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Die 20. Ausgabe des Raumfahrt-Klassikers. In den SPACE-Jahrbüchern halten wir für Sie die aktuellen Entwicklungen in der Raumfahrt fest. Sachkundig, pointiert, aktuell und spannend Der Flug von Faith 7 *** Mondlander aus Lampoldshausen *** Die Ära der privaten Raumstationen *** Scheidung von Russland *** Spin Launch – Das Überschallkarussel *** Konstellationen – Goldrausch im Orbit *** Fast einsatzbereit – Boeings Starliner *** Im Weltraum scheint immer die Sonne *** Orbitall – Spaceport Berlin Wuhlheide *** SF-Wettbewerb 2022 mit Mikro-SF Raumfahrtchronik, Raumfahrtstatistik, Raumfahrt-Panorama *** und vieles mehr...
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ePub-Edition Dezember 2022
Copyright © by VFR e.V., München
Alle Rechte vorbehalten
Initiator: Verein zur Förderung der Raumfahrt e. V., www.vfr.deHerausgeber: Thomas Krieger
Organisation: Peter Schramm
Lektorat: Heimo Gnilka, Margit Drexler, Thomas Krieger, Peter Schramm, Stefan Schiessl
Titelmotiv: NASA
Layout & Satz: Stefan Schiessl, www.exploredesign.de
Web: www.space-jahrbuch.de / eMail: [email protected]
ISBN 978-3-944819-53-2 (ePub)
die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind zurück. Aber nicht die 60er-Jahre der Beatles und der Rolling Stones, der ersten Herzverpflanzung und der Einführung des Farbfernsehens, sondern die 60er-Jahre des Kalten Kriegs. Zumindest soweit es Russland und die westlichen Staaten betrifft. Für die Bewohner der Ukraine ist der Krieg keineswegs „kalt“ sondern fürchterlich heiß. Russland hat sich mit dem Überfall auf seinen Nachbarn mit einem Schlag aus der internationalen Staatengemeinschaft herauskatapultiert. Was für ein Wahnsinn.
Viele trifft das hart, und ganz besonders hart trifft es die russische Raumfahrt. Fast alle internationalen Programme, an denen Russland beteiligt war, sind storniert. Nur eine einzige Ausnahme bleibt vorläufig noch bestehen: Die Internationale Raumstation. Es ist der letzte Faden, der Russland noch mit der internationalen Raumfahrtwelt verbindet. Bald ist auch er durchtrennt. Die Raumfahrt gehört zu den Themen, auf das sich Russlands verbrecherisches Handeln mit am Stärksten auswirkt. Dabei war das Land auf diesem Gebiet auch ohne den Krieg seit langem auf dem absteigenden Ast, wie die regelmäßigen Leser von SPACE wissen. Aus der einstigen Führungsmacht war selbst ohne den Ukraine-Krieg längst ein weit abgeschlagener Dritter geworden. Nach der von Putin angeordneten Massenmobilmachung zur Ausweitung der Terror-Angriffe auf die Ukraine wird sich die Situation der russischen Raumfahrt weiter dramatisch verschlechtern.
Aber es gab natürlich auch positive Highlights. Meine Favoriten im Berichtszeitraum September 2021 bis August 2022 sind:
Das James Webb Space Teleskop, das im Juli 2022 seinen Dienst aufnahm. Ihm werden wir, das können wir jetzt schon versprechen, in SPACE 2024 viel Platz einräumen.Die Axiom 1-Mission, die eine Gruppe von Privatraumfahrern unter der Leitung eines erfahrenen Ex-Astronauten der NASA zur Internationalen Raumstation brachte, die dort ein Forschungsprogramm absolvierten, und Die Inspiration4-Mission, bei der vier „Normalbürger“ in einer SpaceX-Raumkapsel in einem Soloflug, also ohne die ISS anzusteuern, für drei Tage die Erde auf einer Bahn 100 Kilometer oberhalb der ISS umkreisten.Mein „Aufsteiger des Jahres“ ist – trotz eines Fehlstarts – Rocket Lab, das man nun nicht mehr länger als Startup bezeichnen darf. Das Unternehmen hat sich in der Start-Dienstleisterszene etabliert, beginnt sich zu diversifizieren und expandiert schnell, nicht zuletzt mit der Entwicklung einer teilweise wiederverwendbaren Trägerrakete mit der Bezeichnung „Neutron“.
SpaceX ist seit einer ganzen Weile eine Liga für sich und hat das gesamte Verfolgerfeld inzwischen mehrfach überrundet. Wäre SpaceX eine Nation, sie wurde die Weltrangliste bezüglich Starts anführen. Und da ist erneut China zu nennen, das mit zäher Stetigkeit seinen Anspruch auf die absolute Führungsposition in der Raumfahrt ausbaut, wie man im Berichtszeitraum vor allem an der Errichtung der nationalen Raumstation sehen kann.
Das Space Launch System (SLS) der NASA ist in jeder Hinsicht eine Never-ending-story. Amerikas neue Mondrakete legt inzwischen mehr Kilometer beim Hin- und Herfahren vom Vehicle Assembly Building zur Startrampe 39B zurück, als auf dem Weg zum Mond. Zahlreiche technische Probleme trugen zu den letzten Verzögerungen bei. Am Schluss kam der Hurrican Ian dazu, der die Rakete wieder in den Hangar schickte.
Weiterhin durchweg enttäuschend ist das viel zu geringe europäische Raumfahrt-Engagement. Enttäuschend auch deshalb, weil die Entwicklung mit Russland den schon fast neurotischen europäischen Zwang zur „Trittbrettfahrerei“ offengelegt hat. Nur nichts selber machen, nur nicht irgendwo führen, das ist nach wie vor das Mantra in Europas Raumfahrt. Und die Ariane 6? Der Erstflug musste schon wieder um ein Jahr verschoben werden. Nun wird es 2023. Hoffentlich.
Immerhin, die verbohrte Haltung Europas zur eigenständigen bemannten Raumfahrt scheint sich langsam aufzuweichen. Der Hoffnungsträger heißt SUSIE. Dieses ziemlich alberne Akronym steht für Smart Upper Stage for Innovative Exploration und wurde beim Internationalen Astronautischen Kongress in Paris im September vorgestellt. Damit fällt es aber schon nicht mehr in unseren Berichtszeitraum, und das ist auch gut so. Zu oft verschwinden solche europäische „Initiativen“ nach nur wenigen Wochen oder Monaten wieder im Papierkorb. Wir werden nächstes Jahr darüber berichten, wenn es bis dahin nicht den üblichen Weg gegangen ist, wie all die zaghaften Versuche Europas zuvor, ein bemanntes Raumfahrtprogramm auf die Beine zu stellen. Auch erste Powerpoints zu wichtigen Zukunftsthemen wie orbitalen Solarkraftwerken poppen jetzt gelegentlich hoch. Europa fängt hier gerade mit allerersten (Papier-) studien an. In China wird derweil bereits die Hardware getestet. Um die „müde Performance“ Europas ein wenig bildhafter zu machen: Zwischen dem 1. Januar und dem 26. September 2022, dem Redaktionsschluss für diese Ausgabe von SPACE, gab es weltweit 124 Orbitalstarts. Genau drei davon waren aus Europa. Zum Vergleich: alleine das US-Privatunternehmen SpaceX führte in diesem Zeitraum 43 Starts durch, drei davon bemannt.
An der Stelle noch eine weitere nicht ganz so gute Nachricht in eigener Sache: Nachdem wir elf Jahre lang unseren Verkaufspreis bei 16,90 € halten konnten, müssen wir damit um zwei Euro heraufgehen. SPACE kostet nunmehr 18,90 Euro, um unsere Kosten halbwegs decken zu können. Schon im letzten Jahr haben uns vor allem die steil gestiegenen Papier- und Druckkosten erheblich zugesetzt. Wir hoffen, dass das ihr Verständnis findet und Sie uns trotzdem treu bleiben.
Russland hatten wir bereits eingangs erwähnt. Wir widmen diesem unerfreulichen Thema in dieser Ausgabe einen eigenen Artikel mit dem Titel „Scheidung von Russland“.
Bei all dem politischen Remmidemmi tut Ablenkung not, da ist ein Rückblick in die „Guten alten Zeiten“ der frühen 60er-Jahre nicht schlecht. Unser diesjähriger Leitartikel – und auch unser diesjähriger SPACE-Kalender – beschäftigen sich mit dem Mercury-Projekt der NASA. Es war das erste US-Programm der bemannten Raumfahrt, und es endete mit dem Flug von Gordon Cooper in seiner Raumkapsel Faith 7 am 15. und 16. Mai 1963.
In der Öffentlichkeit fast vollkommen unbemerkt geblieben ist die Tatsache, dass in den beiden letzten Jahren im Werk Lampoldshausen der ArianeGroup GmbH ein veritabler Mondlander gebaut wurde. Und zwar im Auftrag des japanischen Unternehmens ispace. Der soll bereits im November 2022 auf die Reise zum Erdtrabanten gehen. Wir haben die ausführliche Story dieses Projekts im Buch, geschildert in einem Gastbeitrag von Timo Krone und Martin Riehle, die an diesem Projekt wesentlich mitgewirkt haben.
Wir haben schon darauf hingewiesen: Das Ende der der Internationalen Raumstation zeichnet sich ab. Nicht nur, weil Russland lieber Krieg gegen seine Nachbarn führt, sondern weil auch ganz simpel der Zahn der Zeit den teilweise schon 25 Jahre alten Modulen zusetzt. Doch die Nachfolger (ja, es sind mehrere) zeichnen sich bereits ab. Dieses Mal werden sie auf privatwirtschaftlicher Basis gebaut. Lesen Sie dazu „Die Ära der Privaten Raumstationen“.
Der Artikel „Festgewurzelt auf der Erde – Statusbericht zu SLS und Starship“ informiert Sie über den Fortschritt der Dinge bei der Mondrakete der NASA und bei Elon Musks futuristischem Superträger Starship.
Boeings Starliner scheint es nach vielen Jahren von Pleiten, Pech und Pannen langsam zur Einsatzreife zu schaffen. Wir berichten im Beitrag „Beinahe einsatzbereit – Boeings Starliner“.
Weltraumflug mit einer gigantischen Schleuder? Hört sich verrückt an. Trotzdem gibt es dafür ein gut finanziertes Unternehmen, das schon viel Hardware erstellt hat und schon eifrig am Testen ist. Wir berichten darüber in „Spin Launch – Das Überschallkarussell“
Energiesicherheit ist das brennende Thema unserer Tage. Die Raumfahrt kann in Zukunft wesentlich dazu beitragen, denn, wie wir schon in der Überschrift zu unserem diesbezüglichen Artikel vermerken: „Im Weltraum scheint immer die Sonne“.
„Goldrausch“ im niedrigen Erdorbit. Abertausende Satelliten für Breitband-Internet, Datenrelay, das „Internet of Things“ und Erdbeobachtungszwecke aller Art bevölkern den niedrigen Erdorbit. Die Zahlen werden weiter steil zunehmen. Kann das gut gehen? Der Artikel „Konstellationen – Goldrausch im Orbit“ stellt sich dieser Frage.
Und schließlich haben wir einen wunderbaren Beitrag von Andreas Drexler – man kann schon fast sagen einen Erlebnisbericht – über das „orbitall“ in Berlin-Wuhlheide. Sie haben keine Ahnung was das ist? Da geht es Ihnen wie mir bis vor einigen Monaten. Lesen Sie dazu unsere Geschichte „orbitall – Spaceport Berlin-Wuhlheide“.
Vor drei Jahren eingeführt, jetzt schon fast ein „Klassik-Feature“ von SPACE, gibt es auch in diesem Jahr das „Raumfahrt-Panorama“. 24 Kurzartikel zu wichtigen und interessanten Ereignissen in der Raumfahrt, die sich etwas abseits der großen Schlagzeilen abgespielt haben.
Unser diesjähriger Science-Fiction Wettbewerb befasste sich mit dem Thema „Raumfahrt-Artefakte im Sonnensystem“. Wie immer finden Sie die drei Preisträger im Buch. Sie sind wieder sehr phantasiereich, humorvoll und spannend geschrieben. Wie jedes Jahr ein echtes Highlight.
Nachdem die neu eingeführte Rubrik mit Ultrakurz-SF-Stories im letzten Jahr recht erfolgreich war (wir bekamen damals 60 Zusendungen), haben wir uns entschlossen dieses Genre weiterzuführen. Sie erinnern sich vielleicht noch: Sie sind in ihrem Umfang auf maximal 500 Zeichen inklusive der Leerzeichen beschränkt. Zu unserer großen Überraschung bekamen wir für die diesjährige Ausgabe mehr als doppelt so viele Einsendungen wie im letzten Jahr, nämlich 141. Haben wir von dieser SF-Gattung im letzten Jahr noch fünf Stories vorgestellt, sind es in dieser Ausgabe zehn Stück, um das große Interesse daran aufzunehmen.
Neben den Artikeln und den Kurzgeschichten widmen wir einen wesentlichen Teil des Buches wie immer einer ausführlichen Dokumentation aller Raumfahrtstarts in der SPACE-typischen Berichtsperiode, die für den aktuellen Band vom September 2021 bis August 2022 läuft. Wir haben damit in den bislang erschienen 19 Bänden jede einzelne Mission, die seit 2003 in den Orbit oder darüber hinausging, im Detail dokumentiert. Für die Zahlenfreaks und die Daten-Fans unter unseren Lesern haben wir wie jedes Jahr einen Block von über 20 Seiten zur Raumfahrtstatistik des Jahres erarbeitet.
Am Schluss dieses Editorials ist auch der Platz, allen zu danken, die wesentlich zum Entstehen dieser Ausgabe beigetragen haben. Das sind in der SPACE-Redaktion unser „Exploredesigner“ Stefan Schiessl und unser „General Manager“ Peter Schramm. Unterstützt haben uns auch der Organisator des Science Fiction Wettbewerbs Lothar Karl, sowie unsere Lektoren Margit Drexler und Heimo Gnilka. Nicht zu vergessen unsere Sponsoren. Sie tragen den Teil der Erstellungskosten, die mit den Verkäufen alleine nicht zu decken wären.
Auf unserer Website laden wir Sie weiter dazu ein, im „Projekt Zeittunnel“ Ihre Vorstellungen von der Zukunft im All mit uns zu teilen. Erstmals konnten heuer auch Vorhersagen überprüft werden. Gewonnen hat für 2021 ein anonymer User. Er schrieb am 30.06.2020: „Es wird wieder Weltraumtouristen geben, Blue Origin oder Virgin Galactic werden mit New Shepard bzw. SpaceShipTwo, Touristen ins All befördern.“ Bingo – ich nenne nur die Stichworte Richard Branson, Captain Kirk und Inspiration4...
Wie immer noch einige Zeilen zu unserem Kontaktangebot. Sie können uns per E-Mail an [email protected] erreichen. Auf unserer Website www.space-jahrbuch.de können Sie unsere Bücher und Kalender erwerben, besonders unsere günstigen Paket-Angebote und der Lieferservice für im Buchhandel vergriffene Exemplare sind unschlagbar. Hier erwarten Sie auch unser Blog, der Einstieg in den „Zeittunnel“, der SPACE-Newsletter sowie Neuigkeiten zu unserem nächsten SPACE-Abend, bei dem Sie uns auch mal live treffen können. Auch auf Facebook sind wir aktiv, mit fast täglichen Updates. Schauen Sie vorbei auf www.facebook.com/SPACE.Jahrbuch, abonnieren Sie es und kommentieren Sie mit.
Wenn Sie Kritik für uns haben oder Lob, Tipps oder Meinungen, ein Problem oder eine Frage zu den Inhalten, wenn Sie sich schon mal die Ausgabe für das nächste Jahr reservieren wollen oder der Tochter oder dem Sohn eins der Bücher schenken wollen, gerne auch signiert, wenn sie eine Prognose zum zukünftigen Verlauf der Raumfahrt abgeben wollen: nehmen Sie über eine der vielfältigen Möglichkeiten Kontakt mit uns auf. Wir freuen uns auf Ihr Feedback. Und jetzt hinein ins Raumfahrtgeschehen. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre von SPACE 2023. Bleiben Sie uns weiterhin treu und gewogen.
Im Namen des SPACE-Teams, Ihr Eugen Reichl
Die Versuchsanlage von Spin Launch steht in der Nähe des Spaceport America in New Mexico.
Im November 1958 legten die Luftfahrtmediziner der Space Task Group, dem damaligen NASA-Bereich für die gerade eben einzuführende bemannte Raumfahrt, ihre Kriterien für die Auswahl der Raumflug-Kandidaten vor. Sie empfahlen, ein Meeting mit Repräsentanten der Industrie und der verschiedenen Waffengattungen der US-Streitkräfte abzuhalten, um einen Pool von 150 Männern zu bestimmen. Daraus sollten 36 Kandidaten für physische und psychologische Tests ausgewählt werden, die schließlich zu zwölf Kandidaten für ein neunmonatiges Trainings- und Qualifikationsprogramm führen sollte. Am Ende sollten von diesen zwölf Männern sechs tatsächlich fliegen.
Der Plan war nicht schlecht, wurde aber angesichts des Zeitdrucks als zu umständlich betrachtet und wieder verworfen. Stattdessen entschied Präsident Eisenhower während der Weihnachtsferien 1958 im Alleingang, dass der existierende Pool militärischer Testpiloten eine ausreichend breite Basis bieten sollte. Da das Projekt des bemannten Satelliten auch klassifizierte Inhalte umfassen würde (wie zum Beispiel technische Daten der Atlas-Interkontinentalrakete) wären Militär-Testpiloten alleine schon aus Erwägungen der nationalen Sicherheit der am besten geeignete Personenkreis.
Anfang Januar fand im NASA-Hauptquartier eine Sitzung der Spitze der Space Task Group statt, bei der die Kriterien an diesen Pilotenkreis festgelegt wurden. Die Liste war kurz und beinhaltete genau sieben Punkte:
Alter unter 40 JahrenKörpergröße maximal 1,80 MeterAusgezeichnete körperliche VerfassungMindestens ein Bachelor-GradAbsolvent einer militärischen TestpilotenakademieMindestens 1.500 Stunden FlugerfahrungQualifizierter Jet-PilotEin Check des Pentagon in den Personalakten ergab, dass 110 Männer diese Bedingungen erfüllten. Sie stammten aus drei der vier Waffengattungen. Es waren fünf Marines, 47 Navy-Flieger und 58 Luftwaffenpiloten. Das Auswahlkomitee entschied, drei Gruppen zu bilden und sie zu Interviews einzuladen. Gruppe 1 mit 35 Männern war für den 2. Februar 1959 nach Washington bestellt. 24 waren von der Sache begeistert und wollten im bemannten Raumfahrtprogramm mitmachen. Sechs der Piloten waren zu groß, der Rest entschied sich dagegen.
Die Woche darauf kam die nächste Gruppe, die aus 34 Personen bestand. Von denen wollten 32 mitmachen. Damit hatte man nach der Einladung an zwei Gruppen bereits 56 geeignete Kandidaten. Diese unerwartet hohe Zustimmung machte es unnötig, auch noch die restlichen 41 Männer einzuladen. Die 56 mussten sich nun einer ersten Serie schriftlicher Tests, technischer Interviews, psychologischer Überprüfungen und einer gründlichen medizinischen Untersuchung unterziehen. Anfang März wurden 20 weitere Männer aussortiert. Die verbliebenen 36 Piloten wurden gebeten, sich in der Lovelace-Klinik in Albuquerque weiteren, äußerst rigorosen medizinischen Tests zu unterziehen.
Diese Aussicht gefiel nicht allen, und so sprangen vier weitere Kandidaten ab. Die verbliebenen 32 Anwärter bestanden allesamt die intensiven Tests. Der nächste Schritt waren nun mentale und physische Tests, die im Wright Air Development Center in Dayton, Ohio, durchgeführt werden sollten. In der sicheren Erwartung, dass manche dieser Tests die persönlichen Grenzen einzelner Kandidaten übersteigen würden, wurde jedem von ihnen zugesichert, dass die Ergebnisse weder in ihre Personalakten aufgenommen noch ihre zukünftige militärische Karriere gefährden würden. Jeder Kandidat wurde nun eine Woche lang von früh bis spät Einzeltests in fünf verschiedenen Kategorien unterzogen. Zusätzlich wurden von jedem der Kandidaten mehr als 30 verschiedene Labortests angefertigt. Die 32 Bewerber erlebten die wahrscheinlich vollständigste medizinische Untersuchung, die bis dahin je an einem lebenden Menschen durchgeführt worden war. Unglaublicherweise zeigten sich die Probanden trotz dieser außerordentlich harten Tests derart gesund, dass nur ein einziger für die nun folgenden – noch detaillierteren – Tests nicht mehr anzutreten brauchte.
Für die Phase vier des Auswahlprogrammes kamen die Kandidaten nun an das Aeromedical Laboratory des Wright Air Development Center. Dort erwartete sie eine ausgeklügelte Serie von Verhaltensstudien, körperlichen Ausdauertests, antropometrischen Messungen und psychologischen Prüfungen. Dort wurden auch die individuellen physischen und psychologischen Grenzen der einzelnen Bewerber ermittelt. Sie mussten nun in Druckanzügen arbeiten, auf Kipptischen balancieren, bis zur Erschöpfung Ballons aufblasen und auf Laufbändern laufen. Sie wurden in Isolations-, Schall- und Unterdruckkammern gesperrt und mussten zwischendurch mehr als ein Dutzend psychologische Experimente und Persönlichkeitstests über sich ergehen lassen.
Die Gruppe dieser letzten 31 war so gut, dass selbst nach diesen Tests immer noch 18 Männer verblieben. Nun ging man noch einmal durch ihre Dienstakten, um die bisherige Berufserfahrung und die Qualifikation mit einfließen zu lassen. Doch auch hier gelang es nicht, die magische Nummer sechs zu treffen. Es waren, selbst wenn man die allerhärtesten Kriterien anlegte, sieben Männer, die verblieben. Es war nun die Aufgabe des stellvertretenden NASA Administrators James Donlan, alle 31 verbliebenen Bewerber anzurufen. Er fragte sie, ob sie weiterhin für den Job zur Verfügung stünden. Alle sagten zu, und Mitte April 1959 wurden die neuen Mitarbeiter der US-Weltraumbehörde der amerikanischen Öffentlichkeit vorgestellt. Am 1. Mai 1959 begannen sie ihren Dienst als Astronauten bei der NASA.
Es waren vom US-Marine Corps: Oberstleutnant John Herschel Glenn, Jr., von der Navy die Korvettenkapitäne Walter Marty Schirra, Jr. und Alan Bartlett Shepard, Jr. sowie Oberleutnant zur See Malcolm Scott Carpenter, und die Luftwaffen-Hauptleute Donald Kent Slayton, Leroy Gordon Cooper, Jr. und Virgil Ivan Grissom.
Das Projekt brauchte nun, vor allem für die Öffentlichkeit, noch einen griffigen Namen. Die Entscheidung darüber fiel im Spätherbst. Die Space Task Group hatte dem NASA-Hauptquartier schon Vorschläge für mögliche Missions-Embleme unterbreitet. Eines hatte Phaeton zum Thema, in der Mythologie der Sohn des griechischen Sonnengottes Helios und Patron von Wissenschaft und Forschung. Ein anderer hatte das Bundessiegel der USA zum Thema über das sich drei Orbit-Bahnen zogen und ein Drittes zeigte einen Globus, ebenfalls mit drei darüber gelegten Bahnen.
Die Vorschläge gefielen der Führung in Washington alle nicht besonders. Auch Robert Gilruths Vorschlag, das Vorhaben „Projekt Astronaut“ zu nennen, weil es in vielen Papieren schon so bezeichnet wurde, fiel durch. Es wurde dabei, so fanden sie, zu viel Gewicht auf die Rolle des Mannes gelegt, der in der Kapsel fliegen sollte.
Den Namen Mercury legte schließlich Abe Silverstein, einer der leitenden Mercury-Manager fest. Der griechische Götterbote Merkur war den Amerikanern durchweg geläufig. Es gab zu dieser Zeit ein populäres Automobil dieses Namens, ein chemisches Element hieß so und Merkurs griechisches Pendent Hermes war aus Anzeigen und Firmenbezeichnungen bekannt. Überdies war Merkur der Enkel des Atlas (der Trägerrakete für die Orbitaleinsätze), er trug geflügelte Sandalen und einen Helm und hatte somit einen Symbolgehalt den man nicht übersehen konnte. Dass er außerdem der Gott der Kaufleute, Händler und Diebe war, störte niemanden. Am 55. Jahrestag des ersten Motorfluges der Gebrüder Wright, dem 17. Dezember 1958 gab NASA-Administrator Keith Glennan in Washington bekannt, dass das bemannte Satellitenprogramm der USA den Namen „Mercury“ tragen werde. Dieser Tag gilt seither als der offizielle Start des ersten bemannten Raumfahrtprojektes der USA, obgleich zu diesem Zeitpunkt die Arbeiten daran schon seit über einem Jahr liefen.
Ende April 1959 traten die sieben zukünftigen Astronauten ihren Dienst bei der Space Task Group an. Ihre allererste Unterrichtseinheit erhielten sie am 29. April 1959, mit einer Vorlesung über die Funktion des Mercury Notfall-Rettungssystems. Danach wurden sie zwei Wochen lang in jeden Aspekt des Programms eingewiesen. In der dritten Woche begann eine Tour durch die Vereinigten Staaten, bei der sie alle Hauptauftragnehmer des Mercury-Programms besuchten und dort mit Mock-ups, Flug-Hardware und Fertigungsprozessen vertraut gemacht wurden.
Dann standen die Anlagen in Cape Canaveral auf dem Plan. In militärischen und medizinischen Einrichtungen lernten sie ihre körperlichen Reaktionen auf außergewöhnliche Belastungen und ungewöhnliche körperliche Symptome kennen. Sie trugen stundenlang Druckanzüge, atmeten hohe Konzentrationen von Kohlendioxid, verbrachten Stunden in Hitze- und Unterdruckkammern und führten Parabelflüge in der C-131 und auf dem Rücksitz einer F-100 durch, um für einige Sekunden Schwerelosigkeit zu spüren. Alle Astronauten erlernten das Gerätetauchen und verbrachten viele Stunden unter Wasser. Ein Teil der Trainingszeit stand zur freien Verfügung. Hier wurde erwartet, dass sie einige Stunden pro Woche in einem für sie zur Verfügung gestellten Jet trainierten, um ihre Fähigkeiten als Piloten auf Stand zu halten, dass sie sich mit dem Spezialgebiet, für das sie sich entschieden hatten, befassten und ihre körperliche Fitness aufrecht erhielten. Im Spätsommer 1959 verbrachte jeder von ihnen zwei Wochen in der Zentrifuge in Johnsville, um das Belastungsprofil beim Start und bei der Landung kennen zu lernen. Dann gingen sie ans Cape zum Big Joe-Start, zu McDonnell für Integrationstests mit der Kapsel und zu Goodrich, um den Raumanzug zu testen. Dazwischen gab es alle möglichen anderen Trainingseinheiten, wie zum Beispiel Kommunikation mit dem Tracking Network oder das von der Presse mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Überlebenstraining.
Dieser erste Ausbildungsabschnitt hatte noch viele Elemente eines Universitätsseminars. Im ersten Jahr ihres Trainings hörten sie Vorlesungen in Weltraumphysik, Flugführung und Flug-Kontrolle, Weltraum-Navigation und Raumfahrtmedizin. Jeder der Astronauten verbrachte auch etwa acht Stunden im Morehead Planetarium an der Universität von North Carolina, um dort Himmelsnavigation zu erlernen.
Jeder der Männer wählte sich ein programmbezogenes Spezialgebiet, in das er seine beruflichen Kenntnisse einbringen konnte. Scott Carpenter war verantwortlich für Kommunikation und Navigation, da er während seiner Zeit in der Navy eine Spezialausbildung auf diesem Gebiet abgeschlossen hatte. Virgil Grissom, der einen Abschluss als Maschinenbau-Ingenieur der Purdue Universität hatte, wurde der Experte für elektromechanische, automatische und manuelle Flugkontrollsysteme. John Glenn hatte die größte Flugerfahrung und die meisten Flugzeugtypen geflogen. Er kümmerte sich deswegen um die Cockpit-Auslegung. Walter Schirra, ein Absolvent der Marineakademie, befasste sich mit Lebenserhaltungssystemen und dem Raumanzug. Alan Shepard, ebenfalls Absolvent der Marineakademie, spezialisierte sich auf die Bahnverfolgungs- und Bergungsaktivitäten. Gordon Cooper und Donald Slayton kümmerten sich um die Schnittstellen zur Redstone- und zur Atlas-Rakete. Cooper hatte vor seiner Wahl zum Astronauten als Testingenieur gearbeitet und Slayton, der über einen Abschluss als Luftfahrtingenieur der Universität von Minnesota verfügte, hatte zwei Jahre als Konstrukteur bei Boeing gearbeitet, bevor er als Testpilot nach Edwards ging.
Die Übertragung dieser Aufgaben an die Astronauten erwies sich als wunderbare Idee. Auf diese Weise konnten sie direkt Einfluss auf die Entwicklung der Mercury-Systeme nehmen und waren über jeden Aspekt, jedes Problem, jeden Fortschritt und jeden Fehlschlag in allen Systemen und Subsystemen des gesamten Programms ständig informiert. Der permanente Austausch über den Status der erhaltenen Informationen und die Abstimmung untereinander bewirkte das Zusammenschweißen der Astronauten zu einer homogenen und einflussreichen Gruppe innerhalb des Programms.
Mit dem Jahreswechsel 1960 begann die zweite Phase des Astronauten-Trainings. Der Vorlesungscharakter wich jetzt dem Einsatztraining. Aber weiterhin reisten sie viel im Lande herum, um die Entwicklung und die Produktion ihrer Trägerraketen und Raumfahrzeuge zu begleiten. Im Rückblick empfanden die Programm-Manager gerade diese Besuche als den vielleicht herausragendsten Beitrag für den Erfolg des Programms. Jeder Arbeiter, jeder Techniker, jeder Ingenieur und Manager hatte die Gelegenheit, die Astronauten persönlich kennen zu lernen. Virgil Grissoms schlichte Worte bei einer kleinen Ansprache an die Arbeiter von Convair wurde DAS Motto schlechthin durch alle Mercury-Produktionsstätten: „Do good work!“ Jedem Mitarbeiter am Programm war klar, dass alles andere als „Good work!“ den Astronauten das Leben kosten konnte. „Do Good Work!“ war bald auf zahllosen Plakaten bei allen Haupt- und Unterauftragnehmern zu lesen.
Immer mehr Zeit verbrachten die Astronauten jetzt in Simulatoren. Eines dieser Geräte hieß MASTIF, eine Abkürzung für „Multiple Axis Space Test Inertia Facility“ und war der Liebling der Medien. MASTIF stand in einem aufgelassenen Windkanal im Lewis Zentrum und wurde weit über seinen tatsächlichen Wert als Trainingsgerät hinaus publiziert. Der Simulator war in der Lage, sich um drei Rotationsachsen und zwei linearen Achsen zu bewegen. Es handelte sich dabei um eine Anordnung von kardanisch aufgehängten Gehäusen, die sich in einem System von konzentrischen Ringen frei bewegen konnten. Die Bewegung wurde dabei über Luftdüsen bewirkt. Das Gerät war von erheblicher Größe. Es hatte einen Durchmesser von sieben Meter und war an einem Trägergerüst aufgehängt. Es konnte im Inneren seiner drei Kardanringe eine 1,5 Tonnen schwere Raumkapsel aufnehmen und war dann in der Lage die ganze Kombination mit bis zu 60 Umdrehungen pro Minute herumzuschleudern. Das Ganze lief unter der höllischen Lärmentwicklung der mit Stickstoffgas betriebenen Steuerjets ab.
Dabei war gar nicht ganz klar, was damit überhaupt simuliert werden sollte. Die zugrunde liegende Idee war es wohl, ein Raumschiff, bei dem die automatische Fluglageregelung durchgegangen war, manuell wieder unter Kontrolle zu bekommen. Gleichzeitig wurde mit diesem Gerät auch das Reaktionsvermögen des Piloten trainiert, seine Fähigkeit zum Multitasking und das Arbeiten unter hohem psychischem und physischem Druck. Das Ding war extrem schwer zu steuern und es zeigte sich, dass selbst erfahrene Piloten in diesem Gerät wegen der wilden Drehbewegungen innerhalb kürzester Zeit seekrank wurden.
Viel wichtiger als die MASTIF war der zweite Teil des Zentrifugen-Programms in Johnsville. Er begann Mitte April 1960 und wurde jetzt mit der Hardware durchgeführt, die inzwischen von McDonnell geliefert worden war. Die Astronauten konnten somit ab jetzt in den Original-Konturenliegen trainieren, mit dem Original Steuerknüppel, dem Original-Instrumentenpaneel und den richtigen Raumanzügen. Das Zusammenspiel der körperlichen Belastung mit der gleichzeitigen Überwachung und Bedienung von über 120 Kontrollinstrumenten, elektrischen Schaltern, Sicherungen und Hebeln zeigte sofort die Schwächen der bisherigen Konstruktion auf. Das unmittelbare Ergebnis der Zentrifugentests war die Umstellung aller Instrumente und Schalter in der Kapsel. Es stellte sich heraus, dass die Astronauten in einem voll aufgeblasenen Raumanzug bei hohen Beschleunigungs- oder Verzögerungswerten nicht alle Schalter und Hebel erreichen konnten. Es gelang ihnen nur, mit der linken Hand die Instrumente von links Mitte bis nach links unten und mit der rechten Hand rechts Mitte bis nach rechts unten zu erreichen. Die Geräte oben und in der Mitte waren nicht erreichbar. Die McDonnell-Ingenieure stellten die Instrumententafel danach so um, dass alle Hebel, Druckknöpfe und Schalter U-förmig seitlich und unten angeordnet waren und in den anderen Positionen nur Beobachtungsinstrumente platziert wurden. Es stellte sich auch heraus, dass die Knöpfe und Hebel selbst speziell konstruiert werden mussten, um mit dem Raumanzug bedient werden zu können. Sie mussten alle in der Betätigungsrichtung „Schieben“ oder „Drücken“ funktionieren. „Ziehen“ ging nicht oder nur sehr schwer. Die Druckknöpfe brauchten Führungen, damit die klobigen Handschuhe in die richtige Position rutschten oder bei hohen Andruckkräften bei Start und Landung nicht auf einen Nachbarknopf rutschten. Hebel und Zugringe wurden in einigen Fällen auf eine Betätigungskraft von 25 Kilogramm ausgelegt, um eine unbeabsichtigte Funktionsauslösung zu verhindern. Und so ging es weiter.
Am 9. März 1961 meldete die UdSSR den Start von Korabl Sputnik 4. An Bord war die Hündin Tschernuschka. Nach einer Erdumkreisung und einer Flugdauer von 91 Minuten wurde sie sicher aus der Umlaufbahn zurückgeholt. Den Projektverantwortlichen der NASA war klar: weit konnte es nun zu einem ersten bemannten Flug der Sowjetunion nicht mehr sein. Vier Wochen zuvor, am 13. Februar 1961 hatten sich NASA-Administrator Robert Gilruth, Max Faget und einige weitere hochrangige NASA-Leute mit der Projektleitung von McDonnell und der Gruppe um Wernher von Braun getroffen. Einziger Punkt der Tagesordnung war die Frage, ob man die Mission Mercury-Redstone 3 (MR-3) bemannt starten sollte. Der wenige Wochen zurückliegende Testflug MR-2 mit dem Schimpansen HAM an Bord hatte erhebliche Defizite gezeigt.
Der öffentliche Druck war immens, die Astronauten hatten mehrfach ihre Bereitschaft ausgedrückt, die Mission zu fliegen und die Sowjetunion schien mit ihren Vorbereitungen fast fertig zu sein. Doch das Vertrauen der Redstone-Entwickler in ihr eigenes Produkt war nicht so groß wie das der NASA-Führung. Wernher von Braun und Kurt Debus stellten nachdrücklich die Forderung auf, dass noch mindestens ein vollständig erfolgreicher unbemannter Flug notwendig sei, um die Redstone für bemannte Einsätze zu qualifizieren. So stimmte die NASA-Führung schließlich zu, einen weiteren Testflug in den Zeitplan einzufügen. Gleichzeitig wurde die schicksalhafte Entscheidung getroffen, MR-3 auf den 25. April zu verschieben, damit diese neue Mission am 28. März dazwischengeschoben werden konnte. Über die technische Notwendigkeit dieser Entscheidung gab es keine Frage, über seine möglichen politischen Konsequenzen war man sich zwar im Klaren, lebte aber in der Hoffnung, dass sie sich nicht realisieren würden. Die Mission wurde als MR-BD bezeichnet, als „Mercury-Redstone Booster Development“.
Am Morgen des 24. März 1961 verlief der Countdown ohne das geringste Problem. Um 12:30 Uhr startete MR-BD glatt von Cape Canaveral auf seiner vorprogrammierten Trajektorie und flog problemlos bis zum Brennschluss. Die Endgeschwindigkeit war immer noch knapp 100 Kilometer pro Stunde schneller als berechnet, aber doch wesentlich besser getroffen als bei den beiden vorhergegangenen Missionen. Die Auswertung der Telemetrie ergab, dass das Vibrationsniveau jetzt – im Gegensatz zum vorausgegangenen Flug – in einem akzeptablen Rahmen lag. Wernher von Brauns Team war zufrieden, Kurt Debus war zufrieden und die gesamte restliche NASA war es auch. Die Redstone galt nun als „man rated“. Der nächste suborbitale Flug konnte bemannt stattfinden.
Am Tag nach der Mission von MR-BD gaben die Sowjets den gelungenen Start und die ebenfalls erfolgreiche Bergung ihres fünften „Korabl Sputniks“ bekannt. An Bord war ein Hund namens Zwesdotschka, was „Sternchen“ heißt. Damit waren zwei unbemannte Testflüge hintereinander erfolgreich verlaufen. Wenn die Sowjets die gleichen Maßstäbe ansetzten, wie die Amerikaner – nämlich die Abfolge von mindestens zwei erfolgreichen direkt aufeinanderfolgenden Testmissionen – dann würde, so war jedem bei der NASA klar, die nächste sowjetische Mission bemannt stattfinden.
Anfang April 1961 wurde die Redstone Nummer 7 für den Flug MR-3 auf dem Starttisch der Startanlage 5 in Cape Canaveral in die Vertikale gebracht. Am 10. April gab es von Korrespondenten in Moskau einigen Rumor über einen unmittelbar bevorstehenden sowjetischen bemannten Raumflug. Nachdem dies aber bis zum darauf folgenden Tag nicht bestätigt wurde, flaute die Aufregung wieder ab. So kam der 12. April 1961. Der Tag begann in den ersten Morgenstunden in den USA mit einer Meldung von Associated Press, die sich auf eine Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS berief und diese wie folgt übersetzte:
„Wostok, das erste bemannte Raumschiff der Welt, ist am 12. April von der Sowjetunion aus zu einem Flug um die Erde gestartet. Der erste Weltraum-Navigator ist der sowjetische Staatsbürger Major Juri Alexejewitsch Gagarin. Mit Major Gagarin wurde eine bilaterale Radioverbindung aufgebaut und aufrechterhalten“.
Es war der Moment, den die NASA-Offiziellen seit Monaten befürchtet hatten. James Webb wandte sich um 7:45 Uhr morgens in einer landesweiten Radioübertragung an die amerikanische Nation und gratulierte zunächst den Sowjets zu ihrer Leistung. Danach drückte er die Enttäuschung der NASA aus, diesen Wettlauf verloren zu haben, und schließlich versicherte er, dass das Projekt Mercury Schritt für Schritt wie geplant weitergeführt werde. Er stellte das Vorhaben als logischen ersten Schritt der USA in der Eroberung des Mondes dar. Ein Schritt, den man auf jeden Fall gehen musste, ganz gleich ob es andere vor den USA in den Erdorbit geschafft hatten oder nicht.
Webbs Rede war überlegt, ausgewogen und vernünftig. Dennoch war die Nachricht von der sowjetischen Erstleistung eine vernichtende Enttäuschung für die Amerikaner. Am meisten enttäuscht waren wahrscheinlich die Astronauten. Sie wussten, wie nahe sie dran gewesen waren, die ersten im Weltraum zu sein. Zwar nicht im Orbit wie die Sowjets, das war eine andere Liga und das wussten sie genau, aber zumindest auf einer suborbitalen Bahn. Für die in diesen Dingen unwissende Öffentlichkeit wäre es ohnehin fast dasselbe gewesen. Wäre die Entscheidung nicht für MR-BD gefallen, sondern für die direkte Durchführung von MR-3, dann hätte es vielleicht geklappt.
Die Punkte, welche sich den Mitarbeitern des Manned Space Flight Center offenbarten. waren andere. Die Wostok-Kapsel war dreimal so schwer wie die Mercury. Die Sowjets hatten sich nicht mit suborbitalen Vorläufer-Missionen aufgehalten. Wostok hatte eine Mischgas-Atmosphäre mit einem Luftdruck wie auf Meereshöhe. Das sowjetische Raumschiff verfügte über ein absprengbares Service-Modul. Es flog auf einer Bahn mit einer hohen Inklination (65 Grad) auf der es die meiste Zeit autonom und ohne Funkkontakt zum Boden war. All dies machte den Eindruck eines ungemein großzügig geplanten und durchgeführten Programms. Mercury offenbarte sich dagegen als das Minimalkonzept, das es ja auch tatsächlich war.
Am 22. Februar 1961 gab die Space Task Group der Öffentlichkeit bekannt, dass die Astronauten Alan Shepard, John Glenn und Virgil Grissom ausgewählt worden waren, um das Missionstraining für den Flug MR-3 aufzunehmen. Für die drei war das zu diesem Zeitpunkt schon keine Neuigkeit mehr. Robert Gilruth hatte alle sieben Astronauten kurz nach Neujahr zusammengerufen und sie darüber informiert, wer als erster fliegen sollte und wie die Reihenfolge der Ersatzleute aussah. Sollte Shepard ausfallen, aus welchem Grund auch immer, dann würde Grissom einspringen. Dessen Ersatzmann wiederum war John Glenn. Gleich nachdem die für MR-3 ausgewählten Astronauten mit ihrem Einsatztraining begonnen hatten begann die Presse darüber zu spekulieren, welcher von ihnen den Flug wohl unternehmen würde. Der klare Favorit der Medien war der charismatische John Glenn. Für die Boulevard-Presse gab es keinen Zweifel, dass er die Mission durchführen würde. Die intellektuell ausgerichteten Medien waren dagegen der Meinung, dass es Virgil Grissom sein müsste. Die Begründung war einsichtig: Grissom kam von der Luftwaffe, und diese Waffengattung hatte gerade eben vom Verteidigungsministerium die Verantwortung für die Durchführung aller zukünftigen militärischen Weltraum-Missionen übertragen bekommen. Die Einbeziehung der Rivalität zwischen den Waffengattungen erschien schließlich auch den anderen Korrespondenten so plausibel, dass immer mehr Medien Grissom als den wahrscheinlichsten Kandidaten betrachteten.
Am Dienstag, dem 2. Mai war alles für den Start klar. Nur das Wetter spielte nicht mit. Drei Stunden lang wartete Alan Shepard im Hangar S in seinem Druckanzug darauf, dass er zur Startrampe gefahren werden konnte. Schließlich musste abgesagt werden. Die Neuaufnahme des Countdowns wurde auf den Donnerstag verschoben. Erst an diesem Tag erfuhr die Öffentlichkeit von Robert Gilruth die wahre Identität des ersten amerikanischen Astronauten. Am Donnerstag war das Wetter unverändert schlecht, aber für Freitag waren die Aussichten besser. Am Abend des 4. Mai um 20:30 Uhr wurde der Countdown wieder aufgenommen. Gegen Mitternacht gab es eine geplante Unterbrechung für die Installation der Pyrotechnik, der Wartung des Wasserstoff-Peroxid-Systems und um dem Startteam eine Ruhepause zu gönnen. In den frühen Morgenstunden des 5. Mai wurde die Zählung fortgesetzt.
Die Uhr blieb zweieinhalb Stunden vor dem für 7:00 Uhr morgens vorgesehenen Start stehen. Auch das war so geplant. Damit wollte man sicherstellen, dass der Checkout des Raumfahrzeugs abgeschlossen war, bevor man begann, den Astronauten zur Rampe zu bringen.
Um 1:10 Uhr morgens wurde Shepard geweckt. Er duschte und rasierte sich und zog sich einen Bademantel an. Dann nahm er zusammen mit seinem Arzt William Douglas, seinem Kollegen John Glenn und einigen Mitgliedern aus dem Operations Team das Frühstück ein. Er war seit drei Tagen auf „abfallarme“ Diät gesetzt, so dass die Mahlzeit an diesem Morgen aus Orangensaft und einem Filet Mignon eingewickelt in Speck, sowie aus Rührei bestand. Um 2:40 Uhr wurde er ein letztes Mal medizinisch untersucht. Dann wurden die Biosensoren an seinen Körper geklebt. An die Stellen, die schon Wochen zuvor mit Tattoos markiert worden waren. Dann kam Joe Schmitt, der Anzugtechniker, und half ihm, den Raumanzug anzulegen.
Um 3:55 Uhr betrat Shepard den Transferbus. Auf dem Weg zur Startrampe lag er auf einem Liegesitz, während Joe Schmitt seinen Raumanzug mit Sauerstoff durchlüftete. Als der Bus an der Rampe angekommen war, legte Schmitt dem Astronauten die Handschuhe an. Gordon Cooper unterrichtete ihn dabei über den Status der Startvorbereitungen.
Um 5:15 Uhr stieg Shepard die Treppen zum Lift der Gantry hoch, in der rechten Hand die tragbare Klimaanlage, die er brauchte, um im geschlossenen Raumanzug nicht zu überhitzen. Fünf Minuten später kletterte er in das Raumfahrzeug. Schmitt zog das Gurtzeug fest. Dann schüttelte er Shepard feierlich die behandschuhte Hand. „Happy landings, Commander!“ rief die Gantry-Crew im Chor. Für Alan Shepard war dies der dramatischste Augenblick in seinen 37 Jahren, ein Moment an den er sich für den Rest seines Lebens mit größter Eindringlichkeit erinnerte.
Nun wurde der Countdown fortgesetzt. Ab 6:25 Uhr begann er reinen Sauerstoff zu atmen, um das Blut von Stickstoff zu befreien und somit einer möglichen Embolie vorzubeugen. 15 Minuten vor dem Start überzog sich der Himmel, und der Flugdirektor ordnete einen „hold“ an, um bessere fotografische Bedingungen abzuwarten. Shepard vertrieb sich die Zeit damit, durch sein Periskop zu schauen. Während er darauf wartete, dass sich die Sichtbedingungen besserten, gab es einen neuerlichen „hold“ und ein 115-Volt Gleichrichter im elektrischen System der Trägerrakete musste ausgetauscht werden. Diese Unterbrechung dauerte 52 Minuten. Dann wurde der Countdown auf die 35-Minuten-Marke zurückgesetzt. Als er die 15-Minuten-Marke erreichte, kam es zu einer Fehlfunktion in einem der IBM 7090 Computer des Goddard-Centers in Maryland. Das erforderte einen kompletten Reboot, eine langwierige Maßnahme mit den Großcomputern der damaligen Zeit. Zwei Stunden und 34 Minuten gingen mit all diesen Unterbrechungen zusätzlich zur normalen Dauer des Countdowns ins Land. Danach lief der Countdown ohne weitere Unterbrechungen dem Zeitpunkt T 0 entgegen.
Zwei Minuten vor dem Start wechselte der Sprechfunk zwischen dem Astronauten und der Bodenkontrolle von Gordon Cooper im Blockhaus neben der Rampe zu Donald Slayton im Mercury Control Center. Wally Schirra kreiste in diesen Minuten in seiner F-106 über Cape Canaveral und wartete darauf, der Redstone und Shepard so hoch hinaus zu folgen wie es ging. Als die Startsekunde gekommen war, hatte Shepard vier Stunden und 14 Minuten in der Kapsel zugebracht. Wegen seiner Aufregung, so gab Shepard später unumwunden zu, bekam er vom Schlusscountdown mit Ausnahme des Startkommandos wenig mit. In dieser Zeit stieg sein Puls von 80 Schlägen in der Minute auf 126. Shepard war nicht alleine mit seiner Aufregung. Mindestens genauso aufgeregt waren das Operations-Team, das Pressecorps am Cape und die Millionen von Menschen, die den Start an den Fernsehschirmen beobachteten.
Aus dem Augenwinkel sah Shepard den Versorgungsmasten wegkippen. Er hob die Hand, um den Zeitgeber für die Abfolge der Missionsereignisse zu starten und war überrascht, wie weich sich der Aufstieg anfühlte und die Klarheit, mit der er Deke Slaytons Stimme aus dem Kontrollzentrum hörte. Alle seine Meldungen wurden ohne Rückfragen bestätigt. Der ruhige Flug dauerte 45 Sekunden an. Dann begannen die Vibrationen. Erst leise, dann immer härter. Shepard war darauf vorbereitet. Er wusste, dass sich das Raumfahrzeug jetzt im transsonischen Bereich befand. Das Schütteln wurde rauer und härter je näher der Punkt der maximalen dynamischen Belastung kam. 88 Sekunden nach dem Abheben waren die Vibrationen so stark, dass Shepards Helm derart gegen die Konturenliege ratterte, dass er die Anzeigen am Instrumentenbrett nicht mehr ablesen konnte. Der Lärmpegel war außerordentlich hoch. Höher, als er erwartet hatte, aber noch ertragbar. Kurz nach dem Durchqueren der Zone der maximalen dynamischen Belastung verschwanden jedoch Lärm und Vibrationen und der Flug wurde viel ruhiger.
Der Kabinendruck im Inneren von Freedom 7 riegelte bei 380 Millibar ab, genau wie vorprogrammiert. Ruhig gab Shepard seine Meldungen durch, auch als nach zwei Minuten der Andruck auf über 6 g stieg. Zwei Minuten und 22 Sekunden nach dem Verlassen der Startrampe schaltete das Triebwerk ab. Die Geschwindigkeit des Astronauten betrug jetzt 8.300 Kilometer pro Stunde. Die Flugbahn lag nur ein Grad neben dem nominellen Wert, was eine Abweichung in der maximalen Flughöhe von weniger als zwei Kilometern bedeutete. Nach dem Brennschluss hörte Shepard den Fluchtturm feuern und schaute aus seiner Luke, in der Hoffnung die Rauchfahne zu erkennen. Er konnte aber nichts sehen. Nur das grüne „tower-jettison“ – Licht auf seinem Instrumentenpaneel zeigte an, dass der Pylon weg war. Shepard war während des Aufstiegs einer maximalen Andruckbelastung von 6,3 g ausgesetzt gewesen. An der Außenseite der Kapsel war die Temperatur auf 105 Grad Celsius gestiegen, im Inneren der Kapsel waren es 33 Grad, in seinem Druckanzug lag die Temperatur bei 24 Grad.
Zwei Minuten und 32 Sekunden nach dem Start meldete Shepard an Slayton, dass sich die Kapsel vom Booster getrennt hatte. Drei Minuten nach dem Abheben orientierte das automatische Lageregelungssystem die Kapsel mit dem Hitzeschild in Flugrichtung. Das Wendemanöver war kurzzeitig mit einer Pendelbewegung verbunden, die aber aufhörte als sich die Lageregelungstriebwerke automatisch einschalteten. Nun, schon fast am Scheitelpunkt seiner Parabelbahn angekommen, widmete sich Shepard seiner wichtigsten Aufgabe: Er sollte testen, ob er die Raumlage seines Vehikels manuell kontrollieren konnte. Er schaltete das Lageregelungssystem auf manuellen Betrieb. Einzeln, Achse für Achse, probierte er dann die Bewegungen durch. Zuerst den Nickwinkel, den er mit der Handsteuerung dadurch verändern konnte, dass er den Steuerknüppel nach vorne schob oder nach hinten zog. Seine erste Aktion war es hier, das Raumfahrzeug genau in die richtige Position für die Bremszündung zu bringen, mit einem Winkel von 34 Grad zum lokalen Horizont. Während Shepard den Nickwinkel kontrollierte, regelte die Automatik automatisch den Gier- (links und rechts) und den Rollwinkel (die Drehung) des Raumfahrzeugs. Als Shepard am Ende die Kontrolle über alle drei Achsen übernahm war er angenehm überrascht, dass sich das Raumfahrzeug ganz ähnlich verhielt wie er es im Procedures Trainer kennen gelernt hatte.
Dann versuchte er, die Szenerie unter sich zu beobachten. Dabei bemerkte er, dass im Periskop der Graufilter eingelegt war. Das war nun sein eigener Fehler. Während des stundenlangen Wartens auf der Startrampe hatte er den Filter vorgeschaltet, um die blendende Sonne zu dämpfen. Er hatte sich vorgenommen, den Filter wieder zu entfernen, sobald er das Periskop zurückzog, hatte es aber dann vergessen.
Er griff nach dem Drehschalter, um den Filter zu entfernen, stieß aber dabei mit dem Druckmesser, der wie eine Armbanduhr um sein linkes Handgelenk lag, hart auf an den Hebel, der den Flugabbruch auslösen sollte. Er erschrak und nahm seine Hand vorsichtig wieder zurück. So sah er bis zum Ende der Mission – zumindest durch das Periskop – alles in schwarz-weiß.
Kurz nachdem Shepard den Gipfelpunkt der Bahnparabel in 185 Kilometer Höhe überschritten hatte, war es vorgesehen, dass er zum „Fly-by-wire“ Modus wechseln sollte. Dabei verwendete er die Handsteuerung zur Lageänderung der Kapsel, wobei er die Wasserstoffperoxid-Triebwerke des automatischen Systems einsetzte. Shepard sollte dabei Freedom 7 manuell in die Position zur Bremszündung ausrichten. Da bemerkte er, dass der Nickwinkel zu niedrig lag. Es waren nur etwa 20 anstelle der erforderlichen 34 Grad. Er korrigierte die Nick-Achse, noch bevor er die Gier- und Rollposition änderte. Dann ging er zurück in den automatischen Modus und feuerte nacheinander die drei Retroraketen. Gleich darauf flogen einige Trümmerstücke und Haltebänder am Bullauge vorbei, was darauf hindeutete, dass der Retropack abgeworfen worden war. Shepard blickte auf das Instrumentenbrett, sah dort aber keine Bestätigung. Unmittelbar danach informierte ihn aber Slayton, dass die Telemetrie den Abwurf des Retropacks gemeldet hatte. Shepard drückte deshalb sicherheitshalber noch den Knopf für das manuelle Auslösen des Abwurfs, und erst jetzt kam das Licht.
Während er nun auf dem absteigenden Ast der Bahnparabel wieder der Erde entgegenfiel, ging Shepard wieder in den fly-by-wire Modus. Er bemerkte eine Tendenz, das Raumfahrzeug zu überkontrollieren. Dann schaltete er wieder zurück auf das automatische System um. Gleich darauf wurde das Periskop automatisch eingezogen als sich Freedom 7 wieder den dichteren Luftschichten näherte. Auf dem Weg nach unten versuchte Shepard durch die beiden Bullaugen Sterne zu erkennen, was ihm aber nicht gelang. Kurz danach erschien die Anzeige, die den Aufbau der Andruckkräfte meldete. Die Verzögerungswerte stiegen schnell an und erreichten schließlich ein Maximum von 11,6 g. Gleichzeitig nahmen die Oszillationen des Raumfahrzeugs zu. Shepard aktivierte wieder das automatische Kontrollsystem und konzentrierte sich jetzt auf die Abstiegsvorgänge.
Eigentlich sollte er zwischen 28 und 24 Kilometern Höhe eine Ablesung des Höhenmessers vornehmen. Das vergaß Shepard allerdings, denn seine Fallgeschwindigkeit war schneller als erwartet, die Pendelbewegungen der Kapsel waren beträchtlich, und er machte sich Gedanken über den Auswurf des Stabilisierungsschirms. Das passierte tatsächlich relativ spät, in einer Höhe von 7.000 Meter und führte dazu, dass die Pendelbewegung sofort aufhörte. Nachdem der Fall stabilisiert war, konnte er das Periskop wieder ausfahren und sah den Stabilisierungsschirm über sich. In 5.000 Meter Höhe öffnete sich das Außenluft-Ventil. Von nun an waren Innen- und Außendruck wieder aneinander angepasst. In 4.000 Metern wurde der Antennen-Kanister abgeworfen, was den Auswurf des Hauptfallschirms auslöste. Shepard konnte deutlich erkennen, dass der Fallschirm zunächst gerefft war und sich erst in den nächsten Sekunden auf seinen vollen Durchmesser von knapp 20 Metern aufblähte. Damit waren die kritischsten Momente vorbei und Shepard konnte sich auf die Bergung vorbereiten. Während er jetzt mit einer Rate von zehn Meter pro Sekunde der Wasseroberfläche entgegen sank, drückte er einen Schalter, um das verbliebene Wasserstoff-Peroxid über Bord zu pumpen. Beim Blick auf die Instrumentenkonsole bemerkte er ein weiteres grünes Licht, welches anzeigte, dass das Lande-Luftkissen ausgefahren war. Dann verschwand er für das Kontrollzentrum am Cape unter dem Funkhorizont.
Die verbleibende Zeit nutzte der Astronaut, um seine Kniebänder zu lösen, das Helmvisier zu öffnen und die Schlauchverbindungen des Anzugs zum Raumschiff zu trennen. Dann schlug er auf dem Wasser auf, ein ziemlich harter Aufprall, wie es ihm erschien. Die Kapsel krängte um etwa 60 Grad nach der – vom Astronauten aus gesehen – rechten Seite. Dann trennte sich der Fallschirm. Wasser schwappte über die Bullaugen und Shepard konnte erkennen, dass sich das fluoreszierende Färbemittel schnell ausbreitete. Er prüfte, ob es durch die Landung zu irgendwelchen Lecks gekommen war. Nichts. Die Kapsel war trocken. Und nun richtete sich Freedom 7 auch langsam in eine aufrechte Position auf. Die Hubschrauber der Marine Air Force Gruppe 26, stationiert auf dem Flugzeugträger Lake Champlain, warteten schon in der Luft. Der Primärhubschrauber mit Pilot Wayne Koons und Co-Pilot George Cox hatte die Kapsel schon die letzten fünf Minuten beim Abstieg zur Wasseroberfläche beobachtet. Sofort nach der Wasserung brachte Koons seinen Hubschrauber in die Position, um Kapsel und Pilot aufzunehmen. Mit einem Blick auf Freedom 7 bemerkte Cox, dass die Hochfrequenz-Antenne nicht in ihrer richtigen Position war, als er das Kabel an der Bergungsöse einhakte.
Koons zog die Kapsel mit dem Hubschrauber teilweise aus dem Wasser und wartete darauf, dass der Pilot herauskletterte. Plötzlich schnellte die Hochfrequenzantenne nach oben, traf den Helikopter, schlug eine Delle in die Außenhaut und brach ab. Weiter gab es aber keinen Schaden. Shepard teilte Koons mit, dass er aussteigen würde, sobald die Luke von Freedom 7 oberhalb der Wasserlinie sei.
Während sich Shepard in sitzende Position brachte, fragte Koons erneut, ob er fertig sei. Er meldete, dass er noch immer Wasser gegen die Luke schwappen sah. Der Hubschrauber hob die Kapsel noch ein wenig weiter aus dem Wasser und Shepard entriegelte die Luke. Dann kroch er über die Schwelle, langte nach dem „HorseCollar“ und legte ihn sich um. Dann gab er dem Piloten das Zeichen. Mit der Kapsel am Haken und Shepard an Bord ging es dann zur Lake Champlain. Als Shepard das Deck des Flugzeugträgers betrat waren gerade elf Minuten vergangen, seit er auf dem Wasser aufgesetzt hatte und nur 30 Minuten, nachdem er den Startkomplex 5 in Cape Canaveral verlassen hatte. An Bord der Lake Champlain wurde Shepard erst einmal untersucht. Viele Ärzte hatten befürchtet, dass selbst wenige Minuten Schwerelosigkeit Desorientierung und Geistesverwirrung verursachen würden. Nichts davon war passiert. Shepard hatte den Flug in exzellenter Verfassung überstanden und nicht nur das: Er hatte auch bewiesen, dass ein Mensch unter den Bedingungen des Raumflugs sinnvoll und zielgerichtet arbeiten konnte. Der Flug war, vom Anfang bis zum Ende, ein uneingeschränkter Erfolg. Die Auftriebswirkung dieser Mission für das bemannte US-Raumfahrtprogramm war immens.
Am 8. Mai erhielt Shepard von Präsident Kennedy im Weißen Haus die „Distinguished Service Medal“. Am 25. Mai 1961 hielt Präsident Kennedy seine berühmt gewordene Rede vor beiden Häusern des Kongresses in der es unter anderem um die Zukunft der US-Raumfahrt ging und das Verhältnis in dieser Disziplin zum großen Rivalen Sowjetunion. Die letzten vier Sätze dieser Rede lauten:
„…we cannot guarantee that we shall one day be first, we can guarantee that any failure to make this effort will make us last. We take an additional risk by making it in full view of the world, but as shown by the feat of Astronaut Shepard, this very risk enhances our stature when we are successful. I believe this nation should commit itself to achieving the goal, before this decade is out, of landing a man on the moon and returning him safely to the earth. No single space project in this period will be more impressive to mankind, or more important for the long-range exploration of space; and none will be so difficult or expensive to accomplish.“ (...wir können nicht garantieren, dass wir eines Tages die Ersten sein werden. Wir können aber garantieren, dass wir die Letzten sein werden, wenn wir es nicht tun. Wir nehmen zusätzliches Risiko auf uns, indem wir es vor den Augen der gesamten Welt versuchen. Aber wie die Tat des Astronauten Shepard zeigt, wird dieses Risiko unser Unterfangen aufwerten, wenn wir erfolgreich sind. Ich glaube, diese Nation sollte sich dazu verpflichten, noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen Menschen auf dem Mond zu landen und ihn sicher wieder zur Erde zurückzubringen. Kein Raumfahrtprojekt in diesem Jahrzehnt wird mehr Eindruck auf die Menschheit machen oder von größerer Bedeutung für die langfristige Erforschung des Weltraums sein, und keines wird so schwierig werden und so aufwendig zu erreichen).
Zweieinhalb Monate nach Shepard wiederholte Virgil Grissom mit Liberty Bell 7 den Flug von Alan Shepard. Der Flug wäre um ein Haar tragisch ausgegangen, denn bei der Bergung ertrank der Astronaut beinahe.
John Glenn führte am 20. Februar 1962 den ersten Orbitalflug des Mercury-Programms durch. Der Flug mit seinen drei Erdumkreisungen verlief vor allem wegen falscher Sensordaten, die eine Ablösung des Hitzeschildes anzeigten, gegen Ende der Mission dramatisch. Wir haben über diesen Flug ausführlich in SPACE 2022 berichtet.
Danach wäre die Reihe an Deke Slayton gewesen. Er war nur noch wenige Wochen von seinem Einsatz entfernt und hatte seine Raumkapsel auch schon auf den Namen „Delta 7“ getauft, als bei einer der vielen medizinischen Routineuntersuchungen Herzrythmusstörungen bei ihm festgestellt wurden. Das kostete ihn seinen Platz in der Ruhmeshalle der NASA und die Ehre, der zweite Amerikaner in der Umlaufbahn zu sein. Für ihn flog stattdessen Scott Carpenter mit Aurora 7. Er startete am 24. Mai 1962. Seine Mission über drei Orbits blieb vor allem deswegen im Gedächtnis, weil Carpenter die Reserven seines Raumfahrzeugs überstrapazierte, mehr als 400 Kilometer vom Ziel entfernt landete und sein Verbleib eine ganze Weile nicht bekannt war. Einschließlich der Carpenter-Mission war – mit Ausnahme von Shepards suborbitalem Einsatz – keiner der Einsätze problemlos verlaufen. Das änderte sich erst mit der Mission von Sigma 7, die Walter Schirra am 3. Oktober 1962 absolvierte. Sein Flug ging über sechs Erdumkreisungen und verlief nahezu perfekt.
Tatsächlich war die Mission von Sigma 7 derart gut verlaufen, dass mancher Verantwortungsträger die Meinung kund tat, dass das Projekt Mercury an diesem Punkt beendet werden sollte. Ein weiterer und sehr anspruchsvoller Flug mit dieser Hardware der ersten Generation würde das Glück, das man bisher hatte, vielleicht überstrapazieren.
Dies waren aber eher Störeinflüsse aus dem Bereich der Politik. Unter den Managern des Manned Spaceflight Center gab es keinen Zweifel, dass die ursprünglich geplante 18-Orbit, 27-Stunden-Mission, auch durchgeführt werden sollte. Man betrachtete sie allein schon deswegen für notwendig, um die zeitliche Lücke bis zum ersten bemannten Gemini-Flug zu füllen, der zum Zeitpunkt von Schirras Flug noch für das Jahr 1964 angesetzt war. Das Mercury-Programm hatte im Sommer 1962 noch vier nicht geflogene Kapseln zur Verfügung. Es waren dies die Produktionsnummer 12, 15, 17 und 20. Diese Kapseln erhielten nun die notwendigen Design-Änderungen für den Eintages-Flug. Ausgewählt wurde schließlich die Produktionseinheit Nummer 20.
Am 9. November 1962 entschied sich die Führung des Manned Spaceflight Centers dafür, die Flugdauer auf 34 Stunden zu verlängern und dabei 22 Erdumkreisungen zu absolvieren. Natürlich würde MA-9 nicht die 64 Orbits von Nikolajew schlagen können, oder die 48 von Popowitsch. Aber immerhin könnte man sich mit einer 34-Stunden-Mission von German Titows 17-Orbitflug in Wostok 2 absetzen. Als Pilot der Mission wurde Gordon Cooper benannt, sein Ersatzmann war Alan Shepard.
Coopers Kapsel wurde so stark modifiziert, dass manche von einer Neukonstruktion sprachen. Insgesamt erhielt sie gegenüber Schirras Fluggerät 183 Veränderungen. Das größte Problem all dieser Modifikationen war der enorme Gewichtszuwachs. Der Flug von MA-9 benötigte einen zusätzlichen Sauerstofftank, zusätzliche Kühlflüssigkeit, Trinkwasser für den Astronauten, sieben Kilo mehr Treibstoff, viel mehr Ausrüstung, unter anderem eine 70 Millimeter Hasselblad-Fernsehkamera. Um dieses Mehrgewicht zumindest teilweise zu kompensieren, wurde das ungeliebte Periskop entfernt. Das alleine machte schon eine Gewichtsersparnis von fast 35 Kilogramm aus. Das Orbitgewicht der Kapsel Nummer 20 inklusive des Piloten betrug schließlich 1.375 Kilogramm. Das war das absolute Gewichtslimit für die Basisversion der Atlas D. Am Morgen des 14. Mai 1963 warteten 28 Schiffe, 171 Flugzeuge und 18.000 Menschen verteilt um den ganzen Globus auf den Start von Mercury Atlas 9. Der Rufname der Mission, von Cooper nach langem Suchen festgelegt, war „Faith 7“. Der Name sei ein Symbol, wie er es ausdrückte, „meines Vertrauens in Gott, in mein Land und in meine Teamkameraden“.
Um 6:36 Uhr wurde der Astronaut in seinem Raumschiff eingeschlossen, als Zeitpunkt für den Liftoff war 9:00 Uhr festgelegt. Während Cooper auf den Start wartete, hörte er, dass das sekundäre Kontrollzentrum auf den Bermudas Schwierigkeiten mit dem C-Band Radar hatte. Und so machte er ein Nickerchen, während die Reparaturen liefen. Um 8:00 Uhr hatte Bermuda das Problem behoben. Aber dann kam es zu einem Defekt an der Diesel-Lokomotive, die den Startturm zurückfahren sollte. Zwei mehr als ärgerliche Stunden vergingen, bevor der Countdown weiterlaufen konnte. Doch nun versagte erneut das Radar auf Bermuda und schließlich wurde der Start abgesagt. Als er wieder in den Van stieg, meinte Cooper: „Das war mal eine wirklich realitätsnahe Simulation“. Er zog seinen Raumanzug aus und ging zum Angeln, während am Launch Pad die Techniker die Treibstoffpumpe der Diesel-Lokomotive unter die Lupe nahmen. Am nächsten Morgen verlief der Countdown ohne die geringste Unterbrechung.
13 Sekunden nach acht Uhr machte sich Mercury-Atlas 9 auf die Reise. Coopers Worte an Wally Schirra, seinen Vorgänger, der jetzt als CapCom seinen Start überwachte, waren: „Das fühlt sich gut an, Kumpel. Alle Systeme sind „go““. Fünfeinhalb Minuten später war er im Orbit. Wie zuvor schon Schirra sah der Astronaut für einige Minuten seinem Booster zu, der auf der Flugbahn hinter ihm her trudelte und widmete sich dann seinen Aufgaben. Gleich darauf kamen die Statuschecks mit den Kanarischen Inseln und mit Kano in Nigeria. All das ging so schnell, dass Cooper es kaum fassen konnte, dass er auch Afrika schon halb überquert hatte. Während der ersten beiden Orbits arbeiteten alle Systeme an Bord des Raumfahrzeugs perfekt. Cooper hatte lediglich ein Problem mit einem erneut etwas erratischen Verhaltens der Temperatur-Regelung des Raumanzugs. Auf der Außenseite des Fensters beklagte Cooper einen „öligen Film“, offensichtlich Rückstände vom Abtrennen des Fluchtturms.
Zu Beginn des dritten Orbits begann er sich seinen insgesamt elf Experimenten zu widmen. Seine erste Aufgabe war es, drei Stunden und 25 Minuten nach Beginn der Mission, eine 15 Zentimeter durchmessende Kugel mit einem pulsierenden Xenon-Licht auszustoßen. Zunächst konnte er den kleinen Subsatelliten nicht sehen, erst während des vierten Orbits bekam er ihn ins Gesichtsfeld. Auch während des fünften und sechsten Umlaufs um die Erde sah er das Blitzlicht. Zentrale Aufgabe des Fluges waren raumfahrtmedizinische Experimente mit sich selbst als Versuchskaninchen. Er aß verschiedene Proben von Astronauten-Nahrung, sammelte Urinproben, nahm Temperaturwerte und maß seinen Blutdruck.
Während des sechsten Orbits versuchte Cooper einen Ballon aus dem Antennenbehälter freizusetzen. Er war baugleich mit dem von MA-7 und auch bei diesem Experiment ging es darum, visuelle Experimente und Luftwiderstandsversuche zu machen. Cooper versuchte den Ballon auszuwerfen, aber nichts passierte. Er probierte es noch einmal und wieder geschah nichts. Da der Antennenkanister planmäßig beim Auswerfen der Fallschirme während der Landung abgetrennt wurde, erfuhr man nie, ob der Ballon das Raumfahrzeug jemals verlassen hatte oder nicht. Als Cooper zu Beginn des siebten Erdorbits Schirras Rekord übertraf, war er gerade mit Versuchen zur Strahlungsmessung und mit Experimenten zum Flüssigkeitstransfer in Röhren beschäftigt. Zehn Stunden nach dem Start informierte ihn die Bodenstation in Sansibar, dass er ein „go“ für 17 Erdumkreisungen habe. Alles verlief wie am Schnürchen. MA-9 umkreiste die Erde alle 88 Minuten und 45 Sekunden in einem Winkel von 32,55 Grad zum Äquator.
Zwischen dem 9. und 13. Orbit war eine Ruhepause vorgesehen. Am Ende des achten Orbits aß und trank er etwas, fuhr die meisten Systeme herunter und begab sein Raumschiff in den „Freie Drift-Modus“. Aber Cooper war noch zu aufgeregt und zu fasziniert, um schlafen zu können, und so meldete er sich auch während des zehnten Orbits bei John Glenn, der im Pazifik auf dem Bahnverfolgungsschiff Coastal Sentry Dienst tat. Zu diesem Zeitpunkt war der Astronaut 13 Stunden und 34 Minuten im Orbit. Glenn mahnte, dass es nun an der Zeit sei „allen zu sagen, ihn nun in Ruhe zu lassen“. Danach entspannte sich Cooper und fiel in Schlaf. Er erwachte aber nach etwa einer Stunde wieder, weil die Temperatur im Raumanzug stieg. In den nächsten sechs Stunden schlief er mit Unterbrechungen, in denen er entweder Fotos von der Erde machte oder sich mit dem lästigen Wärmetauscher des Raumanzugs beschäftigte.
Als Cooper während der 14. Erdumkreisung wieder über Muchea kam, checkte er alle Systeme eingehend. Die Werte waren weiterhin im Nominalbereich. Besonders interessiert war die Bodenkontrolle am Status der Treibstoffreserven. Sie lagen bei 69 Prozent im Tank des automatischen Systems und bei 95 Prozent im Tank für das manuelle System.
Orbit 15 verbrachte er mit der Kalibrierung der Ausrüstung und mit Grußbotschaften an die Erde und von der Erde. Der Präsident von El Salvador schickte Cooper Grüße und Cooper sandte eine Botschaft an das Treffen afrikanischer Politiker in Äthiopien. Während des 16. Umlaufs führte er Beobachtungen des Nordlichts und des Nachthimmelsleuchtens durch. In den Orbits 17 und 18 machte er Infrarot-Wetteraufnahmen und Bilder des Mondes wie der sich scheinbar hinter dem Horizont in die Erdatmosphäre hinab senkte. Zwischendurch machte er immer wieder Erdfotografien. Einige Bodenstationen konnten ihm beim Singen zuhören, so guter Stimmung war er, als er sich der 30. Stunde seines Fluges näherte.
Bei all dem musste er ständig seine Anzugtemperatur nachregeln. Essen und Trinken ging nur über den Rand seines Helmes, was mit den klobigen Handschuhen nicht leicht war. Dann, während des 19. Umlaufs, als er gerade mit einem Test der Hochfrequenzantenne über Australien beschäftigt war, bemerkte er die erste ernsthafte System-Anomalie seiner Mission.
Eine Anzeige leuchtete auf und zeigte an, dass Faith 7 einer Bremsverzögerung von 0,05 g ausgesetzt war. Das Instrument musste fehlerhaft sein, dachte sich Cooper, denn die im Raum herum schwebenden Gegenstände wie die Kamera, mit der er eben noch gearbeitet hatte, verblieben auf ihren Plätzen. Die Bodenstation in Kalifornien bestätigte, dass der Flugstatus von Faith 7 derselbe war, wie zuvor. Trotzdem betrachtete man die Anzeige mit Sorge, denn die Sache konnte Auswirkungen auf die Lageregelung während der Retrozündung haben. Diese Sorgen waren begründet, denn während des nächsten Umlaufs verlor Cooper alle Lageregelungsanzeigen. Dann, im 21. Orbit, kam es zu einem Kurzschluss in der Sammelschiene, die zum 250 Volt Haupt-Gleichrichter führte und gleich darauf war das automatische Stabilisierungs- und Kontrollsystem tot. Der schwerwiegendste technische Fehler aller Mercury-Flüge war ausgerechnet während der letzten Erdumkreisung der letzten Mission aufgetreten.
Mercury Control war jetzt in heller Aufregung. Die Probleme von Faith 7 und Coopers diagnostische Maßnahmen wurden mit identischem Equipment am Cape und in St. Louis bei McDonnell nachgestellt. Über jeder Bodenstation, die Cooper jetzt überflog, wurden Fragen gestellt und Instruktionen übermittelt. Die Situation war ernst und Cooper entschied sich, eine Amphetamintablette zu nehmen, um konzentriert zu bleiben.
Bei der 21. Erdumkreisung, über dem Tracking-Schiff Coastal Sentry, gab John Glenn Cooper eine revidierte Wiedereintritts-Checkliste durch. Das war etwa zu der Zeit, als auch der Kohlendioxid-Pegel in der Kabine und im Raumanzug anstieg. An Scott Carpenter am Cape gab er durch: „Die Probleme bauen sich jetzt hier ein wenig auf“. 20 Minuten später überflog er die Bodenstation Sansibar und teilte ihr mit, dass er das Wiedereintrittsmanöver manuell durchführen werde. Noch einmal 23 Minuten später kam Cooper wieder in Kontakt mit John Glenn, teilte ihm mit, dass er die Raumlage für den Wiedereintritt manuell steuere und mit der Checkliste für das Manöver durch sei. Glenn gab ihm einen 10-Sekunden-Countdown und Cooper, der den 34-Grad Nickwinkel eisern mit der Handsteuerung hielt, feuerte die Retroraketen jeweils auf Glenns „Mark“-Ruf. Dann verabschiedete sich Glenn von ihm mit den Worten: „Es war ein wirklich feiner Flug, Gordo. Wirklich wunderbar, die ganze Zeit. Hab einen kühlen Wiedereintritt“. Und Cooper antwortete: „Roger, John. Danke.“
All die komplizierten, gedrängten Ereignisse der nächsten 15 Minuten erfolgten genau nach Plan, während Faith 7 in einem ionisierten Kanal ultraheißer Gase zurück zur Erde stürzte. Sieben Kilometer vor dem Bergungsschiff, dem Flugzeugträger Kearsarge, brach die Kapsel an ihrem Fallschirm durch die Wolken und landete in den trägen Wellen des blauen Pazifik. Die Wasserung kam 34 Stunden und 20 Minuten nach dem Liftoff. Das Raumfahrzeug schaukelte zunächst ein wenig mit Schlagseite in den Wellen und richtete sich dann auf. Cooper, als Luftwaffen-Mann, richtete eine Anfrage an den Flugzeugträger für die Erlaubnis an Bord gehievt zu werden. Dem förmlichen Antrag wurde ebenso förmlich stattgegeben. 40 heiße und feuchte Minuten nach der Wasserung aktivierte der Techniker John Graham, der vom Manned Spaceflight Center auf dem Träger abgestellt war, von außen die Sprengluke. Cooper blieb noch acht Minuten in seiner Liege, wo er von einem Arzt untersucht wurde. Dann half er ihm beim Aussteigen. Einen Moment lang überkam ihn leichter Schwindel, dann fand er sein Gleichgewicht, und die Ein-Mann Crew der eineinhalbtägigen Mercury-Mission marschierte im Triumph davon. Wie schon Schirra war auch Cooper etwas dehydriert. Er hatte 3,5 Kilogramm Gewicht verloren, das er aber schnell wieder zurückgewann, nachdem er eine größere Menge Flüssigkeit zu sich genommen hatte. Er hatte bewiesen, dass der Mensch eine Mission retten konnte, nachdem entscheidende Geräte an Bord versagt hatten.