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Spannende Kurzgeschichten aus dem 1920er und 1930er Jahren Die Olive von Algernon Blackwood, Das Bat and Belfry Inn von Alan Graham, Das Richtige tun von Ray Cummings, Die Lüge von Holloway Horn, Die Medici Stiefeletten von Pearl Norton Swet, Wo war die Wych Street? von Stacy Aumontier, Der Würfler von Sidney Southgate, Die Motte von H.G. Wells
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Seitenzahl: 175
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Die Olive
Das Bat and Belfry Inn
Die Lüge
Das Richtige tun
Die Medici Stiefeletten
Wo war die Wych Street?
Der Würfler
Die Motte
Er musste unwillkürlich lachen, als die Olive über den glänzenden Parkettboden des Hotelspeisesaals auf seinen Stuhl zurollte.
Sein Tisch in dem gewaltigen Salle à manger stand abseits: Er saß allein – ein einsamer Gast. Der Tisch, von dem die Olive fiel und auf ihn zurollte, war etwas weiter entfernt. Der Winkel dazu machte ihn selbst zu einem eher unwahrscheinlichen Ziel, doch das ungleichmäßig geformte, saftige Ding blieb, nachdem es auf seinem Weg ein- oder zweimal gezögert hatte, schließlich vor seinen Füßen liegen.
Die Olive lag mit einer einladenden, fast aggressiven Ausstrahlung da. Er bückte sich und hob sie auf, wobei er sie wegen des Mädchens, von dessen Tisch sie gekommen war, etwas verlegen auf das weiße Tischtuch neben seinem Teller legte.
Als er aufblickte, trafen sich ihre Blicke, und er sah, dass auch sie lachte, wenngleich ein wenig gehemmt.
Als sie sich an den Hors d'oeuvres bediente, war die Olive durch eine falsche Bewegung von ihr weggeflogen. Sie beobachtete ihn dabei, wie er die Olive aufhob und neben seinen Teller legte. Dann blickte sie schnell wieder weg – und warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu.
Der Vorfall war abgeschlossen. Aber die kleine längliche, saftige Olive lag neben seinem Teller, und er fühlte den Drang in seinen Fingern, mit ihr spielten. Er berührte sie automatisch von Zeit zu Zeit, bis seine einsame Mahlzeit beendet war.
Als niemand hinsah, steckte er sie in seine Tasche, als ob es das Mindeste wäre, sie mitzunehmen, nachdem er sich die Mühe gemacht hatte, sie aufzuheben.
Der Himmel allein weiß, warum, aber er nahm sie mit nach oben auf sein Zimmer und legte sie auf den Sims des Marmorkamins zwischen den Feldstecher und den Tabakdosen, den Tintenfässern, seinen Pfeifen und den Kerzenständern. Jedenfalls behielt er sie – die feuchte, glänzende, ungleichmäßig geformte, saftige, kleine, längliche Olive.
Die Hotellounge war nicht sein Ding, und deshalb war er nach dem Abendessen in sein Zimmer gegangen. Er wollte die Jacke ausziehen, in aller Ruhe rauchen, und die Füße auf einen Stuhl zu legen, um noch ein Kapitel Freud zu lesen. Vielleicht auch ein oder zwei Briefe schreiben, die er gar nicht schreiben wollte, um dann um zehn Uhr ins Bett zu gehen.
Aber an diesem Abend rollte die Olive vor seinen Augen immer wieder zwischen ihm und dem, was er las; sie rollte zwischen den Absätzen, zwischen den Zeilen. Die Olive war lebendiger als das Interesse an diesen ewigen 'Verwicklungen' und 'unterdrückten Wünschen' in den Büchern.
Die Wahrheit aber war, dass er immer wieder die Augen des lachenden Mädchens hinter der hüpfenden Olive sah.
Sie hatte ihn auf so natürliche, spontane und freundliche Weise angelächelt, bevor der strenge Blick ihrer Mutter sie unterbrochen hatte – ein Lächeln, das – so spürte er – zu einer Bekanntschaft am nächsten Tag führen könnte.
Er dachte darüber nach! Das Kribbeln eines möglichen Abenteuers durchfuhr ihn.
Sie war ein fröhlich aussehendes Mädchen mit einem glücklichen, halb schelmischen Gesicht, das auf der Suche nach jemandem zu sein schien, mit dem sie spielen konnte.
Ihre Mutter war gebrechlich, wie die meisten Leute in dem großen Hotel, und das Mädchen eine pflichtbewusste und geduldige Tochter. Offenbar waren sie gerade an diesem Tag angekommen.
Ein Lachen ist eine verräterische Sache, dachte er, als er einschlief und von einer ungleichmäßig geformten Olive träumte, die bewusst auf ihn zurollte.
Er dachte an die Augen eines Mädchens, das seine ungeschickten Bewegungen beobachtete, dann zu ihm aufschaute und lachte. In seinem Traum war die Olive mit Bedacht und Geschick auf ihre ungewisse Reise geschickt worden. Es war eine Botschaft.
Er wusste natürlich nicht, dass die Mutter, welche die Unbeholfenheit ihrer Tochter tadelte, gemurmelt hatte: »Das ist wieder typisch für dich, mein Kind! Du machst deinem Namen alle Ehre und kannst nie eine Olive sehen, ohne etwas Seltsames mit ihr anzustellen!«
Der junge Mann war an die italienische Riviera gekommen, um sich zwei Monate lang zu erholen. Sein Wissen über Chemie, einschließlich unsichtbarer Tinten und ähnlicher Geheimnisse, hatten sich für die Zensurstelle als so wertvoll erwiesen, dass er sich fünf Jahre lang ohne jeglichen Urlaub überarbeitet hatte.
Es war sein erster Besuch in dieser Region. Sonne, Akazien, blaues Meer und strahlender Himmel hatten ihn angelockt. Die günstigen Umtauschkurse ergaben für ein Pfund einen Gegenwert von vierzig, fünfzig, sechzig oder gar siebzig Schilling – anstelle der zwanzig zu Hause.
Er fand den Platz schön, aber ziemlich unbewohnt. Er hatte ihn zufällig ausgewählt und war dadurch in eine Gegend gekommen, in der es die Gesellschaft, die er zu finden hoffte, nicht gab.
Nach dem Krieg hatte sich der Ort nur langsam erholt; die Kolonie der ansässigen Engländer war immer noch recht verstreut; die anderen Reisenden zogen die französische Küste mit Mentone und Monte Carlo vor, um sie zu bevölkern.
Außerdem wurde das gesamte Land durch Streiks verwirrt. In der einen Woche fiel das elektrische Licht aus, in der nächsten gab es keine Post, und sobald die Elektriker und Postangestellten ihre Arbeit wieder aufnahmen, stellten die Eisenbahnen ihren Betrieb ein. Nur wenige Besucher kamen, und die wenigen, die kamen, reisten bald wieder ab.
Dennoch blieb er, gefangen von der Sonne und dem guten Wechselkurs. Er hatte auch nicht die körperliche Kraft, einen besseren, lebendigeren Ort zu entdecken.
Er ging in den Olivenhainen spazieren, er saß am Meer und an den Palmen, er besuchte Geschäfte und kaufte Dinge, die er nicht brauchte, nur weil der Wechselkurs sie billig erscheinen ließ. Er zahlte immense Summen für 'Extras' in seiner wöchentlichen Rechnung und lachte dann, als er sie auf Schillinge herunterrechnete und feststellte, dass ein paar Pennys dafür reichten; er lag stundenlang mit einem Buch in den Olivenhainen.
Ja, die Olivenhaine!
Sein Tagesablauf konnte den Olivenhainen nicht entgehen; zu den Olivenhainen führten ihn früher oder später seine Spaziergänge, seine Ausflüge, seine Wanderungen am Meer, seine Einkäufe – alles führte ihn zu diesen allgegenwärtigen Olivenhainen.
Wenn er eine Ansichtskarte kaufte, um sie nach Hause zu schicken, war in einer Ecke mit Sicherheit ein Olivenhain zu sehen. Der ganze Ort war mit Olivenhainen übersät, die Menschen verdankten ihr Einkommen und ihre Existenz diesen unbändigen Bäumen. Die Dörfer zwischen den Hügeln standen bis an den Rand voll in ihnen. Sogar in den Gärten der Hotels wimmelte es davon.
Die Reiseführer lobten sie ebenso beharrlich, wie die Bewohner sie früher oder später in jedes Gespräch einbrachten. Sie schwärmten von ihnen:
»Und wie gefallen Ihnen unsere Olivenbäume? Ah, Sie finden sie schön. Am Anfang sind die meisten Leute enttäuscht, aber dann wachsen sie mit ihnen.«
»Das tun sie«, stimmte er zu.
»Ich bin froh, dass Sie sie schätzen«, bekam er zur Antwort. »Wir finden, sie sind der Inbegriff von Anmut. Und wenn der Wind die Unterblätter über einen ganzen Berghang hinweg hebt – Donnerwetter! – das ist wunderbar, nicht wahr? Da wird einem die Bedeutung von 'olivgrün' klar.«
»Das ist so«, seufzte er. »Aber trotzdem würde ich gerne eine zu essen bekommen – eine Olive, meine ich.«
»Ah, zu essen, ja. Das ist nicht so einfach. Wissen Sie, die Ernte ist – «
»Genau«, unterbrach er ungeduldig, der gewohnten und ausweichenden Erklärungen überdrüssig. »Aber ich würde die Früchte gerne probieren. Ich würde gerne eine genießen.«
Nach sechs Wochen Aufenthalt hatte er nicht ein einziges Mal eine Olive auf dem Tisch, in den Geschäften oder gar auf den Straßenkarren auf dem Marktplatz gesehen. Er hatte noch nie eine gekostet. Niemand verkaufte Oliven, obwohl Olivenbäume in diesem Ort wie eine Droge waren; niemand kaufte sie, niemand fragte nach ihnen; es schien, dass niemand sie haben wollte. Die Bäume waren, wenn er genau hinsah, dicht mit kleinen, dunklen Beeren bewachsen, die eher an eine saure Schlehe erinnerten als an die saftige, köstliche, würzige Frucht, die man mit ihrem Namen verbindet.
Männer klettern auf die Stämme, schütteln die beladenen Äste und schlagen mit langen Bambusstöcken auf sie ein, um die Früchte herunterzuklopfen, während Frauen, mit Kindern, die auf ihren Schenkeln hocken, mühsame Stunden damit verbrachten, die Körbe darunter zu füllen und dann Maultiere und Esel mit ihrem täglichen 'Fang' zu beladen. Aber eine Olive, die man essen konnte, war nicht zu bekommen. Er hatte sich nie für Oliven interessiert, aber jetzt sehnte er sich von ganzem Herzen danach, seine Zähne in einer von ihnen zu fühlen.
»Ach! Aber es ist die spanische Olive, die Sie essen«, erklärte der Oberkellner (ein Deutsch-Schweizer aus Basel). »Die hier sind nur für Öl.«
Danach mochte er die Olive nicht mehr – bis zu jenem Abend, an dem er das erste essbare Exemplar über den glänzenden Parkettboden rollen sah, von der unvorsichtigen Hand eines hübschen Mädchens zu ihm geschleudert, das ihm dann in die Augen sah und lächelte.
Er war überzeugt, dass auch Eva den Apfel über die smaragdgrüne Wiese des ersten Gartens der Welt zu Adam gerollt hatte.
Normalerweise schlief er wie ein Toter, aber heute muss es etwas sehr Reales gewesen sein, das ihn die Augen öffnen und sich wach im Bett aufsetzen ließ.
Da war ein Geräusch an seiner Tür. Er lauschte. Das Zimmer war noch ziemlich dunkel. Es war früher Morgen.
Das Geräusch wiederholte sich nicht.
»Wer ist da?«, fragte er im verschlafenen Flüsterton. »Was gibt es?«
Das Geräusch kam wieder. Hat jemand an der Tür gekratzt? Nein – es war jemand, der geklopft hatte.
»Was wollen Sie?«, fragte er mit lauter Stimme.
»Kommen Sie herein«, fügte er hinzu und fragte sich schläfrig, ob er vorzeigbar war.
Entweder brannte das Hotel oder der Portier weckte die falsche Person für eine Sonnenaufgangsexpedition.
Nichts geschah. Hellwach schaltete er den Schalter ein, aber kein Licht erhellte den Raum. Die Elektriker, so erinnerte er sich mit einem Fluch, streikten. Er tastete nach den Streichhölzern, und während er das tat, wurde eine Stimme im Korridor deutlich hörbar. Sie war direkt vor seiner Tür.
»Sind Sie noch nicht fertig?«, hörte er. »Sie schlafen ja ewig.«
Und die Stimme, obwohl er sie nie zuvor gehört hatte und sie eigentlich nicht wiedererkennen konnte, gehörte, wie er plötzlich wusste, zu dem Mädchen, das die Olive hatte fallen lassen. In einem Augenblick war er aus dem Bett. Er zündete eine Kerze an.
»Ich komme«, rief er leise, während er schnell in ein paar Anziehsachen schlüpfte. »Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Es wird nicht lange dauern.«
»Dann beeilen Sie sich!«, hörte er sie sagen, während die Flamme der Kerze langsam größer wurde und er seine Kleider fand. Weniger als drei Minuten später öffnete er die Tür und spähte mit der Kerze in der Hand in den dunklen Gang.
»Blasen Sie sie aus«, kam ein gebieterisches Flüstern. Er gehorchte, aber nicht schnell genug. Rote Lippen tauchten aus dem Schatten auf. Es kam ein kräftiges Pusten von ihr, und die Kerze war erloschen. »Ich muss an meinen Ruf denken«, sagte sie. »Wir dürfen keinesfalls gesehen werden!«
Das Gesicht verschwand wieder in der Dunkelheit, aber er hatte es erkannt – die glänzende Haut, die hellen, blitzenden Augen. Der süße Atem berührte seine Wange.
Der Kerzenständer wurde ihm mit einer schnellen, geschickten Bewegung entrissen. Er hörte, wie er gegen die Vertäfelung schlug, als er abgesetzt wurde.
Er ging hinaus in einen pechschwarzen Korridor, wo eine weiche Hand die seine ergriff und ihn durch eine Hintertür, wie es schien, ins Freie der hügeligen Seite unmittelbar hinter dem Hotel führte.
Er sah die Sterne. Der Morgen war kühl und duftend, die scharfe Luft weckte ihn, und die letzten Reste des Schlafes verflüchtigten sich. Er war schläfrig und verwirrt gewesen, hatte der Aufforderung gehorcht, ohne nachzudenken. Jetzt wurde ihm plötzlich klar, dass er sich in einem Akt des Wahnsinns befand.
Das Mädchen, bekleidet mit einem dünnen Stoff, den sie locker um Kopf und Körper geworfen hatte, stand ein paar Meter entfernt. Er fand, dass sie aussah wie eine Gestalt, die aus Träumen und Schlummern einer vergessenen Welt kam, ja fast so, als wäre sie aus einer Legende herausgerufen.
Er sah, wie ihre Abendschuhe hervorlugten; er erahnte ein Abendkleid unter der hauchdünnen Hülle. Der leichte Wind wehte es dicht an ihren Körper. Sie erinnerte ihn an eine Nymphe.
»Aber waren Sie nicht im Bett?«, fragte er ziemlich dumm.
Er wollte sich eigentlich für seine törichte Unbesonnenheit entschuldigen, sie ausschimpfen und sagen, dass sie sofort zurückgehen müssen. Stattdessen kam dieser Satz aus ihm heraus.
Er vermutete, dass sie die ganze Nacht wach gewesen war.
Dann blieb er eine Sekunde lang stehen und starrte in stummer Bewunderung, seine Augen voller verwirrter Fragen.
»Ich beobachte die Sterne«, antwortete sie ihm mit einem fröhlichen Lachen.
»Orion hat den Horizont berührt. Ich bin sofort zu Ihnen gekommen. Wir haben nur noch vier Stunden Zeit!«
Die Stimme, das Lächeln, die Augen, der Hinweis auf Orion, rissen ihn aus seinen Gedanken. Etwas in ihm löste sich und flog wild und rücksichtslos zu den Sternen.
»Lassen Sie uns verschwinden«, rief er, »bevor der Bär kippt. Alcyone beginnt schon zu verblassen. Ich bin bereit. Kommen Sie!«
Sie lachte. Der Wind wehte den dünnen Stoff zur Seite und zeigte zwei elfenbeinweiße Gliedmaßen. Sie ergriff wieder seine Hand, und gemeinsam huschten sie den steilen Hang zum Wald hinauf.
Bald waren das große Hotel, die Villen, die weißen Häuser der kleinen Stadt, in der Einheimische und Besucher noch tief schliefen, außer Sichtweite. Der weite Himmel kam ihnen entgegen. Die Sterne verblassten, aber von der eigentlichen Morgendämmerung war noch nichts zu sehen. Die kühle Luft brannte auf ihren Wangen.
Langsam wurde der Himmel heller, der Osten wurde rosa, die Umrisse der Bäume zeichneten sich ab und die silbrig-grünen Blätter bewegten sich. Sie befanden sich inmitten von Olivenhainen, in denen die Geister der Bäume tanzten. Weit unter ihnen, in einem Becken von tiefer Farbe, sahen sie das alte Meer. Sie sahen die winzigen Flecken der fernen Fischerboote.
Die Matrosen sangen in die Morgendämmerung hinaus, und die Vögel zwischen den Mimosen der Hängenden Gärten antworteten ihnen.
Unter einem alten, dürren Baum, dessen Kampf, sich von der Erde zu lösen, seine großen, sich windenden Arme und seinen Stamm gequält hatte, hielten sie einen Moment inne, atmeten durch und sahen sich mit Augen voller glücklicher Träume an.
»Du hast recht schnell verstanden«, sagte das Mädchen » – meine kleine Botschaft. Ich konnte an deinen Augen und Ohren sehen, dass du es würdest.«
Und sie zwickte ihm erst mit zwei schlanken Fingern schelmisch in die Ohren, dann legte sie ihre weiche Handfläche mit einem leichten Druck auf beide Augen.
»Du warst auf jeden Fall halb und halb zu mir hingezogen«, fügte sie hinzu und sah ihn für einen kurzen Moment forschend von oben bis unten an, »wenn du es nicht sogar ganz bist.« Ihr Lachen zeigte ihre weißen, gleichmäßigen Zähnchen.
»Du weißt, wie man spielt, und das ist schon etwas«, fügte sie hinzu. Dann, wie zu sich selbst: »Du wirst es ganz sein, bevor ich mit dir fertig bin.«
»Was soll ich sein?«, stammelte er, der Angst hatte, sie anzuschauen.
Er wusste nicht genau, was sie meinte; er wusste nur, dass der Strom des Lebens immer stärker durch seine Adern floss, aber dass ihre Augen ihn verwirrten.
»Ich sehne mich danach«, fügte er hinzu. »Wie wundervoll Sie das gemacht haben! Sie rollen so unbeholfen herum – «
»Ach, das!« Sie schaute ihn durch eine Haarsträhne an. »Du hast sie behalten, hoffe ich.«
»Mehr oder weniger. Sie liegt auf meinem Kaminsims – «
»Bist du sicher, dass du sie nicht gegessen hast?«, und sie machte eine köstliche Mimik mit ihren roten Lippen, sodass er die Spitze einer kleinen spitzen Zunge sehen konnte.
»Ich werde sie behalten«, schwor er, »solange diese Arme Leben haben«, und er ergriff sie, gerade als sie sich bückte, um zu entkommen, und bedeckte sie mit Küssen.
»Ich wusste, dass du spielen wolltest«, keuchte sie, als er sie losließ. »Trotzdem war es lieb von dir, sie aufzuheben, bevor ein anderer sie bekommt.«
»Ein anderer!«, rief er aus.
»Die Götter entscheiden«, sagte sie. »Es ist ein wackliges Ding, diese Olive, denk daran. Sie kann nicht geradeaus rollen.«
Sie sah seltsam schelmisch aus, und etwas ausweichend.
Er starrte sie an: »Wenn sie woanders hin gerollt wäre – und ein anderer sie aufgehoben hätte –?«, begann er.
»Dann sollte ich jetzt bei dem anderen sein!«, sagte sie, und dieses Mal war sie auf einmal weg, bevor er sie aufhalten konnte.
Der Klang ihres silbernen Lachens verhöhnte ihn zwischen den Olivenbäumen.
In einer Sekunde war er aufgesprungen und hinter ihr her. Er folgte ihrer schlanken weißen Gestalt in den altertümlichen Hain hinein und wieder hinaus, während sie leicht dahin huschte, ihr Haar im Winde flog, ihre Gestalt wie ein Sonnenstrahl oder der Lauf des schäumenden Wassers aufblitzte – bis er sie endlich einfing.
Er zog sie auf seine Knie hinunter und küsste sie wild, wobei er vergaß, wer und wo und was er war.
»Horch!«, flüsterte sie atemlos, einen Arm um seinen Hals gelegt. »Ich höre ihre Schritte. Horch! Es ist die Flöte!«
»Die Flöte –!«, wiederholte er, und war sich eines winzigen, aber köstlichen Schauderns bewusst, denn ein plötzlicher Schauer durchlief ihn, als sie es sagte.
Er starrte sie an. Die Haare fielen lose über ihre Wangen, die von seinen heißen Küssen durchflutet und gerötet waren. Ihre Augen waren trotz ihrer Sanftheit hell und wild.
Ihr Gesicht, das ihm seitlich zugewandt war, während sie ihm zuhörte, zeigte einen außergewöhnlichen Ausdruck, der ihm für einen Augenblick das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Er sah die offenen Lippen, die kleinen weißen Zähne, den schlanken Hals, wie aus Elfenbein, den jungen Busen, der von seiner stürmischen Umarmung keuchte.
Von einer überirdischen Schönheit und Helligkeit erschien sie ihm, doch mit diesem seltsamen, fernen Ausdruck, der seine Seele mit plötzlichem Schrecken erfüllte.
Ihr Gesicht drehte sich langsam zu ihm hin.
»Wer bist du?«, flüsterte er und sprang auf, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Er war jung und beweglich, auch stark, mit dieser schnellen Reaktion der Muskeln, die man hat, wenn man seinen Körper gut pflegt, aber er war ihr dennoch nicht gewachsen. Ihre Schnelligkeit und Beweglichkeit übertrafen die seinen mit Leichtigkeit.
Sie sprang hoch.
Bevor er ein Bein zur Flucht nach vorn bewegen konnte, umklammerte sie ihn mit ihren weichen, geschmeidigen Armen und Gliedern, sodass er sich nicht befreien konnte, und als ihr Gewicht ihn zu Boden drückte, fanden ihre Lippen die seinen und küssten sie so fest, dass er still sein musste.
Sie lag wieder in seiner Umarmung, ihr Haar über seinen Augen, ihr Herz an seinem Herzen, und er vergaß seine Frage, vergaß seine kleine Angst, vergaß die ganze Welt, die er kannte –
»Sie kommen, sie kommen«, rief sie fröhlich. »Die Morgendämmerung ist da. Bist du bereit?«
»Ich bin schon seit fünftausend Jahren bereit«, antwortete er und sprang neben ihr auf. »Ganz und gar!«, kam es mit einem strahlenden Lachen, das wie Wind zwischen den Olivenblättern war.
Sie schüttelte den letzten Schleier von sich, ergriff seine Hand, und gemeinsam liefen sie vorwärts, um sich der tanzenden Schar anzuschließen, die sich nun den Hang unter den Bäumen hinauf drängte.
Ihr fröhlicher Gesang erfüllte den Himmel. Mit Ranken und Efeu bedeckt und mit silbrig-grünen Zweigen behangen, ergossen sie sich in einer Flut strahlenden Lebens über den Berghang. Bald verschwanden sie wieder in der blauen Ferne des anbrechenden Morgens, und als die letzte Gestalt verschwand, tauchte die Sonne langsam aus einem purpurnen Meer auf.
Sie kamen an den Ort, den er kannte – das verlassene, vom Erdbeben zerstörte Dorf – und eine schwache Erinnerung regte sich in ihm. Er war sich nicht wirklich bewusst, dass er es schon einmal besucht hatte, dass er seine Sandwiches mit 'Hotelfreunden' unter seinen bröckelnden Mauern gegessen hatte, aber da war dennoch ein dumpfes, beunruhigendes Gefühl von Vertrautheit – aber nicht mehr.
Die Häuser standen noch, aber Tauben lebten in ihnen, und Wiesel, Hermeline und Schlangen hatten ihr zweifelhaftes Zuhause in alten Schlafzimmern.
Vor nicht einmal zwanzig Jahren drängten sich die Bauern in den engen Gassen, durch die jetzt die Morgendämmerung schimmerte und ein kühler Wind zwischen taufeuchten Brombeersträuchern wehte.
»Ich kenne das Haus«, rief sie, »das Haus, in dem wir leben würden«, und rannte, wie eine fliegende Form aus Luft und Sonnenlicht, in ein zerfallenes Häuschen, das kein Dach, keinen Boden und keine Fenster hatte. Wilde Bienen hatten ein Nest an die zerfallende Wand gehängt.
Er folgte ihr. Das Zimmer war sonnendurchflutet, und es gab Blumen. Auf einem einfachen Tisch stand eine Schüssel mit Sahne, Eiern, Honig und Butter, dicht neben einem selbstgebackenen Laib Brot. Sie sanken einander in die Arme auf einem Sofa aus duftendem Gras und Zweigen vor dem Fenster, wo wilde Rosen blühten – und die Bienen flogen ein und aus.
Es war Bussana, das sogenannte Erdbebendorf, weil es an einem Sommermorgen, als alle Bewohner in der Kirche waren, von einem plötzlichen Erdbeben heimgesucht worden war. Das herabstürzende Dach hatte sechzig Menschen getötet, die einstürzenden Mauern weitere hundert, und der Rest hatte es, so wie es war, verlassen.
»Die Kirche«, sagte er und erinnerte sich vage an die Geschichte. »Sie waren beim Gebet – «