Spiegelland - Kurt Drawert - E-Book

Spiegelland E-Book

Kurt Drawert

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Beschreibung

Kurt Drawerts «Spiegelland» ist ein zentraler und furios-schöner Roman über die persönliche und politische Zäsur des Endes der DDR und eine hoch belastete Vater-Sohn-Beziehung, über die Formen der Zurichtung von Geist und Körper und deutsche Unterdrückungsgeschichte. Poetisch, radikal, erschütternd, komisch und ein Fanal des Widerstands der Literatur.

Unmittelbar nach dem Ende der DDR schrieb Kurt Drawert den Roman «Spiegelland», der eines der eindrucksvollsten und bedeutendsten Zeugnisse über die historischen und biografischen Brüche ist, die diese dramatische Zäsur in unserer Geschichte zugleich hervorgerufen und sichtbar gemacht hat.
Mit einem eigenwilligen poetischen Furor, der einen mitunter an Thomas Bernhard denken lässt, schreibt Drawert in diesem radikalen und ergreifenden Text, der vor allem auch die Geschichte einer scheiternden Vater-Sohn-Beziehung ist, gleichzeitig über die Mechanismen der Repression in der DDR, hinter denen eine lange deutsche Unterdrückungshistorie steckt. In der Beschreibung des Vaters und damit auch des «Autoritären Charakters» wird ein deutsches Trauma kenntlich, auch wie die Sprache der Zurichtung funktioniert und wie sich die poetische Sprache ihr widersetzt. Wie schreiben sich Lebenszerstörung und -verarmung über sprachliche Formeln, Schweigen, Gesten, Züchtigung und Versagung in Geist und Körper ein? Und inwieweit ist große Literatur wie dieser Roman auch ein Akt des Widerstands und der Befreiung?
Mit dieser Ausgabe wird «Spiegelland», ein Text, der sich seine Frische und Wucht unverändert bewahrt hat, wieder zugänglich, ergänzt um einen Essay.

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Kurt Drawert

Spiegelland. Ein deutscher Monolog

Roman

C.H.Beck

ZUM BUCH

Unmittelbar nach dem Ende der DDR schrieb Kurt Drawert den Roman «Spiegelland», der eines der eindrucksvollsten und bedeutendsten Zeugnisse über die historischen und biografischen Brüche ist, die diese dramatische Zäsur in unserer Geschichte zugleich hervorgerufen und sichtbar gemacht hat.

Mit einem eigenwilligen poetischen Furor, der einen mitunter an Thomas Bernhard denken lässt, schreibt Drawert in diesem radikalen und ergreifenden Text, der vor allem auch die Geschichte einer scheiternden Vater-Sohn-Beziehung ist, gleichzeitig über die Mechanismen der Repression in der DDR, hinter denen eine lange deutsche Unterdrückungshistorie steckt. In der Beschreibung des Vaters und damit auch des «Autoritären Charakters» wird ein deutsches Trauma kenntlich, auch wie die Sprache der Zurichtung funktioniert und wie sich die poetische Sprache ihr widersetzt. Wie schreiben sich Lebenszerstörung und -verarmung über sprachliche Formeln, Schweigen, Gesten, Züchtigung und Versagung in Geist und Körper ein? Und inwieweit ist große Literatur wie dieser Roman auch ein Akt des Widerstands und der Befreiung?

Mit dieser Ausgabe wird «Spiegelland», ein Text, der sich seine Frische und Wucht unverändert bewahrt hat, wieder zugänglich, ergänzt um einen Essay.

ÜBER DEN AUTOR

Kurt Drawert, geboren 1956 in Hennigsdorf bei Berlin, lebt als Autor von Lyrik, Prosa, Dramatik und Essays in Darmstadt, wo er auch das Zentrum für junge Literatur leitet. Bei C.H.Beck erschienen der Roman «Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte» (2008), die gesammelten Gedichte «Idylle, rückwärts» (2011), «Schreiben. Vom Leben der Texte» (2012), «Was gewesen sein wird. Essays 2004–2014» (2015) und das Langgedicht «Der Körper meiner Zeit» (2016). Für seine Prosa wurde Drawert ausgezeichnet u.a. mit dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Werner-Bergengruen-Preis, für seine Lyrik u.a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis, dem Lyrikpreis Meran, dem Nikolaus-Lenau-Preis, dem Rainer-Malkowski-Preis, zuletzt mit dem Robert-Gernhardt-Preis 2014. 2017 erhielt er den Lessingpreis des Freistaates Sachsen und war 2018 Dresdner Stadtschreiber.

www.kurtdrawert.de

INHALT

SPIEGELLAND. EIN DEUTSCHER MONOLOG

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

Nachträglich

Wer war ich, als ich es dachte und sah?

I

II

III

IV

V

SPIEGELLAND. EIN DEUTSCHER MONOLOG

Meinen Söhnen Lars und Tilman im Sinne einer Erklärung

... doch es muss auch eine Hinterlassenschaft geben, die die Geschichte, auf die ich selbst einmal, denn das Vergessen wird über die Erinnerung herrschen, zurückgreifen kann wie auf eine Sammlung fotografierten Empfindens, und die die Geschichte, denn das innere Land wird eine verfallene Burg sein und keinen Namen mehr haben und betreten sein von dir als einem Fremden mit anderer Sprache, erklärt.

1

… gewiss hätten wir auf die Frage, woher wir denn kämen, kurz und verbindlich antworten können, aber es muss in uns beiden in demselben Augenblick das Gefühl geherrscht haben, heimatlos zu sein, so dass sie «aus Sonnenstadt» antwortete und ich, «aus Utopia». Wir lachten, während der Mann etwas verwirrt war und sein freundliches Interesse an uns lächerlich gemacht sah, ohne indes verstehen zu können, dass wir nicht seine Frage, sondern die Antwort ins Lächerliche brachten, denn wir müssen sehr genau empfunden haben, dass die Stadt unserer Herkunft nicht die Stadt unserer Heimat ist, und dass wir nicht der Stadt unserer Herkunft entsprechen und mit ihr nichts zu tun haben wollen und nach ihr nicht gefragt werden und gleich gar nicht mit ihr in einem Zusammenhang erscheinen wollen, der nur ein äußerer Zusammenhang sein kann. Und wie es weder eine Sonnenstadt gibt noch ein Utopia, so gibt es keine Heimat, sondern immer nur Herkunft, am ehesten noch, dachten wir, als wir vor einiger Zeit in einem polnischen Krankenhaus lagen, verleiht die gemeinsame Sprache dem Wort Heimat eine Bedeutung, aber die gemeinsame Sprache ist auch nur äußerlich eine gemeinsame Sprache und kann im tieferen Sinn einer Verständigung eine ganz und gar unverständliche Sprache sein, denn es gibt keine Heimat, wenn es sie in einem selbst nicht gibt, und ich kann jede Stadt und jede Landschaft und jede Herkunft entschieden verlassen, denn ich verlasse immer eine Fremde und tausche sie aus gegen eine andere, unbekanntere Fremde, ich verlasse eine Stadt oder eine Landschaft oder eine Herkunft in dem Gefühl, einen Zusammenhang mit ihr leugnen zu müssen und nach ihr gefragt zu werden als lästig zu empfinden. Man müsste, denke ich, in geregelten Abständen eine Stadt und eine Landschaft und eine Herkunft verlassen. Man müsste immer wieder die Dinge verlassen, die man um sich aufgebaut hat. Man müsste das Bild verlassen, das sich die anderen von einem machen und dem man aus Gewohnheit entspricht. Seinen Namen und seine Worte müsste man entschieden verlassen von Zeit zu Zeit. Die Romane im Kopf müsste man verlassen und die Geschichte des Körpers. Die Semantik der Sprache müsste man verlassen, vergessen und verlassen, Mutter hockte nieder vor mir und lehrte mich «Arbeiter- und Bauernstaat» schreiben, ihre von der Kochwäsche aufgewallten Haare fielen verzottelt ins Gesicht, ich war aber auch ein zu blödes Kind, das komplizierte Wort «Revolution», danach die Fahrt mit dem Fahrrad bis nach Hennigsdorf durch den Wald. Ich saß auf dem Gepäckträger und träumte, als wir im Sand steckenblieben und stürzten, all diese Stürze, die ich erlebte und sah, neben uns im Gebüsch hockten friedliche Russen, Mutter war voller Angst und schwitzte, der Korb mit frischen Pilzen rutschte vom Lenkrad, kippte um und verschüttete den Inhalt, den sie nicht auflesen wollte in ihrer Eile und Furcht, sie wollte nur diese einst so vertraute und plötzlich gefährliche Stelle verlassen so schnell es ging, der Sandweg war aufgerissen von Panzerfahrzeugen, die mit Strauchwerk getarnt zwischen Bäumen standen, am Abend kam Vater nicht nach Hause, was geschehen war, hieß Grenze. Diese Schwierigkeit mit den Worten. Ich war aber auch ein zu blödes Kind. Der Nachbar schloss seinen Geräteschuppen ab, drehte sich zur am Gartenzaun jätenden Mutter, neigte sich ihr etwas entgegen und sagte, Ist es denn mit dem Lesen und Schreiben schon etwas besser geworden? Naja, stöhnte sie, Wir üben gerade hundertmal «Arbeiter und Bauernstaat» und «Revolution», ich stand in der Brombeerenhecke und dachte an Bärbel, die ihr Alter schon gründlich verließ, wie es hieß überall in der Siedlung. Ich stellte sie mir nackt in den grasbewachsenen Bombenlöchern der weiten Heide hinter dem Haus vor, wie sie mir zuruft, Zeig doch den Pimmel, na los, zeig doch, und ich war, während mir bei den Worten Gebüsch, Busch, Heide, Gras, Wiese, Farn oder Bombenloch, grasbewachsenes Bombenloch, im Farn liegendes Bombenloch, grasbewachsenes, im Farn liegendes Bombenloch zum Verstecken, zum Verstecken mit Bärbel, ganz heiß wurde in der Brust, so schlecht in Grammatik, malte die Rehe immer noch grün, Mutter übte bis weit in den Abend hinein mit mir die Wirklichkeit sehen, bis mein Rücken sich krümmte. Die Schultern sackten nach vorn, da musste etwas getan werden, ein wirklich blödes Kind, das nun auch noch einen Buckel bekommt, ich hing, das dachte Vater sich aus, an der Teppichstange, solange die Arme mich hielten, ein Zustand, in dem ich gerade war, wie alle es liebten, Zeig doch deinen Pimmel, ich stellte sie mir nackt, nackt in den grasbewachsenen Bombenlöchern der weiten Heide hinter dem Haus vor, ich stand in der Brombeerenhecke, während er fragte, Ist es denn mit dem Lesen und Schreiben schon besser geworden? Da draußen die mit Strauchwerk getarnten Panzerfahrzeuge, ich sehe, wie Mutter mit dem Fahrrad im Sand steckenbleibt, wie wir stürzen, der Korb mit frischen Pilzen rutschte vom Lenkard und verschüttete den Inhalt, das komplizierte Wort «Revolution», die Geschichte des Körpers ist hinlänglich beschrieben, und man muss sie verlassen, man muss seine Herkunft verlassen, und man muss die Worte der Herkunft verlassen und deren Bilder und alles, was an sie erinnert. Und man verlässt sie, indem man sie ausspricht, wir müssen alles erst einmal sprechen, um es dann zu verlassen, wir sagen unseren Namen, und wir haben unseren Namen verlassen, wir sagen unsere Liebe, und wir haben unsere Liebe verlassen, wir haben eine Sprache, um die Sprache zu verlassen, und so verlassen wir uns selbst, um uns selbst zu erreichen, ich kann eine Stadt und eine Landschaft und eine Herkunft, ob es dieser holsteinische Ort ist oder das Sachsen oder das Märkische meiner Kindheit, ohne Trauer verlassen, ich kann mich ins Auto setzen und losfahren und ohne Mühe alles und für immer verlassen, denn es gibt keine Heimat, wenn es sie in uns selbst nicht gibt. Und heimatlos sind wir doch alle.

2

… doch mit dem Land sterben die Begriffe noch nicht, die es hervorgebracht hat, wir haben, sagte ich zu W., den ich zufällig, nach fast zehn Jahren, wiedertraf, mit Begriffen gelebt und mit einer Sprache gelebt, die über Existenzen entschied und über Biografien, ritualisierte Verständigungssätze, magische Verkürzungen, Formeln der Anpassung oder der Verneinung, auswendig gelernt, dahingesagt, die Verformung der Innenwelt durch die Beschaffenheit der Wörter, sagte ich zu W., der fett geworden ist, verbittert und zynisch, ein obszönes Vokabular spricht, unablässig Bier trinkt, grob aufstößt und mit hassverzerrtem Gesicht: die Säue ausficken will, die ihn so ruiniert haben, wie er sagte. Ich war fünfzehn, als mir der etwas ältere Jugendfreund Bücher zu lesen gab, die mein Leben entscheidend prägen sollten, Freud, Sartre, Dostojewski, Nietzsche, «Als Zarathustra dreißig war …», Hermann Hesses «Steppenwolf», wir saßen in einem provisorisch hergerichteten Keller als die verkommenen Söhne hochbeamteter Väter, dieses ganze Dresdener Innenstadtviertel bestand fast ausschließlich aus hochbeamteten Vätern mit verkommenen, zumeist einzelnen Söhnen und Töchtern, die es mit vierzehn schon machten in einem provisorisch eingerichteten Keller wie diesem, wir waren die zu bummeln und zu trinken beginnenden und verzweifelten Söhne ohne Herkunft und Ziel, «Macht aus dem Staat Gemüsesalat», «Wir wollen alles und jetzt». Vater und Mutter waren gestorben im Alkohol, den wir tranken, in der Musik, die wir hörten, in den Zeilen, die wir lasen, das Ende einer Übereinkunft mit den Begriffen, über die wir an der Leine gehalten wurden. W. trat mit dem Fuß gegen eine Holzmiete und lachte gequält über das Geräusch berstender Leisten, und es war, als wären es die Wörter gewesen, die morsch zerbrachen und die wir Tag für Tag hörten und lasen und sprachen, wenn wir diesen Keller verließen, der am ehesten noch ein Zuhause gewesen ist. Das Dresdener Zentrum aus der Perspektive der Häuserrückseiten und Höfe, blattloses Gestrüpp, abgestellte Kisten, Eimer und Tonnen, stinkende, fettverschmierte Holzkübel mit Speiseresten am Hinterausgang besserer Lokale, Ratten, Mäuse und Schaben, verwilderte, obdachlose Katzen mit grindigen Zitzen und blutverkrustetem Fell, geduckt und geschlagen hocken sie zwischen den harten, verdorrten Sträuchern, ein kriegsbeschädigter Irrer, der mit verkrüppelten Fingern im Unrat wühlt und von ungeliebten, wütenden Kindern mit Erdklumpen beworfen wird, ehe man ihn später erschlagen in der Hofeinfahrt findet, die erste Liebe mit nackten Schenkeln im Sommer, auf der einzigen Holzbank, sobald die Dunkelheit kam, aus Einsamkeit an sich und aus Einsamkeit vor einer Losung, die hoch über den Dächern rot beleuchtet zu sehen war, «Der Sozialismus siegt», verloren, entschieden verloren, verzweifelt und einsam. W. hatte einige Philosophien im Kopf, die er aufschrieb oder auch malte, als er von allem ausgeschlossen wurde, was man Bildungsweg nannte und mit Bekenntnissen antrat, gute Noten in Geschichte, Staatsbürgerkunde und im Fach Russisch waren nicht gute Leistungen, sondern Bekenntnisse, Spreu oder Weizen sein, so mein nazierzogener Lehrer immer wieder, später stand er wegen Päderastie vor Gericht und wegen Vergehen gegen das sozialistische Eigentum und einigen Unterschlagungen von Sport- und Freizeitgeldern aus dem Fonds des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Das waren alles solche Namen, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Freie Deutsche Jugend, wir sind geboren worden und sofort Sklaven gewesen, konform oder dagegen sein, eine gespaltene Generation, deren oft bessere Hälfte ins Abseits und in die Chancenlosigkeit und in die Randexistenz geriet, um, wie mein Jugendfreund W., zwanzig Jahre später ein obszönes Vokabular zu sprechen, unablässig Bier zu trinken, grob aufzustoßen und mit hassverzerrtem Gesicht: die Säue ausficken zu wollen, die sie so ruinierten. Aber in Wahrheit waren dieses Abseits und diese Chancenlosigkeit und diese Randexistenz auch eine Möglichkeit, der Verblödung zu entkommen und der Bewusstlosigkeit und der permanenten Tötung von allem, was dachte und handelte und sah, und so haben wir die Sprache unserer hochbeamteten Väter in einer Gegend, in der es nur hochbeamtete Väter und verkommene Söhne zu geben schien, verweigert mit aller Entschiedenheit und gewusst, dass sie sterben würde eines Tages wie ein krankes, sieches Tier, Nur der Zeitpunkt, sagte W., war niemandem klar. Wir sind mit Dutzenden von verlogenen Begriffen aufgewachsen, die wir im ehrgeizigen Alter der Kindheit unbedarft und schamlos vor uns hingesagt haben und die wir auswendig lernten wie fremde Vokabeln, ohne zu wissen, dass sie ein Leben und eine Existenz von innen heraus nur zum Scheitern bringen, wenn man sich ihrer nicht rechtzeitig entledigt so gut es geht, und vielleicht, denke ich, bedarf es eines ganzen Lebens, sich dieser Begriffe zu entledigen. W. hätte eine Möglichkeit gehabt, aber er ist verlorengegangen in einer Sprache, die er mit uns verlassen wollte, denn er hatte nicht aufgehört, in dieser Sprache, wenngleich als Umkehrung, zu leben und die Begriffe, wenngleich in negativer Bedeutung, zu sprechen und die Grenze, über die man gehen muss in eine andere Sprache, so nie zu erreichen, um heute stumpf, verbittert und ordinär geworden den begabten Anfang in den Schmuddelecken der Jugend mit dem kräftigen Aufschlag des Bierseidels auf der Platte des Tisches fast unerinnerbar werden zu lassen. Aber auch ich hätte so ins tatsächliche Verkommen geraten können, ziellos und heimatlos und verzweifelt, wie ich mich fühlte, wenn ich morgens um sechs in die Lehranstalt lief und neben mir die technikbegeisterten Jünglinge sah, wie sie innerlich ausgelöscht über Schaltkreise sprachen und sich dabei an den Ausschlägen kratzten, bis aus einem Pickel am Hals oder Kinn blassrotes Blut floss. Ich muss der allereinsamste Mensch gewesen sein unter den Kommilitonen des Schwachsinns und dem nazierzogenen Lehrer, der nur noch ins Verkommen und ins Nichtstun geraten wollte, das das Gegenteil von Nichtstun und Verkommenheit eben dieser unerträglichen, geisttötenden und sterbenslangweiligen Ausbildung war mit ihren Zwängen und Verlogenheiten und Anpassungsritualen. Immer wieder nahm ich mir vor, abzubrechen und umzukehren, wenn ich an der rotbeleuchteten Aufschrift «Der Sozialismus siegt» vorbei über die Straße in die Lehranstalt lief, du musst alles abbrechen, sagte ich mir den ganzen Weg über vor mich hin, du musst ganz entschieden abbrechen und etwas anderes tun. Diese Lehranstalt ist eine Verhinderungsinstanz des Denkens gewesen, die aber auch jeden Ansatz von Individualität, wo immer sie möglich war, zerstörte, und zu denken ist etwas Feindliches und Absonderliches und ganz und gar Schädliches gewesen, das auf verbotene Lektüre schließen ließ und bekämpft werden musste mit allen Mitteln der proletarischen Diktatur. Aber nicht nur diese Lehranstalt, sondern ausnahmslos jede Lehranstalt ist eine Verhinderungsinstanz des Denkens und der Individualität gewesen, jede Allgemeinschule und jede Oberschule und jede Berufsschule, jede Ingenieurschule und jede Fachschule, jede Hochschule und jede Universität war nichts als eine einzige Verhinderungsinstanz, durch die jene sogenannte bessere Hälfte der Jugend getrieben worden ist, um vollständig verblödet und vernichtet wieder herauszukommen und jene hochbeamteten Stellungen zu übernehmen, die vor zwanzig Jahren noch unseren Vätern gehörten. So habe ich es damals nicht verstanden, dass es meine vielleicht einzige Möglichkeit war, nicht in dieses stupide und alle Abläufe vorbestimmende Entwicklungssystem verstrickt worden zu sein und die Bildungskolonnen als Außenstehender zu sehen, wie sie mit den Sonntagnachmittagszügen in die Universitätsstädte fuhren und auf den Heftstößen voller Unwissen und absurdem Gepauke sitzend die Gänge und Türen blockierten. Ich habe es nicht gleich verstanden, warum mir aufgrund eines nichterfolgten Bekenntnisses der sogenannte höhere Bildungsweg, der in Wahrheit ein höherer Verblödungsweg war, versagt gewesen ist, und warum ausgerechnet ich das Grässlichste aushalten sollte, was es in meinem damaligen Verständnis vom Grässlichen überhaupt gab, nämlich eine und im übrigen von meinem Vater empfohlene technische Schule zu besuchen, in der ich aber auch nichts außer Hirnlosigkeit und infamer Gemeinheit kennengelernt habe. Fast täglich wollte ich aufhören, ganz einfach aufstehen und gehen, irgendwohin, nur weg, aber es gab innerhalb dieser Maschinerie, die dieses System in Bewegung hielt, kein Entkommen, für mich nicht und für niemanden, sie zog erbarmungslos jeden in ihren Mahlstrom zurück, wo immer er war und was immer er sich vornahm zu verlassen. Er blieb wie die Fliege im Uhrwerk der Gefangene einer über ihn verhängten Bestimmung, so dass diese eine Abtötungsmaschine zu verlassen geheißen hätte, in eine andere zu geraten, denn es gab nur Abtötungsmaschinen, wo immer man war, und es hat nur die Wahl zwischen verschiedenen Abtötungsmaschinen gegeben und nie die zwischen Abtötungsmaschine und Selbstbestimmung, weshalb es also, und darüber machte ich mir schon damals keinerlei Illusionen, ohne Sinn gewesen wäre, abzubrechen und aufzustehen und zu gehen. Jeden Augenblick, den ich in dieser technischen Schule verbringen musste, habe ich gehasst. Nicht die kleinen, schwachsinnigen Pauker habe ich gehasst, die mit mir auf der Schulbank saßen und mir je unverständliche Zahlen auf mausgraue Karteikarten schrieben, bis sich zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand Blasen vom Stifthalten bildeten, während ich die Ausschweifungen eines Marquis de Sade las, ich habe sie ignoriert, was kränkender für sie war als dieser Hass, den ich gegen die Zeit, gegen jeden Augenblick in dieser Zermürbungsanstalt des Denkens empfand. Sie waren so sehr gekränkt durch meine Art der Ignoranz, die von ihnen mit Überheblichkeit verwechselt wurde, indessen Nichtinteresse und tatsächliches Übersehen bedeutete, dass sie mich, denke ich, hassten, voller Hass meine damals langen Haare anbrannten, weil sie insgeheim ahnten, dass ich eine Sprache verlassen hatte, in deren Gefängnis sie starben. Ich bin viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, als dass ich die Zeit und Kraft gehabt hätte, sie zu hassen, ich habe sie nicht einmal gehört oder gesehen oder nur, wenn sie mit einigen offensichtlichen Gemeinheiten auf sich aufmerksam machten, ich habe überhaupt kein Verhältnis zu ihnen gehabt und kann heute keinen Namen und kein Gesicht und keinen gesprochenen Satz von ihnen erinnern, was das Schrecklichste ist, das man überhaupt sagen kann von den anderen, und es ist eine gute Möglichkeit für mich gewesen, durch diese abgestandenste aller Schulen gegangen zu sein und das Alleinsein ausgehalten zu haben und alle Verzweiflungen und alle Wut. Für W., den ich zufällig wiedertraf nach vielen Jahren, ist es keine Möglichkeit gewesen, und er ist zerstört worden, viele wie er sind zerstört worden, ich habe es gesehen, mehrmals und tragischer noch, sie sind von einem Land und durch ein System und durch Begriffe zerstört worden, die zur Sprache wurden und das Leben vom Kern her beschädigten und weiter beschädigen werden, über das Ende des Landes hinaus, das ich gerade jetzt, in seiner Agonie und Hilflosigkeit, begreife.

3