeit!«, schrieb mein Vater später in einem College-Aufsatz.

Mein Vater nannte sein Auto Clarabelle, was seiner Meinung nach zu einem mittelalten Subjekt passte. Clarabelle schenkte ihm Freiheit und brachte ihn zu Verabredungen, zu Footballspielen und auf Angelausflüge. Manchmal quetschten sich bis zu zehn Leute hinein, hockten auf dem Notsitz und hingen an den Kotflügeln, während der Wagen über die Straßen von Bremerton und die ausgefahrenen Forststraßen außerhalb der Stadt ratterte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich mein Vater bereits von der Christian Science abgewandt und begann, Religion überhaupt infrage zu stellen. In seinem letzten Jahr an der Highschool verbrachten mein Vater und zwei Freunde die Sonntagabende im Haus des Basketballtrainers Ken Wills, den alle an der Schule verehrten. Sonntags öffnete er die Sporthalle für alle, die lieber Basketball spielten, als in die Kirche zu gehen. Am Abend dann ließen sich mein Vater und seine Freunde von ihm darlegen, warum sie das Alte Testament und die Existenz Gottes anzweifeln sollten.

Die Vereinigten Staaten befanden sich seit fast zwei Jahren im Zweiten Weltkrieg, und viele Freunde meines Vaters und die meisten Männer unter 45 Jahren, die nicht bereits kämpften, bereiteten sich auf einen Einsatz vor. Am Himmel über Bremerton schwebten riesige Sperrballone, die einen Angriff japanischer Sturzkampfbomber vereiteln sollten. Unten in der Bremerton-Werft wurden die USSTennessee und andere in Pearl Harbor beschädigte Schiffe instandgesetzt. Nach seinem Highschool-Abschluss trat mein Vater der Reserve bei, was ihm den Besuch der University of Washington ermöglichte, bis er zum aktiven Dienst einberufen würde. Zum Ende seines ersten Studienjahres war es so weit: Im Juni 1944, eine Woche nachdem Hunderttausende US-Soldaten an den Stränden der Normandie gelandet waren, meldete sich mein Vater zur Grundausbildung in Arkansas.

Aus diesem Anlass beschloss mein Vater, seinen Namen zu ändern. In seiner Geburtsurkunde stand »William Henry Gates III«, was ihm für den Sohn eines Möbelhändlers zu vornehm klang. Er ging davon aus, dass der Zusatz »der Dritte« seine Ausbilder und Kameraden zu Spott herausfordern würde, und so ließ er das Suffix offiziell streichen und ersetzte es durch »Junior«.

In dem Neunzehnjährigen, der aus der Grundausbildung und später aus der Offiziersanwärterschule regelmäßig Briefe nach Hause schickte, erkenne ich meinen späteren Vater gut wieder. Er ist humorvoll, selbstbewusst, spricht davon, wie sehr er sich anstrengt, und offenbart eine tiefe Zuneigung für seine Familie daheim. Immer wieder äußert er sich frustriert darüber, wie schwer der Zeitplan der Armee mit einem Besuch zu Hause zu vereinbaren sei. Dann wieder scherzt er oder entschuldigt sich, dass er zusätzliches Geld von zu Hause benötige, weil er sich dies und das kaufen müsse (Unterwäsche zum Beispiel) und einem Mitsoldaten 15 Dollar geliehen habe. Meist aber macht er sich Gedanken über sein Leben. Der Dienst sei hart, berichtet er. Aber er schaut auf seine Fortschritte und bemüht sich, besser zu werden. Er staunt über die neue Welt, in die er da geworfen wurde, in der junge Männer aus allen Gesellschaftsschichten, Arme, Reiche und People of Color zusammenkamen. Mit Rekruten aus den Südstaaten diskutiert mein Vater über den Bürgerkrieg.

In der Offiziersschule fanden regelmäßig Prüfungen statt: Wer nicht bestand, flog raus. Die Klasse meines Vaters wurde mit jedem Mal kleiner. Wenn er die eine Prüfung geschafft hatte, machte er sich Sorgen um die nächste, vor allem wegen der Liegestütze, der Klimmzüge, der Schwimmbahnen und anderer Sporttests. Vor der Armee sei er »mehr oder weniger ein Schwächling« gewesen, schreibt er. Jetzt habe er langsam das Gefühl, ein Mann zu werden. »Wenn ich hier durchfalle, würde mich das auf ewig verdrießen. Wenn ich es aber schaffe, dann werde ich sicher alles im Leben selbstbewusster und mit mehr Elan angehen. Ich glaube bestimmt, dass es mir viel bringt. Neben der geistigen Verfassung bin ich körperlich in nie da gewesener Form.«

Mein Vater schaffte es tatsächlich: Er schloss die Ausbildung zum Unterleutnant ab. Am 15. August 1945, dem Tag von Japans Kapitulation, war er per Schiff auf dem Weg zu den Philippinen. Die meiste Zeit seines Einsatzes verbrachte er als Teil der ersten GI-Truppe in Tokio. Seine Briefe sind nun voller verwirrender Kontraste: Wie schön es war, frühmorgens den Fuji zu besteigen, und wie schockierend der Zustand Tokios nach den amerikanischen Brandbomben: überall verbrannte Häuser und Gebäude, von denen nur noch Betonhüllen übrig waren.

Mein Vater sprach selten über seine Erlebnisse beim Militär. Ihm war klar, dass er Glück gehabt hatte. Die Offiziersschule hatte ihn ein halbes Jahr lang vom Kampf ferngehalten, dann hatte die Atombombe den Krieg beendet. Viele seiner Freunde hatten nicht so viel Glück, und die, die heimkehren konnten, brachten den Krieg mit nach Hause. Ein Freund meiner Eltern, der nicht weit von uns wohnte, hatte einen Kopfschuss überlebt. Seinen zerfetzten Helm und sein Verwundetenabzeichen, das Purple Heart, stellte er bei sich zu Hause aus. Wenn man ihn danach fragte, so antwortete mein Vater, der Militärdienst sei eine äußerst wertvolle Erfahrung für ihn gewesen. Dabei beließ er es.

Nach seiner Rückkehr in die USA war mein Vater versessen darauf, seinen Abschluss zu machen, eine Karriere zu starten und – tanzen zu gehen.

Meine Eltern freundeten sich bei der Arbeit in der Studierendenvertretung an. Die Associated Students of the University of Washington (ASUW) war ein politisches Gremium und sozialer Treffpunkt zugleich, und so ergab es sich, dass die beiden häufig Zeit miteinander verbrachten. Man kämpfte damals gegen die langjährigen Richtlinien der Hochschulverwaltung, welche politische Reden vom Campus verbannten. Ich weiß, dass dies meinen Vater besonders ärgerte und er sich für die Aufhebung des Verbots einsetzte, letztendlich aber scheiterte.

Im Gegensatz zu ihrem zukünftigen Mann, der gern hinter den Kulissen tätig war, stand meine Mutter gern in der ersten Reihe, und das umso mehr, wenn andere sie dort sehen wollten. So bewarb sie sich mit der ihr eigenen Entschlossenheit in ihrem dritten Studienjahr auf das Amt der Schriftführerin der ASUW. Sie stellte eine durchorganisierte Kampagne auf die Beine und schrieb gar ein Wahlkampflied (wie passend, dass sich ihr Name »Mary« auf das Amt der »secretary« reimte) sowie eine Handreichung für ihre Helfer, an die diese sich halten sollten, wenn sie am Telefon um Stimmen warben. Am Wahltag verfolgte sie aufmerksam, wie die 5000 wahlberechtigten Studierenden ihre Stimmen abgaben – und ließ die Konkurrenz mit großem Abstand hinter sich.

In einem Sammelalbum hat sie Glückwunschtelegramme von Freunden und Familie aufbewahrt, zusammen mit einer handschriftlichen Nachricht ihrer Studentinnenverbindung. Auch ein Brief ihres Großvaters ist erhalten. Darin listet er ihre großen Erfolge dieses Frühjahrs auf: Sie wurde nicht nur zur Schriftführerin der ASUW, sondern auch zur Vorsitzenden ihrer Verbindung gewählt, und sie belegte den ersten Platz bei einem Skirennen. Als Belohnung für diese drei Siege legte er 75 Dollar (heute etwa 1000 Dollar) bei und gratulierte ihr dazu, dass sie »ins Rampenlicht getreten« sei.

Ich kann mir die frühe Freundschaft meiner Eltern mühelos vorstellen. Meine Mutter hatte eine warme und einnehmende Art, durch die sie unheimlich leicht Kontakte knüpfen konnte. Wenn man auf einer Party auftauchte und niemanden kannte, war meine Mutter die erste Person, die einem die Hand reichte, einen willkommen hieß und den Weg in die Gruppe der Anwesenden ebnete. Der Pfarrer unserer Kirche drückte es einmal so aus: Meine Mutter sei »niemandem begegnet, der nicht wichtig war«.

Ich stelle mir vor, wie sie versucht, den großen, schlanken Bill Gates Jr. aus der Reserve zu locken. Sie merkt, dass er zurückhaltend ist, und möchte ihn verstehen, möchte erfahren, woher er kommt, wer seine Freunde sind und was ihn antreibt. Schnell findet sie ein gemeinsames Interesse: die Menschen und Themen der Studierendenvertretung. Sie nähert sich ihm an, ohne zu flirten. Er ist zwei Jahre älter, mit schon schütterem Haar, nicht unbedingt gut aussehend im üblichen Sinne. Anders als ihr damaliger Freund. Auf den Fotos sieht er eher kantig aus. Eher durchschnittlich.

Trotzdem ist sie fasziniert. Wenn Bill Gates spricht, gibt es keine überflüssigen Worte. Er ist logisch, klar, analytisch. Sie kennt Menschen, die laut denken, ihre beste Freundin Dorothy gehört dazu, aber aus diesem jungen Mann spricht eine Klugheit, die ihn älter und nachdenklicher wirkten lässt als die Menschen um ihn herum. Noch dazu ist er lustig. Er hat ein breites Lächeln und ist ein lebensfroher Mensch.

Mein Vater wiederum wird von der Energie meiner Mutter angesprochen, von ihrem schnellen Verstand und ihrer Furchtlosigkeit, ihre Ansichten zu äußern, auch wenn diese darin gipfelt, anderen Menschen zu sagen, was das Beste für sie ist. »Bill, wäre es nicht eine gute Idee, wenn du …« – so hat sie wahrscheinlich manchen Satz begonnen, nachdem die beiden sich näher kannten.

Außerdem waren sie ein tolles Tanzpaar.

Mary Maxwells Fotosammlung erzählt den Rest der Geschichte. Ab dem Frühjahr 1948 sieht man meine Mutter bei Tanzabenden, Partys und anderen College-Veranstaltungen in Begleitung des jungen Manns mit dem hübschen Gesicht. Aber Anfang 1950 muss sie es sich anders überlegt haben, es gibt kein Bild mehr mit ihm, stattdessen einen Schnappschuss vom »Dreamer’s Holiday Semi-formal« Anfang 1950: Meine zukünftigen Eltern sitzen zusammen an einem Tisch und strahlen in die Kamera. Mein Vater konnte schon im Frühjahr sein Jurastudium abschließen, dank eines Veteranen vorbehaltenen Schnellprogramms. Meine Mutter machte ein Jahr später ihren Abschluss in Pädagogik.

Die in ihren Briefen erwähnten Differenzen konnten die beiden offenbar beilegen, denn im Mai 1951 heirateten sie. Meine Mutter zog bald darauf zu meinem Vater nach Bremerton. Er arbeitete dort für einen Anwalt, der auch als Staatsanwalt tätig war. Mein Vater half den Mandanten durch Scheidungsverfahren und vertrat Fälle vor dem Amtsgericht. Meine Mutter begann unterdessen an eben der Junior Highschool zu unterrichten, die mein Vater besucht hatte.

Nach zwei Jahren in Bremerton lockten die Aussichten auf eine bessere Stelle und ein abwechslungsreicheres Leben das Paar zurück nach Seattle, und wenige Monate nach meiner Geburt zogen wir erneut um, in ein neu gebautes Haus in View Ridge, ein Viertel im Norden Seattles mit einer Grundschule, einem Spielpark und einer Bibliothek, alles in Laufnähe. Bei unserem Einzug befand sich die gesamte Nachbarschaft noch im Bau. Auf einem Film, den mein Vater direkt nach unserem Umzug aufgenommen hat, sieht man einen ungepflasterten Vorgarten, noch ohne Rasenfläche. Meine Schwester fährt mit ihrem Dreirad auf einem Gehweg, der so sauber ist, dass der Beton aussieht wie flüssig. Auf der anderen Straßenseite steht das Holzgerüst eines Rohbaus. Wenn ich mir den Film anschaue, staune ich, wie neu alles war, als wäre das ganze Viertel nur für uns Kinder errichtet worden.

Kapitel zwei – View Ridge

 

Es machte »BOOM« – ein lautes Dröhnen ließ das Haus erbeben. Meine Mutter hatte sich gerade von Kristi, mir und der Babysitterin verabschiedet. Sie war mit meinem Vater zum Abendessen verabredet. Als das Beben begann, erstarrte sie, die Hand schon an der Türklinke. In dem Moment sahen wir durch das Fenster, wie das Dach unseres Carports über das Haus flog, im Garten aufschlug und dabei den Zaun zum Nachbargrundstück zertrümmerte.

Meine Mutter scheuchte uns in den Keller, wo wir uns neben Lebensmittelkonserven und anderen Vorräten für einen möglichen Atombombenangriff zusammenkauerten. Im Jahr 1962 erschien eine Bombe sehr viel wahrscheinlicher als das, was uns an jenem Freitagabend heimsuchte: der erste Tornado in der Geschichte von Seattle. Er hatte sich in unserem Viertel in View Ridge gebildet, bekam in unserer Straße Bodenkontakt, jagte durch unseren Vorgarten und dann weiter über den Lake Washington, wo er eine dreißig Meter hohe Wassersäule hochsaugte. Nach fünfzehn Minuten war alles vorbei. Wie durch ein Wunder war niemand verletzt worden. Von ein paar entwurzelten Bäumen und zerbrochenen Fensterscheiben abgesehen, hatte der Tornado in unserem Viertel praktisch nur an unserem Carport Schaden angerichtet. Die Lokalzeitung, der Seattle Post-Intelligencer, schickte einen Reporter mit Fotografen zu uns. Meine Mutter klebte das Bild – ein Nachbarskind, das vor den Trümmern posierte – mitsamt Artikel in das Fotoalbum, in dem sie Erinnerungen an meine Kindheit aufbewahrte.

Mein Vater wollte ein Grillfest veranstalten, damit unsere Freunde sich den Trümmerhaufen aus Holzsplittern, Metallstangen und Bitumenschindeln ansehen konnten, die einmal unser Carport gewesen waren. Meine Mutter war dagegen. Sie hatte den Schreck noch nicht ganz überwunden. Wenn sie die Tür nur ein paar Sekunden früher geöffnet hätte, hätte es schlimm ausgehen können für sie und für uns. Außerdem würde keine respektable Familie so etwas feiern. Das wäre unschicklich. Es passte nicht zu dem Bild, das die Familie Gates nach Meinung meiner Mutter nach außen abgeben sollte.

 

Meine Schwester Kristi und ich (und später auch Libby) gehörten zu den vielen Kindern, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, in der Wohlstand und Optimismus vorherrschten – wir waren Babyboomer. Der Kalte Krieg war auf dem Höhepunkt, und die Bürgerrechtsbewegung nahm gerade Fahrt auf. Einige Wochen nachdem der Tornado bei uns gewütet hatte, kam es zwischen Kennedy und Chruschtschow zum Kräftemessen wegen der sowjetischen Raketen auf Kuba. Am letzten Tag der Kubakrise, an dem die Welt nur knapp der nuklearen Zerstörung entging, packte ich an meinem siebten Geburtstag Geschenke aus. Kein Jahr später marschierte eine Viertelmillion Menschen nach Washington D. C., wo Martin Luther King Jr. von seinem Traum sprach, dass unser Land eines Tages ein Ort sein werde, wo alle Menschen gleich sind.

Von diesen historischen Ereignissen bekam ich nur Bruchstücke mit, Namen und Wörter, die ich hörte, wenn meine Eltern sich die CBS Evening News anschauten oder über Artikel in der Seattle Times sprachen. In der Schule zeigten uns die Lehrer grausige Filmaufnahmen von Hiroshima und dem Atompilz. Wir lernten, uns unter den Schultischen in Sicherheit zu bringen. Aber für ein kleines Kind in View Ridge blieb die große weite Welt abstrakt. Ein zertrümmerter Carport war das dramatischste Ereignis in unserem Leben. Bei Familien wie der unseren herrschte ein Gefühl vor: Zuversicht. Unsere Eltern und alle Eltern, die wir kannten, hatten die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg überstanden. Und jetzt, das konnte jeder sehen, boomte Amerika.

Wie Städte im ganzen Land dehnte sich auch Seattle rasch in die Vororte aus. Felder und Wälder fielen Bulldozern zum Opfer, die Platz für Wohnhäuser und Einkaufszentren schufen. In meiner Heimatstadt hatte diese Transformation während des Krieges begonnen, als sich der ortsansässige Flugzeughersteller Boeing zu einem der größten Hersteller für Kriegsflugzeuge mauserte. In meinem Geburtsjahr begann Boeing mit der Produktion des ersten brauchbaren Passagierjets, und in den folgenden Jahren wurden Flugreisen von einer Seltenheit zur Routine.

Durch das Fenster hörte ich in meinem Kinderzimmer, wenn auf dem View Ridge Playfield, das neben dem Haus unseres Nachbarn lag, Baseball gespielt wurde. Als ich 1960 eingeschult wurde, war gerade ein neuer Flügel der Grundschule angebaut worden, der mehr als 1000 Schüler fasste; bald würde die Stadt eine zweite Grundschule in der Nähe bauen müssen. Zehn Straßen von unserem Haus entfernt, den Hügel hinauf, bot die nordöstliche Zweigstelle der Stadtbücherei Seattle die größte Auswahl an Kinderbüchern in der ganzen Stadt. Bei der Eröffnung der Zweigstelle ein Jahr vor meiner Geburt standen die Kinder bis auf die Straße hinaus Schlange. In meiner Jugend war es eine Art Clubhaus und lange Zeit mein Lieblingsort auf der ganzen Welt.