Spannung für kalte Tage und dunkle Nächte Herbst 2022 -  - kostenlos E-Book

Spannung für kalte Tage und dunkle Nächte Herbst 2022 E-Book

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Ausgewählte Krimi-Leseproben aus dem Goldmann Verlag

T.J. Newman sorgt für Nervenkitzel in 10.000 Meter Höhe, Steve Cavanagh garantiert mit einem neuen Fall für Strafverteidiger Eddie Flynn atemlose Stunden, und in C.J. Tudors »Das Gotteshaus« bedrohen düstere Geheimnisse eine Dorfgemeinschaft. Lina Areklew schickt ihre Ermittlerin im Schärenmeer auf Mörderjagd, und Samuel Bjørk bietet mit »Dunkelschnee« eiskalte skandinavische Thrillerspannung. Lucinda Riley entführt mit »Die Toten von Fleat House« in die mörderische Idylle von Norfolk, Elizabeth George, Königin der englischen Krimikunst, lässt ihren Inspector Lynley in die Abgründe Londons eintauchen, und in Beate Maxians »Ein letzter Walzer« versetzt ein mysteriöser Mord Wien in Aufruhr. Neues gibt es auch von Andreas Gruber: BKA-Profiler Maarten S. Sneijder und Kripoermittler Walter Pulaski treffen erstmals bei einem spektakulären Fall aufeinander. Max Bentows Berliner Kommissar Nils Trojan ermittelt in einer albtraumhaften Mordserie, während Harlan Coben seinen Privatdetektiv Wilde auf die gefährliche Suche nach der eigenen Vergangenheit schickt. Und Joy Fielding beweist in ihrem neuen Thriller: Manchmal geht die größte Gefahr von den Menschen aus, denen wir am meisten vertrauen …

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Seitenzahl: 506

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © November 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

ISBN 978-3-641-30745-5V001

Besuchen Sie uns auch aufwww.penguinrandomhouse.de

Spannung für kalte Tage und dunkle Nächte

T.J. Newman sorgt für Nervenkitzel in 10.000 Meter Höhe, Steve Cavanagh garantiert mit einem neuen Fall für Strafverteidiger Eddie Flynn atemlose Stunden, und in C.J. Tudors »Das Gotteshaus« bedrohen düstere Geheimnisse eine Dorfgemeinschaft. Lina Areklew schickt ihre Ermittlerin im Schärenmeer auf Mörderjagd, und Samuel Bjørk bietet mit »Dunkelschnee« eiskalte skandinavische Thrillerspannung. Lucinda Riley entführt mit »Die Toten von Fleat House« in die mörderische Idylle von Norfolk, Elizabeth George, Königin der englischen Krimikunst, lässt ihren Inspector Lynley in die Abgründe Londons eintauchen, und in Beate Maxians »Ein letzter Walzer« versetzt ein mysteriöser Mord Wien in Aufruhr. Neues gibt es auch von Andreas Gruber: BKA-Profiler Maarten S. Sneijder und Kripoermittler Walter Pulaski treffen erstmals bei einem spektakulären Fall aufeinander. Max Bentows Berliner Kommissar Nils Trojan ermittelt in einer albtraumhaften Mordserie, während Harlan Coben seinen Privatdetektiv Wilde auf die gefährliche Suche nach der eigenen Vergangenheit schickt. Und Joy Fielding beweist in ihrem neuen Thriller: Manchmal geht die größte Gefahr von den Menschen aus, denen wir am meisten vertrauen …

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LeseprobeT. J. NewmanFlug 416ThrillerGoldmann VerlagHier geht’s zum Shop

Buch

Coastal-Airways-Flug 416 hat den Flughafen von Los Angeles pünktlich verlassen, als Kapitän Bill Hoffman einen Anruf erhält. Ein Entführer hat seine Frau und Kinder in seine Gewalt gebracht und stellt Bill vor eine schreckliche Wahl: Entweder bringt er das Flugzeug mit 149 Menschen an Bord zum Absturz, oder seine Familie wird getötet. Zwar gelingt es Bill, die Crew über die Lage zu informieren, doch irgendwo in der Maschine befindet sich noch ein Komplize des Entführers. Und Bill weiß nicht, wem er vertrauen kann. In 10 000 Meter Höhe entbrennt ein Kampf auf Leben und Tod, während sich die Maschine unaufhaltsam New York nähert …

Autorin

T. J. Newman, eine ehemalige Buchhändlerin und langjährige Flugbegleiterin, arbeitete von 2011 bis 2021 für Virgin America und Alaska Airlines. Sie schrieb einen Großteil ihres Debütromans »Flug 416«, während ihre Passagiere auf Nachtflügen schliefen. Sie lebt in Phoenix, Arizona.

Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Buch unter www.facebook.com/TJNewmanBooks/twitter.com/t_j_newmanwww.instagram.com/tj_author

T. J. Newman____________

Flug 416

Thriller

Aus dem Englischenvon Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Falling« bei Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New YorkDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2022

Copyright © der Originalausgabe 2021 by T. J. Newman

Published by arrangement with the original publisher, Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München, unter Verwendung einer Gestaltung von David Litman © 2021 Avid Reader Press / Simon & Schuster

Umschlagmotiv: Ingo Vogelmann/EyeEm/Getty Images, Malorny/Getty Images

Redaktion: Claudia Alt

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28609-5V002

www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine ElternKen und Denise Newman

Was hat Gott getan!

Viertes Buch Mose, 23,23

In dem Schuh, der auf ihrem Schoß landete, steckte noch ein Fuß.

Sie kreischte und schleuderte ihn weg. Das blutige Etwas schwebte kurz schwerelos in der Luft, bevor es durch das riesige Loch seitlich im Rumpf aus dem Flugzeug gesaugt wurde. Auf dem Boden neben ihrem Sitz kroch eine Flugbegleiterin durch den Gang und schrie die Passagiere an, sie sollten ihre Sauerstoffmasken aufsetzen.

Bill beobachtete das alles aus dem hinteren Bereich des Flugzeugs.

Die Passagierin mit dem Schuh verstand offenbar nicht, was die junge Flugbegleiterin brüllte. Wahrscheinlich hörte sie seit der Explosion überhaupt nichts mehr. Ihr flossen aus beiden Ohren dünne Blutrinnsale.

Die Druckwelle hatte die Flugbegleiterin in die Luft geschleudert, dann war sie mit ihrem braunen Lockenkopf auf dem Boden aufgeschlagen. Sie blieb einen Moment regungslos liegen, bis die Maschine in den Sturzflug ging. Als sie durch den Gang rutschte, streckte sie die Hand nach den Metallsprossen der Passagiersitze aus. Sie bekam eine davon zu fassen, ihr Arm zitterte, als sie versuchte, sich gegen die Abwärtsneigung des Flugzeugs nach oben zu ziehen. Dabei kippte sie zur Seite, und ihre Füße baumelten in der Luft. Überall im Flugzeug flogen Dinge herum, Papier und Kleidungsstücke, ein Laptop, eine Getränkedose. Eine Babydecke. Es war wie inmitten eines Tornados.

Bill folgte dem Blick der Flugbegleiterin durch die Kabine … und sah den Himmel.

Wo sich keine halbe Minute zuvor noch der Notausgang über der Tragfläche befunden hatte, schien jetzt durch ein großes Loch die Sonne herein. Die andere Flugbegleiterin hatte eben noch dort haltgemacht, um Abfall einzusammeln.

Bill hatte die ältere rothaarige Flugbegleiterin lächeln und mit behandschuhter Hand einen leeren Becher in einen Plastiksack werfen sehen – dann, einen explosiven Moment später, war sie weg gewesen. Die ganze Sitzreihe war verschwunden. Die Seite des Flugzeugrumpfs war verschwunden. Bill stellte sich breitbeiniger hin, als die Maschine zu schlingern begann, da sie offenbar keinen geraden Kurs mehr halten konnte. Natürlich, das Seitenruder, dachte er. Wahrscheinlich war das ganze Heck beschädigt.

Über dem Kopf der brünetten Flugbegleiterin gingen mit einem Krachen mehrere Gepäckfächer auf. Gepäckstücke fielen heraus und wurden in der Kabine heftig umhergeschleudert. Ein großer rosafarbener Rollkoffer schoss nach vorn, angesaugt von dem Loch im Rumpf. Auf dem Weg nach draußen prallte er gegen den Rand der Öffnung und riss ein Stück der Außenhaut des Flugzeugs mit. Das Gitterwerk der freigelegten Verstrebungen zeugte von menschlicher Ingenieurskunst vor dem Hintergrund des Himmels. Hinter den schlackernden Kabeln, die gelbe und orangefarbene Funken sprühten, sprenkelten Wolken die Aussicht. Die grelle Sonne ließ Bill blinzeln.

Das Flugzeug nahm wieder eine horizontale Lage ein, worauf es der Flugbegleiterin auf dem Boden gelang, auf alle viere zu kommen. Bill beobachtete, wie sie mit ihrem Körper kämpfte, der sich weigerte, ihr zu gehorchen. Sie schaffte es, ein Bein nach vorn zu ziehen, um dann festzustellen, dass der Knochen aus ihrem Oberschenkel ragte. Sie starrte die blutende Wunde an, kniff ein paarmal die Augen zusammen, dann kroch sie weiter.

»Masken!«, schrie sie, während sie im Gang zum Heck des Flugzeugs robbte. Ihre Stimme war wegen der ohrenbetäubenden Windgeräusche kaum zu hören. Sie sah zu einem Mann hinüber, der nach den Sauerstoffmasken griff. Er erwischte eine davon, doch als er sie aufsetzen wollte, riss der Luftzug sie ihm aus der Hand, und ihre Gummibänder schlackerten wie wild.

Stickiger grauer Nebel füllte die Kabine, zahllose Trümmer wirbelten umher. Eine Metalltrinkflasche flog durch die Luft und traf die kriechende Flugbegleiterin voll im Gesicht. Blut strömte ihr aus der Nase.

»Er ist angeschossen worden! Mein Mann! Hilfe!«

Bill sah zu der Frau, die mit den Fäusten auf den leblosen Torso ihres Mannes eintrommelte. Aus zwei kleinen kreisrunden Löchern auf seiner Stirn strömte es rot über seine Augen und seine Wangen. Die Flugbegleiterin zog sich an der Armlehne hoch und wischte sich die Locken aus dem Gesicht, um ihn sich aus der Nähe anzusehen.

Keine Kugeln. Es handelte sich um Nieten aus dem Flugzeugrumpf.

Das Flugzeug vibrierte heftig, der Boden verwand sich. Bill spürte, wie sich alles unter ihm bewegte. Würde der Rumpf halten? Wie viel Zeit blieb ihnen noch?

Die Flugbegleiterin kroch weiter und setzte die Hand genau in dem Moment in einem dunklen Fleck auf dem Teppichboden ab, als Bill den Urin roch. Die Flugbegleiterin sah zu dem Mann hinauf, der auf dem Gangplatz saß. Er wendete schockiert den Blick ab, während sich die Pfütze zu seinen Füßen ausbreitete.

»Eis«, stöhnte jemand.

Die Flugbegleiterin drehte sich um. Bill beobachtete, wie eine Passagierin auf der anderen Seite des Gangs der jungen Frau die Hände hinstreckte, in denen sie einen Fleischklumpen hielt. Die Flugbegleiterin zuckte zurück. Als sie aufblickte, sah sie, dass Kinn und Hals der Passagierin rot verschmiert waren.

»Eis«, wiederholte sie, und ein Schwall Blut ergoss sich aus ihrem Mund.

Bei dem Klumpen handelte es sich um ihre Zunge.

Bill warf einen Blick über die Schulter zur Rückwand und sah das Kabel des Bordtelefons im Luftzug schlackern, während die Flugbegleiterin darauf zurobbte. Dann richtete er den Blick auf die andere Seite der Bordküche. Die dritte Flugbegleiterin lag neben einem umgekippten Tetra Pak Saft verdreht auf dem Boden. Bill legte den Kopf schräg und beobachtete, wie sich die herausschwappende orangefarbene Flüssigkeit mit der roten Pfütze um ihren Körper vermischte.

Die brünette Flugbegleiterin schleppte sich endlich zum hinteren Ende des Gangs. Unter ihr knirschten Zuckertütchen und Mini-Kaffeesahnebehälter. Sie streckte eine Hand nach vorn, zuckte jedoch zurück.

Ein schwarzes Paar Anzugschuhe versperrte ihr den Weg.

Die Flugbegleiterin sah auf. Sie lag zu Bills Füßen, schwer verletzt und blutüberströmt. Ihr Mund stand offen, aber sie brachte kein Wort heraus. Bills Krawatte flatterte in der Zugluft. Die Triebwerke brüllten sie an, als forderten sie sie auf, etwas – irgendetwas – zu unternehmen.

»Aber … warum …«, stammelte die Flugbegleiterin, den Blick zu Bill hinaufgerichtet. Argwohn stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wer hat die Kontrolle über das Flugzeug, Kapitän Hoffman?«

Bill atmete scharf ein, als wollte er etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Er blickte zur geschlossenen Cockpittür am anderen Ende des Flugzeugs.

Eigentlich hätte er sich hinter dieser Tür befinden sollen.

Bill sprang über die Flugbegleiterin und sprintete durch den Gang in Richtung Cockpit. Er rannte, so schnell er konnte, doch je schneller er lief, desto größer schien die Entfernung zur Tür zu werden. Überall um ihn herum riefen ihm Passagiere zu, flehten ihn an, stehen zu bleiben und ihnen zu helfen. Er rannte weiter. Die Entfernung zur Tür wuchs stetig. Er schloss die Augen.

Dann prallte er ohne Vorwarnung gegen die Tür, stieß mit dem Kopf gegen die undurchdringliche Oberfläche. Taumelte rückwärts, hielt sich den Kopf. Benommen überlegte er, wie er in das verriegelte Cockpit gelangen konnte, doch ihm fiel nichts ein. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, bis seine Finger taub waren.

Schwer atmend ging er einen Schritt zurück, um gegen die Tür zu treten. Dann hörte er ein Klicken.

Die Tür wurde entriegelt und öffnete sich einen Spalt. Bill stürmte ins Cockpit.

Fast überall leuchteten rote und dunkelgelbe Warnlichter. Ein lauter Alarm kreischte unablässig, ein schrilles Geräusch, das von den beengten Platzverhältnissen noch verstärkt wurde. Er setzte sich auf seinen Sitz auf der linken Seite, auf den Sitz des Kapitäns.

Er konnte sich nur schwer auf das Display vor sich konzentrieren, da die heftigen Bewegungen des Flugzeugs die Zahlen durcheinanderwirbelten. Wohin er auch blickte, folgte ihm Rot. Jeder Knopf, jeder Schalter, jedes Display schien ihn anzuschreien.

Durch die Fenster sah er die Erde bedrohlich näher kommen.

Mach dich an die Arbeit, befahl sich Bill.

Seine Hände streckten sich vor ihm aus.

Erstarrten.

Verdammt noch mal, du bist der Kapitän. Du musst eine Entscheidung treffen. Dir läuft die Zeit davon.

Die Alarme wurden lauter. Eine Computerstimme forderte ihn wiederholt auf, die Maschine hochzuziehen.

»Wie wär’s mit asymmetrischem Schub?«

Bill wandte den Kopf. Auf dem Co-Piloten-Sitz saß sein zehnjähriger Sohn Scott. Er trug seinen Schlafanzug mit Planetenmotiv. Seine Füße reichten nicht bis zum Boden.

»Du könntest es doch wenigstens mal versuchen«, fügte der Junge mit einem Achselzucken hinzu.

Bill richtete den Blick wieder auf seine Hände. Seine Finger wollten sich nicht bewegen. Sie verharrten einfach in der Luft.

»Also gut, dann versuch’s auf die harte Tour. Geh in den Sturzflug und richte mithilfe der Geschwindigkeit die Maschine wieder aus.«

Bill drehte erneut den Kopf und sah jetzt seine Frau zurückgelehnt neben sich sitzen. Sie musterte ihn mit verschränkten Armen und einem Schmunzeln. Mit dem Schmunzeln, das sie immer dann zeigte, wenn sie beide wussten, dass sie recht hatte. Sie sah einfach umwerfend aus.

Schweiß lief ihm am Hals hinunter, während er verzweifelt versuchte, sich zu rühren und in Aktion zu treten. Doch er war immer noch vor Angst wie gelähmt. Vor Angst, die falsche Entscheidung zu treffen.

Carrie strich sich das Haar hinters Ohr, beugte sich zu ihrem Mann hinüber und legte ihm die Hand aufs Knie.

»Bill. Es wird Zeit.«

Bill setzte sich abrupt auf und schnappte nach Luft. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen drang Mondlicht und warf einen hellen Streifen auf das Doppelbett. Er sah sich im Zimmer nach blinkenden Warnlichtern um. Er lauschte auf Alarme, hörte aber nur den Hund eines Nachbarn draußen bellen.

Er seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Wieder der gleiche Traum?«, fragte Carrie von der anderen Seite des Bettes.

Er nickte im Dunkeln.

1

Carrie schüttelte die Bettdecke auf und strich sie glatt. Der Geruch von frisch gemähtem Gras lenkte ihren Blick zum offenen Fenster. Der Nachbar auf der anderen Straßenseite wischte sich mit dem Bund seines T-Shirts das Gesicht ab, bevor er den Deckel seiner mit Gras gefüllten Mülltonne geräuschvoll schloss. Er zog die Tonne in den Garten und winkte einem vorbeifahrenden Auto zu. Die laute Musik aus dem Wagen verhallte, als dieser sich entfernte. Hinter Carrie, im Badezimmer, wurde die Dusche abgestellt.

Sie ging aus dem Zimmer.

»Mom, darf ich nach draußen?«

Scott stand mit seinem ferngesteuerten Auto in der Hand am Fuß der Treppe.

»Wo ist denn deine …?«, setzte Carrie an, während sie die Treppe hinunterging.

Elsie kam prustend hereingekrabbelt. Als das Baby bei seinem Bruder anlangte, packte es seine Shorts, zog sich daran hoch, bis es aufrecht stand, und versuchte leicht wackelnd, das Gleichgewicht zu halten.

»Hast du deinen Teller zum Spülbecken gebracht?«

»Hab ich.«

»Also gut, aber nur zehn Minuten. Du kommst wieder rein, bevor Dad geht, okay?«

Der Junge nickte und rannte zur Tür.

»Halt!«, rief Carrie ihm hinterher und setzte sich Elsie auf die Hüfte. »Schuhe.«

Das ungeplante Baby zehn Jahre nach dem ersten Kind war anfangs eine echte Herausforderung gewesen. Doch nachdem die dreiköpfige Familie gelernt hatte, zu viert zu sein, wurde Carrie und Bill bewusst, dass der Altersunterschied auch Vorteile hatte. Der große Bruder konnte das Baby im Auge behalten, wenn Carrie sich anzog oder das Bett machte. Von da an ließ sich vieles leichter bewältigen.

Carrie wischte gerade Süßkartoffel- und Avocadoreste vom Hochstuhl, als sie die Haustür aufgehen hörte.

»Mom?«, rief Scott in leicht verängstigtem Tonfall.

Als sie auf dem Weg zur Tür um die Ecke bog, sah sie Scott zu einem Mann hinaufstarren, den sie nicht kannte. Der Fremde auf der Türschwelle blickte überrascht drein, seine Hand war auf dem Weg zur Türklingel erstarrt.

»Hi«, sagte Carrie und setzte sich das Baby auf die andere Hüfte, während sie sich schützend vor ihren Sohn stellte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin von CalCom«, sagte der Mann. »Sie haben wegen Ihres Internets angerufen?«

»Ach!«, rief Carrie aus und machte die Tür weiter auf. »Natürlich, kommen Sie doch rein.« Ihre erste Reaktion war ihr unangenehm, sie hoffte, dass es dem Mann nicht aufgefallen war. »Entschuldigung, ich habe noch nie erlebt, dass ein Techniker pünktlich kommt, geschweige denn zu früh. Scott!«, rief sie ihrem Sohn hinterher, der sich am Ende der Einfahrt umdrehte. »Zehn Minuten.«

Der Junge nickte und lief davon.

»Ich bin Carrie«, sagte sie, als sie die Tür schloss.

Der Techniker stellte seine Werkzeugtasche im Eingangsbereich ab, und Carrie beobachtete, wie er sich im Wohnzimmer umsah. Hohe Decken und eine Treppe ins erste Obergeschoss. Geschmackvolle Möbel und frische Blumen auf dem Couchtisch. Auf dem Kaminsims Fotos aus einem Zeitraum von mehreren Jahren, die neuesten davon bei Sonnenuntergang am Strand gemacht. Scott war eine Miniaturausgabe von Carrie: Das identisch schokoladenbraune Haar der beiden wehte in der Meeresbrise, mit einem breiten Lächeln kniffen sie ihre grünen Augen zusammen. Bill, über einen Kopf größer als Carrie, mit der damals neugeborenen Elsie auf dem Arm, deren schneeweiße Babyhaut in starkem Kontrast zu seiner südkalifornischen Bräune stand. Der Techniker drehte sich mit einem schmalen Lächeln um.

»Sam«, sagte er.

»Sam«, entgegnete Carrie und erwiderte das Lächeln, »kann ich Ihnen was zu trinken anbieten, bevor Sie loslegen? Ich wollte mir gerade eine Tasse Tee machen.«

»Tee wäre prima. Danke.«

Sie führte ihn durch die lichtdurchflutete Küche in ein mit Spielzeug übersätes zweites Wohnzimmer.

»Danke, dass Sie am Samstag kommen.« Carrie setzte Elsie wieder in den Hochstuhl. Das Baby hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch und zeigte lachend seine wenigen Zähnchen. »Das war der einzige Termin für Wochen.«

»Ja, wir haben ziemlich viel zu tun. Wie lange funktioniert Ihr Internet schon nicht?«

»Seit vorgestern«, sagte sie und füllte den Wasserkocher. »Schwarzen oder grünen Tee?«

»Schwarzen, bitte.«

»Ist das normal, dass nur wir in unserem Haus Probleme haben?«, wollte Carrie wissen. »Ich habe ein paar Nachbarn gefragt, die auch bei CalCom sind, und bei ihnen ist alles in Ordnung.«

Sam zuckte mit den Schultern. »Das kommt vor. Vielleicht liegt es an Ihrem Router, vielleicht an der Leitung. Ich seh mir das mal an.«

Aus dem vorderen Wohnzimmer waren schwere Schritte zu hören, die die Treppe herunterkamen. Carrie waren die nun folgenden Geräusche nur allzu vertraut: ein Koffer und eine Kuriertasche, die an der Haustür abgestellt wurden, dann Schuhe mit harter Sohle, die den Flur durchquerten. Ein paar Schritte, und er stand in der Küche: polierte schwarze Anzugschuhe, akkurat gebügelte Hose, Anzugjacke und Krawatte. Über seiner Brusttasche prangte eine Pilotenschwinge, darunter stand in dicken Buchstaben BILL HOFFMAN. Eine dazu passende Schwinge schmückte die goldbesetzte Pilotenmütze, die er behutsam auf die Küchenarbeitsplatte legte. Sein Eintreten wirkte seltsam dramatisch, und Carrie stellte fest, in welchem Kontrast seine autoritäre Aura zu der Atmosphäre im Haus stand. Bislang war ihr das noch nie aufgefallen – schließlich trug er seine Uniform nicht beim Abendessen. Und wahrscheinlich lag es nur daran, dass sich eine fremde Person im Zimmer aufhielt, ein Mann, der ihn nicht kannte, der ihre Familie nicht kannte. Aus welchem Grund auch immer, heute war es nicht zu übersehen.

Bill nickte dem Techniker freundlich zu, ehe er Carrie seine Aufmerksamkeit schenkte.

Sie erwiderte seinen Blick mit zusammengekniffenen Lippen und verschränkten Armen.

»Sam, würden Sie uns bitte …?«

»Ja, ich, ähm, bereite schon mal alles vor«, sagte Sam zu Carrie und ließ die beiden allein.

Die Wanduhr zählte tickend die Sekunden. Die kleine Elsie klopfte mit ihrem speicheltriefenden Beißring so lange auf die Ablage des Hochstuhls, bis er ihr aus den Fingern rutschte und zu Boden fiel. Bill durchquerte die Küche, hob ihn auf, wusch ihn im Spülbecken und trocknete ihn mit einem Geschirrtuch, dann drückte er ihn seiner Tochter in die begierigen Hände. Hinter Carrie fing der Teekessel leise an zu pfeifen.

»Ich ruf dich über FaceTime an, wenn ich im Hotel bin, weil ich wissen will, wie das Spiel …«

»New York, oder?«, fiel Carrie ihm ins Wort.

Bill nickte. »Heute Abend New York, morgen Portland …«

»Nach dem Spiel findet eine Pizzaparty für das Team statt. Bei den drei Stunden Zeitverschiebung schläfst du bestimmt schon, wenn wir nach Hause kommen.«

»Okay, dann melde ich mich gleich morgen …«

»Wir treffen uns morgen Vormittag mit meiner Schwester und den Kids«, sagte sie. »Also mal sehen.«

Bill holte tief Luft und richtete sich auf, wobei sich die vier goldfarbenen Streifen auf seinen Schulterklappen mit seinen Schultern hoben. »Du weißt doch, dass ich nicht absagen konnte. Wenn mich irgendjemand anders gebeten hätte, dann hätte ich es getan.«

Carrie starrte auf den Fußboden. Der Teekessel fing an zu schrillen, sie schaltete die Flamme aus. Der Lärm verstummte langsam, bis abermals nur das Ticken der Wanduhr zu hören war.

Bill warf einen Blick auf die Uhr und fluchte leise. Er küsste seine Tochter auf den Kopf, dann sagte er: »Ich komme noch zu spät.«

»Du bist noch nie zu spät gekommen«, entgegnete Carrie.

Er setzte seine Mütze auf. »Ich ruf dich an, wenn ich eingecheckt habe. Wo ist Scott?«

»Draußen. Spielen. Er kommt jeden Moment rein, um Tschüs zu sagen.«

Das war ein Test, und Carrie wusste, dass Bill sich dessen bewusst war. Sie starrte ihn von der anderen Seite der unausgesprochenen Grenze an, die sie gezogen hatte. Er sah auf die Wanduhr.

»Wir sprechen uns vor dem Start«, sagte Bill und ging aus dem Zimmer.

Carrie sah ihm hinterher.

Die Eingangstür ging auf und kurz darauf wieder zu, und im Haus kehrte Stille ein. Carrie wandte sich zum Spülbecken und betrachtete das Laub der Eiche im Garten, das in der Brise flatterte. Sie hörte, wie Bill seinen Wagen anließ und wegfuhr.

Hinter ihr ertönte ein Räuspern. Sie wischte sich hastig übers Gesicht und drehte sich um.

»Tut mir leid wegen gerade eben«, sagte sie zu Sam und verdrehte verlegen die Augen. »Egal. Sie sagten schwarzen Tee.« Sie riss die Verpackung eines Teebeutels auf und hängte ihn in eine Tasse. Aus dem Teekessel stieg Dampf auf, als sie heißes Wasser in die Tasse goss. »Möchten Sie Milch und Zucker?«

Als er nicht antwortete, drehte sie sich um.

Ihre Reaktion schien ihn zu überraschen. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass sie schreien würde. Dass sie vielleicht die Tasse fallen lassen würde. Dass sie anfangen würde zu weinen, wer weiß. Irgendein Drama hatte er bestimmt erwartet. Wenn sich eine Frau zu Hause in ihrer eigenen Küche umdrehte und sah, dass ein Mann, den sie erst seit ein paar Minuten kannte, eine Pistole auf sie richtete, war eine heftige Reaktion nur natürlich. Carrie hatte gespürt, wie sich ihre Augen reflexartig weiteten, als müsste ihr Gehirn mehr von dem Geschehen aufnehmen, um zu bestätigen, dass es tatsächlich stattfand.

Er kniff die Augen zusammen, als wollte er sagen: Im Ernst?

Carries Herz pochte in ihren Ohren, während ein kühles Taubheitsgefühl an ihrer Wirbelsäule hinunter bis in ihre Kniekehlen wanderte. Es fühlte sich an, als wäre ihr ganzer Körper, ihre ganze Existenz, auf dieses Kribbeln reduziert.

Doch das ging nur sie etwas an. Sie ignorierte die Pistole, konzentrierte sich stattdessen auf ihn und ließ sich nichts anmerken.

Elsie verzog den Mund, krähte und warf ihren Beißring mit einem Kreischen wieder auf den Fußboden. Sam machte einen Schritt auf das Baby zu. Carrie spürte, wie sich ihr unwillkürlich die Nasenflügel blähten.

»Sam«, sagte sie ruhig. »Ich weiß nicht, was Sie wollen, aber es gehört Ihnen. Alles. Ich tue alles. Aber bitte« – ihr versagte die Stimme – »bitte tun Sie meinen Kindern nichts.«

Die Haustür ging auf und knallte wieder zu. Panik stieg in Carrie auf, und sie holte Luft, um zu schreien. Sam entsicherte die Pistole.

»Ist Dad schon weg, Mom?«, rief Scott aus dem anderen Zimmer. »Sein Auto steht nicht mehr da. Darf ich weiterspielen?«

»Sagen Sie ihm, er soll reinkommen«, forderte Sam sie auf.

Carrie biss sich auf die Unterlippe.

»Mom?«, wiederholte Scott mit kindlicher Ungeduld.

»Hier bin ich«, sagte Carrie und machte die Augen zu. »Komm schnell her, Scott.«

»Darf ich draußen bleiben, Mom? Du hast doch gesagt, ich könnte …« Scott erstarrte. Sein Blick ging hektisch zwischen seiner Mutter und der Pistole hin und her.

»Scott«, sagte Carrie und winkte ihn zu sich. Der Junge ließ die Waffe nicht aus den Augen, als er durch die Küche zu ihr ging. Sie stellte sich bewusst vor ihn.

»Ihren Kindern wird nichts passieren«, sagte Sam. »Oder vielleicht doch. Aber das hängt nicht von mir ab.«

Abermals blähten sich Carries Nasenflügel. »Von wem dann?«

Sam lächelte.

Bill spürte die Blicke der Leute auf sich.

Der Grund dafür war die Uniform. Sie hatte diesen Effekt. Er wirkte darin größer.

Bill war vieles, aber alle, die ihn kannten, schienen sich einig zu sein, dass er vor allen Dingen nett war. Seine ehemaligen Lehrer und Ausbilder, seine Ex-Freundinnen und die Eltern seiner Freunde – sie alle hielten Bill für einen netten Kerl. Nicht dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Er war nett. Aber wenn er in seine Uniform schlüpfte, veränderte sich etwas. Nett war dann nicht mehr die Haupteigenschaft.

Passagiere hoben den Kopf, als er an der endlos langen Schlange vor der Sicherheitskontrolle am Los Angeles International Airport vorbeiging, doch es bedurfte nur eines kurzen Blickes auf seine Mütze und seine Krawatte, bis sich ihre Verärgerung in Neugier verwandelte. Heutzutage kleidete sich niemand mehr so. Es handelte sich um ein Relikt aus einer Zeit, als Flugreisen noch ein seltenes Privileg waren, ein besonderes Ereignis. Absichtlich unverändert, hielt die Uniform einen gewissen antiquierten Zauber am Leben. Sie rief Respekt hervor. Sie strahlte Pflichtbewusstsein aus.

Bill näherte sich der Mitarbeiterin der Transportsicherheitsbehörde, die allein auf einem kleinen Podium saß, das sich in diskretem Abstand zur Sicherheitskontrolle für die Passagiere befand. Das Gerät piepste, als es den Barcode auf der Rückseite seines Dienstausweises scannte, und der Computer trat in Aktion.

»Morgen«, sagte Bill und reichte der Frau seinen Pass.

»Ist es noch Morgen?«, fragte sie, während sie die Angaben neben seinem Foto studierte. Sie verglich sie mit den Angaben auf seinem Dienstausweis und hielt den Pass unter ein blaues Licht, worauf im unbedruckten Bereich des Dokuments Hologramme und eine verborgene Schrift erschienen. Sie blickte auf, um sich zu vergewissern, dass das Gesicht vor ihr mit dem auf den Ausweisen übereinstimmte.

»Streng genommen wahrscheinlich nicht mehr«, entgegnete Bill. »Aber für mich ist es noch Morgen.«

»Also, für mich ist heute Freitag, deshalb soll sich der Tag beeilen.«

Auf dem Computerbildschirm erschienen das Foto und die Angaben von Bills Dienstausweis. Nachdem die Frau alle drei Identifikationsnachweise dreimal geprüft hatte, gab sie ihm seinen Pass zurück.

»Guten Flug, Mr Hoffman.«

Er entfernte sich von der Sicherheitskontrolle für das Flugpersonal und ging an den Passagieren vorbei, die ihre Schuhe wieder anzogen und Flüssigkeiten und Laptops in ihrem Handgepäck verstauten. Bei seinem letzten Trip war Bill mit einer Flugbegleiterin geflogen, die partout nicht in den Ruhestand gehen wollte, weil sie auf gar keinen Fall auf ihre Mitarbeiter-Sicherheitsfreigabe verzichten wollte. Sie rümpfte die Nase über die Vorstellung, wie eine Normalsterbliche reisen zu müssen: Schlange stehen, Flüssigkeitsbeschränkungen, nur zwei Handgepäckstücke, die jedes Mal durchsucht werden, nicht nur hin und wieder stichprobenartig. Als Bill beobachtete, wie ein Mann in Socken von Kopf bis Fuß abgetastet wurde, musste er ihr im Stillen recht geben.

Bill zog sich an ein unbesetztes Gate zurück und rief wie versprochen zu Hause an. Er sah zu, wie draußen unter ihm auf dem Rollfeld ein Cateringfahrzeug hin und her fuhr und Gepäckabfertiger in gelben Neonwesten den Frachtraum eines Flugzeugs ent- und beluden, während er dem Läuten am anderen Ende der Leitung lauschte. Eine Maschine rollte in Richtung Startbahn, in der Ferne hob eine andere ab.

Carrie und er stritten sich nicht oft. Deshalb waren sie so schlecht darin, wenn es mal dazu kam. Sie hatte allen Grund, sauer zu sein. Scott hatte heute sein Saisoneröffnungsspiel in der Little League, und Bill hatte ihm versprochen, dabei zu sein. Er hatte sichergestellt, dass er am Tag des Spiels sowie am Tag davor und am Tag danach nicht fliegen musste. Aber wenn der Chefpilot anrief und einen bat, ihm einen Gefallen zu tun und einen Flug zu übernehmen, sagte man nicht Nein. Dann konnte man einfach nicht Nein sagen. Bill war der drittdienstälteste Pilot. Als er angefangen hatte, war sich niemand sicher gewesen, ob die Fluggesellschaft überhaupt Fuß fassen würde. Neu gegründeten Airlines gelang das fast nie. Er hatte ihr trotzdem die Stange gehalten. Und jetzt, beinahe fünfundzwanzig Jahre später, war die Fluggesellschaft sowohl bei Passagieren als auch bei Aktionären ein Riesenerfolg. Coastal war sein Baby. Wenn der Boss einem also sagte, das Unternehmen bräuchte einen, dann sagte man Ja. Nein zu sagen kam einfach nicht infrage.

Genau das hatte er Carrie erklärt. Allerdings hatte er ihr nicht gesagt, dass er überhaupt nicht an Scotts Spiel gedacht hatte, als O’Malley sich erkundigt hatte, ob er verfügbar sei. Und er hatte ihr auch nicht gesagt, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er daran gedacht hätte.

Das Telefon läutete und läutete, bis sich schließlich die Mailbox meldete: »Hi! Hier ist Carrie. Ich kann Ihren Anruf gerade …« Er legte auf und sah ein Familienfoto auf dem Display seines Telefons erscheinen, bevor er es in die Tasche steckte.

Bills Blick fiel auf sein Spiegelbild im Fenster, und er betrachtete sein volles dunkles Haar. Ein verräterisches Grau sprenkelte seine Schläfen. Seine Augen waren tiefblau.

Bill schlug auf die Klingel, die in der Mitte des Couchtischs stand.

»Augen. Meine Augen.«

»Ist das deine endgültige Antwort? Es geht ums Ganze.«

»Sie hat gesagt, sie wären wie ein See in der Nacht, durch den man schwimmt. Wenn man den Grund nicht sehen kann. Aber das macht den Reiz aus. Also, ja. Meine Augen. Endgültige Antwort.«

Carrie verschlug es die Sprache.

Bill beugte sich vor. Er roch seine eigene Bierfahne. »Das hab ich dich mal am Telefon zu einer Freundin sagen hören. Ich hab es dir aber nie erzählt. Ich liebe dich so sehr, Schatz.« Er warf Carrie eine Kusshand zu.

Die Frauen jubelten, die Männer spöttelten.

»Also gut, Carrie«, sagte die Gastgeberin der Party. »Seine Augen. War das auch deine Antwort auf die Frage, was dir an deinem Mann am besten gefällt?«

Ihre Wangen liefen rot an. Sie hielt kichernd ein Blatt Papier hoch, auf das sie ihre Antwort geschrieben hatte: sein Po.

Alle brachen in Gelächter aus. Bill lachte am lautesten von allen.

Er rückte seine Krawatte zurecht. Ich bin ein guter Mensch, rief er sich in Erinnerung. Vor seinem inneren Auge tauchte Carries enttäuschter Gesichtsausdruck auf, als er aus der Küche gegangen war. Er kniff kurz die Augen zu, dann wandte er den Blick ab und sah der startenden Maschine hinterher.

2

Bill trat von den Stufen der Fluggastbrücke auf die Rollbahn, schirmte mit der Hand die Augen ab. Herbstlaub und Morgenfrost hatten sich fast im ganzen Land breitgemacht, doch in Los Angeles herrschte endloser Sommer.

Der Rundgang, die übliche Flugzeuginspektion vor jedem Start: das Flugzeug von allen Seiten in Augenschein nehmen und nach Unregelmäßigkeiten, nach Anzeichen für Beschädigungen am Rumpf und anderen mechanischen Problemen Ausschau halten. Für die meisten Piloten handelte es sich dabei lediglich um eine weitere Vorschrift der Bundesluftfahrtbehörde. Für Bill war es wie ein religiöses Ritual. Er legte die Hand auf die Triebwerksverkleidung und schloss die Augen. Dann atmete er langsam ein und wieder aus, spreizte die Finger, und das durch die Berührung gewärmte Metall und die Hand hielten Zwiesprache.

Nächsten Monat war Bills achtzehnter Geburtstag, doch an jenem Tag in der Flugschule war er sich darüber im Klaren, dass ihm ein wichtigerer Übergangsritus bevorstand.

»Weißt du, warum wir ›Seelen an Bord‹ anstatt ›Menschen an Bord‹ schreiben, wenn wir den Flugplan erstellen?«, fragte ihn sein Fluglehrer.

Bill schüttelte den Kopf.

»Wir tun das, damit im Fall eines Absturzes klar ist, nach wie vielen Leichen zu suchen ist«, erklärte er. »Das verhindert Missverständnisse bei Bezeichnungen wie Passagiere, Crew oder Kinder. Es geht nur darum, wie viele Leichen, mein Junge. Mehr braucht man nicht zu wissen. Ach«, er schnippte mit den Fingern, »und manchmal werden im Frachtraum auch Verstorbene transportiert, deshalb muss klar sein, dass sie nicht mitgezählt werden. Also, nachdem man die Anzahl der Seelen eingetragen hat …«

Bill konnte in jener Nacht nicht schlafen. Er lag auf dem Rücken, starrte an die Decke, wo sich der Ventilator drehte, und lauschte dem leisen Schnarchen seines kleinen Bruders auf der anderen Seite des Zimmers. Die cremefarbenen Vorhänge und die warme Illinois-Sommerbrise flirteten am offenen Fenster miteinander und ließen wellige Schatten an der Wand tanzen.

Während das Zimmer noch in Dunkelheit getaucht war, zog Bill sich an, schlüpfte aus dem Haus und fuhr mit dem Fahrrad an den Maisfeldern vorbei zu dem winzigen Flugplatz der Kleinstadt. Auf der Rollbahn standen zwei Flugzeuge. In der Ferne ragte der Kontrollturm empor, leer und still. Bei den Maschinen handelte es sich um Leichtflugzeuge wie die, mit denen er das Fliegen lernte. Wie die, aus denen er herauswachsen und die er gegen schwerere Maschinen mit größeren Triebwerken und höheren Nutzlasten eintauschen würde. Bill stand lange Zeit gegen den Zaun gelehnt da und starrte sie an.

Oder starrten sie ihn an und taxierten ihn? Als die Sterne verblassten und die Morgendämmerung mit pink- und orangefarbenen Streifen anbrach, fühlte es sich an, als hätten die Zweifel die Seiten gewechselt.

Würde er die Last der Verantwortung schultern können? Konnte er der Mann sein, den der Job erforderte?

Alles machte einen guten Eindruck. Frisches Reifenprofil, abgeschmiertes Fahrwerk, richtig positionierte Sensoren, keine Brüche, keine Risse. Bill erhaschte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und machte ein paar Schritte unter dem Flugzeug hervor. Oben im Cockpit beugte sich sein Co-Pilot Ben Miro vor, winkte ihm zu und gab ihm damit zu verstehen, dass er angekommen war. Bills Lächeln verschwand, als der junge Mann seine Yankees-Baseballmütze ans Fenster hielt. Bill schüttelte mit angewidertem Gesichtsausdruck den Kopf. Ben grinste und zeigte dem Kapitän den Mittelfinger.

Nachdem der Rundgang beendet war, stieg Bill die Stufen zur Fluggastbrücke hinauf und blickte noch einmal zurück zu seiner Maschine. Das rot-weiße Coastal-Airways-Logo auf dem Heck des Airbus A320 erfüllte ihn mit Stolz – und dann fiel ihm Carrie ein. Er tippte den Sicherheitscode der Tür ein und sah auf seinem Handy nach.

Keine verpassten Nachrichten. Keine verpassten Anrufe.

Die Tür ging hinter Bill zu, seine Augen stellten sich auf das Neonlicht ein. Er stolperte über die Tasche eines Passagiers und entschuldigte sich mit einem überraschten Lachen. Der Mann blickte finster auf ihn herab – was bemerkenswert war, da Bill selbst über einen Meter neunzig groß war. Als er sich an dem Mann vorbeischob, musterte dieser seine Uniform von oben bis unten und bedachte ihn mit einem schmalen Lächeln.

Die Passagiere standen in einer Schlange auf der Fluggastbrücke, und Bill manövrierte sich mit einem freundlichen Lächeln zwischen den Koffern und Kinderwagen hindurch. Schließlich ging er an Bord und warf im Flugzeug einen Blick nach hinten. In der Kabine war die pinkfarben-violette Stimmungsbeleuchtung eingeschaltet, die für die kultige Nachtklubatmosphäre der hippen Fluggesellschaft sorgte.

»Ich denke, wir beginnen mit dem Boarding«, sagte er zu der Flugbegleiterin, die sich auf die Zehenspitzen stellte, um in eines der Fächer der Bordküche zu greifen. Jo drehte sich um, ihre Augen leuchteten überrascht. Als Bill sich zu der zierlichen Frau mittleren Alters hinunterbeugte und sie umarmte, kitzelten ihn ihre weichen schwarzen Locken an der Wange, und von ihrer dunkelbraunen Haut stieg ein vertrauter Vanilleduft auf.

»Ich liebe diesen Duft«, sagte Jo. »Wie schon meine Mutter und meine Großmutter. Wenn ein Watkins-Mädchen dreizehn wird, versammeln sich alle Frauen der Familie, um mit ihr zu feiern. Männer dürfen nicht dabei sein, nur die Frauen. Wir setzen uns in die Küche. Wir unterhalten uns, wir kochen, wir … spüren die Generationen von Frauen.«

Ihre Art und Weise zu sprechen klang wie Musik. Bill erfreute sich an jedem in die Länge gezogenen Vokal, lauschte gebannt dem singenden Tonfall und den unvorhersehbaren Wortbetonungen. Er fragte sie oft nach ihrer Kindheit, weil er es so gerne hörte, wenn ihr verblasster osttexanischer Dialekt stärker wurde, was immer der Fall war, wenn sie über ihre Vergangenheit sprach. Bill trank sein Bier aus und signalisierte dem Barkeeper, dass sie noch eine Runde wollten.

»Ich werde nie vergessen, wie mir meine Urgroßmutter eine Dr.-Pepper-Flasche aus der Hand nahm und sie auf die Küchenarbeitsplatte stellte«, erinnerte sich Jo und lächelte in ihr Weinglas, als spielte sich dort die Erinnerung ab. »Mein Gott, die Hände dieser Frau. Sie war nicht groß, aber ihre Hände …

Jedenfalls sagte sie kein Wort, sie überreichte mir nur eine glänzende goldfarbene Schachtel mit einer königsblauen Schleife. Ich wusste, worum es sich handelte, wir alle wussten es. Ich erinnere mich, dass ich die Schleife ganz vorsichtig herunterschob, und dann machte ich die Schachtel auf, und da war er: mein eigener Flakon Shalimar. Ich roch es. Es roch nach meiner Mutter. Und nach meiner Großmutter. Es roch nach dem, was ich war, und nach der, zu der ich werden würde.«

»Wusste gar nicht, dass du heute mit dabei bist«, sagte Jo.

»Ich habe gestern Abend spontan zugesagt. Sie hatten keinen in Reserve, deshalb hat O’Malley mich gebeten einzuspringen.«

»Sieh einer an, du im Kurzwahlspeicher des Chefpiloten«, sagte sie, während sie unentwegt die einsteigenden Passagiere anlächelte.

»Genau, dir ist klar, was das bedeutet. Würdest du es Carrie bitte erklären?«

Jo zog eine Augenbraue hoch. »Na ja, das kommt drauf an. Was lässt du denn sausen, um hier sein zu können?«

»Scotts Little-League-Saisoneröffnungsspiel. Obwohl ich ihm versprochen habe zuzuschauen.«

Jo schnitt eine Grimasse.

»Ich weiß«, sagte Bill. »Aber was hätte ich machen sollen? Außerdem bin ich doch als Vater nicht ständig abwesend. Wenn ich zu Hause bin, dann bin ich wirklich zu Hause. Ich bin anwesend, ich bin da. Aber ich habe nun mal einen Job, der es mit sich bringt, dass ich weg bin, wenn ich arbeite. Ich werde es wiedergutmachen bei ihm, wenn ich zurück bin.«

Er wartete auf irgendeine Bestätigung, doch Jo fuhr damit fort, für die erste Klasse Getränke vor dem Abflug einzuschenken. Nach einer Weile blickte sie auf.

»Oh, tut mir leid, hast du noch mit mir gesprochen? Für mich hat es geklungen, als würdest du das alles deiner Frau erklären. Oder deinem Sohn. Oder … dir selbst.« Sie hob das Tablett mit den Getränken hoch. »Du liegst zwar nicht falsch, mein Lieber, aber du sprichst mit der Falschen darüber.«

Jo hatte recht. Jo hatte immer recht.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie über die Schulter, als sie ging, um die Getränke zu servieren.

»Komm schon, die Antwort darauf kennst du doch.« Bill duckte sich und betrat das Cockpit.

»Hey, Boss!«, sagte Ben. Die beiden Männer gaben sich die Hand, als Bill auf dem linken Sitz Platz nahm. Fast alle Oberflächen in dem beengten Raum waren mit schwarzen und grauen Knöpfen und Schaltern übersät. Hin und wieder ein rotes Leuchten oder ein gelbes Blinken. Diese Lämpchen waren Überbringer schlechter Nachrichten – die ungebetenen Gäste auf einem ruhigen Flug.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, sagte Ben. »Ein Scheißverkehr in L.A., sogar samstags.«

»So was kommt vor«, entgegnete Bill. Er griff nach dem Handmikrofon in einer Halterung links neben seinem Sitz und räusperte sich. »Guten Tag, Ladys und Gentlemen, willkommen an Bord des Coastal-Airways-Direktflugs vier-eins-sechs zum John F. Kennedy International Airport in New York. Mein Name ist Bill Hoffman, und ich habe das Privileg, bei diesem Flug Ihr Kapitän zu sein. Neben mir im Cockpit sitzt mein Co-Pilot Ben Miro, dazu haben wir eine tolle Bordbesatzung, die Sie in der Kabine bedient und immer um Ihre Sicherheit bemüht ist. Jo ist für den vorderen Bereich zuständig, Michael und Kellie sind auf den hinteren Reihen für Sie da. Die Flugdauer beträgt heute fünf Stunden und vierundzwanzig Minuten, und wir erwarten einen ruhigen Flug. Zögern Sie nicht, uns wissen zu lassen, wenn wir irgendetwas tun können, um Ihnen den Flug noch angenehmer zu gestalten. Lehnen Sie sich zurück, genießen Sie das im Sitz integrierte Entertainment-System, und wie immer: Vielen Dank, dass Sie sich für Coastal Airways entschieden haben.«

...Ende der Leseprobe
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LeseprobeSteve CavanaghZu wenig Zeit zum SterbenThrillerEddie-Flynn-ReiheGoldmann VerlagHier geht’s zum Shop

Buch

Vor über einem Jahr hat der Strafverteidiger Eddie Flynn vor Gericht einen folgenschweren Fehler begangen – und sich danach geschworen, niemals mehr einen Fall zu übernehmen. Doch nun muss er Olek Volchek, den berüchtigten Paten der New Yorker Russenmafia, gegen eine Mordanklage verteidigen. Volchek droht, Eddies Tochter Amy umzubringen, falls er sich weigert. Und so bleiben ihm nur 48 Stunden Zeit, um das Unmögliche zu schaffen: die Geschworenen von der Unschuld seines schuldigen Mandanten zu überzeugen, das Leben seiner Tochter zu retten – und Volchek für immer aus dem Verkehr zu ziehen …

Autor

Steve Cavanagh wuchs in Belfast auf und studierte in Dublin Jura. Er arbeitete in diversen Jobs, bevor er eine Stelle bei einer großen Anwaltskanzlei in Belfast ergatterte und als Bürgerrechtsanwalt bekannt wurde. Mittlerweile konzentriert er sich auf seine Arbeit als Autor. Seine Thrillerserie um Eddie Flynn machte ihn zu einem der international erfolgreichsten Spannungsautoren.

Mehr Informationen zum Autor und seinen Büchern unter www.stevecavanaghauthor.com.

Von Steve Cavanagh bei Goldmann lieferbar

Zu wenig Zeit zum Sterben. (Eddie Flynn 1)

Gegen alle Regeln. (Eddie Flynn 2)

Thirteen. Thriller (Eddie Flynn 4)

Fifty-Fifty. Thriller (Eddie Flynn 5)

STEVE CAVANAGH

ZU WENIG ZIT ZUM STERBEN

Der erste Fall für Eddie Flynn

Thriller

Aus dem Englischen von Fred Kinzel

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Überarbeitete Neuausgabe Januar 2023

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Steve Cavanagh

Copyright © der deutschsprachigen

Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München,

nach einem Entwurf von Head Design/Orionbooks

Covermotive: shutterstock

Überarbeitung: Regina Carstensen

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-30054-8V002www.goldmann-verlag.de

Für Bridie und Sam

»Erst das Urteil, der Ausspruch der Geschworenen nachher.«

Aus Alice im Wunderland von Lewis Carroll

KAPITEL EINS

»Tun Sie genau, was ich sage, oder ich jage Ihnen eine Kugel in den Rücken.«

Ein Mann, osteuropäischer Akzent. Ich entdeckte keine Spur von Nervosität, der Ton ruhig und gemessen. Keine Drohung; eher eine Feststellung: Kooperierte ich nicht, würde er mich erschießen.

Ich spürte, wie mir eine Handfeuerwaffe ins Kreuz gedrückt wurde. Instinktiv überlegte ich, mich gegen die Waffe zu lehnen und gleichzeitig blitzschnell nach links zu drehen, um den Schuss von mir wegzulenken. Der Kerl war vermutlich Rechtshänder, was bedeutete, dass er links ungeschützt war. Ich konnte ihm beim Umdrehen den Ellbogen ins Gesicht rammen und hätte genügend Zeit, ihm das Handgelenk zu brechen, die Waffe abzunehmen und gegen seinen Kopf zu drücken. Alte Instinkte. Aber der Typ, der so etwas beherrscht hatte, existierte nicht mehr. Ich hatte ihn zusammen mit meiner Vergangenheit begraben. Ich war nachlässig geworden. So ist das, wenn man anständig wird.

Durch den zu geringen Druck hörte das Wasser auf, in das Porzellanbecken zu plätschern. Ich merkte, wie ich zitterte, als ich die nassen Hände nach oben hielt.

»Das ist nicht nötig, Mr Flynn.«

Er wusste, wer ich war. Ich umfasste das Waschbecken mit beiden Händen, hob den Kopf und sah in den Spiegel. Ich hatte den Kerl noch nie gesehen. Hochgewachsen, schlank, brauner Mantel über einem anthrazitfarbenen Anzug. Sein Schädel war kahl rasiert, und eine Narbe lief unterhalb des linken Auges zum Kiefer hinab. Er drückte die Waffe erneut in meinen Rücken. »Ich folge Ihnen beim Verlassen der Toilette. Sie ziehen Ihren Mantel an, bezahlen Ihr Frühstück, und dann gehen wir gemeinsam nach draußen. Wir werden uns dabei unterhalten. Wenn Sie tun, was ich sage, geschieht Ihnen nichts. Wenn nicht, sind Sie tot.«

Kontrollierter Augenkontakt. Keine hektischen Flecken im Gesicht oder am Hals, keine unwillkürlichen Bewegungen. Dem Mann war keine Emotion anzumerken. Ich erkannte einen Gauner, wenn ich einen sah. Der Blick verriet ihn. Ich hatte ihn lange genug selbst draufgehabt. Aber der Kerl hier war kein Gauner. Er war ein Killer. Doch er war nicht der Erste, der mich bedrohte, und ich wusste, dass ich das letzte Mal davongekommen war, weil ich mein Hirn eingeschaltet hatte, statt in Panik zu geraten.

»Gehen wir«, sagte er.

Er trat einen Schritt zurück und hielt die Waffe in die Höhe, damit ich sie im Spiegel sehen konnte. Ein kurzläufiger silberfarbener Revolver. Ich hatte sofort gewusst, dass die Drohung ernst war, aber als ich diese Waffe im Spiegel sah, verspürte ich Furcht. Meine Brust zog sich zusammen, und mein Herz begann zu rasen. Ich war zu lange aus dem Spiel. Es würde auch gehen müssen, indem ich mein Hirn einschaltete und in Panik geriet. Der Revolver verschwand in seiner Manteltasche, und der Mann deutete zur Tür. Die Unterhaltung schien vorbei zu sein.

»Okay«, sagte ich.

Zwei Jahre Jurastudium, zweieinhalb Jahre als Angestellter bei einem Richter und fast neun Jahre als praktizierender Anwalt, und alles, was ich herausbrachte, war okay. Ich wischte mir die seifigen Hände an der Hose ab und fuhr mit den Fingern durch das schmutzig blonde Haar. Der Killer folgte mir aus der Toilette und durch den inzwischen leeren Diner. Ich zog meinen Mantel an, schob einen Fünfdollarschein unter die Kaffeetasse und ging zur Tür. Der Mann mit der Narbe folgte mir in kurzem Abstand.

Ted’s Diner war mein Lieblingsort, um nachzudenken. Ich weiß nicht, wie viele Verteidigungsstrategien ich dort schon ausgearbeitet habe, nachdem ich medizinische Unterlagen, Fotos von Schusswunden und juristische Dokumente voller Kaffeeflecken auf einem der Tische ausgebreitet hatte. Früher hätte ich nicht jeden Tag am selben Ort gefrühstückt. Viel zu riskant. In meinem neuen Leben genoss ich die Routine eines Frühstücks bei Ted. Ich war entspannt und hatte aufgehört, ständig über die Schulter zu schauen. Ein Jammer. An diesem Morgen hätte es nicht geschadet, auf der Hut zu sein. Vielleicht hätte ich ihn kommen sehen.

Aus dem Diner ins Herz der Stadt hinauszutreten, vermittelte mir ein Gefühl der Sicherheit. Auf dem Gehweg wimmelte es an diesem Montagmorgen von Berufstätigen auf dem Weg zur Arbeit, und das Pflaster unter meinen Füßen hatte etwas Beruhigendes. Der Kerl würde mich nicht um Viertel nach acht vor drei Dutzend Zeugen in der Chambers Street mitten in New York City erschießen. Ich stand links von dem Diner vor einer geschlossenen Eisenwarenhandlung, spürte den beißend kalten Novemberwind in meinem Gesicht und fragte mich, was der Mann wollte. War er ein ehemaliger Mandant von mir und ich hatte den Prozess verloren? Ich erinnerte mich jedenfalls nicht an ihn. Der Narbige trat zu mir vor das mit Brettern vernagelte Fenster des alten Ladens. So dicht, dass kein Passant zwischen uns treten konnte. Dann verzog er das Gesicht zu einem Grinsen, sodass die Narbe seine Wange deutlich in zwei Hälften teilte.

»Öffnen Sie Ihren Mantel, und sehen Sie hinein, Mr Flynn.«

Unbeholfen durchsuchte ich meine Taschen, fand aber nichts. Ich öffnete den Mantel ganz. Auf der Innenseite entdeckte ich etwas, das wie ein Riss aussah, als hätte sich das Seidenfutter von der Naht gelöst. Es war kein Riss. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass eine dünne schwarze Jacke in meinem Mantel steckte wie ein zweites Futter. Er musste die Ärmel der Jacke in meinen Mantel geschoben haben, als ich auf der Toilette war. Als ich von innen mit der Hand über den Rücken des Mantels fuhr, ertastete ich den Klettverschluss einer Tasche, die sich knapp oberhalb der Taille befand. Ich zog sie zu mir, um sie genauer zu betrachten, dann riss ich den Verschluss auf und griff hinein. Ich spürte einen losen Faden.

Zog ihn aus der verborgenen Tasche. Es war kein Faden.

Es war ein Draht.

Ein roter Draht.

An seinem Ende war etwas, das sich wie ein flaches Plastikgehäuse anfühlte, weitere Drähte und rechts und links zwei schmale Ausbuchtungen.

Ich bekam keine Luft.

Ich trug eine Bombe am Körper.

Der Mann hatte nicht vor, mich vor drei Dutzend Zeugen in der Chambers Street zu erschießen. Er würde mich zusammen mit weiß der Himmel wie vielen anderen in die Luft jagen.

»Versuchen Sie nicht wegzulaufen, sonst zünde ich den Sprengsatz. Versuchen Sie nicht, ihn zu entfernen. Erregen Sie keine Aufmerksamkeit. Mein Name ist Arturas.« Er sprach es Ar-toras aus und lächelte ununterbrochen dazu.

Ich sog scharf die Luft ein und zwang mich, langsam wieder auszuatmen.

»Nur die Ruhe«, sagte Arturas.

»Was wollen Sie?«, fragte ich.

»Mein Arbeitgeber hat Ihre Kanzlei angeheuert, sie soll ihn vor Gericht vertreten. Wir müssen noch eine Sache zu Ende bringen.«

Meine Angst ließ ein wenig nach: Es ging gar nicht um mich. Es ging um meine alte Anwaltskanzlei; vielleicht konnte ich Jack Halloran den Kerl unterjubeln. »Tut mir leid, mein Freund, aber das ist nicht mehr meine Kanzlei. Sie reden mit dem Falschen. Für wen genau arbeiten Sie denn?«

»Ich denke, Sie kennen den Namen. Mr Volchek.«

Verdammt. Er hatte recht. Den Namen kannte ich tatsächlich. Olek Volchek war der Kopf der Russenmafia. Mein früherer Partner Halloran hatte sich, einen Monat bevor Jack und ich uns trennten, bereit erklärt, Volchek zu vertreten. Als er den Fall annahm, erwartete Volchek ein Prozess wegen Mordes – genauer gesagt: ein Auftragsmord im Bandenmilieu. Ich hatte die Unterlagen in dem Fall nie zu Gesicht bekommen oder gar Volchek getroffen. Ich hatte mich in diesem Monat der Verteidigung von Ted Berkley gewidmet, einem Börsenmakler, der wegen einer angeblichen Entführung angeklagt war – es war der Fall, an dem ich vollständig zerbrach. In seinen Nachwehen hatte ich zuerst meine Familie verloren und dann mich selbst an die Whiskyflasche. Vor knapp einem Jahr war ich dann mit dem, was von meiner Seele noch übrig war, ausgestiegen, und Jack hatte die Kanzlei allein übernommen. Ich hatte keinen Fuß mehr in einen Gerichtssaal gesetzt, seit die Jury im Fall Berkley ihr Urteil gesprochen hatte, und ich hatte nicht die Absicht gehabt, in absehbarer Zeit wieder als Anwalt zu arbeiten.

Bei Jack sah die Sache anders aus. Er hatte Probleme mit seinem Hang zum Glücksspiel. Wahrscheinlich hatte er sich aus dem Staub gemacht und Volcheks Vorschuss mitgenommen. Wenn die Russenmafia Jack nicht finden konnte, wandte sie sich eben an mich – wegen einer Erstattung. Und sie ließen die Muskeln spielen. Mit einer Bombe auf dem Rücken spielte es keine Rolle, dass ich pleite war. Ich würde ihm das verdammte Geld besorgen. Das ging schon in Ordnung. Ich konnte dieses Narbengesicht bezahlen. Er war kein Terrorist. Er war ein Mafioso. Mafiosi sprengen keine Leute in die Luft, die ihnen Geld schulden. Sie lassen sich einfach bezahlen.

»Hören Sie, Jack Halloran ist Ihr Mann. Ich kenne Mr Volchek gar nicht. Jack und ich sind nicht mehr Partner. Aber es ist in Ordnung; wenn Sie Ihren Honorarvorschuss zurückhaben wollen, stelle ich Ihnen gern einen Scheck aus.«

Ob der Scheck eingelöst wurde oder nicht, war ein anderes Problem. Ich hatte etwas mehr als sechshundert Dollar auf dem Konto, meine Miete war überfällig, es gab Rechnungen von der Suchtklinik, die ich nicht bezahlen konnte, und ich hatte kein Einkommen. Die Klinikrechnungen waren das Hauptproblem, aber bei der Menge von Whisky, die ich in mich hineingeschüttet hatte, wäre ich gestorben, wenn ich mich nicht zu einem Entzug angemeldet hätte. In der Beratung dort war mir klar geworden, dass sich die Erinnerung an die Geschehnisse im Fall Berkley auch mit noch so viel Jack Daniel’s nicht fortspülen ließ. Am Ende war ich vom Trinken weggekommen, und in zwei Wochen sollte eine endgültige Einigung mit meinen Gläubigern erfolgen. Zwei Wochen, bis ich wieder ganz von vorn beginnen konnte. Wenn der Russe mehr als ein paar hundert Dollar haben wollte, war ich geliefert – auf der ganzen Linie.

»Mr Volchek will sein Geld nicht. Sie können es behalten. Stattdessen werden Sie es sich verdienen«, sagte Arturas.

»Was soll das heißen, es verdienen? Hören Sie, ich praktiziere nicht mehr. Ich habe seit einem Jahr nicht mehr als Anwalt gearbeitet. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich erstatte Mr Volchek den Vorschuss. Bitte lassen Sie mich einfach dieses Ding abnehmen«, sagte ich und fasste an die Jacke.

»Nein«, sagte er. »Sie verstehen nicht, Anwalt. Mr Volchek will, dass Sie etwas für ihn tun. Sie werden sein Anwalt sein, und er wird Sie bezahlen. Das ist Ihre einzige Chance. Oder Sie werden in diesem Leben überhaupt nichts mehr tun.«

Meine Kehle schnürte sich zusammen, als ich zu sprechen versuchte. Das ergab alles keinen Sinn. Jack würde Volchek doch sicher erzählt haben, dass ich aufgehört hatte, dass ich es nicht mehr packte. Eine weiße Stretchlimousine hielt am Straßenrand. Die glänzende Oberfläche spiegelte mich verzerrt wider. Die hintere Tür auf der Beifahrerseite ging von innen auf und löschte mein Bild aus. Arturas stand neben der offenen Tür und bedeutete mir mit einem Nicken einzusteigen. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Ich atmete tief, verlangsamte meinen Herzschlag und bemühte mich verzweifelt, nicht zu kotzen. Die getönten Fenster der Limousine ließen den Innenraum so dunkel erscheinen, als wäre er randvoll mit schwarzem Wasser.

Für einen Moment wurde alles bemerkenswert still – es gab nur mich und diese offene Tür. Wenn ich weglief, würde ich nicht weit kommen – es war keine Option. Wenn ich in den Wagen stieg und in Arturas’ Nähe blieb, konnte er den Sprengsatz nicht zünden. In diesem Augenblick verfluchte ich mich, weil ich meine Fähigkeiten hatte schleifen lassen. Dieselben, die mich all die Jahre hatten überleben lassen, die mir geholfen hatten, Strafverteidiger mit einem Millioneneinkommen übers Ohr zu hauen, bevor ich selbst Jura studiert hatte. Und dank derer ich diesen Killer früher bemerkt hätte, ehe er auch nur auf fünf Meter an mich herangekommen wäre.

Ich traf meine Entscheidung und stürzte mich ins Unbekannte.

KAPITEL ZWEI

Sobald ich mich setzte, spürte ich, wie sich die Bombe in mein Fleisch presste.

Vier Männer saßen im Fond der Limousine, einschließlich Arturas, der nach mir eingestiegen war und die Tür zugezogen hatte. Er setzte sich links von mir und hatte immer noch dieses beunruhigende Lächeln im Gesicht. Ich konnte den Motor surren hören, aber wir parkten weiter am Straßenrand. Der Geruch von Zigarrenrauch und neuem Leder drang mir in die Nase. Noch mehr getöntes Glas trennte den hinteren Teil der Limousine vom Fahrer.

Auf dem Boden stand eine weiße Sporttasche aus Leder.

Rechts von mir füllten zwei Männer in dunklen Mänteln einen Sitz aus, der für sechs Personen gebaut war. Sie waren auf eine monströse Art groß wie Gestalten aus einem gruseligen Märchen. Einer hatte langes blondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Der andere hatte kurzes braunes Haar und sah wahrhaft hünenhaft aus. Sein Kopf hatte die Größe eines Basketballs, und er ließ den mächtig dicken Blonden neben ihm geradezu schmächtig erscheinen, aber was mir am meisten Angst machte, war sein Gesichtsausdruck. Sein Gesicht schien bar jeder Emotion zu sein, jedes Gefühls, er hatte das Aussehen einer kalten, halb toten Seele. Als Betrüger ist man nur so gut, wie man »verräterische Zeichen« erkennt. Man ist abhängig davon, Menschen und ihre Gefühle manipulieren zu können, aber es gibt Individuen, die immun gegen die üblichen Tricks sind. Jeder Betrüger erkennt sie und hält sich um jeden Preis fern von ihnen – Psychopathen. Der Riese mit dem braunen Haar schien ein Psycho wie aus dem Lehrbuch zu sein.

Der Mann mir gegenüber war Olek Volchek. Er trug einen schwarzen Anzug über einem weißen Hemd, das am Kragen offen stand. Graue Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht, das gleiche Grau setzte sich in seinem Haar fort. Er hätte vielleicht gut ausgesehen, wäre nicht diese schwelende Bösartigkeit in seinen Augen gewesen. Ich kannte ihn aus der Presse und dem Fernsehen. Er war Mafiaboss, Mörder und Drogenhändler.

Aber er würde todsicher nicht mein Klient werden.

Ich hatte mein ganzes Leben lang mit Menschen wie Volchek zu tun gehabt, als Freunde, Feinde und sogar als Klienten. Es spielte keine Rolle, ob sie aus der Bronx, aus Compton, Miami oder Little Odessa waren. Solche Männer respektierten nur eins – Stärke. Obwohl ich eine Scheißangst hatte, durfte ich sie nicht zeigen, sonst war ich ein toter Mann.

»Ich arbeite nicht für Leute, die mich bedrohen«, sagte ich.

»Sie haben keine Wahl, Mr Flynn. Ich bin Ihr neuer Klient«, sagte Volchek. Er sprach mit einem starken russischen Akzent in leicht gebrochenem Englisch. »Shit happens, wie ihr Amerikaner sagt«, fuhr er fort. »Sie können gern Jack Halloran die Schuld geben.«

»Dem gebe ich inzwischen die Schuld an den meisten Dingen. Warum vertritt er Sie nicht? Wo ist er?«

Volchek warf einen Blick zu Arturas, und für einen Moment spiegelte er Arturas’ unauslöschliches Lächeln, ehe er mich wieder ansah. »Als Jack Halloran meinen Fall übernahm, sagte er, er könne ihn unmöglich gewinnen. Das wusste ich bereits. Ich hatte den Fall vor Jack von vier verschiedenen Kanzleien prüfen lassen. Trotzdem, Jack konnte Dinge tun, die andere Anwälte nicht konnten. Also bezahlte ich ihn, und ich gab ihm eine Aufgabe. Leider konnte Jack seinen Teil der Abmachung nicht einhalten.«

»Zu schade. Hat aber nichts mit mir zu tun«, sagte ich und bemühte mich, nicht nervös rüberzukommen.

»Das ist der Punkt, wo Sie falschliegen«, sagte Volchek. Er entnahm einem goldenen Etui eine kleine schokoladenfarbene Zigarre, biss das Ende ab und zündete sie an. »Vor zwei Jahren«, fuhr er fort, »befahl ich einen Mord an einem Mann namens Mario Geraldo. Ich bat Little Benny, es für mich zu tun. Benny erledigte seine Aufgabe. Dann wurde er erwischt und redete. Benny wird bei meinem Prozess aussagen, ich hätte den Mord in Auftrag gegeben. Alle Anwälte, mit denen ich gesprochen habe, meinten, Benny werde der Starzeuge der Staatsanwaltschaft sein. Ohne Zweifel wird seine Aussage zu meiner Verurteilung führen.«

Ich presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es wehtat.

»Benny ist in Gewahrsam des FBI. Er wird gut beschützt, man hat ihn sicher versteckt. Selbst meine Kontakte können ihn nicht aufspüren. Sie sind der Einzige, der in seine Nähe gelangt, denn Sie sind mein Anwalt.« Er senkte die Stimme. »Bevor Sie Benny ins Kreuzverhör nehmen, werden Sie Ihr Jackett ausziehen, und wenn der Gerichtssaal leer ist, kleben wir die Bombe unter den Sitz im Zeugenstand. Benny nimmt Platz, und wir lassen den Sprengsatz hochgehen. Kein Benny mehr, kein Fall mehr, kein Problem mehr. Sie sind der Bomber, Mr Flynn. Sie gehen ins Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft wird nicht genügend Beweismaterial für eine Wiederaufnahme haben, und ich bleibe unbehelligt.«

»Sie sind ja komplett verrückt«, sagte ich.

Volchek reagierte zuerst nicht. Er bekam keinen Wutanfall und bedrohte mich nicht. Er saß nur einen Moment da, als würde er seine Möglichkeiten abwägen. Ich hörte kein Geräusch außer dem Hämmern meines eigenen Herzens, und ich fragte mich, ob ich mir soeben eine Kugel verdient hatte. Ich konnte den Blick nicht von Volchek nehmen, aber ich spürte, wie die anderen mich beinahe spöttisch ansahen, wie jemanden, der gerade die Hand in eine Schlangengrube gesteckt hat.

»Werfen Sie mal einen Blick auf das, bevor Sie sich entscheiden«, sagte Volchek und machte Arturas ein Zeichen.

Arturas hob die weiße Sporttasche auf und öffnete sie.

Jacks Kopf lag in ihr.

Mein Magen zog sich zusammen. Mein Mund füllte sich mit Speichel. Ich würgte, bedeckte den Mund mit der Hand und hustete. Ich spuckte und hatte Mühe, bei Sinnen zu bleiben, meine Finger krallten sich in das Leder des Sitzes. Jeder Anschein einer gelassenen Fassade ging völlig verloren.

»Wir dachten, Jack könnte es tun. Wir haben uns geirrt. Aber bei Ihnen gehen wir kein Risiko ein, Mr Flynn.« Volchek beugte sich vor. »Wir haben Ihre Tochter.«

Zeit, Atmung, Blut, Bewegung – alles stand still.

»Wenn Sie sie auch nur anrühren …«

Er holte ein Handy aus seiner Hosentasche und hielt es mir so hin, dass ich das Display sehen konnte. Amy an einer dunklen Straßenecke vor einem Zeitungsstand irgendwo in New York. Mein kleines Mädchen. Sie war erst zehn Jahre alt. Sie hatte die Arme zum Schutz vor der Kälte um den Körper geschlungen und blickte argwöhnisch in die Kamera. Hinter ihr erkannte ich den Aufkleber am Zeitungsstand mit der Schlagzeile von dem Frachtschiff, das am Samstagabend auf dem Hudson gesunken war.