Spielend das Leben gewinnen - Was Menschen stark macht - Rainer Schmidt - E-Book

Spielend das Leben gewinnen - Was Menschen stark macht E-Book

Rainer Schmidt

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Beschreibung

Was Menschen stark macht

- Das Unmögliche möglich machen

- Ein besonderer Erfolgsratgeber von einem besonderen Menschen: nach 2004 in Athen (Gold und Silber) auch 2008 bei den Paralympics in Peking dabei

Wenn einer ohne Unterarme und mit einem verkürzten rechten Bein auf die Idee kommt, Tischtennis spielen zu wollen, gehört dazu schon eine Menge Optimismus. Dass einer mit diesen Einschränkungen aber mehrfach Welt- und Europameister der Behinderten wird, zeugt von großer Zielstrebigkeit und unglaublichem Durchsetzungsvermögen.
Rainer Schmidt zeigt in diesem ungewöhnlichen Ratgeber, wie man es schaffen kann, auch das Unmögliche möglich zu machen.

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Seitenzahl: 271

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Inhaltsverzeichnis
 
TEIL 1 - DAS THEMA DES BUCHES IST MEIN LEBENSTHEMA
1. Ein Lenkdrachen erhebt mein Herz
2. Ein persönliches Buch zur Sache
 
Copyright
Meinen Eltern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
TEIL 1
DAS THEMA DES BUCHES IST MEIN LEBENSTHEMA

1. Ein Lenkdrachen erhebt mein Herz

Das Wochenende versprach sonnig und stürmisch zu werden. Sonnig war es bereits. Stürmisch würde es werden, wenn meine Lieblingsholländerin ankommen würde. Der Herbst hatte in Bonn Einzug gehalten. Noch ahnte ich nicht, dass mir durch dieses Wochenende klar werden sollte, warum vieles in meinem Leben richtig gut läuft.
Der Freitagnachmittag war ruhig. Wir waren beide nach einer anstrengenden Woche müde. Das Abendessen duftete köstlich und ich machte zwei Flaschen Wein auf. - Ja, Sie haben richtig gelesen. Es waren immer zwei Flaschen, die ich öffnen musste. Für mich einen trockenen Roten, für Karina einen süßklebrigen Weißen, den sie selbst aus Holland mitgebracht hatte (wer hat schon süßen Wein im Haus?). Wenigstens verband uns die gemeinsame Fremdsprache Englisch. Das wurde im Verlauf des Abends immer flüssiger. Müde und zufrieden schliefen wir ein.
Ein Geräusch weckte mich. Karina machte die Jalousien ein Stück hoch, schaute raus und sah mich mit einem breiten Grinsen an: »Weißt du, was wir heute machen könnten?« »Aaaahhhh, du hast bereits zwei Minuten nach dem Aufwachen einen Tagesplan erstellt?«, murmelte ich. »Nein, nur eine großartige Idee«, erwiderte sie. Und großartig war die Idee wirklich, wenigstens in ihren Augen. Ich fand sie eher doof, aber ich sollte meine Meinung am Ende des Tages revidiert haben.
»Heute gehen wir kyten!«, verkündete sie freudestrahlend. »Joooh, das ist eine schöne Idee«, gab ich von mir, ohne zu wissen, was kyten überhaupt ist. Zögernd fragte ich sie: »Karina, was genau meinst du mit kyten?« »Na, wir lassen einen Dragon fliegen, oder wie sagt man?« Langsam dämmerte es mir: »Du willst einen Drachen steigen lassen? Woher bitteschön soll ich einen Drachen nehmen?« Wieder grinste Karina: »Wir nehmen meinen, der liegt im Kofferraum in meinem Auto. Ich lass dich auch mal fliegen.« »Ne, lass mal, ich fühle mich auf der Erde sicherer.« Karina fuhr unbeirrt fort. »Du wirst sehen, kyten macht viel Spaß und heute ist es so schön windig. Da kann man tolle Figuren fliegen.«
Immer klarer wurde mir, wovon Karina so begeistert war. »Jetzt versteh ich, du besitzt einen Lenkdrachen. So ein Ding mit zwei Schnüren. Eine Schnur in die linke Hand, eine in die rechte und dann lenken.«
Ich dachte nach: »Karina, sei mir nicht böse, aber ich sehe da ein klitzekleines Problem auf mich zukommen. Wie bitteschön soll ich die Schnüre festhalten? Also, ich komme gerne mit und schaue dir zu, kein Problem für mich, wirklich.« »Vertrau mir«, unterbrach sie mich liebevoll, »ich habe ein paar Ideen, wie es klappen könnte.«
Wenn eine Frau dich auffordert, ihr zu vertrauen, dann halt die Klappe und vertrau ihr. So viel hatte mich das Leben schon gelehrt.
Eine halbe Stunde später befanden wir uns auf den Bonner Rheinauen und Karina hatte ihren bunten Kyte aufgebaut. Sie machte vor, wie es funktioniert. Mit atemberaubender Geschwindigkeit ließ sie den Kyte am Himmel tanzen. Nach ein paar Minuten brachte sie ihn sanft zur Erde zurück. Dann zog sie einen Stab aus ihrem Rucksack, befestigte beide Seile daran, gab ihn mir und sagte: »Probier mal aus, ob du den halten kannst.« Ich klemmte mir den Stab vor die Brust und hatte ihn fest im Griff. Karina lief zum Kyte, hob ihn ein wenig an, bis eine Windböe ihn erfasste und er rasch nach oben stieg. »Mach erst mal gar nichts«, rief sie mir zu. »Versuche ihn oben in der Mitte zu halten.«
Der Kyte zerrte an mir, aber ich stand da wie ein Fels in der Brandung. Meinen Blick hielt ich starr auf den Drachen gerichtet. Dann stand Karina neben mir: »Zieh ganz wenig an einem Seil, keine schnellen Bewegungen, vorsichtig, und lass ihn von links nach rechts fliegen.« Es klappte, der Kyte gehorchte mir. Mein ehemals skeptisches Gesicht erhellte sich und ein wohliges Gefühl stieg in mir auf.
»Wahnsinn, das ist toll«, schrie ich, obwohl Karina direkt neben mir stand. »Eh, du bist geschickt«, lobte sie mich. »Gar nicht übel für einen Anfänger. Nun zieh mal ruckartig an einem Seil und bring es dann sofort wieder in die alte Position.« Zuerst gehorchte ich Karina, dann der Kyte mir. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, um sogleich wieder stabil am Himmel zu stehen. »Yes«, rief ich, »ich hab ihn im Griff.«
Mit der Zeit wurde ich mutiger. Immer rasanter wurden die Kurven und immer mehr Loopings mutete ich dem bunten Drachen zu. Manchmal raste dieser nur wenige Meter über den Boden. Dann wieder ließ ich ihn bis fast über meinen Kopf steigen, um ihn gleich darauf wieder gen Boden stürzen zu lassen. Das ganze Geschehen wurde meinerseits mit illustrierenden Geräuschen und Sätzen begleitet: »Und wieder lässt Rainer Schmidt den Drachen bis zum Gipfel steigen, eine schnelle Linkskurve, zwei Loopings, zack, zack und wruuummmm geht es Richtung Rheinufer.« Ich war in meinem Element. Volle Konzentration auf das, was ich tat.
Es war Karina, die mich auf die Passanten aufmerksam machte. In sicherer Entfernung standen inzwischen bestimmt zehn bis fünfzehn Menschen, die dem Mann mit den kurzen Armen zusahen, wie er Kunststücke mit einem Lenkdrachen vollführte. Ich tat natürlich so, als ob ich sie gar nicht bemerkt hätte. Aber in mir spürte ich einen Antrieb, es nun besonders gut zu machen. »Wenn die schon stehenbleiben, dann will ich ihnen auch was bieten.«
Dann plötzlich, es geschah in einem Sekundenbruchteil, verlor ich die Kontrolle. Der Kyte knallte mit der Nase voran auf die Wiese. Ein Plexiglasstab flog raus, hüpfte nach oben und fiel drei Meter vom Kyte entfernt nieder. Nach einer Schrecksekunde brach es aus mir heraus: »So ein Mist! Das tut mir leid. Hab ich ihn kaputt gemacht?« »Nein, kein Problem«, rief Karina, die bereits zum Kyte gelaufen war. »Solange die Stäbe rausfliegen, ist alles bestens. Komm, probier es gleich noch mal.« »Wenn du meinst«, rief ich zurück, »aber diesmal werde ich vorsichtiger sein, versprochen.« Und so war es. Mein Übermut war gedämpft worden, aber ich war mir noch immer sicher, dass ich ab sofort behaupten dürfte: Rainer Schmidt kann Lenkdrachen fliegen.
Zum Glück aber hatte ich bereits 20 Minuten lang Erfolgserlebnisse gesammelt, bevor das Scheitern eintrat. Wäre mir der Drachen schon nach wenigen Sekunden und dann immer wieder außer Kontrolle geraten, ich hätte frustriert aufgegeben.
Ein paar Wochen später kam mir der Tag wieder in den Sinn. Ich saß gerade bei der Vorbereitung eines Vortrags zum Thema »Ich kann was und ich bin wer - Was Menschen stark macht«. Ein Vortrag über zwei zentrale Bedürfnisse von Menschen: Über das Bedürfnis nach Stärke und das Bedürfnis nach Anerkennung.1 In diesem Erlebnis mit dem Lenkdrachen steckt doch alles drin, dachte ich bei mir.
Erstens: Das war ein tolles Erfolgserlebnis! An einem einzigen Samstagvormittag hatte ich etwas gelernt, was mir bis dahin völlig unmöglich erschienen war. Ich hatte das Gefühl: Ich kann was! Mein Vertrauen in meine Fähigkeiten ist dadurch stärker geworden. Dieses Buch erzählt von der Wichtigkeit von Erfolgserlebnissen.
Aber Sie erinnern sich natürlich auch an meinen Misserfolg. Der Kyte ist mir noch mehrmals am Tag auf die Wiese geknallt. Warum habe ich mich von meinem Scheitern nicht unterkriegen lassen? Welche Rolle spielen Niederlagen in meinem Leben und was hilft mir, nicht daran zu verzweifeln?
Zweitens: Mir hat der Tag sehr viel Spaß gemacht. Ich hatte spielend gewonnen! Nun gut, nicht gleich das ganze Leben, wie es der Titel dieses Buches verspricht, aber doch einen wundervollen Tag in meinem Leben. Dieses Buch handelt von der Kraft des Spielerischen. Spielen und Ausprobieren hat etwas Befreiendes, etwas Leichtes. Wie ich gelernt habe, einen Lenkdrachen steigen zu lassen, so habe ich übrigens auch Tischtennis spielen gelernt. Wie spielen und sich anstrengen, Spaß haben und stark werden zusammenhängen, auch davon erzähle ich.
Und drittens waren da Menschen um mich herum, die mir Anerkennung und echtes Interesse entgegengebracht haben. Zuallererst Karina. An diesem Tage war sie mir eine wunderbare Lehrerin. Sie hat mich neugierig gemacht und mir einen neuen, unbekannten Lebensraum eröffnet. Inzwischen besitze ich längst einen eigenen Kyte und kann meinen Drachen ohne fremde Hilfe in den Himmel steigen lassen. Da waren aber auch fremde Menschen, die mir ganz beiläufig Bewunderung entgegengebracht haben. In diesem Buch denke ich über Beziehungen nach. Wie können Menschen einander unterstützen und befähigen? Wie sind Beziehungen zu gestalten, dass alle zu Recht sagen dürfen: »Ich bin wer!« Neugierig geworden? Ich hoffe es!

2. Ein persönliches Buch zur Sache

»Spielend das Leben gewinnen - Was Menschen stark macht« habe ich als Titel meines Buches gewählt. Dieses Buch ist ein Buch zur Sache, ein Sachbuch. Es geht darum, welche Erfahrungen und Lebensverhältnisse Menschen brauchen, um stark für das Leben zu werden. Von einem Sachbuch dürfen Sie zu Recht erwarten, dass es fundiert und begründet ist. Sie werden allerdings auf den nachfolgenden Seiten kaum Hinweise auf Untersuchungen, Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Literatur finden. Zwar habe ich zur Vorbereitung einiges gelesen und darf daher hoffen, ein fundiertes Buch vorgelegt zu haben. Dann aber habe ich entschieden, kein Zahlen- und Faktenbuch zu schreiben. Ich hatte Angst, es könnte schnell langweilig werden. Vor allem aber, und das ist das zentrale Argument, meine Positionen und Meinungen haben sich weniger aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema gebildet als vielmehr durch mein Leben und Erleben. Das Thema des Buches ist mein Lebensthema! Ich bin Leistungssportler und zugleich Pfarrer, Referent an einem Fortbildungsinstitut und zugleich behindert, ehemaliger Sonderschüler und inzwischen Buchautor. Gaben und Grenzen haben, erfolgreich sein und versagen, das sind meine Themen. Das macht meine eigene Perspektive aus. Als Sportler mache ich Erfahrungen, die dem Pfarrer gut tun. Als Mensch mit Behinderung hat der Sport für mich eine besondere Bedeutung. Und für die Menschen, mit denen ich Kurse gestalte, ist es sicher wichtig, dass auch ich auf andere angewiesen bin.
Erlauben Sie mir hier eine kurze Anmerkung zur Bezeichnung »Mensch mit Behinderung«: Die Unterscheidung der Menschen in Menschen mit und ohne Behinderung ist von Menschen erdacht. Prinzipiell haben alle Menschen Grenzen und Gaben. Einige aber weichen vom Durchschnitt der Bevölkerung ab und werden dann behindert genannt. Dieser Durchschnitt, diese Norm wird von Menschen definiert. Ist ein Brillenträger sehbehindert? Wir definieren, ab welcher Sehschwäche er einen Behindertenausweis bekommt. Korrekt müssen wir also von »so definierten Menschen mit Behinderung« sprechen.
Übrigens, es geht mir nicht darum, mich und mein Leben als Modell darzustellen im Sinne von »Schaut her, wie ich es mache, und tut es ebenso!«. Nein, weder bin ich immer stark, noch ist in meinem Leben alles optimal verlaufen. Vielmehr geht es mir um eine perspektivische Sicht auf die Dinge. Wenn Sie so wollen um eine Stellungnahme, ein Bekenntnis. Aber ich muss natürlich auch zugeben: Ich erzähle lieber Geschichten, in denen ich gut wegkomme. Ich habe nämlich auch ein Bedürfnis nach Anerkennung, und wenn ich mich schon selbst präsentieren kann, dann zeichne ich freilich ein eher positives Bild von mir.
Nun, inwieweit hat mein Leben mich geprägt? Ich erzähle Ihnen kurz und knapp, wer ich bin und was ich mit dem Thema meines Buches zu tun habe.

2.1 Leben mit einer Behinderung

Vermutlich ist die Tatsache, dass ich 1965 mit zwei zu kurz geratenen Armen und einem verkürzten rechten Oberschenkel geboren wurde, das prägende Ereignis meines Lebens. Zwar hat meine Behinderung zu verschiedenen Zeiten meines Lebens sehr unterschiedliche Bedeutung für mich gehabt, aber sie war permanent da und hat stets eine Rolle gespielt. Ich möchte an dieser Stelle nicht mehr als nötig darüber schreiben, denn alles, was ich dazu zu sagen habe, habe ich bereits in meinem ersten Buch »Lieber Arm ab als arm dran« geschrieben.
Welche Erfahrungen habe ich aufgrund meiner Behinderung gemacht?

Begrenzte Fähigkeiten

Die ersten sechs Jahre meines Lebens habe ich kaum über meine Behinderung nachgedacht. Ich war, wie ich war - und gut! Ich habe nicht mich erkundet, sondern meine Umwelt. Und die hatte einiges zu bieten. Ich war im 450-Seelen-Dorf Gaderoth, etwa 60 km östlich von Köln, zu Hause und dort vollkommen integriert. Gemeinsam mit den anderen Kindern im Dorf bin ich spielend gewachsen und stärker geworden. Da gab es Wiesen und Felder, Bäche und Wälder, Pferde und Kälber. Vieles wartete nur darauf, von mir entdeckt zu werden. Und meine eigenen Fähigkeiten wuchsen von Woche zu Woche. Apropos Fähigkeiten. Es gab natürlich auch manche Unfähigkeit. Ich konnte zum Beispiel nicht besonders schnell laufen. Das ist blöd als kleiner Junge. Wenn ich gerade jemanden geärgert hatte und es vielleicht sogar ein klitzekleinwenig übertrieben hatte, dann wäre ich gerne weggelaufen (meine Chancen für einen Boxkampf schätzte ich gering ein). Auch Völkerball wollte nicht so recht zu meiner Lieblingsfreizeitbeschäftigung werden. Statt den Ball zu fangen, stoppte ich ihn nur allzu oft mit dem Gesicht und war dann draußen. Es gab aber auch Dinge, in denen ich ganz groß war. Neben unserem Haus war eine Teppichstange, an die auch eine Schaukel gehängt werden konnte. Oder ein Kind. Freiwillig natürlich! Das Spiel ging so: Man hielt sich mit beiden Händen fest und wer am längsten hängen konnte, hatte gewonnen. Das war eigentlich immer ich. Denn ich klemmte die Stange unter die Schultern und hätte ewig dort baumeln können.
Meine Behinderung verhinderte nicht die Freude an meinen Fähigkeiten und an meinem Interesse für die Welt. Hin und wieder aber stand ich in der Gefahr, mich mit anderen zu vergleichen, und dann zog ich oft den Kürzeren. Das kann das eigene Ego ganz schön kränken, wenn die anderen es stets höher, schneller, weiter schaffen. Wie werde ich stark, wenn ich doch begrenzt bin? Was brauchen Menschen, die sich als zu schwach, zu dumm, zu langsam, oder, ganz allgemein formuliert, als zu wenig fühlen?

Angewiesen sein

Wer mit einer außergewöhnlichen Begrenzung (= Behinderung) lebt, der ist stärker auf andere Menschen angewiesen. Und das ist kein schönes Gefühl.
Wälder sind spitzenklasse. Sie verführen kleine Jungs geradezu, die Zeit zu vergessen und auf einmal weit weg von zu Hause zu sein. Und dann stellten wir schlagartig fest, dass wir alle gleichzeitig unheimlich nötig pinkeln mussten. Die anderen Jungs standen flugs am Baum, während ich meinen Bruder bitten musste, mir zu helfen (der stand aber auch schon am Baum). Wir sind dann ein wenig abseits gegangen, so konnte ich die für mich peinliche Situation besser ertragen. Aber zum Glück gab es meinen Bruder. Hätte ich einen meiner Freunde fragen müssen, wäre das viel unangenehmer gewesen. Mein Bruder hatte für meine Gefühle ein gutes Gespür. Er war bemüht, mir so zu helfen, dass es für mich erträglich war.
Meine Behinderung brachte das Gefühl der Unselbstständigkeit, ja manchmal der Hilflosigkeit mit sich. Es kann das eigene Ego ganz schön kränken, wenn man stets auf andere angewiesen ist. Wie werde ich stark, wenn ich von anderen abhängig bin? Und wie mache ich den Menschen stark, der von mir abhängig ist? Dieses Buch ist darum auch für alle die Menschen geschrieben, die Verantwortung für Menschen tragen, die im hohen Maße von ihnen abhängen: Eltern, Lehrer/innen, Pflegekräfte usw.

Ausgrenzung - bin ich normal?

Leben mit einer Behinderung stellt die Frage nach der Normalität. Als ich sechs Jahre alt war, wurde ich in eine Sonderschule für Körperbehinderte eingeschult. Meine Eltern hatten mir erklärt, ich müsse in eine besondere Schule, weil ich ja ein besonderes Kind wäre und kurze Arme habe. Und schließlich sei ich ja auf Hilfe angewiesen. Das fand ich plausibel. Ich konnte noch nicht alleine zur Toilette gehen und da wäre eine Schule, in der es helfende Menschen gäbe, genau die richtige. Andererseits war mir die Sonderschule auch ein Rätsel. Ich war doch immer schon ein besonderes Kind und als solches mit meinen normalen Freunden zusammen gewesen, die ich im Übrigen auch als etwas Besonderes empfand. Warum sollte das in der Schule anders werden? Und gab es denn in der normalen Schule niemanden, der mir helfen könnte? Seltsam für eine Schule, dachte ich. Nun gut.
Am ersten Schultag fuhren mich meine Eltern zur Schule. Ich kam auf den Schulhof und sah einen Jungen, der im Rollstuhl saß. Ich bekam den Mund nicht zu und starrte ihn an. Was für ein sonderbarer Junge! Bringt seinen eigenen Stuhl mit in die Schule, sind auch noch Räder dran, sehr seltsam. Der Nächste, den ich zu Gesicht bekam, war lang und schlaksig und ging x-beinig zappelnd. Heute weiß ich, er war spastisch gelähmt. Damals dachte ich, ich sei soeben dem Erfinder des Breakdances begegnet. Und so ging das weiter. Ein Kind nach dem andern tauchte auf und mutete mich seltsam an. Ich habe ziemlich viel geweint an meinem ersten Schultag. Es kam mir vor, als sei ich in ein Gruselkabinett eingeschult worden. Verzeihen Sie mir meine scheinbar respektlosen und flapsigen Bemerkungen, aber ich litt unter einem Kulturschock. Nie zuvor hatte ich einen behinderten Menschen gesehen und jetzt waren plötzlich überall welche. Nun werden Sie vielleicht sagen, ich sei doch selbst behindert. Stimmt, aber ich habe mich in den ersten sechs Jahren meines Lebens nicht behindert gefühlt. Ich habe nur gewusst, dass ich anders bin. Gefühlt habe ich: ich bin normal!
In den ersten Tagen nach meiner Einschulung habe ich mich dann oft im Spiegel angesehen. Und immer wieder habe ich meinen Eltern erzählt, dass ich kurze Arme habe (als wenn die das noch nicht bemerkt hätten). Damals wurde aus dem Wissen ein Gefühl. Und das war kein gutes Gefühl. Mir war bewusst: Ich bin auf einer Schule für Problemkinder, einer Sonderschule für Sonderlinge. Wenn mich jemand gefragt hat, auf welche Schule ich gehe, habe ich immer geantwortet: »Auf die Grundschule Kleineichen«. Ich habe es vermieden kundzutun: Ich gehe auf eine »Sonderschule für Behinderte«. Mir war instinktiv klar: Diese Schule ist keine Eliteschule. Noch vor meiner ersten Unterrichtsstunde hatte ich in der Schule bereits etwas gelernt (das können nicht alle von sich behaupten), nämlich: Ich bin behindert und gehöre ab sofort in eine Sonderwelt.
Zum Glück habe ich aber recht schnell noch eine zweite Lektion in meiner Schule gelernt. So seltsam, wie ich anfangs dachte, waren diese anderen Kinder gar nicht. Im Gegenteil, je länger ich sie kannte, desto normaler kamen sie mir vor. Der Junge im Rollstuhl zum Beispiel kam in dieselbe Klasse wie ich und saß sogar neben mir. Eines Tages kam er auf eine glorreiche Idee. Er spitzte seinen Bleistift gründlich an und rammte diesen unvermittelt in meinen linken Oberschenkel. Prompt brach die Spitze ab und ich musste zum Schulsanitäter. Wenigstens habe ich den Mann im Kittel für einen solchen gehalten. Dieser hat mir die Bleispitze aus dem Bein geholt, was ebenso schmerzhaft war wie der Akt des Hineinstechens. Sehr zu meiner Freude hatte mein Klassenkamerad allerdings völlig vergessen, dass er drei Tage zuvor auch die andere Seite des Bleistifts angespitzt hatte. Und diese Spitze hing nun in seiner Handfläche. Wir waren also gemeinsam beim Schulsanitäter. Sie sehen: Ganz normale Kinder in dieser Schule.
Vielleicht werden Sie einwenden, ich könne doch froh sein, auf eine Sonderschule gegangen zu sein. In einer Regelschule wäre ich vermutlich ausgelacht worden. Das mag sein, aber ich glaube es nicht. Viele meiner Freunde wurden im selben Jahr wie ich eingeschult. Die hätten mich eher vor fremden Kindern in Schutz genommen, als mich auszulachen. Außerdem gab es eine Zeit, da wurde ich auch in der Sonderschule ausgelacht. In den Ferien von der dritten zur vierten Klasse bekam ich als erster Junge meiner Klasse eine Brille. Ein ausgesucht schickes Modell aus Horn. Zugegeben, ich sah aus wie Puck, die Fliege aus Biene Maja. Dennoch war ich verletzt, als meine Brille zum Anlass genommen wurde, mich auszulachen. Ohne Witz, die Kinder der Sonderschule für Körperbehinderte haben mich eine Zeit lang als Brillenschlange verhöhnt! An meinen kurzen Armen hat niemand Anstoß genommen.
Einen zweiten negativen Effekt brachte die Einschulung in eine Sonderschule mit sich. Sie war weit weg von meinem Heimatdorf und zudem eine Ganztagsschule. Jeden Morgen wurde ich um sechs Uhr vom Arbeiter-Samariter-Bund per Kleinbus abgeholt und kam abends erst gegen 17.15 Uhr wieder zu Hause an. In den Wintermonaten sah ich meine Freunde nur noch selten. Zuerst verloren wir die gemeinsamen Interessen, denn ich konnte bei vielen Dingen nicht mehr mitreden. Dann verlor ich mit der Zeit den Kontakt zu vielen Kindern. Separation und deren Überwindung ist daher bis heute für mich ein wichtiges Thema.
Meine Behinderung führte zu Ausgrenzungserfahrungen. Nein, hier muss ich genauer formulieren: Meine Behinderung wurde zum Anlass genommen, mir Ausgrenzungserfahrungen angedeihen zu lassen. Das hätte nicht zwangsläufig so sein müssen. Heute kenne ich Schulen, an denen Kinder, ganz gleich ob behindert oder nicht behindert, Deutsche oder Kinder anderer Nationalität, hochintelligent oder einfach begabt gemeinsamen Unterricht genießen. Davon wird noch zu sprechen sein. De facto führte meine Behinderung zur Einweisung in eine Sonderwelt. Keine schlechte Sonderwelt, denn meine Schule war super, aber doch eine Welt, getrennt von der »normalen« Welt. Es tut weh, wenn man gesagt bekommt, ein Sonderling und Problemkind zu sein. Wie werde ich stark, wenn ich in eine ungeliebte Sonderrolle gerate? Und wie müssen wir mit der Verschiedenheit der Menschen umgehen, dass diese nicht allzu viele Kränkungen erfahren?
Vielleicht haben Sie beim Lesen der letzten Seiten hin und wieder gedacht: Solche Erfahrungen machen doch viele Menschen, nicht nur Menschen, die als behindert angesehen werden. Das stimmt, es sind Grundthemen unseres Menschseins:
Bin ich gut (genug)? Reichen meine Fähigkeiten mir und anderen? Wie kann ich in Abhängigkeiten leben und zugleich frei sein? Bin ich normal, gehöre ich dazu?
Ich schreibe dieses Buch darum auch für Menschen, die mit ihren eigenen Begrenzungen schlecht leben können. Die sich zuweilen - oder oft - minderwertig, klein, unfähig, eben schwach fühlen.

2.2 Referent am Pädagogisch-Theologischen Institut in Bonn

Gerade habe ich über meine Behinderung und meine Schulzeit geschrieben. Lauter Erlebnisse aus meiner Kindheit. Beide Themen kommen aber auch in meinem Erwachsenenleben vor. Ja, in meinem Beruf habe ich sie vereint.
Von Beruf bin ich evangelischer Pfarrer. Seit Oktober 2005 arbeite ich am Pädagogisch-Theologischen Institut (PTI) in Bonn, einem Aus-, Fort- und Weiterbildungsinstitut der Evangelischen Kirche im Rheinland. Als Referent im Arbeitsbereich »Integrative Gemeindearbeit« verantworte ich unter anderem Seminare für die so definierten Menschen mit geistiger Behinderung.
Wenn ich Seminare gestalte, dann möchte ich die Menschen nicht von ihrem Defizit her verstehen, sondern ihre Talente in den Blick nehmen. Ich will es an einer kurzen Situation verdeutlichen, die ich im PTI erlebt habe.
Wir hatten ein Wochenendseminar im Haus. Zeitgleich veranstaltete die Evangelische Akademie, die sich ebenfalls im Haus befindet, eine große Tagung. Zu Gast bei der Tagung war auch ein junges Ehepaar mit seinem etwa dreijährigen
1
Vgl. Kapitel 5: Fünf Grundbedürfnisse von Menschen
1. Auflage Copyright © 2008 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Fotos: Umschlag: © Ute Glaser; S. 13 und 74: privat;
S. 104: © Dieter Schönrock
eISBN : 978-3-641-03240-1
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Leseprobe
 

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