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Sarah Beth Durst

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Beschreibung

Cosy Romantasy zum Wegträumen mit Marmelade, Magie & jeder Menge Zaubersprüchen. Kiela hat es nicht so mit den Menschen – was als Bibliothekarin in der Hauptstadt des Reiches auch kein Riesenproblem ist. Doch als eine Revolution ausbricht und fast die gesamte Bibliothek ein Opfer der Flammen wird, flieht sie auf die abgelegene Insel, auf der sie aufgewachsen ist, und beginnt noch einmal ganz von vorne. Sie bezieht ein kleines, gemütliches Cottage, stellt die beste Marmelade her und lernt die Menschen vor Ort kennen. Mit dem durchaus attraktiven Seepferdchenzüchter von nebenan bahnt sich sogar so etwas wie eine … Geschichte an. Doch auch fern der Hauptstadt gibt es Probleme, die nur schwer zu lösen sind. Zum Glück befinden sich in den Bücherkisten, die sie vor den Flammen retten konnte, einige nützliche Zaubersprüche, mit der sie die Dinge ins Lot bringen könnte. Wenn es nur nicht strengstens verboten wäre, sie anzuwenden. Für Leser*innen von Travis Baldree, Heather Fawcett und T.J. Klune  

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Sarah Beth Durst

Spellshop

Vom Zauber der kleinen Dinge

 

Aus dem Englischen von Aimée de Bruyn Ouboter

 

Biografie

 

 

 

Inhalt

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Danksagungen

Für Adam,

mit Liebe und Himbeermarmelade

Kapitel 1

Nie hätte Kiela gedacht, dass das Feuer die Bibliothek erreichen würde. Die übrigen Bibliothekare waren schon vor Wochen geflohen, als die Revolutionäre den Palast gestürmt und den Kaiser auf recht dramatische Art und Weise aus dem Fenster gestürzt hatten, aber das hatte sie nur am Rande mitbekommen. An der Bibliothek würde sich ganz bestimmt niemand vergreifen! Immerhin war hier alles voller Bücher. Leicht entzündlicher, unersetzlicher Bücher.

Die große Bibliothek von Alyssium mit ihren hoch aufragenden Türmen, Buntglasfenstern und labyrinthischen Gängen zwischen Bücherregalen war das Juwel des Mondsichel-Inselreichs. Seine geheiligten Magazine enthielten jahrhundertealte Abhandlungen, Geschichtswerke, Studien und – Kielas Meinung nach am wichtigsten – Zauberbücher. Nur die Elite, die Crème de la Crème der Gelehrten, bekam die Zauberbücher zu Gesicht, denn nur wenigen Auserwählten war es nach kaiserlichem Recht gestattet, Magie zu betreiben.

Kiela war verantwortlich für die Grimoires im Ostflügel des dritten Stocks. Die letzten elf Jahre lang hatte sie hier zwischen den Regalen gearbeitet, gegessen und geschlafen. Vermutlich dachte sie deshalb zunächst, sie habe ein Stück Toast auf der Grillplatte vergessen, als sie den Rauch roch.

Nur um auf der sicheren Seite zu sein, hatten ihr Gehilfe Caz und sie Anfang der Woche damit begonnen, einige ihrer liebsten Folianten in Kisten zu packen und in eins der bibliothekseigenen Boote zu laden. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme: Kiela war die ganze Zeit überzeugt gewesen, eine Evakuierung würde nicht notwendig sein. Geborgen zwischen den Regalen, weit fort vom politischen Geschehen und der Gewalt, war es ein amüsantes Spiel: Wäre sie auf einer einsamen Insel gestrandet, welche Bücher würde sie am dringendsten bei sich haben wollen? Zweifellos das »Grimoire über das Pflanzenwirken«, zusammengestellt von den Gelehrten Messembe und Cannin im Jahr 357, sowie »Die Manipulation des Wettergeschehens: eine Studie über die Auswirkungen von Zaubersprüchen auf das Paarungsverhalten von Papageientauchern«, ein faszinierendes, geradezu bahnbrechendes Werk, das …

Caz schwang sich an seinen langen Blättern in den Gang, in dem sie im Schneidersitz vor einem Stapel Bücher saß. Er war ein Spinnenkraut, etwa so groß wie ein Hofhund und bestand ganz aus Laub. In seinem Innersten umklammerte ein Wurzelknoten einen Ball aus Erde. Kiela hatte noch nie einen klügeren Gehilfen gehabt als ihn – allerdings auch noch nie einen ängstlicheren, was möglicherweise Hand in Hand ging.

»Wir müssen sterben!«, verkündete er ihr mit. Dabei raschelten seine Blätter so laut, dass sie ihn kaum verstehen konnte.

»Hier passiert uns nichts«, sagte sie begütigend. Nach Jahren in dieser heiligen Stätte beherrschte sie den Ton perfekt. Sie fügte dem In-die-fünfte-Kiste-packen-Stapel ein weiteres Werk hinzu, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und legte es stattdessen auf den Nur-wenn-es-noch-reinpasst-Stapel. »In einer Bibliothek wird nicht gekämpft.«

Er wedelte mit den Blättern. »Sie sind aber eingefallen! Haben die Vordertür aufgebrochen und plündern den Kinney-Saal!«

»Ach, du liebe Güte!«

Die Tür zum Kinney-Saal war ein Ungetüm aus Messing, gesichert mit Riegeln aus jenem stabilen Holz, das für den Bau von Bootsskeletten verwendet wurde. Kurz versuchte Kiela, die Kraft zu errechnen, die man brauchte, um eine dreißig Fuß hohe Tür gewaltsam aufzustemmen, dann riss sie die Augen auf. »Sie plündern, sagst du?«

Dass die Rebellen die Bibliothek und ihre Schätze beschlagnahmten, war zu erwarten gewesen: Es war ihrer Sache dienlich. Aber Plünderungen? Sie waren Freiheitskämpfer, keine wilden Tiere! Kiela stand ihren Zielen nicht einmal ablehnend gegenüber. Auf Caz’ Empfehlung hin hatte sie in den Anfangstagen der Revolution einige Flugblätter gelesen, und die Forderungen nach Wahlen und dem Austausch von Wissen waren ihr recht vernünftig vorgekommen …

»Der nördliche Lesesaal steht in Flammen«, sagte Caz. »Sie haben die Wandteppiche angezündet, und das Feuer ist auf die Schriftrollen übergesprungen.«

Kiela fühlte sich elend. So viele alte Handschriften!

Er zupfte mit einem Blatt an ihrem Ärmel. »Komm schon, Kiela, wir müssen verschwinden!«

Verschwinden? Jetzt? Aber sie war doch noch gar nicht fertig mit …

»Mach einen Witz übers Wurzelschlagen«, warnte Caz sie, »und ich gehe ohne dich!«

Sie rappelte sich auf. Die fünfte Kiste war nur halb gefüllt. Ohne auch nur einen Blick auf die Titel zu werfen, beförderte Kiela einen Armvoll Bücher hinein, aber als sie weitere aufsammeln wollte, rief Caz: »Es reicht!« Die Kiste hatte Rollen, und Kiela steuerte sie auf den Fahrstuhl zu. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie an den Regalreihen voll schöner, wunderbarer Bücher vorbeihasteten. Im Laufen raffte sie noch ein paar ihrer Lieblinge zusammen.

Dann stieß sie die Kiste in den Fahrstuhl und zog das Gitter hinter ihnen herab. Caz drückte mit einem Blatt den Knopf und drehte dann die Kurbel. Die Kabine ruckte und fuhr abwärts.

Unterwegs hörte Kiela Metall klirren, und ihr Magen flatterte. Sie wusste nicht aus eigener Erfahrung, wie sich ein Kampf anhörte, wohl aber, welche Geräusche in einer Bibliothek zu erwarten waren. Diese gehörten nicht hierher, und das war Furcht einflößend. Caz schob sich dichter an sie heran, und sie wünschte, der Fahrstuhl wäre nicht so langsam.

Was, wenn er auf einem Stockwerk hielt, wo gekämpft wurde?

Was, wenn er stecken blieb?

Wieder und wieder drückte sie auf den Knopf für das Untergeschoss, als könnte sie den Fahrstuhl so ermutigen. Rasselnd, quietschend und surrend rumpelte er tiefer hinab. Der Rauchgestank nahm zu. Durch das Gitter sah sie, dass die Bücherregale in nebeligen Dunst gehüllt waren.

»Hätten wir doch bloß die Treppe genommen!«, jammerte Caz.

»Wir hätten die Bücher nie tragen können«, sagte Kiela.

»Wenn wir umkommen, retten wir kein einziges Buch!« Er zitterte so heftig, dass ihm ein paar Blätter ausfielen. »Ach herrje, ich entlaube!«

»Du musst an was anderes denken!«, riet sie. »Eichen werden viel öfter vom Blitz getroffen als alle anderen Bäume. Äpfel treiben auf dem Wasser, weil sie zu fünfundzwanzig Prozent aus Luft bestehen. Wenn man zählt, wie oft eine Grille in fünfzehn Sekunden zirpt, kann man die Temperatur draußen berechnen.«

»Und wenn es draußen brennt?«, fragte Caz. »Wie schnell zirpen sie, wenn alles in Flammen steht?«

Der Fahrstuhl hielt mit einem heftigen Ruck an. Eilig schob Kiela das Gitter hoch, und Caz bugsierte die Kiste mit Hilfe seiner Ranken in Position. Zusammen schoben sie sie nach draußen.

Hier unten konnten sie keinen Kampfeslärm mehr hören, und ein fischiger Geruch überlagerte den Gestank nach Qualm. Alyssium war bekannt für seine vielen Kanäle. Auch deshalb war es eine der schönsten Städte der Welt, das Kleinod des Kaiserreichs. Kiela war tief beeindruckt gewesen, als sie hierhergekommen war. Damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, und ihre Eltern hatten noch gelebt. Sie wusste noch gut, wie sie Alyssium zum ersten Mal gesehen hatte: die glitzernden Kanäle, über die sich weiße Brücken spannten, die Türme und die Blumen, die auf jedem Balkon blühten, von jedem Fenster hingen, jede Tür umrahmten. Wie viel von der Stadt, an die sie sich erinnerte, war wohl noch übrig?

Im Laufschritt rollten sie die Kiste durch die engen Steingänge, und Kiela horchte angestrengt. Aber sie hörte nur Wasser gegen Stein schwappen und ein stetes Tropfen – irgendwo in der Nähe musste es ein Leck geben. Vor ihnen befanden sich die Boote.

Sie waren unterirdisch in schmalen Buchten vertäut und dazu gedacht, Bücher auf die benachbarten Inseln zu bringen und wieder von dort abzuholen. Alle hatten silberne Segel, die fest um den Mast gebunden waren, und Rümpfe aus dunklem Kirschbaumholz, in denen sich mehrere Bücherkisten verstauen ließen. Dennoch waren sie schmal genug, dass eine einzelne Bibliothekarin sie segeln konnte. Im letzten Winter hatte Kiela einem bettlägerigen emeritierten Zauberer die vollständige Reihe der Gelehrten Cypavia gebracht: »Eine Untersuchung der Aufgaben von Waldgeistern – Dichtung und Wahrheit«. Er hatte seine Haushälterin angewiesen, ihr eine Tasse Tee anzubieten, aber sie hatte höflich abgelehnt: Lieber hatte sie in die Geborgenheit der Bibliothek zurückkehren wollen. Wenigstens ist Cypavias Werk in Sicherheit. Aber das war nur ein schwacher Trost, wenn sie an den Wissensschatz über ihnen dachte, der in höchster Gefahr schwebte.

Die vier fertig gepackten Kisten waren bereits in einem der Boote unter einer Plane verstaut. Kiela rollte die halb volle fünfte an Bord und sicherte sie mit Gurten. Wenigstens drei weitere hätten Platz gehabt, aber sie hatten keine Zeit, sie zu füllen. Hätte sie doch schneller sortiert! Oder wäre weniger wählerisch gewesen. Außerdem hätte sie mehr Vorräte einpacken sollen. Sie hatte bloß einige Wasserkrüge, eingekochte Pfirsiche in Gläsern, einen Sack getrockneter Bohnen und einen Sack Pekannüsse dabei. Für Caz stand ein Kübel mit frischer Erde bereit. Kiela hatte ein paar Kleider zum Wechseln und leere Notizbücher für den Notfall ins Boot geschmuggelt. Aber sie hatte ihre persönlichen Sachen nicht aus ihrem Zimmerchen in der Bibliothek geholt. Wehmütig dachte sie an alles, was sie zurückgelassen hatte: ihre alten Tagebücher, ihre besten Schreibfedern, eine geschnitzte Meerjungfrau, die sie als Kind von ihren Eltern bekommen hatte. Caz hatte jedoch recht: Sie mussten sich selbst retten. Und die Bücher.

Wir kommen zurück, wenn alles vorbei ist, dachte sie. Es ist ja nicht für immer!

Sie löste das Tau, nahm die Stange, mit der sie durch die Kanäle staken konnte, und stieß sich von der Mauer ab. Das Boot glitt aus der Bucht. Das Segel war noch um den Mast gebunden. So würde es bleiben, bis sie auf dem offenen Meer waren.

Eigentlich durfte sie weder das Boot noch die Bücher einfach so nehmen. Und auch Caz nicht. Aber wen hätte sie um Erlaubnis bitten sollen? Es war niemand mehr da. Sie sagte sich, dass ihr später alle Welt dankbar sein würde – bei ihrer Rückkehr. Sie stahl ja nichts, sondern tat bloß ihre Arbeit: Sie kümmerte sich um die Sammlung. Ich … erweitere bloß die Definition!

Sie stakte durch die Tunnel, bis sie schließlich auf einen der offenen Kanäle der Stadt hinauskamen.

»Das ist ja fürchterlich!«, raunte Caz.

Kiela musste ihm zustimmen.

Rauch stieg von den Brücken und Türmen auf und verschlang die Sterne. Flammen tauchten alles in ein schauriges Flackern. Der beißende Qualm legte sich ihr auf den Gaumen, drang ihr in die Lunge. In dem unnatürlichen Licht sah ihre himmelblaue Haut kränklich aus; der Rauchgestank haftete in ihrem dunkelblauen Haar. Auf dem Kanal blieb Kiela und Caz zwar das Schlimmste erspart, nicht jedoch der Anblick des Todes.

Später verdrängte sie diese entsetzliche Nacht, so gut sie konnte: die Schreie, die Leichen im Wasser, die Angst, die sie heftiger würgte als der Qualm. Die Fahrt durch die Kanäle kam ihr endlos vor, und die Geräusche wehten über das Wasser zu ihnen herüber, selbst als sie endlich das Meer erreicht hatten.

Als das Wasser zu tief zum Staken wurde, setzte Kiela mit Caz’ Hilfe das silberne Segel. Schon als kleines Mädchen hatte sie das Bootfahren gelernt, und durch das Ausliefern von Büchern war sie in Übung geblieben. Daher musste sie zum Glück nicht nachdenken. Ihre Hände wussten, was zu tun war, wie sie das Segel in den Wind stellen mussten, um so rasch wie möglich fortzukommen, fort, nur fort.

Hinter ihnen brannte die prächtige Stadt mit ihren Menschen (den guten wie den schlechten), ihrer Geschichte (dem Guten wie dem Schlechten), ihren Büchern und Blumen. Und Kiela wusste, dass sie nie zurückkehren würde.

 

Als die Sonne rosarot, gelb und erwartungsfroh über dem Meer aufging, entschied Kiela, nach vorn zu schauen, nicht zurück. In Alyssium würde sie niemand vermissen – was an und für sich ein recht deprimierender Gedanke war. Wirklich? Niemand?

Sie war immer so mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen, dass sie die Bibliothek nur für die seltenen Buchauslieferungen verlassen hatte, und zwar schon seit … Waren es Jahre? Ja, allerdings. Nach dem Studium war sie einfach in eins der Zimmerchen in den Tiefen der Bibliothek eingezogen. Das war ihr einfacher erschienen. Sie hatte keine Zeit damit verschwenden müssen, zur Arbeit und wieder nach Hause zu eilen.

Sie hatte keine Familie in der Stadt, und ihre Kommilitonen hatte sie rasch aus den Augen verloren: Sie waren in ihr Leben abgetaucht, und Kiela war von ihrem eigenen Alltag in Anspruch genommen worden. Alle Mahlzeiten waren ihr geliefert worden, jederzeit frisch zubereitet. Gelehrte kamen und gingen meist zu ungewöhnlichen Stunden, und so war auch der Tagesrhythmus der Bibliothekare ungewöhnlich. Kiela hatte bloß eine Nachricht über einen Schacht geschickt, dann war ihr Mahl zügig per Fahrstuhl geliefert worden. Nie hatte sie mit jemandem ein Wort wechseln müssen. Das Verfahren war ihr vollendet erschienen.

Die anderen Bibliothekare und Bibliothekarinnen … Nun, die hatten selbst auf anderen Stockwerken und in anderen Gebäudeflügeln zu tun gehabt. Kiela hatte Leute nie gern bei der Arbeit gestört. Und behutsam (so behutsam, dass sie nicht einmal selbst gemerkt hatte, was sie tat) hatte sie ihre Kollegen entmutigt, sie zu stören. Jetzt ging ihr auf, dass sie in den letzten drei Wochen mit niemandem außer Caz gesprochen hatte. Und davor? Einer der Hausmeister hatte in der Nähe einiger besonders empfindlicher Schriftrollen Staub aufgewirbelt, und sie hatte ihn davongescheucht.

Es war nicht so, dass sie Menschen nicht mochte. Sie mochte bloß Bücher lieber. Bücher machten kein Theater, verurteilten oder verspotteten einen nicht und wiesen einen auch nicht zurück. Nein, sie baten einen hinein, schüttelten die Kissen auf der Couch auf, boten einem Tee und Toast an und ließen einen dann in ihr Herz blicken, ohne irgendetwas anderes zu erwarten, als dass man in sich aufnahm, was sie zu bieten hatten.

Und das war alles gut und schön, bloß war sie deshalb jetzt in Verlegenheit: Wohin sollte sie sich wenden, nun, da ihr altes Leben sich im wahrsten Sinne des Wortes in Rauch aufgelöst hatte?

»Caz …«

»Mhm«, machte er gedämpft.

Sie schaute zu ihm hin. Er hatte sich zwischen zwei Kisten verkrochen und die Blätter fest um seinen Wurzelknoten gelegt. »Was machst du denn da, Caz?«

»Fische fressen Pflanzen.«

»Manche Fische, das stimmt schon.« Sie war auf dem Gebiet der Ernährungsgewohnheiten von Fischen nicht gerade bewandert, sondern wusste nur, dass es Fische gab, die Seetang bevorzugten. Plankton nahmen sie wohl auch zu sich. Und Insekten? »Es gibt auch Fische, die andere Fische fressen.«

»Die wiederum Pflanzen fressen.«

»Kann schon sein.«

»Alles giert nach Pflanzen«, klagte Caz. »Aber kaum ein Lebewesen frisst Bücher, und deshalb sitze ich hier. Niemand wird auf den Gedanken kommen, zwischen den ganzen toten Bäumen nach einem frischen grünen Happen zu suchen. Und deshalb rühre ich mich nicht vom Fleck, bis wir ankommen. Hoffentlich gibt’s da, wo wir hinwollen, weder Fische noch Schafe, Kühe oder Ziegen.« Er schauderte heftig bei dem Wort »Ziegen«, und Kiela fragte sich, ob er schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht oder bloß etwas über sie gelesen hatte. Höchstwahrscheinlich Letzteres. Naheliegenderweise war es nicht erlaubt, Nutztiere in die große Bibliothek mitzubringen.

»Darüber müssen wir reden«, sagte Kiela. »Wir müssen uns überlegen, wo wir bleiben sollen.«

»Das … weißt du gar nicht?«

»Ich dachte nicht, dass wir wirklich fliehen müssen«, gestand sie. »Ich hätte mir höchstens vorstellen können, dass wir uns für ein paar Stunden oder Tage zurückziehen müssen … Allenfalls für eine Woche.« Sie hatte geglaubt, sie könnten einen Liegeplatz im Hafen einer der umliegenden Inseln mieten – Varsun vielleicht oder Iva – und zwei, drei Nächte in einer der entzückenden Herbergen schlafen, in denen der niedrige Adel verkehrte.

Caz sank in sich zusammen, als wäre er noch nie gegossen worden. »Das dachte ich auch.«

Sie schwiegen. Es war ein herrlicher Tag zum Segeln. Der Wind war gerade stark genug. Fröhliches zitronengelbes Licht tanzte auf dem Wasser, und die Möwen am Himmel stießen ihre heiseren Schreie aus. Die vielen Inseln des Sichelmondreichs (falls es denn nach der Revolution noch ein Reich war) sahen aus der Ferne betrachtet friedvoll aus, zumindest wenn man nicht dahin schaute, wo der dichte Rauch noch immer den Himmel über der Hauptstadt trübte. Majestätisch ragten die grauen, weißen und schwarzen Klippen der Inseln auf, und die hübschen kleinen Fischerdörfer wirkten idyllisch mit ihren bunt gestrichenen Häuschen, den fröhlichen Gärten und den Kopfsteinpflasterstraßen. Caz und sie konnten in einem der Häfen anlegen und dann – ja, was? Eine Herberge konnte sie sich höchstens ein paar Tage lang leisten. Das Geld in ihrer Tasche würde nicht weit reichen. Selbst wenn sie nur die Hafengebühren bezahlen würde – ihr gefiel der Gedanke gar nicht, tagein, tagaus auf dem Boot zu leben.

Aber was brachte es, in Panik auszubrechen? Sie würde weiter nachdenken, während sie segelte. Früher oder später würde ihr schon etwas einfallen.

Ein Stück weiter draußen sah sie fischschwänzige Seepferde mit den Wellen steigen und sinken. Sie hielt den Atem an. Die Tiere boten einen prächtigen Anblick: vorne Pferd, hinten Fisch. Fasziniert beobachtete Kiela, wie sie durchs Wasser trabten. Ihre Vorderhufe durchschlugen die Wellen, während ihre kräftigen Fischschwänze sie vorwärtstrieben. Muskulös waren sie, und ihre Schuppen schimmerten wie Juwelen: Sie waren die lebende Verkörperung von Kraft und Schönheit. Wie der Ozean selbst, dachte Kiela. Ein Seepferd schüttelte die Mähne. Tropfen sprühten und brachen das Licht. Kurz hing ein Regenbogen in der Luft.

»Caltrey«, murmelte Kiela.

»Wie bitte?«

»Das ist eine Insel.«

»Nie gehört!«

»Das hätte mich auch überrascht«, sagte Kiela. »Sie ist sehr klein und abseitig. Weit im Norden. Sie liegt nicht an einer der Schifffahrtsstraßen. Die Einheimischen arbeiten mit Seepferden … Sie helfen ihnen beim Fischen.«

Neugierig zog Caz sich in dem Spalt zwischen seinen beiden Kisten hoch und hockte sich auf eine, um über das Meer blicken zu können. »Woher weißt du das? Ach, sag’s mir nicht … Du hast was darüber gelesen! Stimmt’s?«

»Nein, um ehrlich zu sein … Ich bin dort geboren worden.« Ihre Stimme schwankte ein kleines bisschen, und sie schluckte schwer. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an Caltrey gedacht. Wieso brachte sie der bloße Gedanke, dorthin zurückzukehren, derartig durcheinander?

Ihre Eltern hatten lange gespart, um die Insel verlassen zu können. Sie hatten in der Hauptstadt ein besseres Leben führen und Kiela alle Möglichkeiten geben wollen, die sie auf der abgelegenen Insel nie gehabt hatten. Sie war damals noch nicht einmal neun Jahre alt gewesen, aber sie erinnerte sich an die Klippen, Bauernhöfe und Gärten. Das einzige Dorf auf der Insel hieß ebenfalls Caltrey und bestand aus einer Handvoll Kopfsteinpflasterstraßen. Es gab eine Mühle an einem Wasserfall und eine Schule in einer alten Scheune. Sie wusste noch, wie das Dorf bei Sonnenuntergang ausgesehen hatte, erinnerte sich an die geflügelten Katzen auf den Dächern und den Duft nach frisch gebackenem Brot in der Morgendämmerung. Im Frühling wuchsen überall Wildblumen: auf den Dächern, den Klippen, den Feldern. Im Winter hüllte der Schnee alles in eine weiche, weiße Decke. Sie hatte immer heiße Milch mit Schokolade getrunken und vom Fenster aus zugesehen, wie der Schnee ins Meer fiel …

»Ähm, Kiela?«, fragte Caz.

»Ich glaube, ich hab da ein Haus.« Ihre Eltern hatten es nicht verkauft. So weit entfernt vom Herzen des Inselreichs hätten sie nicht viel Geld dafür bekommen. Und Kielas Vater hatte es behalten wollen, falls er und Kielas Mutter einmal genug vom Stadtleben haben sollten – dann hätten sie ihren Lebensabend dort verbringen können. Kielas Mutter allerdings hatte die Stadt viel zu sehr geliebt, sie hätte nie zurückgehen wollen. Das bedeutet wohl, dass ich es geerbt habe. Es gab niemand anderen, der Anspruch darauf erheben konnte. Sie hatte sonst keine Familie. »Falls niemand eingezogen ist. Oder es zusammengefallen ist. Es ist klein. Bloß ein Cottage. Aber …« Es war schön. Wenigstens in ihrer Erinnerung – die Bilder waren so bezaubernd und zart wie Seifenblasen. Mittlerweile wurde es wahrscheinlich von Fledermäusen, Feldmäusen und Bären bewohnt, und das Dach war womöglich eingestürzt. »Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann dorthin zurückkehren würde.« Zumindest nicht ohne meine Eltern.

»Ist es hübsch dort?«

»Sehr. Glaube ich zumindest … Vielleicht ist das jetzt anders.« Ich bin anders. Ihre magentafarbenen Sommersprossen waren vor Jahren verschwunden, und sie trug längst keine Rattenschwänzchen mehr. Außerdem hatte sie nun einen höheren Abschluss in Bibliothekswissenschaft und auffällige Einsiedlertendenzen.

»Na dann«, sagte Caz. »Fahren wir zu deiner Insel!«

Kiela steuerte das Boot nach Norden.

»Nur dass wir uns verstanden haben – sie halten da keine Ziegen, oder?«

»Oh, bestimmt gibt es auf der ganzen Insel keine Tiere, die Pflanzen fressen«, erwiderte Kiela. Der Wind füllte die Segel, und bald hüpfte das Boot über die Wellen.

»Hervorragend! Warte mal … Sagst du das nur, um mich zu beruhigen?«

»Ja«, gab sie zu.

Grummelnd kroch er wieder zwischen die Kisten voller Zauberbücher. Sie segelten nordwärts, auf ihrer beider Zukunft und Kielas Vergangenheit zu.

Kapitel 2

Als die Sonne den Abendhimmel orangerot färbte, steuerte Kiela eine kleine Bucht der Insel Caltrey an. Sie lag nur anderthalb Kilometer östlich des Dorfhafens, verborgen hinter einem Schirm aus Felsen und Bäumen. Kiela richtete den Bug so aus, dass er zwischen die Felsen wies.

»Du kenterst!«, warnte Caz.

»Aber nein«, sagte Kiela. »Ich lege an.«

In der Bucht hatte es früher einen hölzernen Landesteg gegeben, der zum Cottage ihrer Familie gehörte. Sie erinnerte sich daran, dass sie gern am Ende gesessen und den Fischen bei ihren Wassertänzen zugeschaut hatte. Bei Ebbe hatte sie Krabben über die Steine huschen sehen, und bei Flut waren Meerkinder um die Pfeiler zum Vertäuen der Boote geschwommen, bis ihre Eltern sie zurück aufs offene Meer gerufen hatten. Die Inselbewohner hatten immer gesagt, Meerkinder zu sichten bringe Glück. Natürlich war es gut möglich, dass der Landesteg nicht mehr existierte. Im schlimmsten Fall würde sie Anker werfen, dann konnten sie ans Ufer waten. Oder sie zogen das Boot auf den Strand – vorausgesetzt, das war möglich, ohne dass der Rumpf an scharfkantigen Steinen Schaden nahm.

Mit einer Hand am Steuerruder lenkte sie das Boot um die Felsen herum und in die Bucht. Caz kletterte unter Einsatz seiner Ranken am Mast hoch. Die Sonne stand schon so tief, dass die Bucht im Halbdunkel lag. Das Wasser wirkte beinahe schwarz, und die Bäume, hinter denen die Felsklippen aufragten, warfen noch mehr Schatten. Es war beinahe still: Nur die Wellen waren zu hören, die über den felsigen Strand leckten, und der Ruf eines Vogels aus den Kiefern. Die Bucht wirkte jedoch trotz des Zwielichts nicht abweisend. Kiela kam es beinahe so vor, als umarmten die Schatten das Boot und seine Besatzung, so wie einen in einer kalten Nacht ein Nest aus Decken umfängt.

Der Landesteg stand noch – allerdings wirkte er viel wackeliger als in Kielas Erinnerung. Ungefähr ein Drittel der Bohlen fehlte, so dass der Steg dem Lächeln eines alten Mannes glich, der schon einige Zähne verloren hatte. Aber zum Glück waren die soliden Pfeiler noch da, wenn auch von oben bis unten mit Algen bewachsen.

Mit der Stange brachte sie das Boot an den Steg heran und warf das Tau um einen Pfeiler. Dann knüpfte sie einen Palstek. Ihre Mutter hatte sie den Knoten auf eben diesem Steg gelehrt. War das gestern gewesen? Vor einer Ewigkeit? Beides schien gleichermaßen möglich. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen. Dann zog sie das Segel ein und wickelte es fest um den Mast.

Caz kauerte auf einer der Kisten. »Diesen Steg betrete ich auf keinen Fall!«

»Willst du lieber schwimmen?«

»Ich bleibe lieber auf dem Boot«, erklärte er.

Kiela seufzte und rieb sich die Augen. Noch nie im Leben war sie so erschöpft gewesen. Nicht einmal, wenn sie bis zum Morgengrauen gelesen hatte. Die Schrecken auf der Flucht und die Anstrengung, die Nacht und den folgenden Tag durchzusegeln, gaben ihr das Gefühl, ein viel gelesenes Buch zu sein: Ihre Seiten wellten sich, und ihr Rücken war rissig geworden. »Ich könnte dich tragen.«

Kurz schwieg er. »Wie jämmerlich wäre das?«, fragte er dann.

»Meinst du, die Büsche verspotten dich?«

Hätte er Augen gehabt, hätte er sie jetzt wohl verdreht. »Na schön! Trag mich. Aber du darfst es nie jemandem erzählen!«

»Wem denn auch? Ich kenne die Leute hier nicht und will sie auch nicht kennenlernen.« Sie hob ihn auf, darauf bedacht, dass ihm die Erde nicht aus den Wurzeln fiel. Es war, als hielte man ein rundliches, überaus belaubtes Kleinkind auf dem Arm. Seine Ranken legten sich um ihre Schultern. Als sie nachfasste, maulte er leise vor sich hin.

»Wir bleiben für uns und gehen allen Schwierigkeiten aus dem Weg«, erklärte sie. »Mit etwas Glück findet keiner der Inselbewohner überhaupt raus, dass wir hier sind.«

Sie stupste mit den Zehen gegen eine Bohle. Sie schien belastbar zu sein. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht darauf und war erleichtert, dass der Steg nicht sofort unter ihr zusammenbrach. Caz’ Blätter drückten sich flach gegen ihren Rücken. Sie hielt ihn behutsam und prüfte jede Bohle, bevor sie darauf trat. Endlich erreichten sie so den Strand.

Caz kletterte von ihrem Arm zu Boden, schüttelte die Blätter und putzte sich mit einer Ranke. Ein bisschen sah er dabei aus wie eine Katze. »Das erwähnen wir nie wieder!«

»Selbstverständlich«, versprach sie.

Sie schaute an dem wuchernden Grün vor ihnen hinauf. Sie wusste noch von den Stufen, die in den Felsen gehauen waren, doch nun sah sie bloß eine Flut Ranken, die den Hügel herabstürzte. Mit gerunzelter Stirn lief sie davor auf und ab. Die Steinstufen mussten doch noch da sein! Wenn sie bloß den Anfang der Treppe … Ha! Da!

Sie schob mit dem Fuß die Ranken beiseite, und die erste Stufe kam zum Vorschein. »Ich hab ihn gefunden!«

»Wen?«, fragte Caz.

»Den Weg nach Hause.« Nach Hause. Die Worte schienen sie zu durchbeben.

Stufe für Stufe stieg sie hinauf, und Caz folgte ihr dichtauf. So gut sie es vermochte, legte sie unterwegs die Treppe frei. Manchmal bekam sie nur einen schmalen Streifen Stein blank, aber das reichte schon. Als sie schließlich oben ankamen, war die Sonne ganz untergangen.

In das silbrige Grau der Dämmerung gehüllt, wartete das Cottage auf sie. Wie gern hätte sie sich gefühlt, als hätten sie es geschafft! Sie war daheim, sie waren in Sicherheit, und von nun an würde alles leichter werden … Nur war das Cottage beinahe ebenso dicht von Ranken überwuchert wie die Treppe. Es war unmöglich zu erkennen, wo sich unter all dem Grün die Mauern befanden. Ihr früheres Zuhause sah aus, als stünde es kurz davor, ganz und gar verschluckt zu werden.

»Wie hübsch«, sagte Caz.

»Na, und wer schwindelt jetzt?«

»Es hat ein Dach. Und Wände!«

Damit hatte er recht. Es hätte schlimmer kommen können.

Viel zu nah schrie eine Eule, und Kiela fuhr heftig zusammen. Caz huschte hinter sie. Sie zwang sich, tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Es sah nicht so aus, als lebte jemand in dem Haus – das war gut. Sie hätten Hausbesetzer vorfinden können. Oder neue Besitzer, wären die Dörfler zu dem Schluss gelangt, dass es keine lebenden Angehörigen mehr gab. Allerdings war nicht abzusehen, wie viele Mäuse, Vögel und andere Geschöpfe inzwischen eingezogen waren.

Wären sie doch früher angekommen, so dass es drinnen nicht so finster gewesen wäre!

»Sollen wir reingehen?«, fragte Caz.

Ja. Vielleicht. Lieber nicht. Sie wollte sich mit Caz zum Boot zurückziehen, wieder nach Alyssium segeln und sich in ihrem schönen, warmen Zimmerchen inmitten der Bücherregale verstecken. Dort wusste sie tags wie nachts, was sie zu erwarten hatte. Wenn sie dieses Haus betrat, was würde sie vorfinden? Und was würde passieren, wenn sie es nicht tat? Wie furchtbar, nicht zu wissen, was die richtige Wahl war!

Hätten wir nicht herkommen sollen? Was, wenn das ein folgenschwerer Fehler war?

Wieder rief die Eule.

»Ja, gehen wir rein«, sagte Kiela.

Sie näherten sich dem Vordereingang. Es war, als schliche man auf das Maul eines schlafenden Raubtiers zu. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, trockene Blätter häuften sich auf der Schwelle. Kiela kehrte sie mit dem Fuß beiseite und lehnte sich dann gegen die Tür, um sie weiter aufzuschieben. Sie ächzte und quietschte, als wäre sie seit Jahren nicht mehr bewegt worden, was sehr wohl möglich war.

Drinnen wartete sie, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Das letzte Licht des Tages fiel durch die wenigen Fenster, die nicht vollständig von Ranken verhängt waren. Es reichte gerade, um Umrisse zu erkennen: Stühle, riet sie, an einem Tisch. Sie verglich die Schemen mit ihrer Erinnerung und merkte verblüfft, dass sich ein Gefühl der Vertrautheit einstellte – als bekäme man eine Geschichte erzählt, die man beinahe vergessen hatte. Der Herd stand … ah ja, da! Wie eine zusammengekauerte große Kreatur sah er aus, und aus seinem Rücken wuchs ein Ofenrohr. In der vorderen Zimmerecke hatte ein Tagesbett gestanden, dort hatte sie geschlafen. Das Schlafzimmer ihrer Eltern ging nach hinten hinaus. Zu ihrer Linken – hinter dem Tisch – sollte der Küchenbereich sein. Vor einem Fenster, durch das man den Garten hinterm Haus sehen konnte, hatte es eine Spüle gegeben, aber die konnte sie in der Finsternis nicht sehen. Sie kam sich vor, als wäre sie in einen surrealen Traum gestolpert, in dem Erinnerungsfragmente von Schatten überlagert wurden. Was mochte Caz von all dem halten?

»Wäre es dir lieber, über Nacht auf dem Boot zu bleiben?«, fragte sie. »Dann können wir uns morgen bei Licht erst mal richtig umsehen.«

»Du willst auf dem Boot schlafen?« Caz klang entsetzt. »Da hätten wir Fische unter uns!«

»Du bist wirklich besessen von Fischen«, sagte sie. »Ich hatte ja keine Ahnung.«

»Man hört so einiges«, murmelte er düster.

»Soso.« Sie tastete sich durchs Zimmer. Trockene Blätter knisterten unter ihren Sohlen. Das Tagesbett war tatsächlich da, wo es ihrer Erinnerung nach stehen sollte, nur kam es ihr kleiner vor. Und schmutziger. Sie zog den Quilt herunter und schüttelte ihn aus. Zweiglein, Laub und Staub wirbelten durch die Luft. Sie hustete.

Dann legte sie den Quilt beiseite und tastete über die Matratze. Sie war nicht zerfallen – ein unverhoffter Glücksfall. Das Bett wirkte, als könnte es ihr Gewicht tragen, und dort, wo der Quilt gelegen hatte, fühlte sich die Matratze sogar relativ krümelfrei an. Und es war ja nicht so, als wäre sie nach der langen Fahrt besonders sauber.

»He, hier ist ein Loch im Boden!«, rief Caz erfreut. »Da kann ich heute Nacht Wurzeln schlagen.«

Würde sie im Cottage schlafen können? Nach der Flucht und den langen Stunden auf dem Meer sollte ihr das eigentlich überall gelingen. Sollten mich in der Nacht Mäuse oder Waschbären ermorden, finde ich wenigstens ein bisschen Ruhe und Frieden. Vorsichtig legte sie sich auf das kleine Bett. Es knarrte, brach aber nicht zusammen. Die abgenutzte Baumwolle des Quilts war samtweich, die Matratze überraschend gemütlich. Sie roch nach Staub und schwach nach Rosen. Die verkrampften Muskeln in Kielas Nacken und ihren Schultern begannen, sich zu lösen.

Draußen rief leise die Eule.

 

Als die Morgendämmerung die Finger in das rankenüberwucherte Cottage grub, schlug Kiela die Augen auf. Und schrie, da sie einen Mann erblickte, der mit einer Sense in der Hand in der Tür stand. Sie wollte aufspringen, aber die plötzliche Bewegung brachte das kleine Tagesbett aus dem Gleichgewicht. Es fiel um, und sie landete auf dem Boden.

Der Mann kam auf sie zu.

Kiela schrie abermals.

Hastig zog er sich zurück. Lehnte die Sense an die Wand. Und dann hob er beide Hände, die Handflächen nach außen gekehrt. »Verzeihung! Es tut mir sehr leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Seine Stimme war tief und beruhigend. Er war ihr fremd, was aber nicht weiter verwunderte – immerhin war sie ewig nicht hier gewesen. Als gut aussehend hätte sie ihn wohl nicht direkt bezeichnet, aber wie ein Mörder wirkte er auch nicht auf sie. Nicht, dass sie gewusst hätte, woran man einen Mörder erkennen sollte. Er war groß, was weder als Argument für noch gegen Mordgelüste taugte. Bestimmt hatte er sich unter dem Türsturz hindurchducken müssen. Außerdem machte er den Eindruck, stärker zu sein als der durchschnittliche Bibliotheksbesucher. Seinen Armen nach zu urteilen, konnte er eine ihrer Bücherkisten mit einer Hand aufheben. Oder ihre Kehle mit seinem kleinen Finger zerquetschen. Keine dieser Beobachtungen war auch nur das kleinste bisschen beruhigend.

Sie kämpfte sich hoch und schaute sich rasch im Cottage um. Aber wohin sie auch blickte – vom Spinnenkraut war nirgends eine Spur zu entdecken. Angst stieg in ihr auf. »Caz? Caz, geht’s dir gut? Hat er dir was getan?«

Die Hände noch immer erhoben, sagte der Mann ruhig: »Ich hab niemandem was getan. Und auch niemanden sonst gesehen. Nur du warst hier, als ich reingekommen bin.«

Ihr Herz hämmerte heftig gegen ihre Rippen, dabei hatte er eigentlich nichts weiter Bedrohliches getan – außer hier hereinzuplatzen und sie halb zu Tode zu erschrecken. Aber dass er so groß war, ein Mann und anwesend, flößte ihr schon genug Furcht ein. Und wo ist Caz?

»Was willst du?«, fragte sie und versuchte (erfolglos), mit festem Ton zu sprechen. »Wer bist du? Was machst du hier?«

»Ich wollte dich genau dasselbe fragen«, sagte er milde. »Dieses Haus steht zwar schon seit Jahren leer, aber das bedeutet nicht, dass es nicht jemandes Heim ist.«

»Es ist meins«, erklärte sie. »Mein Heim. Zumindest war es das. Und ist es noch. Ähm.«

»Aha?« Er schien darauf zu warten, dass sie weiterredete.

»Ich heiße Kiela Orobidan. Meine Eltern haben in dem Haus gelebt und vor ihnen die Eltern meiner Mutter. Ich bin hier geboren worden. Wir sind weggezogen, als ich acht war. Neun. Aber sie haben das Cottage nie verkauft. Es gehört mir.«

»Aha.«

Wollte er sonst gar nichts sagen?

Sie sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und schaute zu den Dachsparren hoch. Dort oben hatte Caz sich zwischen all den Spinnweben an einen Balken geklammert. Er winkte ihr mit einer Ranke, und sie seufzte leise. Es geht ihm gut! Er versteckt sich nur. Hätte sie sich doch auch rechtzeitig irgendwo verkriechen können! »Und du bist?«

»Larran Maver. Ich lebe am Fuß der Klippe, in der Nähe des Dorfs. Ich hab dein Boot in der Bucht gesehen, und da wollte ich mal nachschauen, wer sich im alten Orobidan-Cottage niedergelassen hat. Hier passen wir ein bisschen aufeinander auf.«

Auf den entlegenen Inseln ist man füreinander da! Als Kind hatte sie das oft gehört. So weit entfernt von den größeren Inseln mit ihren Städten blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, aber es war auch Ehrensache.

Sie musste zugeben: Das war eine plausible Erklärung für sein Eindringen. Er hatte ja nicht wissen können, dass sie auf dem staubigen alten Tagesbett lag und schlief. Trotzdem. Es gefiel ihr nicht, dass er den ganzen Türrahmen ausfüllte, ihr den Fluchtweg verstellte. »Du meinst wohl, du bist neugierig!«

Er lächelte, und das verwandelte ihn von einem gewöhnlichen in einen atemberaubend schönen Mann. Es war, als käme über der stürmischen See die Sonne hinter den Wolken hervor. Unwillkürlich lächelte sie zurück, erwischte sich dabei und runzelte die Stirn.

»Klar«, sagte Larran, »so kann man das auch ausdrücken. Wir ziehen hier ›nachbarschaftlich‹ vor, aber ›neugierig‹ trifft es wahrscheinlich ebenso gut.«

Vielleicht ist er trotzdem ein Mörder, ermahnte sie sich. Es gab kein Gesetz, das besagte, gefährliche Männer müssten hässlich sein wie die Nacht. Andererseits war er keinen Schritt nähergekommen, seit sie geschrien hatte. Und wenn sie nun zurückdachte, kam es ihr vor, als hätte er ebenfalls erschrocken ausgesehen.

Plötzlich war sie sich überdeutlich bewusst, dass ihre Haare auf einer Seite platt gedrückt waren. Im Mund hatte sie den Geschmack von Erdnüssen. So hatte sie die Nachbarn wirklich nicht kennenlernen wollen! Genau genommen hatte sie gehofft, ihnen nie über den Weg zu laufen. Es wäre so viel einfacher gewesen, hätte sie unentdeckt hierbleiben können! Weniger Variablen, weniger Probleme. Sie wollte, er würde wieder gehen.

»Was führt dich zurück nach Caltrey?«, fragte er.

Kiela erwog ein halbes Dutzend Antworten, entschied sich aber schließlich für die einfachste, die nicht von ihr verlangte, sich an allzu viele traumatische Erlebnisse zu erinnern. »Ich hatte genug von der Stadt.«

»Aha.«

Wie durch ein Wunder schien er diesen Grund sowohl einleuchtend als auch triftig zu finden.

»Kann ich dir zur Hand gehen? Bei …« Er schaute sich um, als listete er im Geiste die Unzahl von Dingen auf, bei denen sie möglicherweise Hilfe brauchte. Grob geschätzt war das alles. »Beim Einzug?«

Nicht doch! Sie wollte keinesfalls, dass er blieb. Sie war auf die Insel gekommen, weil sie sich mit Caz und den Büchern an einem Ort verstecken wollte, wo niemand sie kannte. Das war ihr bester Schutz. »Nein, danke. Wir … Ich komme zurecht!«

Er hob zweifelnd die Augenbrauen, brachte aber keine Einwände vor und tat auch sonst nichts, um sie umzustimmen. Das wusste sie zu schätzen.

»Solltest du deine Meinung noch ändern, findest du mich jenseits des Waldes – unten am Strand. Der Seepferd-Hof mit dem gelben Haus am Wasser. Du kannst jederzeit vorbeikommen.«

Sie hatte zwar nicht vor, die Einladung anzunehmen, aber sie dankte ihm trotzdem. Es war besser, zu ihrem neuen Nachbarn nicht unhöflich zu sein. Vielleicht wurde sie ihn dann sogar schneller los.

Tatsächlich verabschiedete er sich, nahm seine Sense und ging. Sie beobachtete durch ein Loch im Efeu vor dem Fenster, wie er davonspazierte. Schon nach kurzer Zeit hatte ihn das üppige Grün verschlungen.

Kapitel 3

Caz kletterte aus den Dachsparren. Kaum war er unten, nahm Kiela ihn auf den Arm, und er ließ sie gewähren. Mit einer Ranke tätschelte er ihr den Rücken. Als ihr Herzschlag sich beruhigt hatte, setzte sie ihn wieder auf den Boden.

»Entschuldige«, sagte sie.

»Schon in Ordnung. Ich war so erschrocken, dass ich bestimmt meine halbe Erdkugel verloren habe!«

Sie musterte ihn. Er wirkte so dicht belaubt wie eh und je. »Geht es dir gut?«

»Aber ja, ich kann sie leicht ersetzen. Die Erde hier ist recht gehaltvoll, viel fruchtbarer als in Alyssium. Du solltest was essen. Und dich vielleicht mal waschen.«

»Autsch, Caz!«

»Was kann ich denn für meine feine Nase?«

»Du hast doch gar keine.« Und auch keine Ohren, keine Augen und keinen Mund. Er war eine hundegroße, blumentopflose Pflanze, die allen Naturgesetzen zuwider existierte. Hätte sie doch den Zauberspruch studieren können, der ihn erschaffen hatte! Bestimmt war er ganz ausgesprochen faszinierend und komplex gewesen. Sie wusste nur, dass Caz einmal ein einzelner Spinnenkrautsamen gewesen war. Sie hatte ihn nie gefragt, welche anderen Zutaten eine Rolle gespielt hatten. Die Frage kam ihr zu persönlich vor.

»Und wer beleidigt jetzt wen?«, tadelte Caz.

»Verzeihung.« Verstohlen schnupperte sie an ihren Achseln. Sie rochen nach dem Meer und nach Schweiß. Ein frisches Hemd würde helfen. Sie hätte mehr Kleider einpacken sollen.

»Immerhin hat er einen recht freundlichen Eindruck gemacht«, sagte Caz. »Zumindest fürs Erste. Kann natürlich sein, dass er zurückkommt, um uns im Schlaf zu ermorden …«

Kiela warf wieder einen Blick zur Tür. »Ich glaub nicht, dass er das vorhat.« Zumindest hoffe ich das. Schließlich hatte er sich große Mühe gegeben, sie nicht weiter zu beängstigen. Höchstwahrscheinlich war er bloß neugierig und aufdringlich und nicht wirklich gefährlich. Es ist ja nicht seine Schuld, dass er ein Riese ist und zehnmal stärker als ich. Vermutlich hatte er gar keine Ahnung, wie es wirkte, wenn man ihn unerwartet im Halbdunkel sah. Er hatte nicht bedrohlich über ihr aufragen wollen.

»Das war mal eine Klinge, die er bei sich hatte!«

Das stimmte wohl. Beunruhigend war das gewesen. Stadtleute trugen solcherlei Werkzeug nicht mit sich herum, zumindest gewöhnlich nicht. Allerdings musste sie zugeben, dass sie eigentlich gar nicht wusste, was die Leute so mit sich führten, da sie seit Jahren nicht mehr auf die Straße gegangen war. Vielleicht waren Sensen ja in Mode! Das wäre mal was. Sie nahm aber an, dass Larran sie aus praktischen Gründen mitgenommen hatte. Der Pfad zum Cottage musste schon lange vom Wald überwuchert worden sein. Ohne die Sense wäre es ihm sicher schwergefallen, das Haus zu erreichen. »Er hat sich damit sicher einen Weg durch die Wildnis geschnitten«, überlegte sie laut.

Caz schauderte. »Ja, das fürchte ich auch.«

»Ich würde nie zulassen, dass dich jemand verletzt!«, erklärte Kiela beherzt.

»Das weiß ich zwar sehr zu schätzen, aber was könntest du schon tun? Laut schreien? Mit Büchern nach den Angreifern werfen?«

Unrecht hatte er da nicht, auch wenn sie nie ein Buch werfen würde. Mit etwas Glück würde Larran nicht zurückkommen, dann musste sie sich auch nicht mit ihm anlegen. Anstatt weiter auf das Thema einzugehen, schaute sie sich lieber im Cottage um. Bei Tageslicht sah sie, dass es … »Verwahrlost« war das netteste Adjektiv, das ihr einfallen wollte. Es war verwahrlost. Heruntergekommen. Schäbig. Ungepflegt. Vernachlässigt.

Ungeliebt.

Beinahe vergessen.

Seit Jahren verlassen.

Einsam.

Genau wie ich.

Auch Caz ging nun auf Erkundung, und sie sagte sich, dass sie nicht allein war. Sie war auch nicht verlassen worden, zumindest nicht mit Absicht. Ihre Eltern waren mit ihr in die Hauptstadt gezogen, um sich einen Traum zu erfüllen und ihr alle Möglichkeiten zu geben. Sie hatten nie vorgehabt, ihre Tochter sich selbst zu überlassen – sie waren an einer Krankheit gestorben. Niemand hätte das vorhersehen oder verhindern können. Danach hatte Kiela sich aus freien Stücken in die Arbeit gestürzt. Dass sie nun ohne Familie und – abgesehen von einem intelligenten Spinnenkraut – ohne Freunde dastand … Das hatte sich einfach im Laufe der Zeit so ergeben.

Wie der Staub, der Schmutz, die Blätter und Spinnweben sich im Lauf der Zeit ins Haus geschlichen hatten! Na schön, das Cottage und sie waren einander recht ähnlich. Sie konnte zugeben, wenn eine Metapher zutraf.

»Man kann hier aber sauber machen«, sagte Kiela. »Dann wird es gemütlich. Ein Zuhause.«

Als Erstes würde sie einen sicheren Ort für die Zauberbücher finden. Vielleicht das Schlafzimmer ihrer Eltern. Vorläufig konnten sie in den Kisten bleiben. Ehe sie Regale baute, musste sie überprüfen, dass es weder Löcher im Dach noch Zugluft gab. Außerdem mussten die Bücher vor neugierigen Blicken geschützt werden. Niemand durfte von ihnen wissen. Was, wenn die Leute aus dem Dorf sie ihr wegnehmen wollten? Vielleicht fürchteten sie den Zorn des Kaisers und wollten sie loswerden. Oder noch schlimmer: Sie hatten gar keine Angst und wollten sie verwenden! Es war eine große Verantwortung, sie in ihrem Besitz zu haben, das war ihr klar. Von vielen gab es nur das eine Exemplar – sie waren nicht zu ersetzen und daher unschätzbar wertvoll. Und alle waren Originale, was bedeutete, dass keine Übertragungsfehler darin zu finden waren. Sie dachte an die Zerstörung, die sie gesehen hatte, und es kam ihr durchaus möglich vor, dass sie die letzten großen Schätze des Mondsichel-Inselreichs hier hatte. Vor allem anderen mussten die Bücher beschützt werden!

Ja, sie musste Prioritäten setzen.

Zugegebenermaßen wäre es außerdem schön, wenn niemand herausfand, dass sie die Bücher, wenn man es ganz genau nahm, gestohlen hatte.

 

Als Kiela die Bücherkisten die Steinstufen hochhievte, bedauerte sie es doch, den freundlichen und muskulösen neuen Nachbarn fortgejagt zu haben. Er hätte die Bücher leicht tragen können, dann aber wahrscheinlich Fragen gestellt: Warum hatte sie so viele Bücher? Und woher? Waren es wirklich alles ihre? Nein, es war das Beste, wenn sie sich selbst darum kümmerte.

Sie band die Kisten mit einem abgeschnittenen Stück Bootstau zusammen. Auf dem Steg, der glücklicherweise hielt, waren die Rollen eine große Hilfe, aber als sie die Steinstufen erreichte … Sie erwog das Problem eine Weile und fand schließlich eine Lösung. Keine besonders gute, aber eine, die einigermaßen tragfähig war: Die Schlafzimmertür ihrer Eltern, die schon aus den Angeln gegangen war, würde als Rampe dienen.

Sie holte die Tür, legte sie über die ersten Stufen und setzte ihren Plan in die Tat um. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen die erste Kiste und schob sie die Rampe hinauf. Dann parkte sie die Kiste (äußerst prekär) auf der Treppe, legte die Tür in fliegender Hast über die nächsten Stufen und wiederholte die Prozedur wieder und wieder, bis sie den ebenen Grund vor dem Cottage erreicht hatte. Danach ging sie die nächste Kiste holen. Als sie endlich alle oben hatte, war sie in Schweiß gebadet und zitterte am ganzen Leib. Ihr Rücken tat grauenhaft weh, ihre Waden krampften, und ihr Kopf pochte. Der Bibliotheksfahrstuhl fehlte ihr schrecklich.

Im Nachhinein betrachtet wäre es vielleicht einfacher gewesen, die Bücher aus den Kisten zu holen und stapelweise die Treppe hochzutragen. Sie hätte oft laufen müssen, aber es hätte der Tür einiges erspart. Und ihrem Rücken. Und ihren Waden. Und ihrem Kopf. Natürlich fiel ihr das erst jetzt ein, nachdem die Aufgabe erledigt war und sie außerdem noch den Proviant und ihr Gepäck hochgeschleppt hatte.

Sie stolperte nach drinnen. Caz hatte sich ebenfalls nützlich gemacht: Er hatte mit seinen Ranken überall gefegt, wo er hinkam. Die Zweige, das trockene Laub und der übrige Schutt waren in einer Ecke aufgehäuft, die Dachsparren von den Spinnweben befreit und der Staub … Nun ja, der lag zum größten Teil auf Caz.

»Jetzt brauchen wir beide ein Bad«, stellte Kiela fest.

Er ließ die Blätter hängen.

»Aber das war es wert!«, fügte sie rasch hinzu. Das vordere Zimmer war noch nicht sauber, sah aber bereits viel besser aus. Sie konnte die Maserung der Dielen sowie die Farbe der Stühle erkennen: ein tiefes Erdbraun. Auf die Lehnen waren Eicheln und Blumen gemalt, und die gewebten Sitzflächen waren zwar zerfranst, aber noch ganz. Caz hatte den staubigen Quilt vom Tagesbett genommen, und ohne die vielen Blätter und Zweige sah es beinahe wie ein richtiges Bett aus und nicht mehr wie ein Nest für eine riesige Maus. »Was für ein gewaltiger Fortschritt!«

Prompt lebte er wieder auf.

Kiela ging zum Spülbecken. Die Pumpe, mit der man früher Wasser aus einem Brunnen hatte ziehen können, war noch da. Eigentlich müsste sie noch funktionieren. Wenn sie sich recht entsann, floss außerdem ein Bach durch den Wald, der den Wasserfall beim Dorf speiste. Im Boot gab es einen Eimer zum Ausschöpfen. Mit dem konnte sie notfalls zum Bach laufen. Allerdings gefiel ihr der Gedanke nicht besonders, jedes Mal Wasser schleppen zu müssen, wenn sie sich waschen oder einfach nicht verdursten wollte. Sie spähte aus dem Fenster über der Spüle, das auf den Wald hinausging, aber die Scheibe war völlig überwuchert. Sie sah nichts weiter als Grün, durch das hier und da Sonnenstrahlen drangen.

»Wirst du mit uns zusammenarbeiten?«, fragte sie die Pumpe. Sie war aus Gusseisen, und der Hahn bog sich über ein Messingbecken. Ein altes Küchenhandtuch hing von einem Haken an der Seite des Spülschranks. Darauf standen bloß ein paar Einmachgläser und ein Glaskrug. Ihr fiel ein, dass ihre Mutter früher immer frische Blumen in den Krug gestellt hatte.

»Redest du da mit einem Gegenstand?«, fragte Caz hinter ihr. »Das wäre nämlich ziemlich schräg.«

»Sagt die sprechende Pflanze.«

»Na, hör mal!«

Sie wappnete sich, hob den Pumpenschwengel und drückte ihn hinunter. Es kam kein Wasser. Nicht einmal ein Rinnsal. Nicht einmal ein Tropfen! Es gab keinen Hinweis darauf, dass die Pumpe arbeitete. Wieder und wieder betätigte sie den Schwengel.

Endlich hörte sie ein entferntes Gluckern.

Sie wandte mehr Kraft auf, und die Pumpe ächzte vor Anstrengung. Sie pumpte noch fünfmal, dann schoss plötzlich braunes Wasser aus dem Hahn und platschte ins Becken. Erschrocken sprang Kiela zurück.

»So ist’s richtig!«, rief Caz der Pumpe zu. »Du schaffst es!«

Kiela pumpte weiter. Bald floss das Wasser klar und kalt aus dem Hahn. Sie hielt die gehöhlten Hände darunter und trank. Wie frisch und köstlich es war! Es schmeckte besser als das Wasser in Alyssium.

Sie nahm das zurückgelassene Geschirrhandtuch, spülte den Staub heraus und benutzte es dann, um sich damit zu waschen. Das Wasser war so kalt, dass sie zitterte, aber sie biss die Zähne zusammen und schrubbte sich Schmutz und Schweiß vom Leib. Als sie fertig war, hatte das Handtuch große schwarze Flecken. Sie begriff: Das war der Ruß der brennenden Stadt.

Einen Augenblick lang konnte sie das Handtuch bloß anstarren.

Bisher hatte sie es sich nicht gestattet, darüber nachzudenken, was in Alyssium geschehen war. So viele Häuser waren verbrannt, so viele Leben ausgelöscht worden. Und die Bücher … Sie hätte mehr an die Menschen der Stadt und weniger an die Bücher denken sollen, das wusste sie. Aber die Grimoires waren ihre Familie, die Bibliothek war ihr Zuhause und ihre Arbeit war ihr Leben gewesen.

Ihre Augen brannten, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Aber sie schüttelte den Kopf. Zum Jammern hatte sie keine Zeit und auch nicht zum Trauern. Sie musste sich überlegen, was nun zu tun war, wie sie hier leben sollten. Das Cottage musste so hergerichtet werden, dass sie so lange wie nötig bleiben konnten – und das kostbare Wissen bewahren, das sie gerettet hatten. Aber ohne die Bibliothek, mit ihren Magazinen, ihrer Ordnung, ihrem Frieden und ihrer historischen, kulturellen und politischen Bedeutung … Was hatte es für einen Zweck? Wer war sie ohne all das? Was sollte aus ihr werden?

Caz sprang ins Spülbecken. »Ich auch!«

Sie pumpte Wasser über ihn und half mit einem anderen alten Handtuch, Schmutz, Staub und Ruß von seinen Blättern zu waschen. Als er aus der Spüle kletterte, war sein Erdball vollgesogen. Er tropfte schmutziges Wasser über den Spülschrank, das in dünnen Rinnsalen daran herablief.

»Was machen wir zuerst?«, fragte Caz. Und dann: »Geht’s dir gut?«

Zuerst brachte Kiela kein Wort heraus. Sie nickte und schüttelte dann den Kopf. »Die Bibliothek …«

Er legte ihr ein Blatt auf den Kopf. »Ich weiß.«

»Es ist alles verloren … Alles, wofür wir gearbeitet haben. Woran wir geglaubt haben. Was uns etwas bedeutet hat.«

»Wir kommen zurecht. Wir schaffen das schon. Kiela, brich mir jetzt nicht zusammen! Außer dir habe ich niemanden.«

Sie holte tief Atem und fing sich. Sie hatten nur einander, und deshalb war es so, wie Larran gesagt hatte: Sie mussten füreinander da sein.

Aber womit sollten sie anfangen?

»Wir müssen das Cottage zu unserem Zuhause machen«, sagte sie.

 

Nachdem sie die Bücherkisten ins hintere Schlafzimmer geschleppt hatte, inspizierte Kiela das Haus. Zuerst mussten sie schauen, was sie hatten, und dann überlegen, was sie noch brauchten.

»Hol alles raus«, sagte sie. »Wir machen eine Bestandsaufnahme.«

So hatten sie es stets gehalten, wenn eine Bücher- und Handschriftenspende die Bibliothek erreicht hatte. Zuerst hatten sie die Sammlung durchgesehen. Hatten alles ausgebreitet und katalogisiert, und dann hatten sie entschieden, wie sie weiter vorgehen würden.

Und so hielten sie es auch jetzt. Zusammen durchstöberten sie das Haus und brachten alles in die Mitte des Wohnraums, was sie in Schränken, Truhen und Schubladen fanden.

Kiela war angenehm überrascht, wie viel noch da war. Ihre Eltern hatten einen ganzen Haufen caltreyische Kleidungsstücke zurückgelassen. Kiela hob ein Kleid auf und schüttelte es aus. Eine Staubwolke stieg in die Luft. Der Rock bestand aus mit Silberfaden zusammengenähten blauen Flicken (himmelblau, saphirblau, ozeanblau) und war mit silbernem Band gesäumt; das Mieder glich einer weichen weißen Bluse. Ganz entschieden keine Stadtmode, aber für ein Picknick im Garten oder einen Spaziergang am Strand war das Kleid genau richtig. Wenn sie ein paar Ausbesserungen vornahm, würde sie viele der alten Sachen ihrer Mutter tragen können und die ihres Vaters konnte sie auch gebrauchen – wofür wusste sie zwar noch nicht, aber es war ein gutes Gefühl, sie in der Hinterhand zu haben. Wenn ihr gar nichts anderes einfiel, konnte sie sie zerschneiden und Putzlumpen daraus machen. Oder vielleicht lernen, wie man quiltete? In einem Schrank fand sie eine Decke mit Mottenlöchern. Dazu kamen der Quilt vom Tagesbett und noch weitere vom Bett ihrer Eltern. Jeder hatte sein eigenes Muster: Einer setzte sich aus Stoffstreifen in den Farben des Sonnenuntergangs zusammen, die wie Lichtstrahlen aussahen. Ein anderer bestand aus den Braun- und Grüntönen eines Frühlingsgartens, dazu waren kleine Stoffstücke wie Blätter geschnitten und zu abstrakten Blumen zusammengenäht worden. Wir haben so viele schöne Dinge zurückgelassen. Das hatte sie nicht einmal geahnt. Sie war noch zu klein gewesen, um beim Packen eine große Hilfe zu sein (auch wenn sie sich erinnerte, dass sie es versucht hatte). Nun trug sie einen Armvoll Kleider in die Küche und warf sie in die Spüle, um sie ordentlich einzuweichen. Sie würde das überschüssige Tau aus dem Boot verwenden, um sie zum Trocknen in die Sonne zu hängen. Wie schön sie erst sein werden, wenn sie sauber sind!

Auch die Küchenschränke enthielten Schätze: ein paar Teller, Schalen und Tassen. Die Schalen schmückten Him- und Erdbeeren, die Teller Tomaten und Spargel. Auf die Teetassen waren zarte Blumen gemalt. In einer Schublade lag ein annehmbares Messer mit einem Griff aus geschnitztem Geweih, in einer anderen entdeckte Kiela einen etwas verbeulten, aber durchaus noch verwendbaren Topf sowie eine Pfanne und einen Teekessel. In einer Truhe lag ein Stapel leicht vergilbtes Papier – für eine Bibliothekarin eigentlich sehr nützlich, im Augenblick jedoch weniger wichtig. Interessanter war der Eimer hinter der Tür. Und da, wunderbarerweise, in einer Abstellkammer: ein Besen, eine Schaufel und Gartenwerkzeuge (eine Hacke, eine Pflanzenschaufel, eine Gartenschere und Lederhandschuhe mit bloß ganz wenigen Löchern darin). Außerdem fand sie eine Speisekammer voller leerer Einmachgläser und Flaschen. Ihre Eltern hatten in der Stadt keinen Garten haben und nichts einwecken wollen, deshalb hatten sie alles zurückgelassen, was man dafür brauchte. Auf den Garten hatte Kiela bisher kaum einen Blick geworfen – er war so überwuchert, dass der Zaun unter den Ranken verschwand. Aber vielleicht konnte sie das Unkraut jäten und ein bisschen Gemüse anpflanzen; nachschauen, ob etwas Essbares die lange Zeit der Vernachlässigung überlebt hatte …

Hoffnung regte sich in ihr.

Das Cottage war ein gutes Heim.

Es konnte wiederhergerichtet werden. Wieder heil gemacht werden.

Wie wir auch.

Kiela schrubbte die Decke und die Kleider und spannte dann das Tau zwischen dem Cottage und einem Baum auf. Es gab einen alten Haken für einen Pflanzenkorb an der Hausecke, der sich hervorragend als Befestigung für die Wäscheleine eignete. Sie hängte die nassen Kleider auf und freute sich daran, wie viel besser sie bereits aussahen. Die Blau- und Grüntöne leuchteten richtig. Dann stopfte sie den Quilt vom Tagesbett in den Eimer voll Wasser und ließ ihn einweichen.

Zusammen mit Caz putzte sie die Küche. Sie kehrten die beinahe schon versteinerten Mäusekötel aus den Küchenschränken und spülten das Geschirr und Besteck. Dann scheuerten sie das Bad, bis die Kupferwanne blitzte und die Wände wieder in heiterem Weiß erstrahlten. Kiela entdeckte einige Zweiglein Lavendel im Kräuterbeet vor dem Haus, band sie zusammen und hängte sie über das Waschbecken im Bad. Nach dem Quilt wusch sie einen Stapel Handtücher, die verblasst, aber noch gut zu gebrauchen waren.

Um die Mittagszeit machten sie eine Pause. Caz schlug Wurzeln in dem Loch im Boden, das nun zu allem Überfluss in der Sonne lag. Kiela aß eingemachte Pfirsiche und Pekannüsse – wenigstens die hatte sie mitgebracht. Hätte sie bloß mehr eingepackt! Sie schraubte das Pfirsichglas wieder zu und stellte es in einen Küchenschrank. Dann gestattete sie sich, über die eine Sache nachzudenken, die sie nicht gefunden hatten: Essen.

Sie hatte einen begrenzten Vorrat; wenn sie sparsam damit umging, würde er wohl für ein paar Tage reichen. Aber länger nicht. Noch nie hatte sie Angst haben müssen, Hunger zu leiden; die Bibliotheksküche hatte sie stets mit allem versorgt. Nur langsam dämmerte ihr, wie endlich ihre Reserven waren.

Das war … beunruhigend. Sie fühlte sich, als stünde sie ohne Sicherheitsseil ganz oben auf einer Bibliotheksleiter.

Sie konnte den Garten wieder urbar machen, aber das würde seine Zeit dauern. Außerdem brauchte sie Saatgut. Und vielleicht ein paar Anhaltspunkte, wie man gärtnerte? Sie hatte noch nie etwas angepflanzt. Dasselbe galt für das Meer: Sie wusste, dass es in der Bucht Fische und Krabben gab, hatte aber keine Ahnung, wie man fischte oder … krabbte? Nannte man das so? Sie wusste nicht mal, welches Verb man benutzte, geschweige denn wie man Krabben fing. Was wild wachsende Beeren anging –, die konnte sie natürlich sammeln so wie auch Nüsse und Pilze. Aber woher sollte sie wissen, was essbar war? Wenn sie sich vergiftete …

Sie brauchte eine Hausapotheke. Medizin, Salben, Verbandszeug. Falls sie sich verletzte oder krank wurde.

Außerdem brauchte sie Seife. Und Paste, um ihre Zähne gesund zu erhalten.

Aber als Allererstes brauchte sie Nahrungsmittel. Früchte, Gemüse, Brot, Milch, Käse, Fleisch. Wenigstens genug, bis wir uns selbst versorgen können, dachte sie. Wenn sie erst herausgefunden hatte, wie man gärtnerte und fischte, wenn sie das Wesentliche für die tägliche Körperpflege und eine Hausapotheke dahatte, brauchte sie nie wieder etwas einzukaufen. Eine leise Stimme in ihrem Kopf raunte, sich selbst zu versorgen sei ganz gewiss nicht so leicht, wie sie sich das vorstellte, aber sie hörte lieber nicht so genau hin. Ich muss bloß jetzt erst mal zurechtkommen.

Ein einziges Mal würde sie ins Dorf gehen.

Sie würde ihre Einkäufe machen, und dann würden sie sich hier verkriechen und niemanden stören. Und niemand würde einen Grund haben, sie zu stören.

Sie sah keine andere Möglichkeit. Es war töricht zu glauben, sie könnten mit dem zurechtkommen, was sie mitgebracht hatten oder fanden. Außerdem war die Illusion, unentdeckt zu bleiben, ja schon zunichtegemacht – immerhin war ihr Nachbar bereits über sie gestolpert.

Nein, es ließ sich nicht leugnen.

Sie würde mit Leuten reden müssen.

Kapitel 4

Kiela schob den Besuch im Dorf hinaus, bis die Sonne unterging – und dann war es natürlich schon zu spät, um sich noch auf den Weg zu machen. Außerdem war sie nach der vielen Arbeit wirklich zu erschöpft. Sie aß also ein halbes Glas Pfirsiche und mehrere Hände voll Pekannüsse, fiel auf das Tagesbett und schlief tiefer, als sie es in der Bibliothek je getan hatte. Nicht einmal die Eule hörte sie rufen.

Im Morgengrauen weckte sie ein Kitzeln an der Wange.

»Schrei nicht«, raunte Caz ihr ins Ohr, »aber er ist wieder da!«

Sie riss die Augen auf. Dann fröstelte sie: Sie hätte sich eine zweite Decke nehmen sollen. Die Temperatur in der Bibliothek schwankte nie, daran war sie gewöhnt. Sie hatte ganz vergessen, dass es morgens auf Caltrey immer kühl war, sogar im Sommer. »Was?«

»Wer«, korrigierte Caz sie. »Er!«

Er? Moment, meinte er ihren Nachbarn? Larran? Weshalb sollte der zurückgekommen sein? Hatte sie ihm durch ihren markerschütternden Schrei nicht zu verstehen gegeben, dass sie von spontanem Besuch nichts hielt, insbesondere zu nachtschlafender Zeit? Warum ließ er sie nicht in Ruhe?

Sie setzte sich auf und spähte aus dem schmutzverkrusteten Fenster. Darum müssen wir uns kümmern, dachte sie. Aber andere Sachen waren wichtiger: Vorräte allem voran. Ihr Magen knurrte zustimmend. Durch den streifigen Schmutz sah sie ihren groß gewachsenen, breit gebauten Nachbarn auf den Pfad zuhalten, den er mit seiner Sense gebahnt hatte. Offenbar war er vorbeigekommen, hatte festgestellt, dass niemand wach war, und war gleich wieder gegangen.

»Immerhin ist er diesmal nicht einfach reinmarschiert«, brummte sie. Aber warum war er überhaupt da gewesen? Konnte er nicht einfach in seinem Haus bleiben, und sie blieb in ihrem? Musste sie erst einen Zaun oder ein großes »Betreten verboten«-Schild aufstellen? Sie wartete, bis er nicht mehr zu sehen war, dann stand sie auf und tappte zu ihrer stark lädierten Tür.

Auf der Vordertreppe stand ein Korb mit mehreren glasierten Zimtschnecken, drei Hühnereiern und einem Stück Käse.

»Okay, das ist nett«, sagte sie.

Na schön. Er war ein netter, freundlicher Nachbar, der nur nichts mit dem Konzept »Grundstücksgrenze« anfangen konnte.

Sie hob den Korb auf, eilte zurück ins Haus und machte die Tür hinter sich zu. Dann setzte sie sich auf einen der frisch gesäuberten Stühle und biss in eine Zimtschnecke. Eine wunderbare zuckrige Süße explodierte auf ihrer Zunge, und sie seufzte mit vollem Mund. Die Augen andächtig geschlossen, genoss sie jeden Krümel. So locker, so süß, so vollkommen! Hatte er die Schnecke selbst gebacken? Wie? Sie setzte »Backen« auf die stetig wachsende Liste nützlicher Fertigkeiten, die sie nicht besaß.

Dann griff sie eifrig nach dem Käse. Er hatte ein scharfes, würziges Aroma, und sie schwankte ein bisschen, als sie sich gierig mehr in den Mund schob. Der Käse, den man in Alyssium bekommen konnte, war gewöhnlich weich und fade gewesen – zum Streichen oder Überbacken gedacht. Man hatte ihn kaum wahrgenommen. Aber dieser Käse … Den wollte man auf einmal verschlingen, so gut war er.

Erst als sie schon das halbe Stück gegessen hatte, sah sie, dass auch eine Nachricht im Korb lag.

Willkommen daheim, stand darauf.

Augenblicklich verkrampfte sich ihr Magen.

Daheim.

War sie daheim?

Kiela legte die Nachricht auf die Tischplatte und starrte sie an. Nur zwei Worte, aber sie konnte die Gefühle gar nicht alle benennen, die sie auslösten. Hoffnung? Angst? Trauer? Wenigstens bin ich nicht mehr hungrig.

Sie betrachtete die Eier. Wenn es ihr gelang, den Herd anzufeuern, könnte sie sie zubereiten. Mit Protein im Bauch wäre es einfacher, sich dem Gang ins Dorf zu stellen.

Wie schwer konnte es sein, ein Feuer anzuzünden?