SPIEGEL DES TODES - Frances Keinzley - E-Book

SPIEGEL DES TODES E-Book

Frances Keinzley

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Beschreibung

In der Nacht nach dem Fest ihrer silbernen Hochzeit stirbt Maria Crispin an einem Herzinfarkt.

Aber jemand weiß, dass ihr Mann dabei die Finger im Spiel hatte.

Und dieser Jemand vergisst es nicht. Neun Jahre später kommt er aus Australien nach England zurück...

Frances Keinzley (1922 - 2006) war eine neuseeländische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Spiegel des Todes erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Frances Keinzley

 

 

Spiegel des Todes

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 143

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SPIEGEL DES TODES 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

In der Nacht nach dem Fest ihrer silbernen Hochzeit stirbt Maria Crispin an einem Herzinfarkt.

Aber jemand weiß, dass ihr Mann dabei die Finger im Spiel hatte.

Und dieser Jemand vergisst es nicht. Neun Jahre später kommt er aus Australien nach England zurück...

 

Frances Keinzley (1922 - 2006) war eine neuseeländische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Spiegel des Todes erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  SPIEGEL DES TODES

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Robert Crispin und seine Frau Maria saßen an dem kleinen runden Tisch im Erker der geräumigen Küche. Die Morgensonne schien durch die vergitterten Fenster herein und brachte das glänzende, alte Holz des Tisches zum Leuchten und ließ das bunte Frühstücksgeschirr darauf noch fröhlicher erscheinen. Robert Crispin legte großen Wert auf ein gutes Frühstück. Die Morgenpost und die Zeitungen hatte er noch nicht angesehen.

Beides wurde ihm zwar getreulich jeden Morgen auf den Frühstückstisch gelegt, aber er rührte weder die Briefe noch die zusammengefalteten Zeitungen an. Das war eine Gewohnheit, die seine Frau und alle Hausangestellten diesem bemerkenswerten Mann zugutehielten. In ihren Augen hatte er recht, denn Zeitungen und Morgenpost können leicht den Tagesbeginn verderben, und jede Ehefrau hat das Recht, ihren Mann zumindest eine Stunde lang für sich zu behalten, bevor die Welt ihn ihr entreißt. Jeder Mensch hat genug eigene Sorgen, auch ohne die giftigen Pfeile und die duftenden Rosen, die Druckerpressen und Postamt zum Beginn des Kampfes mit dem Alltag bereitstellen.

Maria Crispin fragte mit leiser, leidender Stimme: »Noch etwas Kaffee, Robert?«

Er trank seine Tasse leer und schüttelte den Kopf. »Heute Morgen nicht. Ich muss etwas früher weg.« Er griff über die weiße Blumenschale hinweg und legte seine schmale, empfindsame Hand auf die dünn gewordenen Finger seiner Frau. »Du siehst heute wie die Sonne selbst aus«, sagte er leise. »Sonnenstrahlen in menschlicher Gestalt. In Gelb mag ich dich besonders gern.«

Ihre ganze Liebe lag in ihrem Lachen. »Robert, das sagst du bei jeder Farbe, die ich trage - dass ich dir so am besten gefalle.«

»Das stimmt auch«, versicherte er ihr ernsthaft. »Welche Farbe du auch trägst, sie steht dir immer besonders gut, und du gefällst mir so immer am besten - bis zum nächsten Mal, bis zur nächsten Farbe.«

»Du machst es mir fast zu leicht, eine Frau zu sein, Robert. Aber was dir gefällt, das gefällt auch mir. Das weißt du doch, wie?«

»Nach fünfundzwanzig Jahren müsste ich das wissen.«

»Noch nicht ganz. Es fehlen noch zwei Wochen.«

»Aufgeregt?«

Sie nickte so eifrig, dass ihr goldfarbenes Haar tanzte, hob die schmächtigen Schultern und sagte glücklich: »Ja, sehr aufgeregt.«

»Bitte reg dich nicht zu sehr auf. Das Risiko ist zu groß. Du liegst sonst im Bett, wenn der große Tag kommt, anstatt unten in all deinem Glanz vor den Gästen als Königin des Abends aufzutreten.«

»Aufregung schadet mir nicht. Sie ist gut für mich - in kleinen Portionen natürlich. Aber ich verspreche dir, dass ich nicht müde werde. Das ist immer das Schlimmste. Was kann ich dafür, dass ich glücklich bin. Und ich bin es wirklich. Ohne mein Verdienst.«

»Du verdienst alles Glück, das ich dir geben kann. Wenn es nur mehr wäre. Wenn ich dir nur manches zurückgeben könnte.«

Jetzt legte sie ihre Hand auf die seine. »Ich weiß, mir wäre es auch lieber, wenn ich dir diesen Wunsch erfüllen könnte.« Erst nach einigen Augenblicken der Zärtlichkeit trennten sich ihre Hände wieder.

»Was machst du heute?«, fragte er.

»Ich bringe ein paar Blumen auf den Friedhof. Es ist ein schöner Tag. Kein Wind und auch nicht zu warm. Dann esse ich mit Janet Payne. Ich habe ihr versprochen, beim Aussuchen der neuen Kindermöbel für die Klinik zu helfen. Die Leute sind alle davon überzeugt, dass man als Ehefrau eines international bekannten Spielzeugfabrikanten eine unfehlbare Meinung im Umgang mit Kindern haben muss. Sie meint es gut, aber du weißt ja selbst, dass sie eine Do-it-yourself-Psychologin ist. Ich habe mich erst geweigert, aber bei ihr hat das keinen Sinn. Sie begreift nicht, dass ich einfach keine Ahnung davon habe, wodurch ein Zuneigungsverhältnis zwischen einem Kind und einem Gegenstand entsteht, so schrecklich das auch sein mag; Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit an so viele hübsche Spielsachen...«

»Und heute sind es hauptsächlich Weltraumbestien und andere Ungeheuer, wie?«

»Ja, genau. Es gilt nur das Hässliche, das Grausige, Unheimliche. Natürlich in schönen, bunten Farben, aber harmlose Spielsachen gibt es nicht mehr.«

»Wir dürfen nicht übertreiben. Vergiss nicht, dass wir davon leben. Wenn der Umsatz weiter so ansteigt, muss ich mein Direktionszimmer höher machen lassen, weil die Kurve an der Wand schon bis zur Decke reicht. Aber ich muss jetzt gehen.« Er schob seinen Stuhl zurück und ging hinüber zu seiner Frau. Mit einer geschickten, oft geübten Handbewegung zog er ihren Rollstuhl zurück und schob ihn aus dem Frühstückserker quer durch die große Küche zum Aufzug hinüber.

Er drückte auf den Knopf, wartete, bis die Kabine kam, und schob den Rollstuhl hinein. Zu der jungen Frau im frischgestärkten weißen Kleid sagte er: »Achten Sie darauf, Calla, dass sie nicht übertreibt. Beim Abendessen soll sie wieder frisch und munter sein.« Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Maria verstand, dass er sich über seine Gedankenlosigkeit ein wenig ärgerte, aber sie sagte nichts. Die Pflegerin schloss lächelnd die Tür. Robert wartete wie immer, bis in der nach oben schwebenden Kabine nur noch die Räder und die hübschen Beine der Pflegerin zu sehen waren, dann drehte er sich um und holte seine Post vom Tisch.

Mrs. Willet, die Haushälterin, begleitete ihn hinaus und schloss hinter ihm die schwere, eichene Haustür. Wieder einmal musste sie denken: Auf dieser Erde laufen mehr Heilige ohne Heiligenschein herum als oben im Himmel mit.

Draußen auf der kiesbestreuten Einfahrt wartete, leise schnurrend wie eine zufriedene Katze, der Rolls-Royce in der strahlenden Junisonne. Meed, der Chauffeur, stand stramm wie ein Gardeleutnant daneben. Robert musste lächeln. Ein alter Soldat kann es wohl nie lassen. Es hatte wenig Zweck, Meed klarzumachen, dass seine Tage als Flügeladjutant bei der Armee vorüber waren. Es wäre auch ein zu lächerlicher Anblick gewesen, wenn Meed sich an den Wagen gelümmelt und sich die Fingernägel saubergemacht hätte. Das konnte sich Robert einfach nicht vorstellen.

Er blieb stehen und betrachtete sehr aufmerksam seinen Chauffeur. Die hübsche Uniform mit Schildmütze, Reithose und leuchtendbuntem Jackett, die blankgeputzten Stiefel... das musste doch ein prächtiges Spielzeug sein, mit eckigen Bewegungen, die nicht ganz zu denen des Spielzeugpassagiers passten. Vielleicht setze ich einen alten, grauhaarigen Gentleman in den Fond, dachte Crispin. Das wäre kein Spielzeug, wie Eltern es kaufen, sondern Großeltern mit ihrer altmodischen Vorstellung von dem, was komisch ist. Ja, so etwas würden sie für ihre Enkelkinder zum Geburtstag kaufen. Es war noch eine ganz vage Idee, aber es konnte nichts schaden, sie einmal den Jungen im Zeichensaal vorzulegen und zu sehen, ob etwas daraus wurde.

Am offenen Wagenschlag zögerte Robert noch einmal. Er warf die Zeitungen und die Briefe auf den Rücksitz und machte kehrt. »Rühren, Meed! Es dauert noch ein paar Minuten.«

»Jawohl, Sir«, antwortete Meed stramm und blieb regungslos stehen, bis sein Chef um die Hausecke verschwunden war.

Robert wusste selbst nicht genau, wozu er die paar Minuten haben wollte, aber vielleicht lag es an der Sorglosigkeit dieses Morgens. Es ist wie ein Lied, das aus der Seele aufsteigt, dachte er, die ganze Welt ist wunderbar, und alle Menschen sind liebenswert. Sein Blick schweifte über das große Grundstück, den Garten und die Bäume dahinter, von denen manche älter waren als das Haus selbst. Ein Garten reihte sich an den anderen. Mauern und wilder Wein mit lauschigen Ecken, in denen sich einst Liebende geküsst und Verschwörer ihre Pläne ausgeheckt hatten - zu einer Zeit, als man noch weite, geschlitzte Seidenhosen und spanische Kragen trug; minutenlang fühlte sich Robert eng mit dieser Vergangenheit verbunden. Er drehte sich zu dem Haus um, zu der schwarz-weißen Fassade aus Backstein und Holz, mit der zweistöckigen Halle in der Mitte und den beiden anschließenden Seitenflügeln; in jedem Flügel gab es einen herrlichen Wohnraum mit großen Fenstern und im oberen Stockwerk ein Schlafgemach mit dunklem Holz und leuchtenden Chintz-Bezügen, während die Halle selbst mit wunderbarem Schnitzwerk geschmückt war und eine Eichentreppe sich zu dem Balkon für die Musik und von da aus zum Obergeschoss mit den vielen Nebenräumen hinaufschwang.

Unter dem Gebäude erstreckte sich das geräumige Souterrain mit der Küche, die früher einmal zerfallen und düster gewesen war, aber nach ihrer kostspieligen Verwandlung jetzt mit Kacheln und Kupfer und altem Tongeschirr wie ein antikes Gemälde prangte.

Robert Crispin liebte dieses Haus. Hier war er als einziges Kind aufgewachsen, einsam und vernachlässigt, während seine Eltern sich dem geselligen Leben hingegeben hatten. Damals hatte der Hauptraum im Erdgeschoss die Bibliothek beherbergt, denn sein Vater las viel und durfte nur dann gestört werden, wenn auf seinem Terminkalender eine jener Gesellschaften und Einladungen stand, bei denen er als geschickter Parlamentarier hinter den Kulissen all das arrangierte, was für sein Land am besten war. Wenn er eine Stunde erübrigen konnte, widmete er sie pflichtbewusst seinem Sohn und freute sich schon auf die Zeit, wo dieser als erwachsener Mann in der Lage sein würde, in seine Fußstapfen zu treten.

Seine Mutter sah er häufiger. Wie ein bunter Schmetterling kam sie ins Kinderzimmer geflattert, drückte hastig einen Kuss auf seine feuchten Kinderlippen und flatterte wieder hinaus zu Konzerten, Soiréen und Diners. Die Mädchen hatten immer viel zu tun und beschäftigten sich nur selten mit ihm, und seine Erzieherinnen waren viel zu gebildet und unpersönlich, um überhaupt zu bemerken, dass ihm etwas fehlte. So beschäftigte er sich intensiv mit jedem Gegenstand, den man auseinandernehmen konnte, und am meisten liebte er den dicken viktorianischen Katalog mit Kesseln und Pfannen, Korsetts und Tischlampen, Spielsachen und Einrichtungsgegenständen, der unter das Bügelbrett geschoben wurde, wenn es auf dem unebenen Küchenboden wackelte. In diese Phantasiewelt flüchtete er sich und wusste nicht einmal, dass es eine Flucht war. Seine Welt war stets dieselbe - wie soll ein Kind da etwas Ungewöhnliches am Gewohnten finden?

Er studierte in Oxford, weil man das von ihm erwartete, und bereitete sich nachher auf Wunsch seines Vaters in Whitehall auf das schwierige Gewerbe der Politiker und Diplomaten vor. Diese Beschäftigung langweilte ihn zu Tode. Er brannte durch, bevor zu viel von seiner Jugend unwiederbringlich verloren war. Mit drei Freunden - einem Künstler, einem Uhrmacher und einem Ingenieur - eröffnete er die erste Werkstatt für Spielsachen, und schon bald machte sich seine Phantasie, gepflegt in den einsamen Stunden der Kindheit, so bezahlt, dass er seinen kleinen Betrieb erweitern musste, auch wenn er es nicht so recht wollte. Schließlich errang die Firma Crispin Spielwaren eine marktbeherrschende Stellung.

Er lernte Maria kennen und heiratete sie im darauffolgenden Sommer. Sie war ein hübsches, lebenslustiges Mädchen, ein Modell, das bei Werbeaufnahmen die junge Mutti spielte. Sie hatte einen vorzüglichen Kontakt zu Kindern und eine Ausstrahlung, die schon nichts mehr mit geschickter Kameraführung zu tun hatte. Im vierten Jahr der Ehe kam das erste Kind zur Welt, ein Junge, und sie erhofften sich weitere Kinder, weil der kleine Bede nicht allein bleiben sollte. Auf Grund seiner eigenen Kindheitserfahrungen sorgte Robert dafür, dass Bede nur dann allein war, wenn er aus eigenem Antrieb die Einsamkeit suchte, um seine Phantasie weiterzuentwickeln. Sein Kinderzimmer glich einem Lagerraum für Spielwaren, aber das lag nicht so sehr an übertriebener väterlicher Zuneigung, sondern Robert erhoffte sich vielmehr, die Neugier des Jungen anzuregen, damit er in seiner Umgebung nach dem Märchenhaften, dem Unerwarteten suchte. Als Bede dann im Alter von sechs Jahren seinen Vater bat, ihm ein Sparschwein zu konstruieren, das laut Dieb! schrie, wenn jemand es gewaltsam zu öffnen versuchte, war Robert überzeugt, mit seinen Bemühungen das Richtige getan zu haben.

Der Junge starb am Nachmittag seines siebten Geburtstags auf dem Rückweg von London. Maria war im dichten Londoner Verkehr aufgehalten worden und hatte es nun sehr eilig, weil sie befürchtete, dass die kleinen Geburtstagsgäste vor ihnen ankommen und mit ihren Geschenken in der Hand vergebens vor der Tür stehen könnten. Bede bettelte seine Mutter, schneller zu fahren, und Maria war eine ausgezeichnete Fahrerin. Aber ein Wagen, der sie überholte, bemerkte erst im letzten Augenblick einen entgegenkommenden Lastwagen und schnitt ihr den Weg ab. Sie wurde von der Straße gedrängt, durchbrach einen Zaun und krachte mit hoher Geschwindigkeit gegen eine alte Friedhofsmauer.

Der Junge war auf der Stelle tot. Zwei Monate später kam Maria aus dem Krankenhaus - halbgelähmt, mit lebensgefährlicher Herzschwäche und einem fast unerträglichen Schuldbewusstsein. Es dauerte weitere zwei Jahre, ehe sie aufhörte, Robert mitten in der Nacht zu wecken und ihm zu beteuern: Er wollte nicht zu spät kommen. Auch nach vierzehn Jahren der Trauer tat sie es noch hin und wieder, aber inzwischen hatte sie sich wenigstens soweit mit ihrem Schicksal abgefunden, dass sie sogar ab und zu darüber sprechen konnten, allerdings mit so vorsichtigen Worten, als höre der Kleine ihnen zu.

 

An all das dachte Robert Crispin, während er sein Haus betrachtete. In diesem Jahr hätte hier ein doppeltes Jubiläum gefeiert werden sollen: seine silberne Hochzeit und der einundzwanzigste Geburtstag des toten Bede. Er musste sich abwenden und schaute bedrückt zu dem träge dahinfließenden Fluss hinunter, der, umstanden von den alten Bäumen von Wheatacres, moosgrün in der Morgensonne schimmerte, als habe er die Farbe des Sommers in sich aufgesogen und sei dadurch schläfrig geworden.

Nur widerstrebend kehrte Robert Crispin zum Wagen zurück und setzte sich seufzend in den Fond. Erst als die Giebel des Hauses zwischen den Bäumen verschwunden waren, griff er nach seiner Post, während Meed den Wagen nordwärts steuerte - in Richtung auf das stickig heiße London.

Nur private Post kam zu Hause an: Briefe von Freunden, von Studien- und Kriegskameraden, von Wohltätigkeitsorganisationen. Aber es waren nicht viele. Seine wenigen persönlichen Bekannten wohnten weit entfernt, der Kontakt zu den früheren Kameraden beschränkte sich auf vierteljährige Mitteilungen oder ein gelegentliches Treffen, die übrige Korrespondenz bestand hauptsächlich aus Bankschreiben für Spenden, mit denen Robert nie geizte.

Nur ein einziger Brief beschäftigte ihn während der ganzen Fahrt nach London so sehr, dass selbst die Morgenzeitungen unbeachtet liegenblieben. Er stammte von einer gewissen Irene Wardour, die in seiner Erinnerung immer noch als Irene Henry weiterlebte - ein fünfjähriges Mädchen, das auf seiner Hochzeit Blumen gestreut hatte. Erschrocken stellte er fest, dass sie inzwischen dreißig Jahre alt sein musste und wahrscheinlich schon selbst Kinder hatte. Doch Irene teilte ihm in dem Brief mit, sie habe nur ein einziges Kind, einen siebenjährigen Jungen, und wolle ihn zu dem Jubiläum am Wochenende mitbringen. Fast hätte Robert laut Nein! geschrien; er knüllte den Brief zusammen, als müsse er sich dagegen wehren. Wie konnte man das Maria antun? Wie konnte Irene nur dieses Ansinnen stellen! Ihr musste doch klar sein, was sie damit bei Maria und auch bei ihm selbst anrichtete. Eine unmögliche Bitte! Was hatte ein siebenjähriges Kind unter lauter Erwachsenen zu suchen? Natürlich konnte man den Jungen für eine Nacht oder auch für eine Woche einem Kindermädchen anvertrauen, darum ging es nicht. Robert musste diesem einstigen Blumenmädchen unbedingt mitteilen, dass sie unter gar keinen Umständen alte Erinnerungen wachrufen durfte. Oder wusste sie vielleicht gar nicht, dass Bede tot war? Dass sein Leben an einer efeuumrankten Friedhofsmauer geendet hatte? Glaubte sie vielleicht, das sei nach so langer Zeit in Vergessenheit geraten?

Er schloss die Augen und murmelte vor sich hin: »Nein, so etwas kann keine Frau vergessen.« Dann fiel ihm wieder ein, dass Irene mit ihrem Mann, einem Wissenschaftler, inzwischen die ganze Welt durchstreift hatte. Nur alle zwei, drei Jahre war ein Brief von ihr gekommen. Vielleicht hatte die Mitteilung von dem traurigen Ereignis sie nicht erreicht. War die Nachricht überhaupt abgeschickt worden? Wenn er Irene klarmachte, worum es ging, würde sie sicher Verständnis zeigen.

Er strich den Brief wieder glatt und las den zweiten Teil:

 

Ich weiß, diese Bitte muss Dir herzlos erscheinen, da Tante Maria zweifellos noch um ihren kleinen Jungen trauert, und unter normalen Umständen hätte ich ein solches Ansinnen auch nie gestellt. Aber Carl muss Ende Juli seinen neuen Posten in Australien antreten, und wir reisen wegen Pauls Asthma mit dem Schiff. Er ist ein schwächliches Kind und verträgt die Flugreise schlecht, mit der wir viel Zeit sparen würden. So hoffen wir, dass einige Wochen Sonne und Seeluft ihm guttun werden.

Deine Einladung zum Jubiläum erreichte uns erst diese Woche, da sie uns von Kalifornien aus nachgeschickt wurde. Unsere Reisepläne können wir jetzt leider nicht mehr ändern. Würde es sich um einen anderen Anlass als Deine Silberhochzeit handeln, hätte ich wahrscheinlich abgesagt. Aber eine silberne Hochzeit ist etwas so Besonderes, dass man Berge versetzen muss, um dabei sein zu können. Es ist wunderbar, dass die ganze Gruppe von damals noch beisammen ist, denn das ist keineswegs selbstverständlich. Wir fahren mit dem Zug durch Larchborough und können vom Fenster aus Wheatacres sehen. Das kommt mir fast wie eine Fügung des Schicksals vor. Natürlich werde ich Paul sagen, dass er sich möglichst unsichtbar machen soll oder, wenn Du es wünschst, überhaupt nicht auftaucht. Es ist ja schließlich nur ein halber Tag und eine Nacht, und ich bin sicher, dass ihm diese Ruhepause wohltun wird. Aber solltest Du nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gelangen, dass eine solche Erinnerung für Tante Maria zu schmerzlich wäre, ist es selbstverständlich, dass wir volles Verständnis für Deine Entscheidung haben.

Mit herzlichen Grüßen

Irene