Legal High - Rainer Schmidt - E-Book

Legal High E-Book

Rainer Schmidt

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«‹Legal High› ist eine furiose Gesellschaftssatire – und sehr, sehr komisch!» Feridun Zaimoglu Deutschland 2018. Die Kanzlerin versteht die Welt nicht mehr: Plötzlich wird sie von allen Seiten bedrängt, Cannabis endlich zu legalisieren. Die Krankenkassen wollen damit Kosten für Medikamente sparen, Bauern und Wirtschaft wittern ein Milliardengeschäft, selbst die Kirche fordert eine Freigabe. Als die Kanzlerin die Legalisierung fürs nächste Jahr andeutet, beginnt in der Republik ein grüner Goldrausch. Die Gier macht aus Drogengegnern enthusiastische Cannabis-Befürworter. Nur der Dude ist deprimiert. Er sitzt im Gefängnis, weil er einst das beste Gras der Republik hergestellt hat – leider illegal. Frustriert sieht er, wie sich vor allem der Chemiegigant Meduk und der Energydrink-Hersteller Black Devil mit ihren Cannabis-Produkten in Stellung bringen. Und auch die Motive der Kanzlerin scheinen nicht ganz selbstlos. Schnell wird klar: Das Rennen macht, wer den besten Stoff anbietet. Plötzlich kämpfen alle um sein legendäres Gras – und der Dude wird zum Spielball im großen Cannabis-Krimi. «Legal High» ist eine beißende Gesellschaftssatire über die Gier und Doppelmoral auf unseren Fluren der Macht – lustig, spannend und erschreckend realistisch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 400

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rainer Schmidt

Legal High

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«‹Legal High› ist eine furiose Gesellschaftssatire – und sehr, sehr komisch!» Feridun Zaimoglu

 

Deutschland 2018. Die Kanzlerin versteht die Welt nicht mehr: Plötzlich wird sie von allen Seiten bedrängt, Cannabis endlich zu legalisieren. Die Krankenkassen wollen damit Kosten für Medikamente sparen, Bauern und Wirtschaft wittern ein Milliardengeschäft, selbst die Kirche fordert eine Freigabe. Als die Kanzlerin die Legalisierung fürs nächste Jahr andeutet, beginnt in der Republik ein grüner Goldrausch. Die Gier macht aus Drogengegnern enthusiastische Cannabis-Befürworter. Nur der Dude ist deprimiert. Er sitzt im Gefängnis, weil er einst das beste Gras der Republik hergestellt hat – leider illegal. Frustriert sieht er, wie sich vor allem der Chemiegigant Meduk und der Energy-Drink-Hersteller Black Devil mit ihren Cannabis Produkten in Stellung bringen. Und auch die Motive der Kanzlerin scheinen nicht ganz selbstlos. Schnell wird klar: Das Rennen macht, wer den besten Stoff anbietet. Plötzlich kämpfen alle um sein legendäres Gras – und der Dude wird zum Spielball im großen Cannabis-Krimi.

«Legal High» ist eine beißende Gesellschaftssatire über die Gier und Doppelmoral auf unseren Fluren der Macht – lustig, spannend und erschreckend realistisch.

Über Rainer Schmidt

Rainer Schmidt, geboren 1964 in Düsseldorf, ist Journalist und Schriftsteller. Er hat als Redakteur beim BBC World Service gearbeitet, für das «Zeit-Magazin», «Spiegel-Reporter» und «Vanity Fair». Bis 2012 war er Chefredakteur des «Rolling Stone». 2008 erschien «Wie lange noch», 2009 «Liebestänze». Sein letzter Roman – «Die Cannabis GmbH» (2014) – wurde viel gelobt, Nico Hofmann hat die Filmrechte für die UFA Fiction erworben. Rainer Schmidt lebt in Berlin.

Prolog

Manchmal verstand die Kanzlerin ihre Mitbürger nicht. Warum hackten scheinbar normale Menschen ohne Not schmucklose Gewächse klein, stopften das Gestrüpp in Papier, zündeten es an und saugten daran – bloß um dann auszusehen und aufzutreten wie ihre halbe Fraktion nach anstrengenden Sitzungen? War das so erstrebenswert? Bei internationalen Konferenzen sah es übrigens nicht anders aus. In einigen Fällen lag es an den Themen, bei manchen Teilnehmern am Alkohol, oft einfach an der Erschöpfung. Sie wollte sich gar nicht davon ausnehmen. Gott, in was für einem Zustand sie teilweise während dieser absurden Verhandlungen mit den Griechen vor drei Jahren gewesen waren, unverantwortlich eigentlich. Wie Betrunkene hatten sie bis in die frühen Morgenstunden über Dinge gesprochen, die selbst ausgeruht kaum zu verstehen waren, vollkommen übermüdet und erschöpft gegen fünf Uhr morgens allerdings allen wie ägyptische Kreuzworträtsel erschienen. Sogar den Griechen selbst. Auch ihr Finanzminister hatte mehr als einmal hysterisch gekichert, und der rauchte ja wohl nicht. Obwohl, vielleicht aus medizinischen Gründen …?

Aufmerksam blätterte sie in dem kleinen Geheimdossier, das ihr die Büroleiterin am 16. August 2018 zusammengestellt hatte, wie darauf vermerkt war, privat sozusagen, niemand sollte mitbekommen, womit sie sich hier beschäftigte. Und alles nur wegen der Amerikaner.

Lächelnd schüttelte sie den Kopf, denn neben den Cannabis-Umsatzzahlen und den entsprechenden Steuereinnahmen der diversen US-Bundesstaaten hatte ihre Vertraute sehr liebevoll überall lachende Schäuble-Köpfe mit Hanf-Siegerkranz und Dollarzeichen in den Pupillen hingemalt. Je höher die Summe, desto breiter grinste sie ihr ewiger Minister an. Mit vor Erregung glühenden Wangen saß er auf der steil nach oben ragenden Pfeilspitze der Einnahmenkurve, in der Hand das prall gefüllte Staatssäckle. Das sah fast zu süß aus, dachte die Kanzlerin, so süß war der ja selten in echt. Aber wie er sie so triumphierend von der Zeichnung angrinste, wurde ihr klar, dass genau diese Zahlen seine radikale und durchaus überraschende Kehrtwende bewirkt haben mussten. Plötzlich stellte er sich vor die Kameras und sagte: «Ja, Legalisierung ist auch ein Gebot fiskalpolitischer Vernunft!» Das hatte er selbstredend wieder ohne Absprache und Ankündigung zur besten Sendezeit in den Tagesthemen und auf YouTube verkündet. Schäuble eben. Nicht zu bremsen. Sie kannte das ja. Deswegen fragte sie manchmal ihre Büroleiterin morgens als Erstes: «Gibt es was Neues vom irren Alten?» Wahlweise auch: «Was heckt unsere Schwarze Null heute wieder aus?» Das war ihr kleiner Running Gag. Aber sein neuer Drogenkurs war nicht witzig.

Der Seehofer lag ihr mit dem Cannabis-Thema auch schon länger in den Ohren. Kurz hatte sie gedacht, endlich ist Ruhe an der Südfront, der hat so viele Pleiten erlebt, jetzt geben der und dieser fränkische Fleischkopf endlich mal Ruhe, nein, bekommt er wieder seine berühmten fünf Minuten und will im Alleingang die Hanf-Revolution ausrufen, weil seine Bauern endlich Klarheit verlangen, wie er behauptet. Bayerns und Deutschlands Zukunft als fortschrittliche Agrarnation stehe auf dem Spiel, man könne und werde sich diesen Milliardenkuchen unter gar keinen Umständen von den Amis oder eventuell sogar den Chinesen vor der Nase wegschnappen lassen, die schon in Colorado die US-Anbieter von Ausrüstung zum Cannabisanbau in die Ecke gedrängt hätten. Der Bayerische Bauernverband drohe bereits unverhohlen mit Aufrufen zu Wahlboykott und Parteiaustritten.

Sogar die Katholiken saßen dem im Nacken. Gottes Schöpfung sei heilig und zu ehren, kein Mensch habe das Recht, seine Weisheit und Güte in Frage zu stellen und bei seinen Geschenken zwischen Gut und Böse zu urteilen. Das sei anmaßend und frevelhaft, eine Sünde wider den Herrn, weswegen sich die Deutsche Bischofskonferenz bald in einem Hirtenbrief für Cannabis starkmachen werde. Das traf den Horst bis ins Mark. Der glaubte selbstverständlich schon lange an gar nichts mehr außer an sich selbst, aber er wusste sehr genau um die mögliche Wirkung solcher Worte von der Kanzel bei seiner verbliebenen Kernklientel. Der steht ganz schön unter Druck, der Arme, dachte die Kanzlerin, deswegen führt er sich auf wie Rumpelstilzchen. Gedroht hatte er ihr auch schon wieder. Wenn sie sich nicht bald zu einer Stellungnahme bewegen ließe, würde er eben alleine vorpreschen. Ganz böse hatte der Horst dabei geguckt, fehlte nur noch, dass er mal wieder mit einer Verfassungsklage drohte. Und alles bloß wegen dieses Cannabis.

Schnell warf sie einen Blick auf die aktuellen Umfragen zum Thema, die seit dem Nachmittag auf dem Tisch lagen. Oha! Daher wehte der Wind also.

Das waren allerdings klare Zeichen.

Sie würde wohl doch bald handeln müssen.

TEIL IDie Hoffnung ist grün

Der Dude zuckte zusammen, als das große Tor hinter ihm zufiel. Es folgten weitere Sicherheitsschleusen und Türen, ihm wurde schlecht. Der Kreislauf, eventuell etwas mit dem Magen. Undefinierbare Geräusche, knappe Kommandos, strenge Gesichter, in denen nichts zu lesen war. Seine Füße fühlten sich dick an, das Atmen fiel schwer, die Nase wirkte verstopft, da kam gar nichts mehr durch. Er musste Papiere lesen, er unterschrieb einen Zettel oder zwei, er sog heftig Luft durch den Mund ein, der Mann vor ihm starrte ihn feindselig an. Eine Art Schalter, der Gang so lang, noch mal hinsetzen, eine Raufasertapete, leicht grau, ins Gelbliche changierend. Er sah tanzende Punkte auf der Wand, das hört bestimmt gleich auf, dachte er, das meinen die alles gar nicht so, das ist ein Versehen, ein riesengroßes Versehen, aber lüften könnten die trotzdem mal in diesem Puff.

Zwei Uniformierte gingen vorbei, an ihrer Seite klapperten Schlüssel, was er albern fand. Schlechtes Kostüm, ist doch hier kein Tatort, die sollen sich alle mal locker machen, dann wird sich das schon regeln lassen. Er spürte, wie sich sein Brustkorb hektisch hob und senkte, als ihm dämmerte, dass sich hier gar nichts regeln ließ, auf jeden Fall nicht heute, möglicherweise die nächsten Jahre nicht. Diese Erkenntnis schoss wie ein Blitz durch seinen linken Arm, ein ungewohnter Schmerz, grell und bohrend, schon rutschte er aus dem hässlichen Plastikschalensitz. Da schauten die Schlüsseldeppen ganz schön doof, als sie ihn zu Boden gehen sahen, damit hatten sie wohl nicht gerechnet.

Der Staat aber wollte seinen fleißigsten Grasanbauer nicht gleich am ersten Tag, diesem 1. Juni 2015, durch einen dummen Herzinfarkt oder unterlassene Hilfeleistung verlieren. Draußen bin ich ihnen lästig, drinnen wollen sie mich unbedingt erhalten, das ist doch unlogisch, dachte der Dude noch, als sie ihn in die Krankenstation brachten. Das EKG-Gerät neben der Liege sah aus, als hätten sie damit schon Adolfs kaltes Vegetarierherz vermessen, ein Museumsmodell womöglich, überlegte er, nur hier noch heimlich im Einsatz. Die Bürokratie nahm ein Stechen im linken Arm sehr ernst, weil die Bürokratie keinen Ärger will. Fällt der Häftling tot um, ist das ein Problem. Fällt der Häftling tot um, weil Hinweise auf ein Stechen im Arm nicht ernst genommen wurden, ist das ein Riesenfuckingproblem. Also: Rundumcheck, Überwachung – zumindest über Nacht.

Alle hier trugen weiße Sachen, das beruhigte den Dude, kam ihm alles sehr menschlich vor, geradezu normal im Vergleich zu den grauen Fluren vorhin. Die Pfleger wirkten freundlich, die Ärzte professionell distanziert und höflich, das war viel an Tagen wie diesen. Sie freuten sich sehr, dass er deutsch sprach. Sie lobten ihn dafür. Immer wieder. Der Dude fand das seltsam. Vor allem, weil die Ärzte und Pfleger doch selbst des Deutschen mächtig waren. Vielleicht war das hier der Umgangston, deswegen schmeichelte er dem nächsten Pfleger, der ihm Blut abnahm, gleich wegen seiner Deutschkenntnisse.

Der fragte bloß: «Willst du mich verarschen, oder was?»

Die Regeln hier scheinen kompliziert, dachte der Dude.

 

Er bekam ein Bett in einem überhitzten Sechserzimmer. Es roch nach Terpentin, Bohnerwachs, Desinfektionsmittel, altem Schweiß und Sperma, fast wie in einem Etablissement auf der Reeperbahn. Zwei weißhaarige Alte dämmerten vor sich hin, ein bulliger Rumäne lehnte am Fenster und redete mit sich selbst, neben ihm riss und zerrte ein Italiener an sich herum – ein kokainabhängiger Drogenkurier, wie ihm eine Schwester vorher erklärt hatte. Der klobige Körper des Italieners lag seltsam verrenkt auf dem Laken. Das Krankenstation-Leibchen entblößte mehr, als es verdeckte, die Haut an Armen und Händen war offen, die Beine stellenweise tiefblau und dunkelrot angelaufen, von totem Adergeäst und braunen Flecken durchsetzt. Unentwegt wanderten seine Hände über Arme und Beine und zupften Streifen aus der wunden Haut, die sich weiß löste und stellenweise nass glänzte. Der Drogenkurier pulte und grub mit stiller Gewalt, vielleicht um eine verborgene Wahrheit ans Licht zu zerren. Vor seinem Bett lag ein heller Ring aus abgeworfenen Schuppen.

«Hör auf, hier alles mit deiner kranken Haut zu versiffen», brüllte ein Pfleger den Kranken an. «Ich will den Dreck nicht mehr auf meinem Boden sehen, kapierst du das, du asozialer Pizzabäcker, capisci? Ja?»

Der Häutende verharrte kurz, starrte ihn traurig an – und zupfte weiter. Fluchend polterte der Pfleger aus dem Saal. Im Knast haben alle Paranoia vor Hautkrankheiten, jeder hatte unentwegt Angst, sich von anderen die Krätze zu holen, was regelmäßig zu einem Ansturm beim Anstaltsarzt führte. Der Dude hatte davon gehört. Er verstand jetzt, was gemeint war.

Auf der anderen Seite neben seinem Bett lag ein dürrer Junge, zartes Mausgesicht, ganz fahl, Lippen schmal wie Rasierklingen. Der Dude musterte ihn freundlich, der Junge duckte sich weg, ein verängstigtes Tier im Käfig, keine fünfundzwanzig Jahre alt.

«Hey, wie heißt du?»

Schweigen.

«Willst du mir deinen Namen nicht verraten?»

Schweigen.

«Weswegen bist du hier?»

Schweigen.

«Hey, hörst du nicht, wieso bist du hier?»

Der Dude fragte etwas zu aggressiv, wie er sofort bedauerte, sendete aber dadurch klare Signale potenzieller Gewalttätigkeit aus, die der Dürre offensichtlich richtig zu deuten gewohnt war. Also öffnete und schloss der bleiche Jüngling hektisch seinen Mundschlitz, um viel zu schnell eine Geschichte von Drogen und falschen Verdächtigungen herauszupressen, die den Dude gar nicht interessierte, weil er nur seine gesundheitlichen Beschwerden hatte wissen wollen. Das Geplapper klang wie schlecht ausgedacht, vom ersten Wort an als Quatsch erkennbar. Der Dude bohrte nicht weiter, andere im Raum gifteten schon herüber. Der Rumäne drohte vom Fenster mit der Faust, sagte vielleicht irgendwas von «Kinderficker». Die Stimmung kippte, der Dude würgte das Bürschchen ab: «Schon gut, erzähl das deinem Friseur.»

Der Dude schlief unruhig. Er wachte alle paar Stunden auf und wusste nicht, wo er war. Er dachte an die letzten Sekunden mit Madame, wie er seine Frau nannte, er hörte seine Zwillinge Jakob und Anton nach ihm rufen, seine beiden besten Kumpel Eight Fingers und No Brain lachten scheppernd über die Endlosschleife in seinem Hirn: Ich bin im Knast für viereinhalb Jahre. Knast. Viereinhalb Jahre. Knast.

Er hörte Geräusche, die er nicht deuten konnte, eine Ahnung von Aufruhr und Nervosität, ein stiller Kampf, dazu Lärm aus vielen Kehlen, das Schnarchen war ohrenbetäubend. Morgens trieb ihn die Blase aus dem Bett. Er schlich auf Zehenspitzen zum Klo und schob die Schwingtür halb auf. Mehr ging nicht. Schwerer Widerstand, weil der Junge im Weg hing. Der aus dem Bett nebenan. Mit einem Laken um den Hals, oben an einer Rohrleitung festgemacht. Der Dude sah die großen Augen, die Haut noch fahler, der Mund grotesk weit offen. Das Gesicht sagte: Das war’s.

Der Dude brauchte fünf Sekunden, bevor er verstand. Er schrie. Und drückte die Notglocke.

 

Die anderen schreckten hoch, Wärter drängten in den Saal. Bitte aufstehen, los jetzt, auf geht’s, nicht liegen bleiben, schneller jetzt, alle raus. Routinearbeit.

Der Dude trottete hinter den anderen her. Er sah den Jungen baumeln, eine leichte Bewegung, es konnte eine Täuschung sein. Dass die Leitungen das aushielten. Vielleicht waren sie extra dafür gemacht, dachte er, zu Hause hätten die Rohre das nicht getragen, niemals. Eventuell war denen das hier gar nicht so unlieb, wenn sich einer so davonmachte. Schaffte Platz, sparte Kosten. Konnte man nicht ausschließen.

Der war echt tot. Einfach so.

Herzlich willkommen im Gefängnis.

Der Dude wirkt blass, fand Madame, viel schmaler als beim letzten Mal. Und wie gebeugt der geht, so vorsichtig und schleppend, dachte sie, als ihr Mann das Besucherzimmer betrat. Zu Haftbeginn hatte er die Figur eines Boxers gehabt und einen rollenden Gang, der aussah, als werde er jederzeit losspringen. Gerade mal zwei Jahre der Haftzeit rum, sieht aber schon aus wie sein eigener Schatten, dachte sie und musste schlucken. Das hatte er nicht verdient. Sie aber auch nicht.

Sie umarmten sich, eher flüchtig, das war nicht der Ort für große Gefühle. Seine strohblonden, struppigen Haare hatte er wieder auf fünf Millimeter gestutzt, das machte ihn viel härter, fremder. Der jungenhafte Dude, der ewige Strahlemann, dessen Lebenslust ihn von innen illuminierte, war verschwunden. Seine sonst leicht rosigen Wangen wirkten grau und eingefallen, geradezu hager. Sie sah, wie sehr er sich um ein Lächeln bemühte, er ahnte nicht, wie sehr sie sich zusammenreißen musste, um nicht sofort loszuheulen. Aber sie wollte stark sein, ihn nicht belasten, das alles reichte auch schon so. Schweigend saßen sie einander gegenüber, fast schüchtern. Sie hatte den Eindruck, die Batterien des Dude, des großen, unerschrockenen, angstfreien, lauten King of Cool, des Großmeisters des Cannabis, waren leer. Sein Anblick brach ihr das Herz. Sie wollte diesen Verfall nicht sehen. Allein deswegen brachte sie die Zwillinge nie mit ins Gefängnis. Sie wollte nicht, dass Jakob und Anton ihren Vater so erlebten. Sie selbst wäre am liebsten auch nicht mehr gekommen. Aber das war keine Option. Das konnte sie ihm nicht antun.

«Schönes Kleid», sagte der Dude mit einem Blick auf ihren hochgeschlitzten Dress mit dem japanischen Blumenmuster und nahm ihre kalte Hand.

Wie weich sich seine einstige Pranke anfühlt, dachte Madame, so kraftlos und klein.

«Ja, das ist das Kleid von unserem Kennenlernabend.»

Sie sah, wie seine Augen feucht wurden, sie konnte sich kaum noch beherrschen. Der wilde Abend, als er sie angesprochen hatte, Jahre her. Damals hatte der große Lebensrausch begonnen, mit so viel Optimismus und Selbstbewusstsein, die verrückten gemeinsamen Jahre des Überflusses in ihrer kleinen, luxuriösen Parallelwelt – Erinnerungen aus einem anderen Leben.

«Das werde ich auch bei deiner Entlassung anziehen, ja?»

Er nickte stumm. Madame schaute auf die Uhr, nur noch fünf Minuten. Sie dachte: Zum Glück. Dafür schämte sie sich ein bisschen. Sie war froh, als sie wieder draußen war.

Der Dude starrte auf die Unterseite des Betts über ihm. Der Besuch wirkte nach.

Madame fühlt sich so unwohl, sie hält es kaum aus, mich so zu sehen, dachte er. Wie sie da am Tisch gesessen hatte, seine Frau, die rote Mähne streng nach hinten gebunden, das ebenmäßige Kinn etwas zu hochgereckt, die seidene Haut noch eine Spur blasser als sonst, die vollen Lippen irgendwie blutleer. Eigentlich wollte er gar nicht mehr, dass sie kommt. Aber das konnte er ihr nicht antun, ihr waren die Besuche doch so wichtig. Auf den ersten Blick war sie die gewohnt edle Erscheinung gewesen, aber hatte da mehr steif als stolz gesessen, ihm konnte sie nichts vormachen, er hatte es gespürt, wie verunsichert sie war, durch und durch. Das berührte ihn sehr. Natürlich ließ sie sich nichts vor ihm anmerken, niemals würde sie etwas sagen, immer Haltung bewahren, das hatte sie in ihren Elbchaussee-Kreisen gelernt, da kam sie ja eigentlich her, das war ihr Leben gewesen, bevor sie sich ganz auf ihn eingelassen hatte. Ob sie das jetzt manchmal bereute?

Es machte ihn rasend, dass er ihr nicht helfen konnte. Sie hatte nach seiner Verurteilung sofort angefangen, als Immobilienmaklerin zu arbeiten, bei einem der größten der Branche, Grund & Grund. Den Job hatte ihr Kelly besorgt, ihre treue Freundin. Dort konnte sie sich den Tag einigermaßen frei einteilen, zumindest so, dass sie es irgendwie immer noch schaffte, ihre neunjährigen Zwillinge ausreichend zu versorgen. Sein Herz klopfte schneller bei dem Gedanken an seine Jungs. So lange hatte er Jakob und Anton schon nicht mehr gesehen. Nur auf Fotos. Und die Zeit verstrich quälend langsam. Das alles war deprimierend.

Deprimierend war aber auch, was gerade politisch passierte. Diese Headline in der MoPo, die irgendwer auf dem Flur vergessen hatte, war erschreckend: «Kifft Hamburg bald legal?» Er konnte es nicht fassen. Der Senat wollte einen Modellversuch zur kontrollierten Abgabe von Cannabis im gesamten Stadtgebiet wagen, wegen der guten Erfahrungen mit dem lizenzierten Verkauf in der Schanze und im Karoviertel. Seit Frühsommer 2017 folgten die beiden Hamburger Kieze dem Vorbild von Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin. Dort war kurz vorher ein entsprechender Antrag im dritten Anlauf durchgedrückt worden, schnell zog der Rest der Hauptstadt nach. Köln, Bremen und Frankfurt wollten diesem vielversprechenden Weg folgen, Hamburg als Erstes. Und er saß im Knast. Verdammt.

Der Dude dachte an seine Lieblingspflanze, die ihn hierhergebracht hatte. Er dachte an pH-Werte, Dünger, Bewässerungszeiten, Kokosmatten und Leuchtmittel, er dachte an seinen ätzenden Brennnesselsud, den er immer so sorgfältig über die Hanfblätter verteilt hatte, um die Feinde seiner sensiblen Cannabis-Sativa- und Indica-Pflänzchen mit den besten Mitteln der Natur zu erledigen. Keine Chemikalie sollte damals den puren Geschmack gefährden, nichts die reine Lehre stören. Denn er hatte nicht irgendein Gras herstellen wollen, nein, es sollte das beste Gras der ganzen Republik werden, und – in aller Bescheidenheit – er war ganz nah dran gewesen. Seine Kunden schwärmten noch heute von seinem ökologisch reinen Zeug, das wusste er aus zuverlässigen Quellen. Ja, der ganze Norden war danach verrückt gewesen, das sogenannte Strongdude wurde eine echte Legende. Dafür hatte er gelebt, dafür hatte er gekämpft, dafür hatte er hart gearbeitet – Sieben-Tage-Woche, Bereitschaft rund um die Uhr, die Plantage schlief nie. Dazu bekiffte Angestellte, Lieferprobleme, nörgelnde Hauptabnehmer, Ernteausfälle. Zum Schluss hatte er sich wie ein Sklave seiner selbst geschaffenen Maschinerie gefühlt, leer, ausgepumpt, fertig. Auf dem Weg ins Paradies war er irgendwann unbemerkt in Richtung Hölle abgebogen. Als er das erkannte, war es leider bereits zu spät gewesen – irgendwer hatte ihn verraten, wer genau, hatte er selbst im Prozess nie erfahren, aber für ihn war klar, dass es der Bauer Petersen von nebenan gewesen sein musste. Im Traum sah er manchmal noch dessen grobschlächtiges, rot zerfurchtes Gesicht, wie aus den kleinen, stumpfen Augen die giftigsten Blicke auf den Dude trafen. Einige Male keimten in solchen Erinnerungsnächten Gewaltphantasien auf und eine süße Rachsucht. Morgens war davon meist nichts mehr übrig, höchstens schlechte Laune. Aber weil er verraten worden war, teilte er sich jetzt ein Zimmer mit fünf Mitbewohnern, die ihn nicht leiden konnten. Der Rumäne, der Albaner, der Kurde und die zwei deutschen Asis machten aus ihrer Abneigung keinen Hehl. Der Grund war nicht klar, die Feindseligkeit eindeutig. Er wollte es ignorieren, aber es ging nicht.

Berlin. In vielen Bundesländern werden die Rufe nach einer vollständigen Entkriminalisierung von Cannabis lauter. Die Bremer Landesregierung hat bereits im Rahmen ihrer lokalen Möglichkeiten einige Verwaltungsvorschriften entsprechend geändert, aber jetzt soll das Problem grundsätzlich angegangen werden. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat sich für eine Legalisierung des Konsums ausgesprochen. Zustimmung äußerten die Vertreter Hessens, Nordrhein-Westfalens, des Saarlands sowie Sachsen-Anhalts und Brandenburgs. Der Vorstoß wurde vom GKV-Spitzenverband, dem zentralen Interessenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, begrüßt: Die Legalisierung sei auch gesundheitspolitisch geboten, nur so könne man langfristig auf teure Medikamente verzichten und auf diese Weise «massiv Kosten sparen». Die Bundesregierung verwahre sich strikt gegen solche Überlegungen, erklärte ein Regierungssprecher. Man werde jedoch die Regelungen für die Verschreibung von sogenanntem Medizinalhanf erneut überprüfen und möglicherweise noch großzügiger gestalten. Experten rechnen mit Zehntausenden zusätzlichen Genehmigungen für Schmerzpatienten und andere Schwerkranke, einige sogar mit Hunderttausenden.

Die zwei Manager in Smokings auf der Dachterrasse des Berliner Hotel de Rome hatten ihre Fliegen gelockert, blickten aber recht angespannt auf den Bildschirm vor ihnen.

«Hunkel, was ist da los, warum sind wir da nicht involviert? Wir brauchen sofort einen Termin bei der Kanzlerin! Wofür spenden wir denn laufend, verdammt?»

Katz schmiss in einer Geste nur halb gespielter Empörung seine Fliege Richtung Fernseher, wo gerade erläutert wurde, was die jüngste Lockerung der Regeln bezüglich des «Medizinalhanfs» für Deutschland bedeuten könnte. In den USA, hieß es in dem Tagesthemen-Bericht, profitierten mittlerweile in über dreißig Bundesstaaten Patienten davon, dass Ärzte Marihuana verschreiben durften – was sich zu einem Riesengeschäft entwickelt habe. Unternehmen und Börse spielten verrückt.

«Das ist ab sofort unser Terrain, Hunkel, oder?»

Katz prostete Hunkel spielerisch mit seinem Gin Tonic zu, der nickte und dachte: Ja, wahrscheinlich hat er recht. Denn aus irgendwelchen Gründen hatten sie wohl ein paar Grundschwingungen nicht mitbekommen, das war nicht gut, da kündigte sich eine Zeitenwende an.

Klar würden sie da einsteigen, big time.

Hunkel leerte sein Glas in einem Zug. Als Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie wurde er oft zu Veranstaltungen zwangsverpflichtet, um mit Ministern, Firmenchefs, Investoren oder der Kanzlerin für eine rauschfreie Jugend zu werben und Alkohol und jede Art von Drogen zu verteufeln, selbst jene, die sie selbst schätzten. Und jetzt sollte damit Geld verdient werden? Der Kapitalismus ist schon ein verachtenswerter Opportunist, dachte er und sog heftig an seiner Cohiba Siglo II. Katz rülpste, sie waren zum Glück allein, wie Hunkel mit einem schnellen Blick überprüfen konnte, wobei Katz an solchen Abenden egal war, was andere von ihm dachten. Hunkels Pressereferenten wollten immer, dass er nicht von Kapitalismus, sondern nur von der «Marktwirtschaft» redete, das klinge nicht so nach Marx oder Sahra Wagenknecht. Er fand das heuchlerisch. War doch nicht seine Erfindung, dieses System, das aus sozialen Wesen profitorientierte Effizienzfetischisten machte, was wissenschaftlich bewiesen war. Wenn er aber mitspielte, wollte er auch gewinnen. Zweifel und Skrupel brachten einen dabei nicht weiter. Leute wie Katz hielten sich mit solchen Kinkerlitzchen niemals auf. So sahen sie dann irgendwann auch aus. Katz etwa litt unter der alterstypischen Gewebeschwäche der Endvierziger, sein Kinn löste sich langsam im Hals auf. Da halfen weder Yoga noch Personal Trainer. Wenn in seinen Augen noch etwas anderes glühte als Gier oder Missgunst, war das meist auf Alkohol zurückzuführen. Hunkel stutzte kurz. Oder gar auf Chrystal Meth? Das hatte sich ja gerade im Regierungsviertel zum beliebten, weil äußerst effektiven Aufputschmittel gemausert, wie man hörte. Mehr leisten, schneller sein als die anderen, darum ging es nur noch. Man brauchte sich heute gar nicht mehr zu verstellen, selbst stumpfeste neoliberale Parolen galten als akzeptiert. Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter hilft uns meist die Gier, haha. Nichts hatte sich im verrotteten Kern geändert, höchstens, dass er noch verrotteter war. Beispiel Banken: Die waren seit der Finanzkrise 2007 noch mächtiger und größer geworden, noch mehr Institute waren «too big to fail», ihr Erpressungspotenzial war ins Unermessliche gestiegen. Die Öffentlichkeit verstand nur noch Bahnhof, es war eine hochgradig unterhaltende Tragikomödie – solange er und seinesgleichen daran verdienen konnten. Amüsiert hörte er neue Stimmen von einer «Entökonomisierung» der Lebensverhältnisse sprechen, Effizienz und Gewinn verlören als Handlungsmaximen an Bedeutung, hatte kürzlich erst wieder ein Forscher vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern bei einem Symposium in Bonn erklärt. Was für ein Witz. Klar ging es um Werte, man nannte diese Werte auch Geld.

Hunkel drehte sich zu seinem alten Freund Katz, der seit ewigen Jahren schon als Arbeitgeberpräsident mitmischte.

«Du hast völlig recht, wir brauchen sofort einen Termin bei der Kanzlerin!»

Vom Ende des Gangs beobachteten die Beamten hinter dicken Scheiben das Geschehen, das war das «Aquarium». Anträge mussten dort abgegeben werden. Die Schließer ließen sie oft einfach so herumliegen. Alle konnten im Prinzip lesen, was die anderen gerade beantragt hatten, weil die Zettel hinter der Scheibe für jeden, der sich ein wenig verrenkte, einsehbar waren. Das war perfide, denn es erhöhte die soziale Kontrolle – und provozierte Ärger.

Am Nachmittag sah der Dude seine Zellennachbarn vor der Scheibe feixen. Der Rumäne führte das große Wort. Er näherte sich langsam und hörte, wie sein Name mehrfach fiel, sie redeten über ihn. Schlecht natürlich.

 

«Na, was habt ihr für ein Problem?»

Der Ceaușescu-Verschnitt fuhr herum, Mund weit offen, die Goldzähne blitzten, der Dude konnte den Gestank aus seinem Maul förmlich sehen.

«Oh, der Dude, wieder fleißig schleimen bei Kollegen hier?»

Der Rumäne zuckte mit dem Kopf Richtung Aufsichtspersonal, alle blickten den Dude feindselig an. Gruppendynamisch lief es nicht wirklich gut für ihn, die Stimmung war bisschen Standgericht, bisschen Exekutionskommando.

«Du ganz schön oft Extra-Besuch», sagte der Albaner.

«Immer viel Geld zum Einkaufen», sagte der Kurde.

«Du Arschloch scheißt die mit Anträgen zu und kommst durch damit, komisch, oder?», sagte einer der deutschen Asis.

«Warum wohl?», fragte der andere Deutsche schneidend.

«Vielleicht, weil ihr gute Kumpel, du und Schwuchteln hinter der Scheibe?»

Der Blick des Dude folgte dem ausgestreckten Finger des Rumänen. Da lag gut einsehbar sein Antrag auf Sonderurlaub für seine beiden Jungs, die wegen Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus behandelt wurden, anscheinend bewilligt, wie er am Stempel erkennen konnte. Das hatte ihm noch niemand gesagt. Gut für ihn, eigentlich. Fanden seine Zellennachbarn eher nicht so.

«Was willst du damit sagen?»

«Du Wichser so viele Anträge, andere dafür Ärger, du kriegst fast alles, meinst du, wir völlig bescheuert?»

«Vielleicht sind sie froh, dass einer mal einen geraden Satz in ihrer Landessprache hervorbringt?»

«Oder …?»

«Oder was? Was willst du andeuten?»

Der Rumäne schnalzte mit der Zunge.

«Du sagst, du warst Anbauer mit Riesenplantage, alles gigantisch. Wahnsinnige Mengen, wahnsinnige Qualität. Aber dafür geben dir deutsche Nazi-Richter nur paar Jahre? Für Tonnen von Stoff? Komisch, oder?»

Dem Dude wurde kalt.

«Tja», ergänzte der Albaner, «und hier drin alle nett zu dir, viele Anträge, kein Problem, viele Extras, kein Problem.»

«Vielleicht, weil er gar nicht so ein schlimmer Finger ist», sagte der größere Deutsche.

«Sondern einfach Arschloch-Spitzel?»

Der Rumäne blickte ihn triumphierend an.

«Verstehst du, Dude? Du stinkst!»

Der Dude verstand und schlug den Rumänen mit einer ansatzlosen Geraden nieder. Dem Fallenden rammte er einen Ellbogen ins Maul. Er spürte den Widerstand von Zähnen auf der Haut, er hörte ein Knacken.

Der Rumäne spuckte Blut. Die anderen vier schmissen sich auf den Dude. Die Schließer kamen angestürmt. Jemand schrie: «Das wirst du Schwein büßen!»

Die Wärter zerrten sie auseinander. Keiner wollte sagen, wer angefangen hatte. Den Uniformierten war das egal. Würden halt alle bestraft.

Der Rumäne kam Stunden später von der Krankenstation zurück. Der Zorn und die Schmach verzerrten sein Gesicht. Sah ganz silberig aus, seltsamer Glanz, nicht real, ziemlich gespenstisch. Das bemerkten die Schließer auch und verordneten ihm eine Einzelzelle. Er sollte ihnen verraten, was der Anlass war, wer der Schuldige.

Der Dude hatte ein Problem. Wenn der Rumäne petzte, gäbe es richtig Stress, Streichung aller Vergünstigungen und eventuell ein Verfahren obendrauf. Aber so oder so, er war geliefert. Spitzel. Alle hatten es gehört. Das konnte ihm das Genick brechen. Spitzel hieß, der Dude wäre ab sofort vogelfrei. Eine Eiterbeule im sensiblen Sozialgefüge der Knastwelt. Beweise? Nicht nötig. Der Verdacht war der Beweis. Sehr effiziente Logik, nicht wirklich gerecht, aber extreme Situationen erfordern extreme Abstoßungsprozesse, in denen filigrane Differenzierung keinen Platz hat.

Der Dude brauchte dringend Hilfe. Er brauchte Wladimir, den gefürchteten Russen in ihrer Abteilung. Alle nannten ihn nur «Wladimir der Schreckliche». Ganz harter Junge aus dem Moskauer Milieu, beste Verbindungen, angeblich sogar Kontakte zu Putin über drei Ecken. Was so geredet wurde. Ein großer Deutschen-Freund sollte er auch sein. Das war sein Mann. Kleines Problem: Wladimir brauchte ihn nicht. Oder doch?

Madame griff nach ein paar Strümpfen und verstand erst nach einer kleinen Ewigkeit, was ihre Hände reflexartig in der Schublade suchten: Geld. Sie folgte einem alten Instinkt, hier waren früher die leicht rauen, dicken Bündel versteckt gewesen. Noten in Fünfzigerrollen, Hunderterrollen, in seltenen Fällen Zwanzigerrollen. Mal zweitausend Euro, meist fünftausend, eingebettet in Socken und Unterhosen, manchmal auch aufbewahrt in Butterdosen und Bildrahmen, in Stuhlhohlräumen und Gefrierfächern, unter losen Parkettstücken und im Werkzeugkasten, plus, nicht zu vergessen, in der Schüssel oben auf dem Schrank – das war das Reservoir für den täglichen Bedarf.

Was waren das für Zeiten gewesen. Überall Geld, keine Sorgen, nur eine große Lust aufs Leben und ganz große Gefühle, sie waren die Masters of the Universe. Der Dude war ganz in seiner Arbeit aufgegangen, die er liebte und so gewissenhaft verfolgte wie ein ehrbarer deutscher Mittelständler, als der er sich im Grunde immer gesehen hatte, und sie ihn auch. Ihr Mann war ja kein Krimineller, niemals gewesen. Er hatte ein reines Bio-Produkt hergestellt, das von vielen begehrt wurde, er sorgte vorbildlich für seine Söhne und seine Frau, er vermied den Kontakt mit echten Verbrechern, na ja, so gut es ging zumindest, und schadete niemandem, auf jeden Fall nicht bewusst. Ihr Leben, so sah Madame das rückblickend und glaubte, dabei objektiv zu sein, war ein großes, berauschendes Fest des Glücks gewesen, in dem es von allem zu viel und Cash ohne Ende gab. Heute gab es Sorgen im Überfluss, kein Geld, kein Glück und kaum noch Gefühle, wenn sie ehrlich war. Gedankenverloren zog sie die Nylons in die Länge.

Sie hatte ihren Dude abgöttisch geliebt. Also den starken, etwas zu lauten, zu großzügigen, überschäumenden, exaltierten, verrückten, unerschrockenen Dude, der genau wusste, was er wollte und was nicht. Nach dem verlangte sie mit jeder Faser ihres großen Herzens, nach dem Mann, der niemals Angst hatte und sich nie einschüchtern ließ, der seine eigenen Regeln machte und so hingebungsvoll durchdrehen konnte, dass sie ihm selbst die ein oder andere Eskapade verzieh, weil man so ein Energiepaket einfach nicht zähmen konnte. Im Gefängnis wirkte er so klein, nicht nur wegen des Gewichtsverlusts. Er wirkte so erschlafft, gebrochen geradezu. War das tatsächlich der Dude, dem sie einmal verfallen war?

Am Vorabend seines Haftantrittes hatten sie sich geschworen, auf immer und ewig, no regrets, das war ihr Kampfspruch, nie hatte sie mehr Liebe durchströmt als in den letzten Stunden vor dem Abschied. Ja, für immer und ewig, egal, was kommt, und der ganze andere Rest, den man so sagt, wenn man noch gar nicht weiß, was wirklich kommt. Jetzt wusste sie es nur zu gut, und es gefiel ihr gar nicht. Genauso wenig wie diese ewige Geldnot.

Früher waren zwei-, dreitausend Euro nichts, ein schöner Abend vielleicht, das Cannabisgeschäft machte es möglich. Jetzt studierte sie Sonderangebote wie eine Hartz-IV-Empfängerin, unerträglich. Der Immobilienjob lief langsam einigermaßen an, die Situation würde also tendenziell besser werden, aber trotzdem. War sie bei der Arbeit, hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Jungs, die in einem Alter waren, in dem sie viel mehr Aufmerksamkeit brauchten, als sie zu geben in der Lage war, alleine schon, um die nur unzulänglich erklärte Abwesenheit des Vaters kompensieren zu können. Ging sie früher nach Hause, weil sie für Jakob und Anton da sein wollte, machte sie sich Vorwürfe, weil sie ihren neuen Job vernachlässigte. Ihre Mutter unterstützte sie ab und zu, aber ihr Stolz hielt sie davon ab, deren freundliches Hilfsangebot übermäßig zu strapazieren. So schlecht ging es ihr dann doch nicht. Nach außen zumindest. Das war eine Lüge, die sie sich leisten wollte. Noch.

Hamburg. Die Zustimmung für eine umfassende Legalisierung von Cannabis ist laut einer Umfrage des Magazins Stern deutlich gestiegen. Demnach sprechen sich jetzt 43 Prozent der Befragten über 18 Jahren für eine Änderung der Gesetze aus. Das ist der höchste Wert, der bisher in der Bundesrepublik gemessen wurde. 51 Prozent sind strikt gegen die Legalisierung, 6 Prozent sind unentschlossen. Unter den Anhängern der Unionsparteien ist die Ablehnung am stärksten. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung kommentierte die Zahlen mit den Worten, die Mehrheit der Deutschen sei vernünftig und wolle Kinder und Jugendliche nicht ins Verderben schicken. «Bestimmte Medien und die Opposition» seien dafür verantwortlich, dass «die Gefahren dieser Droge bewusst verharmlost» würden.

Der Dude hatte bald alle Einzelteile zusammen. Eine alte Haarschneidemaschine von einem Typen aus dem Nebentrakt, da war ein Motor drin, dazu ein paar achteckige Hülsen von diesen Stabilo-Stiften. Er friemelte den Zünddraht von der Spule eines Feuerzeugs, das ergab eine ordentliche Vorrichtung, auch wenn es mit dem Draht statt einer Nadel ein ganz schönes Gerupfe geben würde. Egal, dachte der Dude und machte sich an die Tuscheproduktion. Die Farbe herzustellen war leichter als gedacht. Er schmolz den Griff eines Einwegrasierers mit seinem Feuerzeug, gab ein bisschen Spülmittel dazu, mit eingeschmolzenem Gummi von Schuhsohlen klappte das auch, fertig war die Supertinte.

Beim Umschluss sagte er Wladimir Bescheid. Der bestellte ihn in seine Zelle. Er wollte einen Stern auf die Brust, sein Kumpel einen auf das linke Knie. Der Körper des durchtrainierten großen Mannes sah bereits aus wie das Zentrum der Milchstraße, so dicht war der Sternennebel auf der Haut. Der Dude hatte irgendwo mal gelesen, was die Dinger bedeuteten, man konnte daran alles ablesen, die Position in der Organisationshierarchie, die Orte, an denen ihr Träger gesessen hatte, manchmal ging es auch um Höheres. Ein Stern auf einem Knie bedeutete angeblich: Ich knie vor niemandem. Zwei Sterne auf den Knien bedeuteten: Ich knie vor niemandem, auch nicht vor Gott.

Sie verhandelten kurz. Fünf Beutel Tabak pro Stern. Der Dude überlegte nicht lange. «Okay», sagte er, «aber nur unter einer Bedingung: Ihr versteckt die Maschine.»

Wladimir runzelte die Stirn, sein Kumpel grinste dreckig.

«Der Kiffer hat Schiss, wa?»

«Willst du mich beleidigen, Schwuchtel?»

Der Dude bereute den Satz ein bisschen. Der Kumpel zuckte zusammen und holte aus, Wladimir hielt den muskulösen Arm des Landsmannes zurück.

«Alexej, du darfst doch nicht den Heiligen des ökologischen Grasanbaus verschrecken, den Hersteller des mythischen Strongdude. Der Dude beliebte, einen Scherz zu machen, wenn ich das richtig verstehe, oder?»

Der Dude lachte etwas zu laut. Wieso sprach der so gut Deutsch? Wieso wusste der Kerl so genau, wer er war?

«Jaja, ein Scherz.»

Alexej grunzte.

«Der Dude wird uns nicht nur die Körper verschönern», sagte Wladimir, «sondern vielleicht auch unsere Zukunft.»

Alexejs Gesicht erhellte sich. Er schien etwas zu verstehen, das dem Dude noch nicht klar war. Oder nicht klar sein wollte. Irgendwie nahm das hier gerade nicht die richtige Richtung. Aber für Seminararbeiten über interkulturelles Verständnis blieb keine Zeit.

Wladimir zeigte auf das vernarbte Knie von Alexej.

«Anfangen!»

«Frau Tröchter, verbinden Sie mich sofort mit Böll.»

«Aber ist Dr. Böll denn noch am Platz?»

«Das rate ich ihm aber dringend!»

Isabelle Frevert, Vorstandsvorsitzende des Chemie- und Pharmariesen Meduk, lachte. Ihre Vorzimmerdame auch. Böll war ja immer am sogenannten Platz, weil er nirgendwo anders lebensfähig war. Man konnte ihn um jede Tages- und Nachtzeit erreichen. Isabelle Frevert wusste gar nicht, wie der das machte. Fuhr der nie nach Hause? Hatte er überhaupt ein Privatleben? Privat war einer wie Böll gar nicht vorstellbar. Ein seltsamer Kauz im Grunde, aber ein genialer Wissenschaftler. Und allein das zählte für sie.

Der Fernseher lief im Hintergrund weiter. Isabelle Frevert verzog den Mund. Man dachte, man hätte alles im Griff, und zack, tauchte unvermittelt der schreckliche Kurz, der Vorsitzende der Deutschen Cannabis Vereinigung, in den Hauptnachrichten auf und brachte alles durcheinander. In den sozialen Netzwerken drehten bereits alle durch, wie sie auf ihrem Notebook sah, auf Twitter gab es nur das eine Thema, Spiegel Online, FAZnet und Zeit Online: überall nur Kurz, Kurz, Kurz. Der war als Sachverständiger vom Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages wiederholt eingeladen worden, aber demnächst, und das war die sensationelle Nachricht, sollte er direkt vor die Bundespressekonferenz treten, um erstmals überhaupt auf dieser Bühne mit Billigung aller Ausschussmitglieder seine Position zu erläutern. Bundespressekonferenz? Was war da los? Warum wusste sie nichts von diesem Auftritt, wieso hatte Berlin ihr nicht Bescheid gesagt? Sie glaubte nicht an Zufälle und Versehen. In diesen hochkomplexen Systemen kommunizierender Röhren hatten kleinste Veränderungen oftmals fundamentale Konsequenzen. Winzige Risse führten zu tektonischen Plattenverschiebungen. Kurz im Wirtschaftsausschuss – das kannte sie mittlerweile. Die Protokolle der öffentlichen, aber auch der geheimen Treffen lagen in ihrem Safe. Gleich neben den ebenso diskret angefertigten Niederschriften der sehr vertraulichen Gespräche mit dem Wirtschaftsminister und ihr, die sie rein routinemäßig hatte heimlich mitschneiden lassen, man wusste ja nie.

Dieser angekündigte Kurz’sche Auftritt kam für Frevert aus heiterem Himmel. Das durfte nicht passieren. Sie machte sich eine Notiz. Sie konnten sich in dieser Phase keine Schwäche erlauben.

Frevert ordnete mit einem Blick in das große Panoramafenster, in dem sie bei der schräg einfallenden Sonne den Hauch eines Spiegelbildes erkannte, ihren eigentlich perfekt liegenden und in einem angenehmen Mittelblond nicht zu aufdringlich strahlenden Pagenkopf. Seit dem Studium war das ihre Lieblingsfrisur. Praktisch und klassisch zeitlos, wie sie fand, streng genug, um ernst genommen zu werden, aber zugleich weiblich genug, um nicht den zartesten Anschein von Überanpassung aufkommen zu lassen. Gott, natürlich war das ein bisschen beschämend, im Jahr 2017 noch in solchen Kategorien zu denken, schoss es ihr durch den Kopf, aber auch nicht beschämender als die Tatsache, dass sie nicht nur die erste, sondern immer noch die einzige Frau an der Spitze eines DAX-30-Unternehmens war.

Sie hörte Karin Tröchter im Vorzimmer reden, draußen entfaltete sich das beeindruckende Werkspanorama neben der Stadt, die sie immer noch so trostlos fand wie bei ihrem ersten Besuch. Herrje, was war sie froh, nicht hier aufgewachsen zu sein oder wohnen zu müssen. Nur die Gewissheit, in ein paar Jahren wieder woanders arbeiten zu können, verhinderte eine schwere Depression. Obwohl sie es mit der Villa im nahen Düsseldorf doch einigermaßen gut getroffen hatte.

«Herr Dr. Böll ist jetzt dran», rief ihr die Vorzimmerdame zu und schloss diskret die Tür zu ihrem Büro.

 

«Frau Dr. Frevert?»

«Guten Abend, Herr Böll. Wie ist die Lage?»

«Die Lage ist bestens, Frau Dr. Frevert.»

«Einfach Frevert, lieber Herr Böll, ich heiße Frevert.»

Sie fand die in einigen Wirtschaftskreisen verbreitete Betonung der akademischen Titel lächerlich und verachtenswert, was sie gern alle spüren ließ. Zumal sie selbst am besten wusste, was für aufgeplusterte Diplomarbeiten oftmals dahinter standen. Von den gekauften und anderweitig gefälschten und betrügerisch angefertigten Erschleichungsschriften mal ganz abgesehen. Sich als erwachsener Mensch mit einer vor Jahrzehnten erbrachten, meist gar nicht mal so überragenden intellektuellen Leistung zu schmücken, erschien ihr töricht und peinlich. Böll, ein genialer Biologe und Chemiker, hatte sich nie um Titel geschert. Das allein zeigte ihr seine Reife, Intelligenz und Fokussiertheit. Wer sich von einer Promotion einschüchtern ließ, war ein armer Wicht, und wer Wert darauf legte, damit zu imponieren, zeigte in Isabelle Freverts Augen nichts als einen unangenehmen Minderwertigkeitskomplex und geistige Unreife. Und da sie die Chefin war, wagte niemand, ihre Haltung zu diesem Thema in Frage zu stellen. Das fand sie sehr angenehm.

«Entschuldigung, Frau Frevert, ich vergesse das immer wieder.»

«Schon gut. Haben Sie die Nachrichten gesehen?»

«Ja, langweilig.»

«Wieso langweilig? Wussten Sie von dem Auftritt?»

«Nein, aber was soll dieser Kerl schon erzählen?»

«Warum haben wir von dem bevorstehenden Termin vor der Bundespressekonferenz nichts mitbekommen?»

«Ich weiß es nicht, aber das ändert gar nichts. Vor allem nicht, wenn ich mir anschaue, was der sonst so sagt.»

«Wirklich?»

«Ja, alles gut.»

Isabelle Frevert beruhigte sich. Böll wusste seine außergewöhnlichen fachlichen Fähigkeiten mit einem gesunden merkantilen Bewusstsein und Scharfsinn zu verbinden. Seit Jahren galt er als das perfekte Trüffelschwein für den Konzern. Böll forschte nicht einfach drauflos, weil es Spaß machte, neue Sachen zu entdecken. Er entflammte nur richtig, wenn er den kommerziellen Erfolg schon wittern konnte. Der hochaufgeschossene Biochemiker erspürte instinktiv, wie man sagen musste, Marktlücken wie kein Zweiter, weshalb er allen stets drei Schritte voraus war. Und damit ihr Unternehmen der Konkurrenz. Böll war ein echter Jackpot, und alles, was er verlangte, war Freiraum. Wahrscheinlich war es ihre beste Entscheidung gewesen, den auf andere leicht verstörend wirkenden dürren Forscher quasi als erste Amtshandlung zum Leiter des sogenannten Pflanzenschutzzentrums in der benachbarten Gemeinde zu machen. Das war eine international anerkannte, mächtige Einrichtung, in der Böll schalten und walten konnte, wie er wollte. Und das tat er auch.

«Ich muss mir wirklich keine Sorgen machen?»

«Nein, Frau Frevert, alles läuft genau nach Plan!»

Der Dude wollte Schutz vor dem Rumänen. Damit war er bei Wladimir an der richtigen Adresse. Wladimir konnte zum Beispiel Araber und Moslems nicht leiden. Wahrscheinlich kleines Trauma aus dem Tschetschenien-Krieg, zu viel Bombenwirbel als junger Mann möglicherweise, vielleicht auch einfach Rassismus. Er fand auch Rumänen minderwertig, den Zellenmitbewohner des Dude ganz besonders. Der roch seltsam und sprach kein Russisch, obwohl sie das Pack doch jahrelang durchgefüttert hatten, als sie alle noch unter Hammer und Sichel vereint gewesen waren.

Den bekloppten Deutschen aber mochte Wladimir irgendwie. Wie akkurat der arbeitete, gewissenhaft, eifrig, deutsche Wertarbeit eben. Wladimir wusste, was der Spitzel-Titel für den Dude bedeuten könnte. Ohne den Deutschen gäbe es keine neuen Tattoos. Nicht gut.

Der Rumäne saß immer noch in einer Einzelzelle auf einem anderen Flur. Alexej bekam von einem Wärter, der gegen ein paar Euro Sonderurlaubsgeld nichts einzuwenden hatte, die drei Minuten, die er für einen Besuch brauchte.

«Wenn du den Dude anfasst, schneiden wir dir die Eier mit einer rostigen Rasierklinge ab. Wenn du den Dude als Täter für deine lächerlichen Mädchenwunden meldest, erzählen wir den 81ern, du hättest sie wegen Drogenhandels angeschwärzt. Alles klar?»

Keine Fragen mehr, Euer Ehren. Denn 81er stand im Knast für Hells Angels. In der Zelle des Dude brauchte Alexej genau zwei Sätze.

«Der Dude steht unter Wladimirs Schutz. Wenn nur einer von euch ihn schräg anguckt, könnt ihr euch ein Gemeinschaftsgrab schaufeln.»

Alexej wollte gerade gehen, da kam der Dude rein.

«Niemand wird dir etwas tun.»

«Ich weiß nicht, ob …»

«Alles ist gut.»

«Okay. Danke.»

«Nein, nicht ‹danke›. Du schuldest uns jetzt einen Gefallen.»

«Ich …»

«Wir kommen auf dich zu.»

Der Dude blickte in die Zelle.

Alle wichen seinen Augen aus. Stille. Er legte sich aufs Bett. Die Russen. Die machten nichts umsonst. Niemals.

Die Stimmen im Flur der Villa wurden leiser, in sie mischte sich das Geräusch startender Automotoren, eine Karosse nach der anderen knirschte über den Kies zum Tor, das auf die Elbchaussee hinausführte. Madame schaute auf die träge dahinfließende Elbe, auf der nur ein kleiner Schlepper seine Spur zog. Sie mochte diese Stimmung und das Licht, das sich nachts auf dem Wasser brach. In Abständen erschütterte ein metallischer Knall die Idylle, der kam aus dem gleißend hellen Bereich des Containerhafens. Wenn die Mutter, die an der Eingangstür Gäste verabschiedete, bemerkte, dass der ausgestellte Prunk im Haus die Besucher einschüchterte, wies sie stets auf den «störenden Krach» von der anderen Seite hin, das sei im Endeffekt auch nicht besser, als wie ihre Tochter an der Max-Brauer-Allee zu wohnen. Nun ja.

Madame liebte den Anblick der Container. Als kleines Kind hatte sie immer darüber nachgedacht, wo sie gerade herkamen und, am allerwichtigsten, was wohl drin war. Einzelnen gab sie sogar Namen. Sie bestand darauf, dass sie «ihre» Container nach Tagen noch mit einem Fernglas identifizieren konnte. Ihre Mutter zerstörte allerdings früh jede romantische Illusion von wilden Tieren, blinden Passagieren und geheimnisvollen Schätzen im Innern der Metallgehäuse.

«In allen Containern ist das Gleiche drin, überall auf der Welt.»

«Das glaube ich nicht.»

«Doch, mein Kind: Geld. Es geht immer ums Geld, und egal, wie es sich tarnt und welche Form es auch annehmen mag, es steckt in jedem dieser Container.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Nicht schlimm, du kommst schon noch selbst drauf.»

Madame hatte mit ihrer satten Herkunft immer gehadert und auch deswegen den Tag des Zusammentreffens mit ihrem Dude einst wie eine Befreiung empfunden. Diese rohe Aura der Ruhrpott-Straßenkatze, diese Erdnähe, diese gewaltige physische Präsenz, seine durch und durch kaputte Familie, solche kannte sie sonst gar nicht, das hatte sie, wenn sie ehrlich war, immer fasziniert und auch ein bisschen scharfgemacht, das war alles so neu und frisch und anders gewesen. Sie bekam Einblicke in einen Kosmos, der ihr vorher verschlossen gewesen war – und ihrer Verwandtschaft sowieso. Das hatte sich sehr gut angefühlt, wie ein echtes, aufregendes Leben.

Doch im Moment hatte sie genug von den Einblicken, wie sie zugeben musste. Das Gefängnis, diese fremde, unangenehme neue Welt, mit diesen einschüchternden Gestalten, die wollte sie gar nicht intensiver kennenlernen. Sie konnte die Geschichten ihres Mannes bei ihren Besuchen kaum noch ertragen. Das war alles so eng, so klein, so furchtbar. Er merkte gar nicht, wie sie kaum noch etwas erzählte, so sprudelte es jedes Mal aus ihm heraus, eine endlose Litanei aus seinem beschränkten Leben, das ihn langsam selbst beschränkt wirken ließ. Was interessierten sie diese Wladimirs und Rumänen, warum sollte sie sich mit solchen Asozialen auseinandersetzen, warum schaffte er es nicht, sich von diesen Leuten fernzuhalten?

Die Mutter brachte ihr einen Tee und setzte sich schweigend neben sie. Gemeinsam genossen sie das Elbpanorama. Oben schliefen die beiden Jungs. Eine der überaus freundlichen, praktisch zur Familie gehörenden Hausangestellten hatte sie zu Bett gebracht. Jakob und Anton liebten die Aufenthalte bei ihrer Oma.

«Es ist schön, dass wir uns jetzt wieder öfters sehen», sagte die Mutter in die Stille. Madame nickte lächelnd. Sie war tatsächlich wieder gerne hier. Lieber auf jeden Fall als im Gefängnis bei dem Dude.

Einer der Deutschen wurde verlegt, dafür kam ein Neuzugang, Libanese wohl, war dem Dude egal, die Abdullahs waren für ihn alle gleich. Dieser war mehrfach vorbestraft: Körperverletzung, Drogenhandel, Betrug, Diebstahl. Der Dude fand ihn bis auf seinen Gebetsfimmel ganz in Ordnung. Er zog seinen neuen Zellennachbarn sofort damit auf: Einen auf strenggläubig machen, aber laufend in den Knast wandern, statt in den Heiligen Krieg zu ziehen, das war nicht konsequent. Der Abdullah lachte und winkte ab.

Mit Religion hatte der Dude nichts am Hut. Für ihn waren das alles Heuchler und Verbrecher, egal, ob Katholiken oder Moslems. Das war dem Dude schon als Kind aufgefallen. Bei der Jugendfreizeit hatte der Pastor immer darauf bestanden, dass die Jungen gemeinsam das Lagerfeuer auspinkeln. Das fanden alle lustig, der Dude nicht. Er sah den Glanz in den Augen des Geistlichen, der mit seinem katholischen Schwanz in der Hand die vielen kleinen katholischen Schwänzchen um sich herum musterte. Der Dude konnte den Blick nicht deuten, ließ aber instinktiv seinen Hosenstall lieber zu. Jemand packte ihn deswegen grob am Arm, er schlug sofort zu. Zu viert stürzten sie sich auf ihn. Nur der Pastor hatte verstanden. Sie mussten nie wieder zusammen ein Feuer auspinkeln.

Später nervten ihn die ganzen Abdullahs aus dem Karoviertel. Deren Glaubens-, Clan- und Ehrenwahnsinn fand er extrem unsympathisch. Die sollten ihn einfach alle in Ruhe lassen. Es war ihm wurscht, wo jemand geboren war. Er kam aus dem Ruhrgebiet, da hatte die Hälfte der Bevölkerung polnische oder andere ausländische Vorfahren, da wurde schon multikulti gelebt, als es dafür noch gar kein Wort gab. Arschloch oder Freund, das war der binäre Code der Pottbeziehungen. Solange ihm niemand auf dem Gebetsteppich vor der Nase herumflog, hielt er sich für so einen «All together now»-Typen. Schöne Einstellung, tolerante Einstellung, leider völlig realitätsfremd. Zumindest hier im Knast.

Die Russen hingen am liebsten mit Russen rum, die Albaner mit Albanern, die Serben mit Serben, die Polen mit Polen, wobei die Polen die Russen nicht leiden konnten, die Serben nicht die Kroaten, Russen, Serben und Griechen fanden die Araber unangenehm, die ihrerseits untereinander komplizierteste Schiiten-Sunniten-Feindschaften pflegten, höchstens gelegentlich vereint in ihrem Judenhass. Eigentlich so eine dauernde 1914-kurz-vorm-Krieg-Stimmung, die keine Hoffnungen auf menschheitsgeschichtliche Fortschritte jenseits der Gemäuer machte. Zu viel Testosteron, dachte der Dude, zu wenig Hirn, Herzen aus Stacheldraht, Nervenenden wie spanische Reiter, hoffnungslos in jedem Fall. Große internationale Koalitionen gab es nur bei «Sittichen», den verurteilten Kinderschändern. Allgemeiner Knastkonsens: Kinderficker sind Abschaum, noch schlimmer als Vergewaltiger, und deswegen praktisch vogelfrei. Echte Schwule galten auch als das Allerletzte, akzeptiert waren höchstens Knastschwule, also Heteros, die den Druck nicht aushielten und sich aus der Not heraus ab und zu mal von einem anderen Hetero einen runterholen ließen.