Späte Liebe - Marie Louise Fischer - E-Book

Späte Liebe E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Die erfolgreiche Architektin Donata Beck hat sich für ihre Karriere entschieden und geht voll darin auf. Seit ihr Mann Philipp tot ist, steckt sie ihre ganze Energie in ihre Arbeit. Einen Versuch wäre es vielleicht bei Anton Mittermeier wert, dem Baulöwen, der ihrer Karriere sicherlich einen ordentlichen Schubs geben könnte. Doch eigentlich widerstrebt es Donata, so eine Art von Beziehung einzugehen, und Zeit hat sie dafür sowieso nicht. Doch dann lernt sie Tobias kennen, einen jungen Kollegen, und zwischen den beiden funkt es gewaltig. Die Gesellschaft, in der sich die beiden bewegen, goutiert diese Beziehung so ganz und gar nicht, und ehe Donata sich versieht, drohen ihr nicht nur geschäftliche Konsequenzen.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Späte Liebe

SAGA Egmont

Späte Liebe

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1990 by Goldmann Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719176

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Es war ein warmer Vorfrühlingsabend, kurz vor Einbruch der Dämmerung.

Als sie das Verkehrsgewühl der Münchner Innenstadt hinter sich gelassen hatte, kurbelte sie das Fenster ihres wendigen Kabrioletts herunter. Ein kühler Luftzug entstand, der die Locken ihrer rötlich blonden Abendperücke zerzauste, aber nicht stark genug war, sie aus der Form zu bringen.

Tief durchatmend, bemühte sie sich zu entspannen. Sie hatte den wichtigen Cocktailempfang bei einem potentiellen Auftraggeber vor dem allgemeinen Aufbruch verlassen. Nachdem sie Charme und Liebenswürdigkeit nach allen Seiten versprüht hatte, war sie ohne langen Abschied gegangen, überzeugt davon, ihr Pensum erledigt und ihre Pflicht getan zu haben. Wann immer es möglich war, vermied sie es auf diese Weise, aufdringlichen oder auch nur wohlmeinenden Männern einen Korb geben zu müssen. Die Erfahrungen hatten sie gelehrt, daß es immer noch jemanden gab, der mit ihr ausgehen wollte, zum Essen oder sonstwohin. Aber angeheiterte Männer und ihre Flirtversuche langweilten sie nur, besonders, da sie selber stocknüchtern geblieben war; sie hatte sich an Orangensaft ohne Sektzugabe gehalten. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, gleich nach der Party noch einmal ins Büro zu fahren, da ihr eine Idee gekommen war, die sie sofort zu Papier bringen wollte. Aber jetzt stellte sie fest, daß ein unbestimmtes Gefühl sie in Richtung Zoo dirigiert hatte. Kinder hatte sie nie gehabt, aber manchmal dachte sie, daß Mütter zu ihren Kleinen wohl ganz ähnlich stehen müßten wie sie zu ihren Bauten. Auch wenn sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, sorgte sie sich ständig um ihr Wohl. Arthur Stolze, ihr stiller Teilhaber und Geschäftsführer pflegte sie wegen dieser Einstellung, die er übertrieben fand, zu hänseln, und sie lächelte selber zuweilen darüber. Aber so war sie nun einmal, und sie konnte und wollte sich auch nicht ändern.

Auf der Wolfratshauser Straße hielt sie auf der unbebauten Seite, öffnete das Fenster und blickte zu dem Rohbau, »ihrem« Rohbau, hinüber. Mit schwarzen klaren Buchstaben waren auf einer Tafel Embleme und Namen der Schaffenden angegeben, des Bauunternehmers, Installateurs, Heizungstechnikers, des Malers, des Parkett- und Fliesenlegers und, nicht zuletzt ihr eigener. »Architekt D. Beck«, das war sie, Donata Beck, und es erfüllte sie immer noch mit Freude es dort zu lesen. Es war ein langer, steiniger Weg bis zu diesem Ziel gewesen. Erst seit wenigen Jahren hatte sie, jetzt 42, es erreicht, in ihrem Beruf ernst genommen zu werden.

Nach kurzem Überlegen stellte sie den Motor ab und stieg aus, um den Bau besser betrachten zu können. Es waren kaum mehr als die Außenmauern hochgezogen, und einem Laien hätte der Anblick nicht viel gesagt. Aber vor ihrem inneren Auge entstand die Illusion des Hauses, wo sie es auf dem Papier entworfen hatte und wie es einmal in vollkommen harmonischen Proportionen dastehen sollte, mit seinen fast quadratischen Fenstern, dem großzügigen Eingang und dem breiten, angenehm bewohnbaren Balkon.

Doch etwas störte sie, etwas stimmte nicht.

Entschlossen öffnete sie die Autotür, schloß das Fenster, zog den Zündschlüssel ab und nahm ihren Zollstock aus dem Handschuhfach. Mit einer raschen Bewegung streifte sie die alt-indianische Stola ab, legte sie auf den Beifahrersitz und schloß ab. Es war ihr nicht bewußt, daß ihre schönen Schultern und makellosen Arme jetzt voll zur Geltung kamen, sondern sie tat es aus einer rein praktischen Erwägung heraus. Ihr schwarzes Kleid war von raffinierter Schlichtheit, von Spaghettiträgern gehalten und in der Taille mit einem Band in den gleichen leuchtend bunten Farben ihrer Stola geschmückt.

Mit leichtem Schritt – nicht so weit ausholend wie gewöhnlich, denn sie trug hochhackige Pumps – überquerte sie die Fahrbahn. Die schmale Brettertür im Bauzaun war nicht verschlossen, denn noch waren einige Männer mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt.

Ohne darauf zu achten, daß ihre schwarzen Abendschuhe grau vom Zementstaub wurden, durcheilte sie die Halle, in der die geschwungene, aus Holz geplante Treppe noch fehlte. Sie kletterte, auf den Fußballen balancierend, die Leiter hoch, stieg im ersten und zweiten Stock, Handtasche und Zollstock unter den Arm geklemmt, die geländerlosen Treppen hoch.

Im Dachgeschoß trat sie, ein am Boden liegendes Drahtgitter sorgsam umgehend, bis an die Brüstung vor und klappte den Zollstock aus, um sie zu messen.

»He, Mädchen!« ertönte eine barsche Männerstimme hinter ihr. »Was fällt Ihnen ein?«

Donata erschrak nicht, noch ließ sich sich stören. – »Dreißig Zentimeter zu hoch«, stellte sie fest, »als ob ich’s geahnt hätte!«

»Sie, was soll das?« fuhr der Mann sie abermals an.

Jetzt drehte sie sich zu ihm um und klappte ohne Eile den Zollstock zusammen.

Der Mann musterte sie unverschämt, und unverhohlene Bewunderung leuchtete aus seinen tiefblauen, fast schwarz wirkenden Augen. Er war jung, er war groß, und er war stark. Ein Schutzhelm saß ihm schief auf den braunen Locken, die schmutzigen Hosen waren eng gegürtet, und auf dem nackten, glatten Oberkörper hatte sich Zement mit Schweiß vermischt.

»Wenn Sie eine Wohnung suchen, Mädchen«, sagte er milder und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, »müssen Sie sich an ein Maklerbüro wenden oder eine Annonce aufgeben. Sie können nicht so einfach in Neubauten herumkraxeln. Das ist streng verboten und dazu noch gefährlich.

»Danke für die Belehrung«, erwiderte sie kühl.

»Nur nicht frech werden!« Er streckte die Hand nach ihr aus.

Sie funkelte ihn aus ihren grünen, schwarz ummalten Augen an. »Wagen Sie nicht …«

Aber da war es schon passiert. Mit hartem Griff hatte er ihren Arm gepackt, und ihr geschah etwas Seltsames. Es durchfuhr sie wie ein elektrischer Stromstoß. Das kam so unerwartet, daß es sie aus der Fassung brachte. Sie war dankbar, daß sie wenigstens nicht errötete. Aber es dauerte Sekunden – jedenfalls schien es ihr so –, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte.

»Ich bin der Architekt!«

Impulsiv wollte er widersprechen. Er hatte den Mund schon geöffnet, sein klares Gesicht drückte Zweifel aus, Unglauben, Belustigung über die Kühnheit ihrer Erklärung. Dann aber begriff er, daß sie doch die Wahrheit gesagt haben mochte, und wenn es so war, konnte er es sich nicht erlauben, sie zu beleidigen. Er schluckte schwer und brachte dann mühsam heraus: »Das hätte ich nicht gedacht.«

Sie genoß seine Verwirrung, war nahe daran, ihn noch tiefer zu demütigen, verbot es sich dann aber. »Glaube ich Ihnen«, sagte sie nur, steckte den Zollstock in ihre Abendtasche und wollte an ihm vorbei.

Doch er vertrat ihr den Weg. »Machen Sie das öfter so? Auf Stöckelschuhen Baustellen inspizieren, meine ich?«

»Ja«, erwiderte sie ruhig.

»Und es ist Ihnen noch nie was dabei passiert?«

»Ich passe schon auf.« Er wirkte immer noch so bestürzt, daß sie sich dann doch zu einer Erklärung herabließ. »Man hat nicht immer Zeit sich umzuziehen.«

»Dann sollten Sie wenigstens immer ein Paar Schuhe zum Wechseln dabei haben.«

»Gute Idee. Wenn ich irgendwann mal einen Rat brauche, werde ich mich an Sie wenden.«

Ihr Spott prallte an ihm ab. »Ich heiße Tobias Müller«, erklärte er mit einer leichten Verbeugung, die in seinem Aufzug ungemein komisch wirkte.

»Fein«, sagte sie, »jetzt wissen wir also beide, mit wem wir es zu tun hatten. Aber lassen Sie mich jetzt bitte gehen. Sonst breche ich mir im Dunkel wirklich noch das Genick.« »Ich werde Ihnen helfen«, erbot er sich.

»Oh nein. Das werden Sie nicht. Ich finde meinen Weg allein.« Sie trat auf ihn zu, den Kopf hoch erhoben, das feste runde Kinn weit vorgestreckt und ihre Handtasche schwingend, als würde sie im Notfall bereit sein, sie als Waffe zu benutzen.

Er war ein gutes Stück größer als sie, mehr als doppelt so stark, aber es blieb ihm nichts anderes übrig als sie vorbeizulassen, wenn er es nicht auf ein Handgemenge ankommen lassen wollte.

Sie stöckelte auf die Treppe zu und stieg die Stufen hinunter, ohne den Versuch, sie im Zwielicht auszumachen, sich nur auf ihr Gefühl verlassend. Dabei spürte sie, daß er sie mit seinen Blicken verfolgte, und es prickelte in ihrem Rückgrat.

Die Leiter mußte sie rücklings nehmen, und als sie sich umdrehte, bemerkte sie, daß er ihr nachgekommen war. Er hielt ihr die Hand hin, damit sie sich abstützen konnte. Aber sie nahm sie nicht, sondern wehrte ihn mit einem ihrer funkelnden Blicke ab.

›Sehen Sie lieber zu, daß Sie an Ihre Arbeit kommen!‹ hätte sie beinahe gesagt, aber sie verzichtete auf diese Mahnung, weil sie sie selber als zu billig empfand.

»Wie kann man nur so trotzig sein!« bemerkte er kopfschüttelnd, und dann, als sie den sicheren Boden erreicht hatte: »Gute Heimfahrt, Frau Beck … Sie sind doch Frau Beck, nicht wahr?« Er folgte ihr die Sprossen hinab und stand mit einem Sprung neben ihr.

Sie hatte überhaupt keine Lust sich mit ihm zu unterhalten. Ihr Herz raste, und sie fürchtete, er könnte es merken, wenn sie den Mund aufmachte. So ließ sie ihn denn einfach stehen und eilte zu ihrem Auto.

Als sie aufgeschlossen und sich hinter das Steuer gesetzt hatte, atmete sie auf. ›Noch einmal davon gekommen!‹ schoß es ihr durch den Kopf.

Aber schon, als sie den Motor anließ, begriff sie nicht mehr, was eigentlich mit ihr geschehen war. Wie hatte ein junger Mann sie so durcheinander bringen können? Wer war er überhaupt? Ein Bauarbeiter? Er hatte so ausgesehen, aber nicht so geklungen. Sie schätzte ihn eher als einen Studenten ein, der sich in den Semesterferien etwas dazu verdiente. Wer auch immer er sein mochte, es gab keinen Grund über ihn nachzugrübeln. Sie würde ihn nie Wiedersehen.

Was sie aber nicht so schnell vergessen konnte, war die Schwäche, die sie überfallen hatte. Dergleichen hatte sie noch nie erlebt, nicht einmal als junges Mädchen, und ein Mädchen war sie ja beileibe nicht mehr, auch wenn er sie so angesprochen hatte. Ihre Figur mochte das vortäuschen, und das Dämmerlicht das Ihrige dazu getan haben. Aber sie war eine erwachsene Frau, eine selbständige Frau, und sie müßte, wenn sie im Dschungel des Existenzkampfes überleben wollte, ihre Gefühle unter Kontrolle halten.

Es war nicht der etwas naive, sympathische und zweifellos auch mit Sexappeal ausgestattete junge Mann, der sie erschreckt hatte, mußte sie sich eingestehen, sondern ihre eigene Reaktion. Niemals hatte sie damit gerechnet, vor sich selber auf der Hut sein zu müssen. Aber vielleicht war es ganz gut, daß sie das jetzt erfahren hatte. Sie war gewarnt.

In dem Bürohaus in der Schlierseestraße war um diese Zeit kaum noch Leben. Als Donata aus der Tiefgarage in den 5. Stock hinauf fuhr, empfand sie sehr deutlich diese Leere. Aber Einsamkeit war ihr nur recht, denn aus Erfahrung wußte sie, daß sie ihr zu stärkster Konzentration verhalf. Sie schloß die Tür auf, betätigte den Schalter, und der Empfangsraum, ganz in grauen und weißen Tönen gehalten, erstrahlte im Licht. Die fast grelle Klarheit tat ihr wohl. Sie ging an den aufgeräumten Zeichentischen ihrer Mitarbeiter vorbei und legte Handtasche und Stola auf der langen Theke ab. Dahinter waren die elektronischen Bürogeräte aufgebaut – eine Schreibmaschine mit Bildschirm, Telefonanlage und Telefax mit Drucker –, sie wollte schon ihren eigenen Raum betreten, als sie sich anders besann und zuerst das Bad aufsuchte. Die Räume im 5. Stock waren ursprünglich als Dachwohnungen gedacht gewesen. Donata hatte sie noch im Rohbau für ihre eigenen Zwecke umbauen lassen, dabei aber die Anlagen für Bad und eine Küche aus praktischen Gründen belassen. Es kam zuweilen auch dazu, daß sie – zumal im Winter bei schlechten Straßenverhältnissen – hier übernachtete.

Das Bad war praktisch, aber nicht komfortabel eingerichtet; es gab eine Wanne, eine Dusche, zwei Waschbecken und an der Schmalseite einen Einbauschrank aus hellem Holz. Die Toiletten waren separat.

Vor dem großen Spiegel, der die Breite der beiden Becken einnahm, zog Donata sich die Perücke vom Kopf, stülpte sie über einen entsprechenden Kunststoffständer. Ihr eigenes Haar war glatt und von einem so hellen Blond, daß man später, so dachte sie oft, die ersten weißen Strähnen gar nicht bemerken würde. Jetzt gab sie sich nicht einmal die Mühe, es mit den Fingern aufzulockern, überlegte nur kurz, ob sie sich abschminken sollte, entschied dann aber, daß dies Zeit bis zu ihrer Heimkehr hatte.

Aus reiner Gewohnheit und ohne daß es notwendig gewesen wäre, denn ihr Kleid war ohnehin nicht mehr einwandfrei und mußte in die Reinigung, nahm sie einen ihrer grauen Kittel aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Die Perücke – sie besaß 6 davon, alle in verschiedenen Blondtönen gehalten – versorgte sie in einem Spezialkoffer. Schon seit Jahren fand sie es bequemer, sich mit Perücken, passend zu der jeweiligen Garderobe, zu verschönern, als selber zum Friseur zu gehen. Sie brachte gerade noch die Geduld auf, sich das eigene Haar alle drei Wochen schneiden zu lassen. Und diese Prozedur durfte nie länger als 20 Minuten dauern.

Mit dem Perückenkoffer in der Hand verließ sie das Bad, knipste das Licht aus und stellte ihn zu ihren anderen Sachen auf die Theke. Links davon lag ihr eigener Arbeitsraum. Er war bescheiden und zweckmäßig ausgestattet, denn sie benutzte ihn nur zum Nachdenken, Schreiben, Rechnen und Zeichnen. Für Verhandlungen war das pompöse Zimmer mit dem riesigen Teakholzschreibtisch und den schwarzen Ledermöbeln ihres Geschäftsführers gedacht. Hier, in ihrem eigenen Reich, spielte der Zeichentisch die beherrschende Rolle. Außerdem gab es noch eine schmale Couch, einen bequemen Schaukelstuhl, einen Schreibtisch mit Schreibmaschine und Telefon und ein niedriges Regal mit Fachliteratur. Keinerlei Bilder. Der einzige Schmuck bestand in einer der dekorativen, verglasten Dachgauben, mit denen auch die anderen Räume des Architekturbüros ausgestattet waren. Sie waren vorhanglos und versorgten die Anlage an hellen Tagen mit Licht. Meist mußten allerdings Rasterleuchten und Wandfluter dafür sorgen.

Donata kramte in den Papieren auf ihrem Schreibtisch und zog ein Blatt heraus, auf dem sie sich Notizen für ein bestimmtes Bauprojekt gemacht hatte.

Ein Ehepaar Pallenberg hatte ein schönes Grundstück am Stadtrand erworben und um einen Entwurf für ein Haus mit Garage gebeten. Mit freier Hand und einem Bleistift hatte Donata das Projekt flüchtig skizziert, den Grundriß des Erdgeschosses mit Eingangshalle, Gästetoilette und Garderobe, Wohnraum, Speisezimmer und Küche, und dazu die Straße angedeutet, die vier Himmelsrichtungen bestimmt.

Auch die Fassade war in etwa schon entworfen und die anschließende Garage.

Die Pallenbergs waren von Donatas Vorstellung einigermaßen angetan gewesen, wenn auch nicht begeistert, und man hatte einen Termin für die Besichtigung des Baugeländes ausgemacht.

Erst nachträglich war Donata eingefallen, daß sie sich zu sehr hatte beeinflussen lassen. Inzwischen erschien es ihr sehr viel zweckmäßiger und befriedigender, eine Tiefgarage anzulegen. Auf diese Weise konnten Tiefe und Breite des Hauses erweitert und möglicherweise sogar Platz für eine Terrasse nach Süden gewonnen werden.

Der Zeichentisch war schon mit Transparentpapier bespannt. Donata stellte ihn schräg, um den Rücken zu entlasten – sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich – und klemmte den Erstentwurf oben an. Dann begann sie mit der Zeichenmaschine, zwei im rechten Winkel zueinander stehenden Linealen, die sich mühelos von links nach rechts und oben nach unten verschieben ließen, die ersten Linien zu ziehen, wobei sie die vorgegebenen Maße berücksichtigte. Zuerst den Grundriß: Garage für zwei Autos – die Pallenbergs besaßen vorerst zwar nur eins, aber das konnte sich bald ändern –, Heizungskeller, Vorratsraum, Aufstieg. Sie zeichnete rasch und sicher, nur selten mußte sie zum Radiergummi greifen. Als sie fertig war, schrieb sie zügig darunter: »Grundriß Keller Pallenberg«.

Dann löste sie die erste Skizze, denen sie die Maße entnommen hatte, und das Transparentpapier vom Zeichentisch, das sie sorgfältig aufrollte. Anschließend fertigte sie zwei Querschnitte des Kellergeschosses an, was erheblich schwieriger war, weil sie die Schräge der Einfahrt zur Tiefgarage bedenken und berechnen mußte.

Damit hatte sie geschafft, was sie sich für den heutigen Abend vorgenommen hatte. Sie hatte ihre Idee auf Papier gebracht. Grundsätzlich, weil sie dann oft keine Nachtruhe gefunden hatte, nahm sie sich keine Arbeit mit nach Hause. Morgen würde sie sich mit dem Erdgeschoß und dem 1. Stock befassen und, falls ihr die Zeit dazu blieb, die Bleistiftstriche mit dem Rapidographen in schwarzer Tusche nachziehen. Sie liebte die Klarheit dieser Ausführung: Aber wahrscheinlich würde sie sie einem Mitarbeiter überlassen müssen; zu viele Aufgaben warteten auf sie. Das eigentlich Schöpferische war mit der Bleistiftzeichnung getan.

Sorgfältig räumte Donata die Arbeitsutensilien auf, ließ ihren Kittel jedoch achtlos zu Boden fallen – die Putzfrau würde ihn am nächsten Morgen zur Schmutzwäsche tun –, raffte ihre Siebensachen zusammen, löschte alle Lichter, schloß ab und fuhr in die Garage hinunter.

Als sie ihr Kabriolett auf die Straße hinaus steuerte, überfiel sie eine Müdigkeit, der sie sich jetzt noch nicht hingeben durfte. Weit kurbelte sie das Fenster hinunter, so daß der Fahrtwind ihr durch das kurzgeschnittene Haar strich und ihr Stirn und Nacken kühlte.

Nachdem sie die hell beleuchtete Innenstadt hinter sich gelassen hatte, bog sie in die Tegernseer Landstraße, die Ausfallstraße zum Villenvorort Grünwald, ein.

Ihr Haus lag von der Straße zurück gesetzt, gleichsam geduckt zwischen mächtigen alten Bäumen. Die Umrisse waren in der Dunkelheit kaum auszumachen, nur die Außenbeleuchtung über der Haustür und der Garage leuchtete. Donata fuhr ein.

Dies war das erste Haus, das sie entworfen und gebaut hatte, für sich und ihren Mann, den wesentlich älteren, vor sieben Jahren verstorbenen Philipp Beck. Sie war immer noch stolz darauf, wenn sie auch heute manches anders machen würde. Aber immerhin hatte es ihren Ruf begründet.

Damals, sie hatte nach dem Abitur eine Schreinerlehre hinter sich gebracht, dann erst Architektur studiert, war sie in Holz vernarrt gewesen. Sie hatte die Auffahrt zur Garage und den Fußweg zum Haus nicht asphaltiert und nicht mit Kies ausgestattet, sondern mit dicken Bohlen aus altem abgelagerten Holz belegt. Auch für die Fassade hatte sie viel Holz genutzt, so daß das Haus, ohne daß sie es beabsichtigt hatte, Erinnerungen an die Pionierzeiten im Wilden Westen herauf beschwor. Der schon vorhandene Baumbestand, knorrige Eichen und schlanke Buchen, der beim Bau weitgehend geschont worden war, hatte sie dazu inspiriert. Manche hatten darüber gelacht, aber ihr gefiel es heute noch so, wie es war, und Philipp hatte stets alles bejaht, was sie unternommen hatte.

Er war es auch, dessen Geld – er war ein erfolgreicher Börsenmakler gewesen – ihr den Bau überhaupt ermöglicht hatte, wenn sie auch darauf bestanden hatte, ihr eigenes kleines Erbe mit hineinzustecken.

Aber es war nicht sein Geld und auch nicht sein Verständnis und seine Ermunterung, die sie vermißte; es war er selber. Er fehlte ihr sehr.

Wie immer genoß sie das weiche Rumpeln der Bohlen, als sie zur Garage hinauffuhr. Von dort führte eine Tür ins Haus. Sie raffte ihre Sachen zusammen, trat ein und blieb lauschend stehen. Musik und Geräusche aus dem sogenannten Frühstückszimmer zeigten ihr an, daß Silvia Münsinger, ihre sechs Jahre ältere Schwester, daheim war. Donata schaltete die Außenbeleuchtung aus und durchquerte die Diele. Silvia saß, sehr mager, sehr gepflegt, das dünne Haar kastanienbraun gefärbt und zu einer komplizierten Frisur gelegt, vor dem Fernseher. Das elegante Kleid, das sie trug, war für Donatas Geschmack zu rot.

»Hallo, Silvia!« grüßte sie von der Tür her. »Ich mach’ mich nur frisch und dann komme ich zu dir. Oder störe ich dich?«

»Wie könntest du? Es ist schließlich dein Haus.«

Donata, die wußte, daß die Schwester dazu neigte, auch die harmloseste Bemerkung als Kränkung aufzufassen, blieb ganz ruhig. »Ich will nur wissen, ob es sehr spannend ist.« »Nein, durchaus nicht. Jedenfalls verglichen mit dem, was du so täglich erlebst.«

»Dann bin ich gleich bei dir«, versprach Donata ungerührt. Ihr Schlafzimmer – das vormals eheliche Schlafzimmer – lag im Erdgeschoß. Ihr Mann und sie waren noch vor dem Frühstück gern in das Schwimmbecken gesprungen, das sich gleich an die Terrasse hinter dem Haus anschloß. Donata tat das immer noch. Der große Raum hatte mit seinen schlichten, fast strengen Möbeln eine nahezu maskuline Note, wirkte aber dennoch, Polster und Vorhänge in gelben und grauen Tönen gehalten, ausgesprochen heiter, ein Zimmer, das eher das frühe Aufstehen am Morgen als das späte Zubettgehen erleichterte. Das anschließende Bad, in grauweißem Marmor gehalten, mit Armaturen aus Messing, war riesig und wirkte luxuriös.

Donata nahm dies alles ohne Kritik und ohne Bewunderung wahr. Für sie war es ganz selbstverständlich so, es war die Umgebung, in die sie gehörte. Sehr rasch zog sie sich aus, tat Kleid, Strümpfe, Unterwäsche in den dazu bestimmten Messingbehälter, die indianische Stola dazu. Dann schminkte sie sich gründlich ab, ging unter die Dusche und wusch sich von Kopf bis Fuß.

In einem leichten, taubenblauen Hausanzug und Samtpantoffeln, das Haar noch feucht, kam sie wenig später wieder in das Frühstückszimmer, nahm ein Glas aus der Vitrine und machte es sich neben der Schwester in einem der hellen Sessel bequem. »Ich darf doch?« fragte sie und griff nach der schon halb geleerten Weinflasche.

»Er ist aus deinem Keller.«

»Das ist doch ganz egal. Bitte, laß die Haarspaltereien!« Donata schenkte sich ein und schnupperte an ihrem Glas, bevor sie einen Schluck nahm. »Jedenfalls ist er gut.«

»Du kannst mir mit Recht vorwerfen, daß ich mir meine Getränke auch selber besorgen könnte …«

Donata fiel ihr ins Wort. »Bitte, fang nicht wieder an, die arme Verwandte zu spielen. Die Rolle steht dir nicht. Ich und du, wir wissen beide, daß Leo dich sehr gut versorgt. Andererseits macht es mir überhaupt nichts aus mit dir zu teilen. Über was beklagst du dich also?«

Silvia war nach einer gewaltigen Auseinandersetzung mit ihrem Mann zu ihrer Schwester geflüchtet, und Donata hatte sie mit offenen Armen aufgenommen. Es hatte eine vorübergehende Lösung sein sollen. Inzwischen waren seit der Scheidung Monate, ja, Jahre vergangen, und Silvia war geblieben. Donanta war ganz froh darüber, denn sie empfand deutlich, daß das Haus für sie allein zu groß war. Wenn Silvia auch nicht die angenehmste Gesellschaft bot, so war sie ihr doch mit all ihren Marotten vertrauter als jeder andere Mensch auf der Welt.

Jetzt steckte sie sich eine neue Zigarette an – der Aschenbecher auf der gläsernen Tischplatte, die von einem bizarren Stück Treibholz getragen wurde, war schon fast gefüllt mit Asche und Stummeln – und stellte den Fernseher leiser. »Ich habe mich nicht beklagt, sondern verteidigt.«

»Auch dazu besteht kein Grund.«

Silvia hob die Schultern, um sie gleich darauf mit einer resignierenden Geste tief fallen zu lassen. »Ich komme mir so überflüssig vor.«

»Unsinn. Erstens bin ich froh, daß du hier bist, und zweitens hindert dich niemand daran, dir eine Beschäftigung zu suchen. Aber darüber haben wir schon oft geredet.«

»Ich denke nicht daran, Leo auch noch finanziell zu entlasten.«

»Es gibt reichlich ehrenamtliche Aufgaben im Wohltätigkeitsbereich.«

»Sowas liegt mir nun mal nicht.«

Donata unterdrückte ein Gähnen. »Ja, ich weiß. Gibst du mir bitte eine von deinen Zigaretten?«

Silvia schob ihr das Päckchen zu und ließ ihr Feuerzeug aufspringen.

»Danke!« Donata zog den Rauch tief ein; im Gegensatz zu ihrer Schwester rauchte sie selten, dann aber mit Genuß. »Hast du dich wenigstens gut amüsiert?« erkundigte sich Silvia.

Donata verstand nicht gleich. »Wie? Was meinst du?«

»Der Empfang scheint ja recht lang gedauert zu haben.«

»Ach so. Nein, überhaupt nicht. Höchstens zwei Stunden, glaube ich. Ich war schon früher fort.«

»Warum?«

»Aber, Silvia, du kennst mich doch. Dieses allgemeine Gerede über Opernpremieren und Vernissagen und In-Lokale interessiert mich nicht. Es kostet mich Nerven zuzuhören, und meinen eigenen Senf dazu zu geben, ist manchmal ein Kraftakt.«

»Ach, tu nicht so! Niemand beherrscht das Party-Blablabla besser als du.«

»Ich habe es lernen müssen, Silvia.« Sorgsam streifte sie den Aschenkegel ihrer Zigarette ab. »Es gehört zu meinem Beruf, potentiellen Auftraggebern Honig ums Maul zu schmieren.«

»Bist du an Mittermeier herangekommen?«

»Ja. Wir haben uns ganz nett unterhalten – geflirtet, wenn du es so nennen willst.«

»Du bist genau sein Typ. Das habe ich schon immer gesagt.«

»Was besagt das schon? Anton Mittermeier würde mich nicht von der Bettkante stoßen, das ist schon wahr. Aber mir einen Auftrag geben? Nie und nimmer.«

»Es käme auf einen Versuch an.«

»Da kennst du ihn schlecht. In seinen Augen sind Frauen nur für die Küche, das Bett und das Kinderkriegen da. Auf die Reihenfolge will ich mich nicht festlegen. Er ist der tief verwurzelten Überzeugung, daß eine Frau gar nicht Architekt sein kann.«

»Aber das hast du doch schließlich bewiesen.«

»Du kannst niemandem etwas beweisen, gegen das er sich innerlich sträubt – was er einfach nicht glauben will. Übrigens habe ich ihn ja auch gar nicht nötig. Ich habe im Moment ganz schöne Aufträge und einige interessante Ausschreibungen laufen. Irgendwas wird sich da schon ergeben.«

»Aber er ist ein Baulöwe, nicht wahr? Der Mächtigste auf seinem Gebiet.«

»Stimmt. Aber gerade deshalb – für ihn bin ich doch nichts als eine kleine graue Maus.«

Silvia musterte die Schwester aufmerksam. »Also grau kann man dich nun wirklich nicht bezeichnen. Bei deinen Augen! Wenn du nur etwas mit deinem Haar machen würdest …« Donata drückte ihre Zigarette aus. »Auch das ist ein Thema, das wir längst abgehakt haben sollten.«

»Willst du ihn nicht wenigstens mal einladen?«

Donata dachte nach. »Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Die Frage ist nur, ob er kommt. Er ist ja nicht nur ein Bau- sondern auch ein Gesellschaftslöwe.«

Silvia wurde lebhaft. »Wann?« fragte sie. »Wann geben wir unser nächstes Dinner?«

Als ihr Mann noch lebte und auch später als Witwe hatte Donata stets in regelmäßigen Abständen Abendeinladungen veranstaltet, für einen kleinen, stets wechselnden Kreis. Das gehörte dazu, wenn sie im Geschäft bleiben wollte. Ihr schönes Haus, die erlesenen Speisen und Getränke und die unbeschwerte Konversation hatten ihre Wirkung nie verfehlt. Seit Silvia bei ihr lebte, hatte sie die Organisation dieser Abende an sich gerissen, und Donata ließ es zu, weil die Schwester sich darauf verstand und sie selber genug andere Aufgaben hatte, die sie stärker interessierten.

Es machte ihr auch nichts aus, daß Silvia bei solchen Gelegenheiten versuchte, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Denn was war die Schwester schon? Eine geschiedene Frau mit gesellschaftlichen Ambitionen, die nicht einmal zum Tragen kommen konnten. Die wirkliche Schwierigkeit bestand darin, daß sie meist eine Frau zu viel am Tisch war. Dann mußte Sohn Christian, einer der zahllosen Studenten der Betriebswissenschaft in München, einspringen, und der machte das gewandt, wenn auch äußerst unwillig.

»Nun sag schon!« drängte Silvia. »Warum antwortest du nicht?«

»Laß mich mal nachdenken! Ich meine, wir warten, bis es wärmer geworden ist und wir die Terrasse mit einbeziehen können.«

»Aber warum? Das Haus ist doch groß genug.«

»Stimmt schon«, gab Donata zu; sie mochte der Schwester nicht zum hundertsten Mal erklären, daß die Terrasse, die sie parkettartig aus dicken Holzbohlen hatte legen lassen, etwas ganz Besonderes war, das Eindruck auf die Gäste machte, die zum ersten Mal kamen.

»Also nenn mir, bitte, einen Termin, damit ich Zeit für die notwendigen Vorbereitungen habe.«

»Die hast du ganz bestimmt.« Donata leerte ihr Glas und stand auf. »Aber, tut mir leid, ich kann das nicht hier und jetzt entscheiden.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich andere Dinge im Kopf habe.« Sie lächelte der Schwester versöhnlich zu. »Entschuldige mich, bitte. Ich habe einen langen Tag hinter mir.«

Endlich stellte Silvia die Musiksendung im Fernsehen aus. >Warum hat sie das nicht schon eher getan ?‹ dachte Donata erleichtert. »Ich gehe jetzt auch zu Bett«, erklärte Silvia. Donata wußte, daß das nicht ohne eine Flasche Whisky geschah, aber sie verbiß sich eine Bemerkung darüber, weil sie einsah, daß sie das nichts anging. »Vielleicht sehen wir uns zum Frühstück«, sagte sie, »ich schalte jetzt die Alarmanlage ein.«

Aber zum Frühstück erschien Silvia natürlich nicht. Donata hatte es auch weder erwartet, noch war sie böse darüber. Die Schwester pflegte in den Tag hinein zu schlafen, während sie selber sehr früh aufstand, und erst einmal einige Runden im leicht geheizten Schwimmbecken hinter sich brachte. Es lag unter dem Haus und, wenn in der warmen Jahreszeit die Schleuse geöffnet wurde, reichte es bis in den Garten hinein. Innen, gleich daneben, lag der Fitneßraum, den sich ihr Mann hatte einrichten lassen. Erst nach seinem Tod hatte sie sich angewöhnt, ihn auch selber aufzusuchen, erst eigentlich nur, um ihn nicht ungenutzt leer stehen zu lassen, später, weil sie die Erfahrung gemacht hatte, daß sie sich danach wohler fühlte. Erst absolvierte sie einige Übungen auf der lederbezogenen Bodenmatte, dann an der Sprossenwand und zum Schluß auf dem stehenden Fahrrad. Danach ging sie unter die Dusche und machte sich für den Tag zurecht. Sie brauchte eine knappe Stunde für ihren Frühsport, aber diese Zeit war ihr wichtig.

Danach betrat sie in langer Hose, Bluse, ein Jackett über dem Arm, ohne Perücke, aber immer mit hohen Schuhen, um größer zu wirken, das Frühstückszimmer.

Am Abend war nur die Ecke mit dem Fernseher schwach beleuchtet gewesen, jetzt, am hellen Morgen, kam der weite Raum, in den drei Stufen hinunter führten, erst voll zur Geltung. Vor der Terrassentür war der Tisch gedeckt, die Vorhänge waren aufgezogen und die Glastüren gaben den Blick auf das dekorative Parkett frei und auf die Bäume und Büsche, die dahinter den Garten begrenzten. Das leere Außenbad, das etwas tiefer lag, war aus dieser Perspektive nicht sichtbar. Donata freute sich an dem jungen Grün. Wie immer war der kleine Tisch für zwei Personen gedeckt, aber Donata war ganz froh, allein zu sein.

Frau Kowalsky, die Haushälterin, kam herein und grüßte fröhlich. Auf einem Tablett brachte sie eine Kanne Kaffee und ein Glas mit frisch ausgedrücktem Orangensaft. »Ein schöner Morgen«, sagte sie, »man merkt richtig, daß es Frühling wird.«

»Zum Glück, ja«, stimmte Donata zu, »das ist gut fürs Gemüt und fürs Bauhandwerk.«

»Ach, Frau Beck, als wenn Sie nicht immer fröhlich wären!«

»Ziemlich gelassen, sagen wir lieber. In meinem Alter hat man gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen, Frau Kowalsky.«

Die Haushälterin stellte das Glas vor Donata auf den Tisch und schenkte ihr Kaffee ein. »Ach was, das reden Sie sich doch nur ein. Tatsächlich sind Sie noch so jung.«

Donata hörte das nicht ungern; sie lachte.

»Sie brauchen doch bloß in den Spiegel zu schaun! Sie sehen eher wie ein kleiner Junge aus, als wie eine reife Frau.«

»Nun übertreiben Sie aber mal nicht!«

»Soll ich vielleicht die Gartentür öffnen? Ich hab’ zwar schon gründlich gelüftet, aber …«

»Wir könnten es versuchen.«

Die Frau öffnete die Tür einen Spalt breit, und ein Schwall sehr frischer Luft drang ins Zimmer.

»Danke, Frau Kowalsky«, sagte Donata, »sehr gut.«

»Wird es nicht zu kühl werden?«

Donata lächelte über ihre Besorgnis. »Dann mache ich einfach wieder zu.«

Frau Kowalsky preßte das leere Tablett gegen ihren Busen. »Soll ich irgendwas richten für heute abend?«

»Nein, danke. Keine besonderen Wünsche.«

»Na, dann wünsche ich Ihnen einen guten Tag.«

»Danke, Frau Kowalsky.«

Die Haushälterin verließ das Zimmer.

Sie und ihr Mann, beide schon nahe dem Rentenalter, betreuten Haus und Garten, und beide dachten nicht daran, wie Donata wußte, sich in absehbarer Zeit zur Ruhe zu setzen. Sie fühlten sich wohl bei Donata, und sie freute sich, daß sie sie hatte. Oskar Kowalskys Aufgabe bestand darin, das Schwimmbad in Ordnung zu halten, Wasser- und Lufttemperatur zu regeln und das Holz, ihr Auto und den Garten zu pflegen. Sie putzte, machte die Wäsche und die Besorgungen. Zu kochen brauchte sie nur bei besonderen Gelegenheiten, denn Donata war keine große Esserin. Sie lebte weitgehend vegetarisch und nahm nur dann eine Kleinigkeit zu sich, wenn sie gerade Hunger hatte. Wenn sie zuhause war, pflegte sie sich gern selber etwas zuzubereiten. Für ihre Dinners allerdings waren die beiden Kowalskys unbezahlbar. Dann nahm sie ihre Nichte zur Hilfe und kochte mit Erfahrung und Begeisterung, und ihr Mann pflegte, mit weißen Handschuhen und steinerner Miene zu servieren. Beide wohnten im Souterrain neben der großen Küche.

Donata trank zwei Tassen schwarzen Kaffee und ihr Glas Orangensaft, aß eine Schnitte Vollkornbrot, dick mit Butter bestrichen, und gönnte sich dann eine Zigarette.

Bevor sie aufbrach, kontrollierte sie noch einmal ihr unauffälliges Make up, stellte fest, daß ihre grünen Augen, nur leicht ummalt, sehr wach und munter in die Welt blickten, und zog sich die Lippen nach.

Dann schlüpfte sie in ihr Jackett, holte ihren Aktenkoffer aus der Garderobe, nahm vorsichtshalber noch ihren hellen Trench mit und stieg ins Auto.

Ein neuer Tag hatte begonnen, und sie freute sich darauf.

Auf der Baustelle an der Wolfratshauserstraße wurde schon eifrig gearbeitet. Kurz schoß Donata der Gedanke durch den Kopf, ob ihr jener junge Mann vom Abend zuvor begegnen würde. Doch sie verwarf ihn sofort wieder.

Die schwere graue Limousine des Bauunternehmers verriet ihr seine Anwesenheit. Sie parkte, stieg aus und blieb abwartend stehen. Daß Peter Blume sie bemerken und zu ihr kommen würde, wußte sie. Aber, mit Sicherheit, wie immer, würde er sich Zeit damit lassen, um ihr und seinen Leuten deutlich zu machen, daß er es nicht nötig hatte, nach ihrer Pfeife zu tanzen.

Als er endlich aus dem Rohbau kletterte, begrüßte er sie mit einem schiefen Lächeln; im Gegensatz zu seinem poetischen Namen war er ein gedrungener, fast bulliger Mann mit kleinen, tief liegenden Augen und einer weit fortgeschrittenen Glatze. Er trug einen Sicherheitshelm zum Straßenanzug. »Guten Morgen, Herr Blume!« Sie schüttelten sich die Hand. »Irgendwelche Schwierigkeiten?«

»Keine Sorge, Frau Beck, es läuft alles nach Plan.«

»Wie ich sehe, kommen Sie prächtig voran.«

»Kann man wohl sagen.«

Es war ihm anzumerken, daß er sich unbehaglich fühlte. Er gehörte nicht zu den Männern, denen es leicht fiel, zu einer Frau aufzusehen. Zudem war er sich bewußt, daß er das Haus zu hoch gezogen hatte, und natürlich fürchtete er, daß sie es bemerkt haben würde.

Donata bemühte sich diplomatisch zu sein. »Unser Bauherr hat Ihnen in den Ohren gelegen, wie? Keine angenehme Situation für Sie.«

Peter Blume blickte zu Boden und malte Kreise mit der Schuhspitze. »Wie kommen Sie darauf?«

»Liegt doch auf der Hand, meine ich. Ihm und seiner Frau hat es doch am Herzen gelegen, das Dachgeschoß auszubauen.«

»Ja. Schon. Aber das ist doch abgelehnt worden«, erinnerte er, immer noch ohne sie anzusehen.

»Schwer sich mit so etwas abzufinden, wenn man sich eine andere Lösung in den Kopf gesetzt hat.«

»Ist ja auch die reinste Schikane!« platzte er heraus. »Finden Sie? Dann sehen Sie sich doch mal etwas genauer die Nebenhäuser an. Sie sind zu ganz verschiedenen Zeiten gebaut, zwischen der Jahrhundertwende und heute, zeigen die unterschiedlichsten Baustile, und doch haben sie alle etwa die gleiche Höhe. Das sieht doch ganz annehmbar aus, nicht wahr? Nur unser Rohbau überragt sie.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Man sieht es mit dem bloßen Auge, Herr Blume.«

»Dann sehen Sie mehr als ich!«

»Außerdem habe ich es nachgemessen. Herr Blume, bitte, stellen Sie sich nicht stur! Sie wollten dem Bauherrn einen Gefallen tun. Das ist doch verständlich.«

Jetzt hob er den Kopf und sah sie herausfordernd an. »Ich weiß nicht, wem es was schaden soll, wenn das Haus nun ein paar Zentimeter höher wird!«

»Dem Gesamtbild, Herr Blume! Und selbst wenn es nicht so wäre: Die Entscheidung liegt nicht bei uns. Mein Entwurf mit dem ausgebauten Dachgeschoß ist abgelehnt worden. Wir müssen uns an die Vorschriften halten.«

Blume nahm den Helm ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich habe den Herrn Kramer darauf aufmerksam gemacht, daß er sich wahrscheinlich eine Geldbuße einhandeln wird. Aber er hat gesagt, das ist ihm egal. Das Haus, sagt er, kommt ihn so teuer, daß er gern bereit ist, noch was draufzulegen. Das käme ihm nun auch nicht mehr darauf an.«

»Und weiß er auch, daß es unter Umständen mit einer Geldbuße nicht getan ist? Daß die Behörden verlangen können, daß die Höhe herabgesetzt wird?«

»Wenn das Haus erst mal steht, dann steht es.«

»Das glauben Sie doch selber nicht, Herr Blume! Dazu wird es ja gar nicht kommen. Schon bei der nächsten Zwischenkontrolle sind wir dran und kriegen die entsprechenden Auflagen. Wenn wir Einspruch erheben, werden die Bauarbeiten eingestellt. Dann bleibt die Arbeit womöglich monatelang liegen, und an einen Einzug im Herbst kann nicht mehr gedacht werden. Nach menschlichem Ermessen wird der Herr Kramer dann doch nachgeben müssen. Die Behörden sitzen immer am längeren Hebel.«

»Und ich sage, das ist eine Schande! Schließlich leben wir in einem freien Land …« Er steigerte sich, wenn auch künstlich, in eine gewaltige Wut hinein.

Donata gab ihm Gelegenheit sich auszutoben, wenn sie auch dachte, daß seine Tiraden besser an einen Stammtisch gepaßt hätten.

»Ich verstehe ja Ihren Standpunkt«, sagte sie besänftigend, als sie endlich wieder zu Wort kam, »eine zusätzliche Wohnung wäre natürlich eine schöne Sache. Aber wir können sie nicht erzwingen. Ich habe wirklich alles versucht, sie der Behörde schmackhaft zu machen. Gerade deshalb wird sie in unserem Fall besonders genau sein. Sie ist gewarnt.«

»Was soll ich jetzt nur machen?«

»Sich an den Plan halten, Herr Blume. Noch ist ja nicht viel passiert. Lassen Sie das überflüssige Mauerwerk abtragen – es muß ja nicht gleich heute sein.«

»Aber ich habe dem Herrn Kramer versprochen …« Blume drehte den Helm zwischen den Händen und ließ den Satz unausgesprochen.

»Verweisen Sie ihn an mich! Ich werde ihm die Situation schon klar machen.« Sie schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln. »Das soll doch nicht das letzte Projekt sein, an dem wir zusammen arbeiten, nicht wahr? Also dürfen wir uns nicht in Verruf bringen. Wenn es erst mal heißt: >Blume und Beck, die halten sich nicht an die Vorschriften, denen muß man auf die Finger schauen‹, dann schaden wir nicht nur uns, sondern auch unseren Auftraggebern.« »Das sehe ich schon ein«, gab er zu.

Sie hätte ihm auch sagen können, daß letztlich nicht er, sondern nur sie die Verantwortung für den Bau trug. Das hatte sie vermieden, um sein männliches Ehrgefühl nicht zu verletzen.

»Die Verhältnisse können sich ja auch ändern«, erklärte sie, »ein genereller Ausbau der Dachgeschosse steht ja jetzt schon zur Debatte. Ich habe das Dach so konstruiert, daß es sich auch nachträglich noch ohne besondere Schwierigkeiten und Kosten heben läßt, und auf den Boden kommt auf alle Fälle schon mal ein Estrich als Unterlage, wie vorgesehen.«

»Das werde ich dem Herrn Kramer erklären.«

»Ich wäre Ihnen schon sehr dankbar, wenn Sie mir das abnehmen würden, Herr Blume. Aber notfalls schicken Sie ihn ruhig zu mir!«