Allergie und Mikrobiota - Rainer Schmidt - E-Book

Allergie und Mikrobiota E-Book

Rainer Schmidt

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Beschreibung

<p><strong>Die Mikrobiologische Therapie ist mittlerweile ein etabliertes Verfahren und wird vor allem in der Kinderheilkunde sowie bei allergischen und chronischen Erkrankungen eingesetzt.</strong></p> <p>Wichtige Grundlagen</p> <ul> <li>Allergische Reaktionen und atopische Krankheitsbilder neu verstehen</li> <li>Einflussnahme verschiedener Faktoren auf Grenzfläche, Mikrobiota und immunologische Balance</li> <li>Integritätsverlust am Schleimhautorgan: zentrale Bedeutung für den Gesamtorganismus</li> </ul> <p>Diagnostische und therapeutische Möglichkeiten</p> <ul> <li>Diagnostik bei schleimhautassoziierten Krankheitsbildern</li> <li>Systemisches Therapiekonzept: die Prinzipien der mikrobiologischen Therapie</li> <li>Praktische Vorgehensweise bei der Durchführung</li> <li>Mikrobiologische Therapie bei Schwangerschaft und Geburt </li> </ul>

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Allergie und Mikrobiota

Systemisches Krankheitsverständnis - Mikrobiologische Therapie

Rainer Schmidt, Susanne Schnitzer

122 Abbildungen

Vorwort: Der eigene Weg

Daran erkenn’ ich den gelehrten Herrn!

Was ihr nicht tastet, steht euch fern;

Was ihr nicht fasst, das fehlt euch ganz und gar;

Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr;

Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht;

Und was ihr nicht münzt, das meint ihr, gelte nicht.

Goethe: Mephistopheles in Faust II

Die Begleitung und Behandlung vor allem allergisch reagierender Kinder beschäftigt mich nun schon seit über 34 Jahren und noch immer habe ich mehr Fragen, als ich Antworten gefunden habe. Als ich im Jahr 1982 meine Tätigkeit als Kinderarzt und Allergologe an der Universitätskinderklinik in Berlin aufnahm, diente mir als Rüstzeug lediglich das im Studium erworbene Wissen. Es gab mehr oder minder klare diagnostische und therapeutische Vorgaben, die bei jedem allergisch reagierenden Kind angewandt werden mussten. Individuelle Vorgehensweisen waren nicht gefragt. So waren die Betroffenen einem starren Untersuchungsprogramm unterworfen (Allergietests, Bestimmung des Immunglobulin E, Provokationstests, Histaminbestimmung, Erstellung des Blutbildes, Lungenfunktionstests etc.). Die sich anschließende Therapie war überschaubar: Es wurden Antihistaminika oder kortisonhaltige Präparate sowohl für die externe als auch die systemische Anwendung verabreicht. Im Falle des allergischen Asthma bronchiale wurden Bronchospasmolytika und Mukolytika verordnet, später kamen inhalative Kortikoide hinzu. Die spezifische Immuntherapie, damals noch Hyposensibilisierung genannt, galt als das entscheidende Verfahren, die allergische Reaktion zu dämpfen. Zwar ließen sich die Beschwerden der Kinder in den meisten Fällen mit diesen Maßnahmen herabsetzen, Heilung konnte ich in diesen Jahren aber bei keinem Kind beobachten, sodass mehr oder minder starke Beschwerden in die Erwachsenenzeit mitgenommen wurden.

Mit dem Wechsel in die eigene Fachpraxis für Kinderallergologie und -pneumologie änderte sich zwar nicht die Aufgabenfülle, aber es entstand Raum für eine zunehmend individuellere Behandlung. Dazu trug eine Ausbildung in Akupunktur bei. Die Kombination konventioneller Therapieverfahren mit Akupunkturtechniken erwies sich als sehr wirksam. Insbesondere akute Beschwerden ließen sich nun teilweise ohne immunsupprimierende Maßnahmen kupieren. Mit zunehmender Erfahrung und Sicherheit konnte ich die konventionelle Therapie nach und nach reduzieren. Dennoch waren echte Heilungsverläufe noch die Ausnahme, obwohl gerade die im Gegensatz zu Erwachsenen verhältnismäßig kürzeren Krankheitsverläufe von Kleinkindern eine Ausheilung tendenziell begünstigen.

Einem „Zufall“ war es zu verdanken, dass ich anlässlich eines Medizinkongresses und der dort üblichen Industrieausstellung mit einem weiteren therapeutischen Verfahren konfrontiert wurde. Ich wurde auf ein Verfahren aufmerksam gemacht, das eine Immunmodulation bewirken sollte – gemeint ist die Autovaccine-Therapie (Kap. ▶ 12.3). Aus körpereigenen (kommensalen oder pathogenen) Bakterien wird bei diesem Verfahren ein individueller Wirkstoff hergestellt (ähnlich einem Impfstoff), der dann oral, nasal, perkutan oder per iniectionem dem Patienten verabreicht wird. Ich dachte bei der Vorstellung sofort an Kinder, die immer wieder Scharlachrezidive durchlitten und, gemäß der damaligen Sicht, antibiotisch behandelt werden mussten. Dabei wurden diese Kinder immer kränker und entwickelten eine Vielzahl von Begleitstörungen. Der Zusammenhang zwischen Antibiotikaeinnahme und Induktion einer Enterokolitis war damals noch nicht bekannt. Zu sehr vertraute man (wie auch heute vielfach noch) auf die vermeintlich ungefährliche Wirkung von Antibiotika.

In den vier folgenden Jahren wendete ich die Autovaccine-Therapie bei 46 Kindern mit Scharlachrezidiven an, und keines (!) erkrankte in den folgenden sechs Jahren erneut an Scharlach. Ohne die Prinzipien der Behandlung durchdrungen zu haben, schien es mir plausibel, auch andere Beschwerdebilder, die mit einer Inflammation einhergingen, zu behandeln. Was lag näher, als auch allergisch reagierende Kinder mit einzubeziehen. Pathophysiologisch liegt diesem Beschwerdebild ja auch eine chronische Entzündung zugrunde. Und nun geschah das „Wunder“, dass zahlreiche solchermaßen behandelte Kinder nach zwei bis drei Autovaccine-Behandlungen tatsächlich völlig beschwerdefrei wurden. Das machte mich mutiger, zunehmend aber auch neugieriger. Und so begann ich eine Zusatzausbildung in Naturheilverfahren, bei der ganz verschiedene bewährte Verfahren zum Einsatz kommen. Nun konnte ich eine immer individuellere Therapie bei den betroffenen Kindern vornehmen und v.a. den Einsatz von Kortison und Antibiotika minimieren. Ende der 1980er-Jahre setzte sich zudem die Erkenntnis durch, dass neben rein medizinischen Maßnahmen auch die psychosozialen Gegebenheiten chronisch kranker Kinder mit in Betracht gezogen werden sollten. Daher entwickelten ein Kollege und ich in Zusammenarbeit mit einer systemischen Familientherapeutin, einer Physiotherapeutin sowie einer Musiktherapeutin ein Asthma-Schulungsprogramm mit dem Namen atemlos▶ [113]. An jeweils einem Wochenende wurden sechs bis acht Kinder und deren Familienmitglieder von unserem Team geschult – zunächst in Berlin, später auch im Wendland. Diese Kombination von Schulung, komplementärmedizinischen Verfahren und bedarfsangepasster konventioneller Therapie eröffnete ganz neue Sichtweisen des Verständnisses von Krankheit und Gesundheit.

Die erfolgreiche Behandlung mit Autovaccinen, letztendlich mit Bestandteilen von Mikroorganismen, hatte nicht nur eine spürbare Zufriedenheit in mir ausgelöst, sondern erst recht Fragen aufgeworfen:

Wie kann es sein, dass eine chronische Entzündung mit Bakterien günstig beeinflusst werden kann?

Welche immunlogischen Wirkprinzipien liegen diesem Geschehen zugrunde?

Wie steht es mit der Verträglichkeit und mit möglichen Spätfolgen?

Es half nichts, ich musste diesen Fragen nachgehen und habe mich mit der Mikrobiologischen Therapie auseinandergesetzt. Zu diesem Zweck wurde ich Mitglied im Arbeitskreis für Mikrobiologische Therapie e.V. (AMT e.V.), der sich bereits 1954 in Herborn konstituiert hatte. Mittlerweile bin ich seit ca. zehn Jahren Vorsitzender dieses Fachverbandes – und meine Fragen sind nicht weniger worden!

In den letzten 15 Jahren wurden zunehmend häufiger Forschungsergebnisse bekannt, die die empirischen Erkenntnisse des AMT e.V. bestätigten. Mehr noch, sogar die lange Jahre bestenfalls als „kühn“, oft genug aber als „verrückt“ abgetanen Ideen und Gedankengebäude stellen nun die am meisten diskutierten, brandaktuellen „Neuigkeiten“ dar, die nun – auf einmal! – in der ganzen Gesellschaft für Aufsehen und Erstaunen sorgen. Nun ist es wichtig, dass beides, nämlich wissenschaftliche Untersuchungen und die bereits jahrzehntelange ärztliche Erfahrung, zusammenfließen, damit dieses Wissen allen Patienten zugutekommen kann. Dieses Buch bündelt die Erfahrungen der letzten 25 Jahre und bietet dem Leser die Möglichkeit, sich in die Gedanken des Autors hineinzuversetzen.

Wustrow, im August 2017 Dr. Rainer Schmidt

Vorwort

Die statistischen Zahlen über den Gesundheitszustand der Menschen in den Industrienationen gleichen inzwischen Katastrophenmeldungen. Sie scheinen eine deutliche Sprache zu sprechen: Die „zivilisierte“ Menschheit hat in Anbetracht des erschreckenden Anstieges an Morbidität wohl den Zenit ihrer evolutionären Karriere überschritten. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die häufig beklagte Zunahme von „Allergien“ und anderen Erkrankungen des atopischen Formenkreises: Auch die Zunahme rheumatischer und chronisch-entzündlicher oder aber auch metabolischer, neoplastischer und degenerativer Krankheitsbilder lässt die Kosten im Gesundheitswesen explodieren und die Regierenden sorgenvoll in die Zukunft blicken.

Angesichts der rapiden Entwicklungen sehen sich Medizin und Pharmazie in hektische Betriebsamkeit gezwungen: Immer neue Wunderwaffen werden aus dem Hut gezaubert. Standen vor wenigen Jahren noch „Inhibitoren“, „Suppressoren“ und „Antagonisten“ hoch im Kurs, sind es nun „Biosimilars“, „Biologics“ oder sonstige ausgeklügelte Wirkstoffprinzipien, die ein schlagkräftiges Arsenal im Kampf gegen die Vielzahl von Krankheitssymptomen bieten sollen.

Es geht um Symptome unterschiedlichster Ausprägung und Gefährlichkeit, die dem zivilisierten Menschen zusetzen und ihn krank machen. Mindestens jedoch hindern sie ihn daran, seine gewohnte, komfortable und in erster Linie von Konsum und Lustgewinn geprägte Lebensweise weiterzuführen. Diese Symptome gilt es zu bekämpfen, zu verhindern, zu unterbinden, denn sind keine Symptome mehr spürbar, ist ja alles in Ordnung und es kann so weitergehen ...

Im Ernst?

Wie kann es sein, dass es nun hierzulande seit kaum mehr als ein, zwei Generationen kaum noch Kinder gibt, die keine „Allergie“ gegen irgendetwas haben? Dass chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) immer häufiger werden und schwere Erkrankungen bereits bei Kindern keine Seltenheit mehr sind? Oder dass in jeder Schulklasse AD(H)S-Kinder dem Unterricht nur unter Methylphenidat länger als zehn Minuten folgen können? Krankheitsbilder, die vor nicht allzu langer Zeit fast Raritäten waren, scheinen sich, einer Seuche gleich, auszubreiten.

Lange Zeit war alles, was die konventionelle, evidenzbasierte Medizin als Erklärung zu bieten hatte, der entschuldigende Hinweis auf genetische Dispositionen und die somit schicksalsergebene Haltung, dass hier eine „Heilung“ sowieso nicht erwartet werden kann. Denn genetische Dispositionen sind ja bekanntlich angeboren ... Und daher muss eine Therapie an einer „anständigen“ Unterbindung der Symptome ansetzen.

Kann das wirklich der richtige Weg sein? Wieso gab es Beschwerdebilder wie die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) oder Diabetes oder „Allergien“ nicht früher schon in einem vergleichbaren Ausmaß? „Früher“, als es mehr um „Handfestes“ ging, wie um Milzbrand und Cholera, Pocken und Pest. Erkrankungen, die dank der medizinischen Fortschritte heutzutage ihren Schrecken fast verloren haben. Was also hat diese Entwicklung hin zu einer immer bedrohlicheren Morbidität ganz anderer Krankheitsformen denn nun eigentlich losgetreten? Was war denn „früher“ so anders?

Jeder weiß es: Vieles war anders. An sich fast alles …

Immer noch möchten wir gerne an all die gesundheitsförderlichen Dinge glauben, die uns die Lebensumstände und die Lebensweise der heutigen Zeit, die „Zivilisation“, zum Geschenk macht. Wir schwärmen von der guten medizinischen Versorgung, singen das Hohelied der Hygiene oder streifen an endlosen Regalen mit allen erdenklichen Lebensmitteln entlang, die unseren Gaumen schmeicheln möchten. Die dunklen Seiten der „Zuvielisation“ ignorieren wir gerne, sei es im Großen, wenn es um Globalisierung, Ausbeutung, Armut und Artensterben geht, oder im KLeinen, wenn es „nur“ um die Gesundheit des Einzelnen geht. Negative Einflüsse, Schadstoffe aus Nahrung und Umwelt, unser Lifestyle und alle Effekte des Convenience Food – das schöne Leben scheint bedroht, wenn wir uns die Vielzahl von Faktoren bewusst machen, die bereits bekannt sind, und versuchen, diese dann zumindest für uns selber zu meiden.

Diese drastische Änderung unserer Lebensumstände und unserer Lebensweise innerhalb der letzten 50, 60 Jahre scheint den menschlichen Organismus tatsächlich aus der Balance geworfen zu haben. Das Immunsystem mit all seinen hochselektiven Informationssystemen und fein aufeinander abgestimmten Regulationskreisen scheint außer Rand und Band geraten, bisweilen so dermaßen überspannt, dass z.B. autoimmune Reaktionsschienen aktiviert oder im Extremfall harmlose Pflanzenmoleküle einen tödlichen anaphylaktischen Schock auslösen. Solche Ereignisse können wohl kaum mehr als sinnvolles Ergebnis der Evolution gedeutet werden. Jegliche Fähigkeit zur Toleranz, zur Kompensationsfähigkeit scheint verloren, wir haben es mit Systemen zu tun, die sich offenbar in permanentem Alarmzustand befinden.

Aber keine Angst – wir kennen die Prozesse genau: welche Zytokine welche Reaktionen bei welchen Zellen hervorrufen und was letztendlich die Symptomatik dieser Panikreaktionen hervorruft. Alles ist bestens erforscht: Wir können im Idealfall selbst lebensbedrohliche Verläufe noch stoppen und dramatischen allergischen Kettenreaktionen ein Ende setzen.

Und dennoch haben selbst solche beeindruckenden medizinischen Erfolge einen schalen Beigeschmack. Denn von einer „Heilung“ des irrlaufenden, weil überschießend „allergisch“ reagierenden Organismus kann man kaum sprechen. Für die meisten Patienten besteht die Gewissheit eines „nächsten Mals“.

In der konventionellen Medizin scheint das therapeutische Überlegen stets vom Charme einer möglichen, schnellen Symptomfreiheit geblendet. Oder ist es der Anspruch des Patienten, der schnelles und effektives Handeln gebietet? „Geben Sie mir doch einfach nur die richtige Tablette!“

Der Großteil der therapeutischen Bemühungen zielt dahin, stets die Symptome, also die letzten Schritte der entstandenen Körperreaktionen, anzugreifen und den Patienten gerade eben zur Symptomfreiheit zur verhelfen. Damit ist dieser aber eben nicht gesund!

Im Grund genommen sind wir Ärzte und Therapeuten uns doch im Klaren darüber, dass die lange Kette der vorangehenden Reaktionen und Ausgleichsversuche, die im Organismus letztendlich dann zur Ausprägung der Symptomatik führten, weiterhin abläuft. Lediglich das Symptom wird abgeschnitten, das nur selten als ein Zeichen der Gegenregulation verstanden wird. Und hiermit wird wieder einmal deutlich, dass wir uns mit den bisher üblichen therapeutischen Ansätzen nur um die berühmte sichtbare Spitze des Eisberges kümmern.

Die Kernfrage bleibt: Was irritiert, belastet den menschlichen Organismus so dermaßen, dass sich all diese Kettenreaktionen bilden können und sich das System gleichsam im Versuch der Kompensation der Kompensation zu verheddern scheint? Der Toleranzverlust als häufigster Immundefekt – wo kommt er her? Und was also ist zu tun?

So schwierig diese Frage scheint, so einfach und vollkommen einleuchtend lautet die Antwort: Es geht ganz ursächlich um die Integrität unseres Seins, um eine erfolgreiche Abgrenzung von unserer potenziell tödlichen Umgebung. Erfolgreiche Abgrenzung oder Integritätsverlust – davon hängt das Überleben unseres Organismus ab. Die Aktivierung von Immunreaktionen und Heilungsversuchen hat nur ein Ziel: unsere Integrität und damit die volle Funktionsfähigkeit wieder herzustellen.

Hinter diesem Prinzip verbirgt sich ein hochkomplexes System, das, obwohl schon lange bekannt, erst in jüngster Zeit zunehmend wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.

Nur wenige denken bei dem Ausdruck „Grenzfläche“ unseres Körpers an etwas anderes als an die äußere Haut. Viel größer und wichtiger ist jedoch die innere Grenze zur Umwelt, das Schleimhautorgan, mit seiner ungleich größeren Oberfläche. Dabei steht insbesondere der Darm als die Wiege und Schule des Immunsystems im Vordergrund. Das Schleimhautorgan beherbergt darüber hinaus den lebensnotwendigen, bisher nur unzureichend beachteten zweiten Teil des menschlichen Organismus: die in enger Symbiose mit dem Menschen lebende menschliche Mikrobiota.

Wichtigste Bedingung für das erfolgreiche Zusammenleben mit dieser unvorstellbar großen Menge an unterschiedlichsten Mikroorganismen ist eine funktionstüchtige Abgrenzung zum menschlichen Körper. Rein anatomisch ist dieses die epitheliale Grenzfläche, die im weitaus größten Teil unseres Schleimhautorgans aus einer einzelligen, mancherorts gerade mal 5μm messenden Epithelschicht besteht. Sie stellt jedoch weit mehr als eine komplexe, selektive Barriere dar. Sie fungiert vielmehr als zentrale „Schnittstelle“ in einem hochdifferenzierten Informationssystem! Wir haben es hier, modern ausgedrückt, mit dem „Interface“ zwischen den zwei Systembereichen des Organismus zu tun, die sich gegenseitig bedingen. Die epitheliale Zellschicht ist damit für intensivsten, bidirektionalen Informationsaustausch zwischen sämtlichen Regulationssystemen des Organismus auf der einen Seite und dem Mikrokosmos „mikrobielles Milieu“ auf der anderen Seite verantwortlich! Dieses komplex regulierte Informationssystem scheint, ausgehend von diesem Grenzraum, über Gesundheit und Krankheit des gesamten Organismus zu entscheiden.

Auch wenn diese komplexen Zusammenhänge zu großen Teilen bereits von den Urvätern der Mikroökologie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts vermutet wurden und empirisch wie auch therapeutisch bereits seit Langem damit gearbeitet wird – erst in der letzten Dekade scheint sich die Wissenschaft nun um die genauere Erforschung des Ökosystems Mensch zu bemühen. Die Ergebnisse, die nun auf der ganzen Welt und aus den verschiedensten Fakultäten förmlich hervorbrechen, sind schier unglaublich und faszinierend. Und so verwundert es nicht, dass sie, gleich der „Idee, deren Zeit gekommen ist“ (Victor Hugo zugeschrieben), nun ungebremst unsere Sicht der Dinge ins Wanken bringen. Es ergeben sich völlig andere Sichtweisen von Salutogenese oder Krankheitsentstehung, von Regulation und Gegenregulation, des gesamten „Seins“ unseres Organismus. Zusammen mit aktuellen Forschungsergebnissen aus den naturwissenschaftlichen Fachbereichen, wie Immunologie, Physiologie, Biologie, Biochemie oder Genetik, lässt sich ein schlüssiges Gesamtbild des Zusammenwirkens menschlicher Regulationssysteme erahnen.

Es lässt uns demütig und bescheiden werden, wenn wir begreifen, welch fragilen Strukturen, hochsensiblen Effekten und empfindlichen Balancemomenten wir uns gegenübersehen.

„Wir“ – wer ist das dann eigentlich? Tragen wir unsere Überlegungen zusammen, können wir erkennen, dass wir unser „Bewusst-Sein“ wohl etwas zu selbstherrlich vom natürlichen Sein losgelöst haben und uns somit nur in einer subjektiven, geschützten, quasi selbst erklärten Welt bewegen. Mit der Wirklichkeit unseres „Systems“, das ganz klar an biochemische, physiologische, physikalische und viele andere Regeln gebunden ist, hat diese selbst erklärte „Kuschelwelt“, in der nicht sein kann, was nicht sein darf, kaum etwas zu tun. Und wir begreifen schließlich, dass jeder Körper genau so reagiert, wie er muss, weil er nicht anders kann! Was „wir“ persönlich davon halten, also: ob uns das gefällt oder nicht, steht dabei überhaupt nicht zur Diskussion! Zu komplex ist das Miteinander all der Einflussgrößen und Regulationssysteme, letztendlich das Zusammenspiel aller relevanter Faktoren dieses holobiontischen Systems, als dass wir uns einbilden dürften, hier mehr als nur eine Winzigkeit mitreden zu können.

Für uns Ärzte und Therapeuten liegt jedoch im Verstehen dieser Einflüsse, ihrer Auswirkungen und weiteren Zusammenhänge (zumindest derer, die bis jetzt bekannt sind), die große Chance, uns einem schließlich fehlreagierenden und damit kranken System von einem anderen Ansatz her zu nähern.

Im Gegensatz zu den Herangehensweisen der konventionellen Medizin ergeben sich hier kausale Therapieansätze! Es grenzt an Ironie, dass auch diese therapeutischen Möglichkeiten zum größten Teil schon lange bekannt sind: Bis in die 1960er-Jahre war die Therapieform der Mikrobiologischen Therapie bekannt und bewährt, bis sie zugunsten „moderner“ Therapieverfahren, insbesondere der Gabe von Antibiotika, völlig verlassen wurde und beinahe in Vergessenheit geriet – um nun, 60 Jahre später, mit gutem Grund genau deswegen eine Renaissance zu erfahren – oder nun „neu erfunden“ zu werden ...

Es ist höchste Zeit! Denn mit der Antibiotikaresistenz wächst ein neues Gespenst, das nicht weniger Angst und Schrecken verbreitet als die nebenbei zum Teil auch dadurch „gezüchteten“ zunehmenden Erkrankungsinzidenzen verschiedenster Art.

Dieses Buch soll dazu beitragen, die Entwicklung von Krankheit, von Entzündung und allergischer Reaktion aus einem anderen Blickwinkel zu verstehen, und zwar als nachvollziehbare Kompensations- und Heilungsversuche eines Systems, dessen Integrität gestört oder in Gefahr ist.

Mit der Betrachtung relevanter immunologischer, ernährungs- und stoffwechselphysiologischer Themen vor dem systemischen Hintergrund werden in diesem Buch die wichtigen Verbindungen und gedanklichen Brücken geschlagen, die ein umfassendes, systemisches Verständnis von „Krankheit“ als Ergebnis grundlegender Regulationsprozesse möglich machen.

Dies stellt u.a. die Grundlage für das Verständnis mikrobiologischer Diagnostik- und Therapieansätze dar: Sie erlauben, sich dem individuellen Gesundheitszustand eines Patienten zu nähern und ein für ihn passendes Therapiekonzept zu erarbeiten, das eine Regulation seines Systems hin zum Normalen wieder möglich machen kann.

Bräuningshof, im August 2017 Dr. Susanne Schnitzer

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Der eigene Weg

Vorwort

Teil I Einführung

1 Einführung

1.1 Allergische Reaktionen und atopische Krankheitsbilder neu verstehen

1.2 Einteilung der allergischen Reaktionsformen

1.3 Integrität und Integritätsverlust

1.4 Gesundheit und Krankheit, ein steter Prozess

1.5 Salutogenese

1.5.1 Die Bedeutung genetischer und epigenetischer Einflüsse

1.5.2 Resilienzbestimmende Faktoren

Teil II Die allergische Reaktion – systemische Sichtweise

2 Einführende Gedanken

3 Ein Ganzes – das Schleimhautorgan

3.1 Blastogenese – Embryogenese – Ontogenese

3.2 Gemeinsamkeiten der einzelnen Schleimhautabschnitte

3.3 Wandaufbau des Schleimhautorgans

3.4 Charakteristika der einzelnen Schleimhautabschnitte

3.4.1 Oro-Gastro-Intestinaltrakt

3.4.2 Atemwegssystem

3.4.3 Harnableitendes System

3.4.4 Sexualorgane der Frau

3.5 Histologischer Aufbau des Schleimhautorgans

3.5.1 Intestinale Schleimhautzellen mit Sonderaufgaben

3.6 Zytoskelett und desmosomale Haftkomplexe

3.6.1 Charakteristika der Membranproteine, Basalmembran

3.7 Kommunikationsfaktor Enterisches Nervensystem (ENS) und Darm-Hirn-Achse

4 Grundzüge immunologischer Reaktionsprinzipien

4.1 Elemente des Immunsystems

4.1.1 Unspezifische Immunabwehr

4.1.2 Spezifisch-adaptive Immunabwehr

4.1.3 Gezielte Immunantwort: Antikörperbildung

4.2 IgG1–3-immunkomplexvermittelte allergische Reaktion Typ III

4.3 Immunologische Bedeutung der IgG4-Antikörper

4.4 Immunglobulin E in der Abwehr von Parasiten

4.5 IgE-vermittelte Allergie Typ I: konventionelle Betrachtungsweise

4.6 Immunologische Besonderheiten während der Schwangerschaft und der Säuglings- und Kleinkindperiode

4.6.1 Schwangerschaft – Abgrenzung und Toleranz

4.6.2 Freund und Feind erkennen: die Entwicklung der mukosalen (oralen) Toleranz beim Säugling

5 Der Mensch – eine symbiontische Lebensgemeinschaft

5.1 Gute „alte“ Freunde: die Mikrobiota und ihr Mikrobiom

5.2 Mensch und Mikrobe – ein Erfolgskonzept

5.2.1 Wer lebt denn da?

5.2.2 Gut organisiert

5.2.3 Unsere Mikrobiota: Was tut sie?

5.2.4 Einflüsse auf das Mukosa-Immunsystem

5.2.5 Quo vadis? Von der Wissenschaft zur Praxis

5.3 Der Mensch – ein Holobiont

6 Der biologische Limes: intakte Grenzflächen als Voraussetzung für das Leben

6.1 Transepitheliale und parazelluläre Permeabilität

6.2 Wirkung potenzieller Störfaktoren auf Tight Junctions

6.3 Schutzsysteme des Schleimhautorgans

6.3.1 Mukusschicht: der unterschätzte, überlebenswichtige Biofilm

6.3.2 Schutzfaktoren der epithelialen Ebene

6.3.3 Mukosa-Immunsystem (MIS) und darmassoziiertes lymphatisches Gewebe (GALT)

6.4 Die Mastzelle und ihre Mediatorfunktion

6.4.1 Mikrobiota und Mastzellaktivität: Motor der Chronic Silent Inflammation und Trigger allergischer Reaktion

6.4.2 Einflüsse exogen zugeführten Histamins

6.4.3 Histaminabbau: Diaminooxidase und Histamin-N-Methyltransferase

6.4.4 Histamin in der Frauenheilkunde

6.4.5 Einflüsse von Histamin in der Schwangerschaft

7 Aus dem Gleichgewicht gebracht – Einfluss verschiedener Faktoren auf Grenzfläche, Mikrobiota und immunologische Balance

7.1 Prä- und perinatale Einflüsse: entscheidend für das ganze Leben

7.1.1 Normale Geburt oder Kaiserschnittentbindung: Bedeutung der Mikrobiota

7.1.2 Prägende Phase: die Säuglingszeit

7.1.3 Der Griff zum Fläschchen als Weiche in Richtung Regulationsstörung

7.2 „Westliche Ernährung“: der Ursprung allen Übels?

7.2.1 „Die Milch macht's“: problematische Kost

7.2.2 „Gehaltvolle“ Lebensmittel: Inhaltsstoffe glutenhaltiger Getreideprodukte und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Organismus

7.2.3 Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI)

7.2.4 Lektine: Weizenlektin

7.2.5 FODMAPs: explosive Mischung

7.3 Anti-bios: gegen das Leben! Die Folgen unkritischer Antibiotikatherapien

7.4 Frühkindliche Ernährungs- und Verdauungsstörungen – „Schreikinder“ sind häufig krank!

7.5 Einflüsse von Umweltfaktoren auf das immunologische Gleichgewicht

7.6 Metabolische Endotoxinämie: schleichende Gefahr im Tarngewand

7.7 Auswirkungen der „Schutzimpfungen“ auf das immunologische Gleichgewicht

8 Inflammation (Entzündungsreaktion): ein Rettungsversuch

9 Endstation: die allergische Reaktion aus systemischer Sicht

9.1 Integritätsverlust am Schleimhautorgan – zentrale Bedeutung für den Gesamtorganismus

9.2 Das allergisch reagierende Kind: eine typische Krankheitsgeschichte

9.3 Mögliche Folgen der allergischen Reaktion

9.4 Das Chamäleon der Atopie: verschiedene Krankheitsbilder, identischer Pathomechanismus

9.4.1 Atopische Dermatitis

9.4.2 Obstruktive Bronchitis, Asthma-bronchiale-Syndrom

9.4.3 Allergische Rhinitis und Konjunktivitis

10 Resümee

Teil III Diagnostik, Therapie, Prävention

11 Diagnostik

11.1 Der Mensch – ein Ganzes: systemische Anamnese

11.1.1 Wie die Schleimhaut „spricht“ – Diagnostik bei schleimhautassoziierten Krankheitsbildern

11.1.2 „Was für ein Typ bist DU denn?“ – Mikrobiomanalysen

12 Das systemische Therapiekonzept – die Prinzipien der Mikrobiologischen Therapie

12.1 Geschichtlicher Hintergrund

12.2 Präbiotika und Probiotika: Definition und Wirkprinzipien

12.2.1 Präbiotika (auch Prebiotika)

12.2.2 Probiotika

12.3 Autovaccine-Therapie – individuelle Immunmodulation

12.3.1 Wirkprinzipien und Besonderheiten der Therapie mit AutoColiVaccine®

12.3.2 Autovaccinen mit pathogenen Keimen

12.3.3 Allgemeines Dosierungsschema

12.3.4 Dosierungsschema für besondere Indikationen: Monotherapie

13 Praktische Vorgehensweise bei der Durchführung der Mikrobiologischen Therapie

13.1 Therapieaufbau

13.2 Informationen aus der Praxis für die Praxis

14 Fäkale Mikrobiotatransplantation (Stuhltransplantation)

15 Mikrobiologische Therapie als sinnvolle Präventionsmaßnahme

15.1 Prävention beginnt schon in der Schwangerschaft

15.1.1 Schleimhautschutz des Neugeborenen: Beobachtungen im Rahmen einer Allergieprävention mit Probiotika

15.1.2 Prävention der atopischen Dermatitis mit einem Lysat aus Enterococcus faecalis und Escherichia coli: PAPS-Studie

15.2 Antibiotika und Probiotika

15.3 Kritische Lebenssituationen als systemische Risikofaktoren: Prävention langfristiger Folgen mit Mikrobiologischer Therapie

15.4 Prävention durch Ernährung: gluten- und kuhmilchhaltige Lebensmittel sind problematische Kost

16 Resümee

Teil IV Kasuistiken

17 Kasuistiken

17.1 Raphael

17.2 Max und Moritz

17.2.1 Max

17.2.2 Moritz

17.3 Jonathan

17.4 Susanne J.

17.5 Atopische Dermatitis

17.6 Finis ab origine pendet: Das Ende hängt vom Anfang ab!

17.6.1 Emma

17.6.2 Finn

17.6.3 Helena und Lilly

Teil V Anhang

18 Patienteninformation

19 Auswahl im Handel verfügbarer Produkte

19.1 Präbiotika

19.1.1 Inulin

19.1.2 Resistente Stärke

19.1.3 scGOS (Galactooligosaccharide)/scFOS (Fructooligosaccharide)

19.1.4 Sonstige Substanzen und Mischpräparate

19.2 Protektive Mikrobiota

19.2.1 Stoffwechselprodukte von protektiver Mikrobiota ohne weitere Zusätze

19.2.2 Bifidobakterien und Milchsäurebakterien, keine Histaminbildner, ohne weitere Wirkstoffzusätze

19.2.3 Bifidobakterien und Milchsäurebakterien ohne weitere Wirkstoffzusätze

19.2.4 Mit Zusätzen von Präbiotika und/oder Vitaminen, keine Histaminbildner

19.2.5 Mit Zusätzen von Präbiotika und/oder Vitaminen

19.3 Immunmodulierende Mikrobiota

19.3.1 Stoffwechselprodukte von immunmodulierender Mikrobiota

19.3.2 Stoffwechselprodukte und Wandbestandteile von immunmodulierender Mikrobiota

19.3.3 Lebende, immunmodulierende Mikrobiota

19.3.4 Nichtsymbionten

20 Institute für mikrobiologische und schleimhautassoziierte Diagnostik

21 Literatur

Autorenvorstellung

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Einführung

1 Einführung

1 Einführung

Allergische Reaktionen wird es wohl seit der Frühzeit menschlichen Lebens gegeben haben. Schon von Tiberius Claudius Caesar Germanicus (Britannicus, 41–55 n. Chr.), dem Sohn des römischen Kaisers Claudius, wird berichtet, dass er regelmäßig mit Ausschlag und Hautrötungen vom Reitunterricht nach Hause kam. Er hatte offenbar eine „Pferdeallergie“. Zu dieser Zeit war vermutlich noch nicht absehbar, dass in der Neuzeit Millionen von Menschen ein gleiches Schicksal erleiden würden.

Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts lassen sich bei nahezu jedem zweiten Kind in Deutschland bereits Antikörper gegen mehr als 20 verschiedene Substanzen im Blut nachweisen. Ob sich im Verlauf des weiteren Lebens tatsächlich eine „Allergie“ ausbildet, lässt sich nur vermuten und nicht vorhersagen. Das Allergierisiko der bereits sensibilisierten Kinder und Jugendlichen ist heute jedoch deutlich erhöht im Vergleich zu früheren Erhebungen ▶ [160].

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird „Allergie“ als eine Krankheit verstanden. Der Begriff „Allergie“ bezeichnet laut Pschyrembel lediglich eine „angeborene oder erworbene spezifische Änderung der Reaktionsfähigkeit des Immunsystems gegenüber körperfremden, eigentlich unschädlichen Substanzen, die als Antigen erkannt werden“. Es ist daher sinnvoll, nicht von einer Krankheitsentität „Allergie“, sondern von einer „allergischen Reaktion“ zu sprechen, die prinzipiell als eine entzündliche Heilungsreaktion zu verstehen ist. Ob es sich tatsächlich um eine angeborene Änderung der Reaktionsbereitschaft handelt oder ob eher epigenetische Einflüsse wirksam werden, muss kritisch hinterfragt werden.

Bereits hier stellt sich schon die grundlegende Frage: Was könnte dieser Änderung der Reaktionsfähigkeit letztendlich zugrunde liegen? Für gewöhnlich werden eine genetische Disposition sowie Umweltfaktoren und Allergene für die Entstehung einer Allergie verantwortlich gemacht. In der konventionellen Therapie reduzieren Kortikoide und Antihistaminika zwar die Beschwerdesymptomatik, beseitigen aber in keinem Fall die Ursachen einer allergischen Reaktion. Bei Kleinkindern sind diese Therapiestrategien zudem kritisch zu bewerten, da die Entwicklung des Immunsystems in diesem Alter in der Regel noch nicht abgeschlossen ist. Bei seiner Entwicklung können sich diese Arzneimittelgruppen störend auswirken. Muss in dieser Altersgruppe dennoch über einen längeren Zeitraum eine immunsupprimierende Behandlung durchgeführt werden, sind unter anderem auch negative Auswirkungen auf den Stoffwechsel der Kinder zu erwarten.

Insgesamt kann die Therapie der allergischen Reaktion also derzeit kaum als kausal, nachhaltig wirksam und befriedigend betrachtet werden. Die Ursachen werden dabei in keiner Weise berücksichtigt. Dadurch bleibt der Körper weiterhin in der bestehenden Abwehrsituation, die in eine überschießende, chronifizierte Entzündung mündet.

Ganz grundsätzlich soll also in diesem Buch der Frage nachgegangen werden, ob die allergische Reaktion eine Erkrankung darstellt oder eigentlich ursprünglich eher als sinnvolle, ja notwendige Körperreaktion zur Abwehr einer weit größeren Schädigung des Organismus gemeint ist. Darüber hinaus reagieren viele Menschen entzündlich-allergisch, andere wiederum nicht, obwohl ähnliche pathophysiologische Phänomene bestehen. Es ist also sinnvoll, die Begriffe „Krankheit“, „Gesundheit“ und „Resilienz“ unter systemischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu erörtern.

Eine allergische Reaktion entwickelt sich klinisch in den überwiegenden Fällen im frühen Kindesalter. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Gründe einer allergischen Reaktionsbereitschaft daher oftmals bereits in der Schwangerschaft zu suchen sind. Wir wissen inzwischen, dass auch die Art der Geburt, das Stillen, die (zu) frühe Ernährung mit konventioneller Kost, Impfungen oder die Art und Weise der Behandlung früher Infekte einen viel größeren Einfluss auf die Entwicklung einer chronischen Entzündung haben als allgemein angenommen. Es lohnt sich auch, darüber nachzudenken, inwieweit sich eine schnelle Fiebersenkung oder antibiotische Behandlung eines Infektes störend auf die normale Entwicklung des kindlichen Immunsystems auswirkt. Ebenso wird sie von bestimmten Lebensmitteln beeinflusst. In den Industrienationen sind dies in erster Linie Substanzen, die in Kuhmilch oder glutenhaltigen Getreidesorten enthalten sind. Sie haben verschiedene proinflammatorische Signalwirkungen.

Besonders wichtig ist jedoch der Blick auf den eigentlichen Ort des Geschehens. Eine allergische Reaktion spielt sich ja im Regelfall an der Schleimhaut ab. Es sollte daher besser vom „Schleimhautorgan“ gesprochen werden, denn es eröffnet neue Perspektiven, wenn an diesem Punkt umgedacht wird: Nicht die einzelnen Schleimhautabschnitte stehen isoliert im Mittelpunkt der allergischen Reaktion, sondern das „Schleimhautorgan“ in seiner Gesamtheit.

Den interzellulären desmosomalen Haftkomplexen der Schleimhautzellen (oft synonym als Tight Junctions bezeichnet) kommt hier eine Schlüsselrolle bei sämtlichen schleimhautassoziierten Krankheitsbildern zu. Die Lösung der letztendlich entscheidenden Frage nach einer kausalen Therapie liegt in der Bedeutung der uns Menschen innewohnenden Mikrobiota. Sämtliche Körperoberflächen sind mikrobiell besiedelt, in besonderem Maß jedoch das „Schleimhautorgan“. Dabei handelt es sich überwiegend um Bakterien sehr unterschiedlicher Spezies, ohne die wesentliche Körperfunktionen und -regulationsformen nicht stattfinden können. Wir wissen inzwischen, dass eine physiologische humane Mikrobiota das Allergierisiko mindert. Die Verdauung, der Schleimhautschutz, die Entwicklung und das Training des Mukosa-Immunsystems hängen eng mit ihr zusammen. Die Frage lautet daher: Ist es denkbar, eine bereits klinisch relevante allergische Reaktion mit einer Änderung unserer Ernährung, unserer Lebensumstände und mit mikrobiellen Präparaten erfolgreich zu behandeln?

Der Begriff „Mikrobiom“ schlägt derzeit große Wellen in der Fach- wie in der Laienpresse. Oftmals werden die Begriffe „Mikrobiom“ und „Mikrobiota“ synonym gebraucht. Grundsätzlich sollte hier jedoch unterschieden werden, denn bei der Mikrobiota handelt es sich um die Summe der Kleinstlebewesen, deren Zusammenleben mit einem Wirtsorganismus (z.B. Mensch) bestimmten milieugesteuerten Regeln folgt. Die Mikrobiota bestimmt die Eigenschaften des „Milieus". Hier darf nicht nur an bestimmte physikalische und chemische Parameter an unseren Körperoberflächen gedacht werden, die den Grenzraum zur Umwelt darstellen. Die milieuassoziierten, ernährungsbedingten Stoffwechselprodukte, Antigenstrukturen und Botenstoffe der Mikrobiota – und nicht letztendlich allein ihre Präsenz und Kommunikation als verschiedenste lebende Organismen sind vielmehr bestimmende biologische Größen für die Regulation des gesamten Organismus.

Demgegenüber steht der Begriff „Mikrobiom“. Er bezeichnet die große Summe der gesamten genetischen Informationen der kommensalen (physiologischen) Mikrobiota eines Organismus. Diese übersteigt die Summe der Informationen des menschlichen Genoms um mindestens das 360-Fache!

Die sich dahinter verbergenden Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten führen zu einem seit über 60 Jahren bekannten Therapieprinzip: der Mikrobiologischen Therapie. Sie hat sich besonders bei der Behandlung und Prävention allergischer Reaktionen bewährt. Die Ergebnisse aus Forschung und Wissenschaft lassen nun die begründete Hoffnung zu, dass diese regulativen Einflüsse auch viele weitere Krankheitsbilder positiv beeinflussen oder verhindern können. Mittels schleimhautassoziierter Diagnostik können wichtige Details zur momentanen Situation von Schleimhautorgan, Immunsystem, Mikrobiota und Milieu gewonnen werden, die die Grundlage für ein individuelles Therapiekonzept darstellen. Ausgewählte Kasuistiken zeigen, wie dieses Verfahren angewendet wird und wie hoch das Potenzial ist, den Körper schließlich in einen Heilungsprozess zu führen.

Die „beste“ Krankheit jedoch ist diejenige, die erst gar nicht entsteht! Deshalb finden sich in Kap. ▶ 15 Empfehlungen, wie im Falle konkreter Hinweise z.B. auf eine allergische Reaktionsbereitschaft des Kindes oder eine drohende Chronifizierung entzündlicher Reaktionen präventiv reagiert werden kann.

1.1 Allergische Reaktionen und atopische Krankheitsbilder neu verstehen

Die bunte Vielfalt an Erscheinungsbildern allergischer oder chronisch entzündlicher Reaktionen führt die Patienten zu Kollegen jeden Fachbereichs. Typische Symptome wie Fließschnupfen, juckende Bindehaut, obstruktive Atembeschwerden oder Hautausschläge sind am häufigsten vertreten – und leiten schnell zur richtigen Diagnose. Schwierig wird es, wenn es beispielsweise um Beschwerden wie unspezifische Magen-Darm-Probleme, chronische Müdigkeit oder Kopfschmerzen geht. Die Vermutung einer hier zugrunde liegenden allergischen Reaktion (bzw. eines chronisch-entzündlichen Prozesses) steht oft erst am Ende einer langen Reihe diagnostischer Maßnahmen. Und selbst wenn eine allergische Reaktion vermutet wird, lässt sich diese bei unauffälligen Laborwerten üblicher klassischer Marker wie Immunglobulin E, Histamin oder eosinophiler Granulozyten im Blut oftmals nicht beweisen.

Legt man der allergischen Reaktion jedoch ein erweitertes Verständnis zugrunde, eröffnen sich sinnvollere diagnostische Strategien: Der weitaus größte Teil der allergischen Reaktion findet am Schleimhautorgan statt, also direkt an der inneren Grenzfläche zur Außenwelt. Was wäre demnach logischer, als in schleimhautassoziierten Untersuchungen (z.B. aus den Faeces) nach Anzeichen für genau dort stattfindende entzündliche Prozesse zu fahnden? Im Gegensatz zur Serologie lassen erhöhte schleimhautassoziierte Entzündungsparameter frühzeitig und zuverlässig auf das Vorliegen und auch den Schweregrad einer entzündlichen Schleimhautreaktion schließen. In diesem Zusammenhang muss auch die immense regulatorische Bedeutung unserer physiologischen Mikrobiota in den diagnostischen Fokus gerückt werden. Auffälligkeiten im Biofilm (Muzin und Mikroorganismen) können bereits auf eine erhöhte Vulnerabilität und Entzündungsbereitschaft der Schleimhaut oder aber unzureichende immunmodulierende Reize für das Immunsystem hinweisen.

Selbst wenn die Symptome eindeutig auf ein entzündliches Geschehen an der Schleimhaut hinweisen, sind immer noch weitere differenzialdiagnostische Überlegungen anzustellen: Neben der allergischen Reaktion liegen den gleichen Symptomen oft Pseudoallergien, Intoleranzen oder Lebensmittelunverträglichkeiten zugrunde, die auf völlig verschiedenen Pathomechanismen beruhen. Diese Begriffe werden fälschlicherweise sogar oft synonym verwendet – diagnostische oder sprachliche Unschärfen, die kausale Therapieansätze erschweren.

1.2 Einteilung der allergischen Reaktionsformen

Hinter dem Begriff „Allergie“ verbergen sich nach von Pirquet vier Subtypen, die sich sowohl klinisch als auch immunologisch unterscheiden lassen.

Die Typ-I-Allergie mit ihrer Sofortreaktion auf Stoffe, die der Körper als bedrohlich erkennt, wird im klinischen Alltag am häufigsten diagnostiziert. Typisch sind hier erhöhte Immunglobulin-E-Titer (IgE), die in der konventionellen Medizin als pathognomonisch gelten. Vielen Krankheitsbildern liegt jedoch eine Typ-III-Allergie vom verzögerten Typ zugrunde. Diese Allergieform beruht auf der Bildung von Antigen-Antikörper-Komplexen bei Anwesenheit von Immunglobulinen der Klasse G I–III. Diese Immunglobuline werden als Antwort auf eine gestörte Schleimhautintegrität und anschließendes ungefiltertes Eindringen von Fremdproteinen in die Lamina propria gebildet. Die Immunkomplexbildung bei Antigenkontakt löst in der Schleimhaut entzündliche Folgereaktionen aus. Antigen-Antikörper-Immunkomplexe können dann via Blut- und Lymphsystem in den ganzen Körper gelangen und auch dort zu verschiedenen Entzündungsreaktionen führen.

Die beiden verbleibenden Formen, Typ-II-Allergie und Typ-IV-Allergie, treten deutlich seltener auf und haben in der Transplantationsmedizin und bei Unverträglichkeiten von Medikamenten und Metallen Bedeutung. Die Pathomechanismen sind hier nicht unbedingt antikörper-, sondern zytokinvermittelt. Sie werden ausgelöst durch bestimmte zelluläre Komponenten des Immunsystems. Diese Allergietypen sollen jedoch nicht Inhalt dieses Buches sein.

Diese Betrachtungen verdeutlichen, dass die ursprüngliche Bedeutung einer allergischen Reaktion die Initiierung einer Entzündung zum Schutze des Körpers darstellt: Es sind prinzipiell sinnvolle Formen einer gezielten Abwehr, die vor allem gegen Mikroorganismen, bakterielle Endotoxine oder andere Fremdantigene gerichtet sind. Der Ablauf dieser Entzündungsreaktionen ist normalerweise sehr differenziert reguliert und endet, sobald das auslösende Agens abgewehrt, unschädlich gemacht und wieder ausgeschieden ist.

Eine stetig wachsende Anzahl von Menschen verharrt jedoch in dieser Entzündungssituation. Der normale Verlauf scheint hier unterbrochen und nicht zu seinem Ende zu finden. Man kann von einer „Entzündungsstarre“ sprechen. Damit erfüllt sich die Definition des Allergiebegriffes (griech. αλλεργία, die Fremdreaktion, der andere Mensch). Dieser eher deskriptive, 1906 von Pirquet geprägte Begriff entstand in einer Zeit, als die komplexen Regulationsvorgänge im Menschen noch wenig erforscht waren und bildhaften Erklärungsversuchen folgten. Clemens von Pirquet erkannte damals als Erster, dass Antikörper nicht nur schützende Immunantworten vermitteln, sondern auch Ursache von Überempfindlichkeitsreaktionen sein können. Das Konzept der „Allergie“, das sich hinter diesem Begriff verbirgt, war das Resultat von Forschungen im Bereich von Schutzimpfung und Serumkrankheit. Von Pirquet waren bei wiederholter Impfung schneller auftretende und stärkere Reaktionen an der Injektionsstelle aufgefallen. Für diese „hypererge Frühreaktion“ prägte von Pirquet den Begriff Allergie aus griech. allos (= anders) und ergein (= reagieren).

Von Pirquets Beobachtungen beinhalteten bereits die grundsätzliche Problematik, die für die Veränderung der physiologischen Reaktionsform verantwortlich ist. Eine Injektion hebt die Unversehrtheit der äußeren Körpergrenzfläche (an der Injektionsstelle) auf. Die Integrität des Körpers ist damit verletzt – Mikroorganismen oder mikrobielle Antigene können so unter Umgehung der normalen Abwehrmechanismen von Haut und Schleimhautorgan unmittelbar in den Organismus gelangen – und im Falle der Impfung speziell das Impfserum mit auch hier mikrobiellen Bestandteilen. Eine atypische, zunächst lokale, dann aber systemische Abwehrreaktion mit der möglichen Gefahr einer Erkrankung ist die Folge. Ohne diesen Integritätsverlust (i.e. den Applikationsweg der Injektion) wäre die immunlogische Antwort auf den Antigenkontakt anders verlaufen.

1.3 Integrität und Integritätsverlust

Abb. 1.1 Venus von Milo (Ende 2. Jh. v.Chr.).

Der Begriff Unversehrtheit (Integrität) eines Menschen ist mit den Begriffen „Gesundheit“ und „Krankheit“ eng verbunden und nimmt dennoch im medizinischen Alltag noch wenig Raum ein. Betrachtet man ▶ Abb. 1.1, dann nehmen die meisten Menschen einen weiblichen Körper wahr. Nur wenigen wird dabei bewusst, dass es sich um die Nachbildung eines Menschen handelt, dem beide Arme fehlen und der damit versehrt ist, d.h. seine Integrität verloren hat. Es scheint vielen Menschen der heutigen Zeit ähnlich zu ergehen: Sie sind sich insbesondere bei chronischen körperlichen oder psychischen Problemen nicht immer bewusst, dass auch sie ihre Unversehrtheit eingebüßt haben. Krankheit wird sehr häufig als ein von außen einwirkendes Ereignis betrachtet, das den betroffenen Menschen, quasi ohne eigenes Verschulden, ereilt. Ein Arzt soll dann eine Diagnose stellen und – wiederum „von außen“ – ein geeignetes Mittel zur Gesundung verordnen. Man wird „gesund gemacht“.

Nüchtern betrachtet verhält es sich in den meisten Fällen anders: Kranksein ist ein Resultat vielfältiger regulatorischer Ausgleichsversuche des Organismus, die durch eine Veränderung der Lebensumstände positiv beeinflusst werden könnten. Oftmals nehmen die Betroffen die schleichende Entwicklung eines Krankheitsprozesses aber kaum wahr – und ändern damit nur selten ihre Lebensgewohnheiten.

Prof. Thomas Kesselring, Dozent für Ethik und Philosophie an der Universität Bern, führte in seinem Beitrag zur Tagung von „Berner Gesundheit“ am 04.05.2007 aus, dass der Begriff „Integrität“ selbst in Fachkreisen keinen Aufschluss über die Wortbedeutung gibt ▶ [155].

Integrität leitet sich von dem lateinischen Wort integer ab, das mehrere Bedeutungen hat: unberührt, unangetastet, unversehrt, unverletzt, ungeschwächt, frisch, gesund, unvermindert, ungeschmälert, vollständig, ganz, noch unerledigt, unentschieden, vollständig, ganz, noch freistehend, unverdorben, unbefleckt, lauter, unschuldig, unbestochen, redlich, unparteilich.

Etymologie (Herkunft): Wie das lateinische Wort intactus, stammt das ebenfalls lateinische Wort integer von tangere (berühren). Integer kann in erweitertem Sinn aber auch heißen: nicht verletzt (trotz eventueller Berührung).

Der Begriff Integrität kann sowohl auf den Körper, die Psyche (Geist) als auch auf den seelischen Aspekt angewendet werden. Eine sichere Abgrenzung unseres Seins von der potenziell schädigenden oder auch tödlichen Umwelt ist die Voraussetzung für einen ungestörten Ablauf aller Körperfunktionen und der seelischen und psychischen Stabilität. Ihr Verlust wirkt sich auf das menschliche Sein in jedem Fall negativ aus. Das oberste Ziel eines jeglichen Organismus ist die Bewahrung oder Wiederherstellung seiner Unversehrtheit auf allen Ebenen. Versuchen wir uns vorzustellen, wie viele schädigende Einflüsse auf die Integrität unserer Grenzflächen, also auf das Haut- und Schleimhautorgan als Ganzes es gibt. Schnell fallen uns Infektionen ein. Doch weitaus wichtiger ist der Blick auf Fehlernährung, chemische Substanzen in Luft, Wasser und Nahrung, Genussgifte, chemisch-pharmazeutische Medikamente und vor allem Disstress. Diese Einflüsse können auch zu Veränderungen in der Zusammensetzung und Anzahl der lebensnotwendigen, physiologischen Mikrobiota und des mikrobiellen Milieus im Schleimhautorgan führen. Die Folgen hier sind vielschichtig und bis jetzt nur im Ansatz verstanden. Sie reichen von der Störung oder dem Zusammenbruch der mikrobiellen Schutzfunktion (Kolonisationsresistenz) bis hin zu gravierenden Beeinträchtigungen der Regulationsfähigkeit unserer Körperfunktionen. Ist diese Funktionalität der Schleimhautgrenzfläche erst einmal aufgehoben, sind, von hier ausgehend, Störungen sämtlicher Organe denkbar, bis hin zu Ausfällen der Organfunktionen z.B. von Leber, Niere, Nerven- und Immunsystem.

Nun wird schnell klar, mit welch immensen Aufgaben – und auch Handicaps! – das menschliche Immunsystem und die übrigen Regulationssysteme des Körpers sich permanent beschäftigen und auseinandersetzen müssen.

Ein „Zuviel“ an Störfaktoren, an Belastungen und Schädigungen kann mit Sicherheit irgendwann nicht mehr „weggesteckt“ werden. Der berühmte „Tropfen zu viel“ führt zwangsläufig zum Überlaufen des Fasses, und zwar zu einer Erschöpfung der körperlichen und psychischen Ressourcen und zum Zusammenbruch der normalen Regulations- und Kompensationsfähigkeit. Damit ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Krankheit gegeben.

1.4 Gesundheit und Krankheit, ein steter Prozess

Gesundheit gilt den meisten Menschen als höchstes Gut. Sie wird vielen, aber nicht allen Menschen in die Wiege gelegt und daher oft als etwas Selbstverständliches angesehen. Solange der Mensch gesund ist, macht er sich nur selten Gedanken darüber, dass dieses Geschenk auch verloren gehen könnte. Tritt dieser Fall ein, entsteht also Krankheit, dann wird den meisten Menschen oft erstmalig deutlich, welch einen unschätzbaren Wert ein Leben in Gesundheit darstellt. Sucht man nach einer Definition von „Gesundheit“, findet man sehr unterschiedliche Aussagen:

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) formuliert:

Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen, körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.

Der Theologe Hans Grewel schreibt:

Wir verstehen Gesundheit als die Bereitschaft und Fähigkeit und Kraft, mit den Begrenzungen oder Störungen oder Schädigungen zu leben, das heißt, den durch sie umgrenzten Horizont an Lebensmöglichkeiten auszuloten, zu erproben und „einzuüben“. ▶ [99]

Wer jetzt aber glaubt, die Medizin habe einen naturwissenschaftlich klaren Gesundheitsbegriff, der irrt. Wir finden keine Definition des Begriffs „Gesundheit“, die nicht gleichzeitig in Bezug zum Krankheitsbegriff steht.

Demgegenüber wird diesem eine erheblich größere Bedeutung zugeschrieben. Ganz allgemein wird formuliert:

Krankheit ist die Störung des statistisch normalen Funktionierens eines Organismus entsprechend den Umweltansprüchen dieser Art.

Insbesondere die Medizin ist seit Jahrhunderten bestrebt, den allgemeinen Begriff „Krankheit“ eindeutig zu definieren und abzugrenzen. Dabei hat sie sich mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern („Erkrankungen“) auseinanderzusetzen. In der täglichen Praxis wird im Allgemeinen eine Zuordnung von konkreten Beschwerdebildern zu ebenso konkreten Krankheitsentitäten (Diagnosen) angestrebt, woraus dann sowohl eine therapeutische Strategie als auch administrative und ökonomische Rahmenbedingungen abgeleitet werden. Besonders deutlich wird das an der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD10 – SGB V). Der Plural „Krankheiten“ ist jedoch irreführend, da es im Gegenzug auch keine „Gesundheiten“ gibt! Er ergibt sich aus dem Bemühen, verschiedene Störungen organbezogen zu beschreiben. In der Folge ergibt sich daraus ein allein organbezogener Behandlungsansatz. Damit wird die Komplexität der zusammenhängenden Regulationsprinzipien des Organismus jedoch nicht berücksichtigt. Denn nur selten gibt es isolierte Störungen einer Zelle, eines Zellverbandes oder Organs. Vielmehr führen die unterschiedlichen auslösenden „Schädlichkeiten“ (Infektionserreger, Fehlernährung, Disstress, Verletzungen, Vergiftungen etc.) zu Antworten auf verschiedenen Ebenen des Organverbundes eines Menschen.

Mit diesen Definitionen von Gesundheit und Krankheit wird auch die tatsächliche Bedeutung dieser Begriffe für den Einzelnen nicht berücksichtigt. Wenn sich ein Mensch „krank“ fühlt oder bereits eine Krankheit diagnostiziert wurde, spricht man von einem Patienten. Die geäußerten Beschwerden werden dann bestimmten Krankheitsbildern zugeordnet. Oft kommt es aber vor, dass eine Diagnose allein auf der Basis von Laborbefunden gestellt wird. Kann man diese Menschen dann auch bereits als „Patienten“ bezeichnen? Anders gefragt: Ab wann ist ein Mensch krank? Bereits lange vor dem Auftreten von bewusst wahrgenommenen Krankheitssymptomen finden im Körper Regulations- und Heilungsversuche statt. Sind diese bereits als Krankheit zu werten, obwohl „der Patient“ sie nicht bewusst empfindet? Die Übergänge zwischen Gesundheit und Krankheit sind fließend. Daher verwendet man auch Begriffe wie „Befindlichkeitsstörung“, womit Einschränkungen des leiblichen und/oder seelischen Wohlbefindens gemeint sind, ohne dass messbare bzw. definierte Krankheitsbilder vorliegen müssen. Hinter dem Begriff „Krankheit“ verbirgt sich also ein „Eisberg“ an Adaptations- und Regulationsversuchen, der sich einer bewussten Wahrnehmung lange entzieht. Erst wenn die Adaptationsfähigkeit nicht mehr ausreicht und die Regulation zusammenbricht, wird der Symptomenkomplex des Krankheitsbildes als „Spitze des Eisberges“ wahrgenommen.

Der Soziologieprofessor Aaron Antonovsky, USA, äußerte sich so:

Jeder Mensch bewegt sich auf einem Kontinuum und ist damit nicht entweder gesund oder krank, sondern immer im Prozess wieder in die Gegenrichtung, also „gesund“. Je nachdem, ob diese Regulationen die Bewusstseinsschwelle erreichen oder nicht, nimmt der Patient von diesen Zustandsänderungen seines Organismus eventuell gar nichts wahr. Solange der Körper über genügend regulative Ressourcen und Kompensationsfähigkeit verfügt, scheinen wir uns in einer steten, positiven Fluktuation zu befinden, deren Richtung im Falle einer Störung immer hin zum Normalen gelenkt ist.

1.5 Salutogenese

Wie kann es nun sein, dass manche Menschen auf identische oder ähnliche Störpotenziale mit der Entwicklung von „Krankheit“ reagieren, andere aber nicht? Sie scheinen sich im Störfall in ihrem Fließgleichgewicht nicht in Richtung eines Ausgleichs, also einer Normalisierung hin zum „Gesunden“, zu bewegen, sondern in die falsche Richtung – oder sie verharren im jeweilig gestörten Zustand –, während ein anderer Organismus hier erfolgreich gegenregulieren und kompensieren kann.

A. Antonovsky beschäftigte sich in den 1970er Jahren mit der Frage, welche Eigenschaften und Ressourcen den Menschen helfen, unter extremen Lebensbedingungen ihre körperliche und psychische Gesundheit zu erhalten ▶ [18]. Allgemeiner formuliert interessierte ihn, wie Gesundheit entsteht. Diese Fragestellung sieht er in Ergänzung zu pathogenetischen Erklärungsmustern der traditionellen Medizin. Mit dem Begriff der Salutogenese entwickelte er ein Konzept der Entstehung von Gesundheit.

Antonovsky postulierte die Existenz generalisierter Widerstandsressourcen, die in erschwerten Situationen aller Art zur Unterstützung der Bewältigung von Stressoren und das durch sie hervorgerufene Spannungserleben auf allen Ebenen eingesetzt werden können.

Antonovsky folgend, haben wir es offenbar mit individuell verschieden ausgeprägten oder verschieden wirksamen Widerstandsressourcen zu tun, die im einen Fall zur Wiedererlangung unserer Gesundheit, im anderen Fall, z.B. bei gestörter Regulationsfähigkeit, aber zur Entwicklung von Krankheit führen.

1.5.1 Die Bedeutung genetischer und epigenetischer Einflüsse

In diesem Zusammenhang halten die meisten Menschen, insbesondere aber viele Mediziner, die genetischen Veranlagungen der einzelnen Individuen für die entscheidende Größe, die „Leben“ steuert und reguliert und damit verantwortlich ist für Gesundheit und Krankheit. Gerade bei der Bewertung möglicher ursächlicher Auslöser der allergischen Reaktion findet man in vielen Abhandlungen immer wieder – neben Umweltfaktoren – die genetische Disposition der Betroffenen an oberster Stelle genannt. Tatsächlich fällt auf, dass allergisch reagierende Kinder, statistisch belegt, zu 52% aus Familien stammen, in denen mindestens ein Elternteil vergleichbare Beschwerden hat. Es erkranken aber auch 15% der Kinder, deren Eltern keine Anzeichen einer Reaktionslage erkennen lassen ( ▶ Abb. 1.2).

Abb. 1.2 Prävalenz atopischer Krankheitsbilder bei familiärer Belastung.

Das Leben in seinen unterschiedlichsten Ausdruckformen hinterlässt Spuren, die nicht zu verwischen sind: Die dauerhaftesten sind wohl in den Genen aller Lebewesen gespeichert. Sie enthalten sämtliche Informationen, die nicht nur das Überleben eines Individuums sichern, sondern auch das der gesamten Art. Diese natürliche Speicherung von „Daten“ ist zunächst weder gut noch schlecht. Die so festgelegten Informationen beinhalten ebenso Besonderheiten des Phänotyps wie auch seine komplexen Regulationsvorgänge auf allen Ebenen (z.B. Stoffwechsel, Hormonhaushalt, Immunabwehr, Wesenszüge etc.). Unter physiologischen Umständen, d.h. bei einer seiner genetischen Prägung entsprechenden Lebensweise, greifen diese Systeme synergistisch ineinander und gewährleisten ein Leben in Gesundheit und Integrität. Aus der unglaublichen Vielfalt immer neuer Rekombinationen der Gene ergibt sich die enorme Individualität der menschlichen Spezies. Diese Rekombinationen schließen sowohl günstige wie auch ungünstige Konstellationen ein, die auch von Lebensbeginn an dem Einzelnen Handicaps unterschiedlicher Ausprägung auferlegen (können). Diese reichen von leichten Abweichungen des Phänotyps bis zu schweren Regulationsstörungen. Somit sind die Konsequenzen, ein weitgehend unbeschwertes Leben führen zu können, für einen Menschen mit einer Zöliakie andere als für einen Patienten mit einer Hämophilie. Das bedeutet für den Einzelnen, dass die genetische Prägung mit einem Kartenspiel zu vergleichen wäre, mit dem der „Spieler“ innerhalb gewisser Regeln seine „Züge“ wählen kann. Die Zusammensetzung seiner „Karten“ bestimmt die Grenzen seiner „spielerischen Freiheit“. Kurz: Hat man nur „gute Karten“, wird man stets ein Sieger sein. Ein Spieler mit dem schlechteren Blatt wird verlieren, wenn er schlecht spielt. Doch wenn er gut spielt, kann er ebenso gewinnen! Was dies ausmacht, das „Gutspielen“, nämlich andere, bedeutsame Einflüsse in die Überlegungen mit einzubeziehen, ermöglicht uns, die komplexen Zusammenhänge des Lebens besser verstehen zu lernen. Wir brauchen eine erweiterte Sicht auf das Verständnis genetischer und epigenetischer Regulation von Entwicklungs- und Erkrankungsprozessen.

Mit den zunehmend umfassenderen Möglichkeiten der Genforschung hatte man in den letzten zwei Jahrzehnten gehofft, Krankheitsphänomene besser verstehen zu lernen, insbesondere bestimmte Krankheitsbilder den entsprechenden Genorten zuordnen zu können. Das glaubten Wissenschaftler und auch Laien, bis der damalige US-Präsident Bill Clinton am 26. Juni 2000 das erste entzifferte Human-Genom vorstellte.

Die damit verknüpften Erwartungen wichen großer Ernüchterung: Anstatt der erwarteten ca. 300 000 Gene, die für die Vielfalt aller Eigenschaften und Fähigkeiten des menschlichen Organismus verantwortlich sein sollten, fand man lediglich zwischen 22 000 und 28 000 – nicht mehr als z.B. bei einem Fadenwurm! Dieses Ergebnis widerlegte klar die bequeme These des genetischen Determinismus. Man war fest davon überzeugt gewesen, dass mit der Entschlüsselung der genetischen Codierungen, also der postulierten Zuordenbarkeit bestimmter Funktionen und deren Störungen zu bestimmten Genorten für die verschiedensten Krankheitsbilder, der Weg zu einer vollständigen Heilung des kranken Organismus gefunden werde. Die größten Hoffnungen der Mediziner waren wohl auf die Möglichkeit entsprechender genetisch basierter Therapieformen gesetzt worden. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms zerschlug sich diese Hoffnung. Man verfügte nun zwar über einen „Text“ mit rund drei Milliarden Buchstabenpaaren aus den vier Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, doch damit waren die Geheimnisse des menschlichen Bauplans nicht entschlüsselt.

Die Ergebnisse weitreichender genetischer Assoziationsstudien zu chronisch-entzündlichen Systemerkrankungen im Jahr 2014 bestätigten, dass wir nicht von monogen kausalen Zusammenhängen ausgehen können ▶ [101]▶ [271]▶ [233]▶ [114]. Es zeigte sich vielmehr, dass ein komplexes Zusammenwirken verschiedener identifizierter Krankheitsgene und krankheitsassoziierter Regionen besteht. Dies führt zu mannigfaltigen, nicht vorhersehbaren Effekten, die wiederum zur Entstehung anderer entzündlicher und nicht entzündlicher Erkrankungsbilder führen können. Diese pathophysiologischen „Brücken“ zwischen scheinbar völlig verschiedenen Krankheitsbildern wurden im klinischen Alltag der konventionellen Medizin bislang nicht erkannt. Ein Beispiel hierfür wären die Komorbiditäten im Zusammenhang mit der ▶ glutensensitiven Enteropathie.

Außerdem ist inzwischen klar geworden: Gene steuern nicht nur, sondern sie werden auch gesteuert! Weitere, schwer kalkulierbare Faktoren für das Auftreten von Krankheit bzw. die Vorhersage bestimmter Krankheitsverläufe sind nämlich die vielfältigen epigenetischen Einflüsse, die permanent auf uns Menschen einwirken. Unter Epigenetik versteht man die Genaktivität auf zell- und gewebespezifischer Ebene. Durch verschiedene Aktivitätszustände von Steuersequenzen (z.B. Promotor- und Suppressorgene) können große Genomabschnitte „stumm“ oder „aktiv“ geschaltet werden. Epigenetische Codierungen sind jedoch variabel und können sich situativ, z.B. umwelt- und entwicklungsabhängig, ändern. Mit einem besseren Verständnis dieser Einflussgrößen, die zu Veränderungen epigenetischer Konstellationen führen, öffnen sich andere Wege, Krankheitsentstehung und -verläufe zu beeinflussen.

Fazit

Das bedeutet zusammenfassend, dass die Ausprägung bestimmter Merkmale im individuellen Phänotyp ein Ergebnis hochkomplexer Wechselwirkungen ist, an denen DNS, RNS, Proteine und Zellplasma sowie weitere multiple, schwer berechenbare Größen aus der Umwelt des Individuums beteiligt sind. Die Genetik von Systemerkrankungen ist also entsprechend nur selten monogen kausal, sondern vielmehr hochkomplex systemisch verschaltet und reguliert. Nimmt man die Syndrome chromosaler Defekte beiseite, sind die individuellen genetischen Veranlagungen als Risiko anzusehen, nicht als Schicksal. Das seit Langem etablierte organzentrierte Krankheitsverständnis ist auf der Grundlage dieser Erkenntnisse nicht mehr haltbar.

Diese neuen Erkenntnisse zeigen deutlich, dass anstatt der bislang angenommenen krankheitsspezifischen, genetischen Kausalitäten vielmehr eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Größen das Vorhanden- und Verfügbarsein unserer Widerstandsressourcen bestimmt. Dies verdeutlicht der Begriff der individuellen menschlichen Resilienz. Auch dieser Begriff dehnt sich auf alle Ebenen unseres Seins aus. Und hier kommen unweigerlich wieder die Gedanken zur Integrität unseres Menschseins ins Spiel.

1.5.2 Resilienzbestimmende Faktoren

Eine erfolgreiche Abgrenzung unseres Selbst (eigen) gegenüber der Umwelt (fremd) stellt die unbedingte Grundvoraussetzung für die Gesamtheit und volle Funktionsfähigkeit aller Widerstandsressourcen dar. Dabei geht es genauso um die psychische Integrität wie um die Oberflächen des menschlichen Organismus in ihrer Funktion als Grenzfläche. Hier sollte sich das Augenmerk insbesondere auf den größten Bereich richten: die Schleimhaut. Die innere Grenzschicht zur Umwelt hat eine Fläche von ca. 600–800 m2 und übernimmt vielfältige Aufgaben.

Als zusammenhängender Gewebeschlauch durchzieht das Schleimhautorgan den Menschen von der Mundhöhle bis zum After und kleidet auch die Nasennebenhöhlen, die Lunge und den Urogenitalraum mit einer Schutzschicht aus. Überall muss die Unversehrtheit des Organismus gegenüber der Umwelt geschützt werden. Rein physikalisch wäre diese Aufgabe nicht problematisch, wenn man an evolutionäre Lösungen wie einen Schildkrötenpanzer denkt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die größte Grenzfläche des menschlichen Organismus gleichzeitig auch der Ort des innigsten Kontaktes, des Stoff- und Informationsaustausches mit der Außenwelt ist. Ein und dasselbe Organ scheint hier mit der Bewältigung zweier völlig gegensätzlicher Grundprinzipien die Quadratur des Kreises zu beherrschen. Diese Gedanken über völlig Selbstverständliches wirken in ihrer Einfachheit trivial, doch sie machen deutlich, wie außerordentlich wichtig das zuverlässige Differenzieren von Resorption und Ausscheidung, Toleranz und Abwehr, Durchlässigkeit und Barriere an dieser Stelle ist. Wir haben es mit hochselektiven, komplex regulierten Grenzflächenfunktionen zu tun. Und bei noch genauerer Betrachtung wird schnell klar, dass diese obendrein nur zum Teil „körpereigen“ sind. Die lebensnotwendige physiologische Mikrobiota, zwingend zum Menschen gehörend, ist als zweiter Teil unseres biologischen Systems eine weitere, allenfalls ansatzweise verstandene Größe für die oben beschriebene Salutogenese. In Anbetracht dieser Komplexität wird deutlich, wie fragil solch ein System grundsätzlich ist und dass eine unglaubliche Vielzahl potenzieller Störungen hier ihren Ausgang nehmen kann. Bedenken wir allein die bisher bekannten Funktionen und regulativen Prozesse, die mit dem Schleimhautorgan zusammenhängen, kann die Integrität und damit volle Funktionsfähigkeit der riesengroßen, größtenteils nur wenige Mikrometer dünnen Grenzfläche mit Sicherheit als ein ausschlaggebender Faktor für erfolgreiche Resilienz oder eben Entwicklung von Krankheit angesehen werden.

Wir wissen, dass bereits intrauterin die Weichen für die ungestörte Entwicklung all dieser Aufgaben und Fähigkeiten gestellt werden. Schon in diesem Zeitraum innigster Gemeinschaft mit der Mutter – die aber auch hier Eigenschaften auszeichnet, die prinzipiell beide Individuen klar voneinander abgrenzt! – wird in vielen Aspekten über die spätere Konstitution und Fähigkeit zur Resilienz des Kindes entschieden. Die Einflüsse gehen weit über die bekannten Nebenwirkungen von Medikamenten, Alkohol und Drogen hinaus! Die Vermutung, dass das intrauterin heranwachsende Kind z.B. durch die gestörte Immunitätslage einer allergisch reagierenden Mutter bereits gestört wird, konnte durch aktuelle molekularbiologische Untersuchungen bestätigt werden. Daran wird wiederum deutlich, dass nicht nur den genetischen und epigenetischen Einflüssen ein hoher Stellenwert bei der Entstehung atopischer Krankheitsbilder zukommt, sondern gerade auch den besonderen Umstände während der Schwangerschaft. Genauso wichtig ist die Situation der Geburt, die die Basis für eine physiologische Besiedlung mit Mikroorganismen des Neugeborenen darstellt. Dasselbe betrifft die anschließende Neonatal- und Säuglingsphase, in der Organe und Körperfunktionen erst vollständig ausreifen. Das kindliche Immunsystem und die Grenzflächenfunktionen des Schleimhautorgans, allen voran der Darm, sind am Lebensanfang selbstverständlich genauso unreif, wie der gesamte Säugling uns rein äußerlich erscheint! Für die weitere ungestörte Entwicklung ist die ausschließliche Ernährung des Säuglings mit Muttermilch von der Natur vorgesehen. Zu früh verabreichte Lebensmittel nicht humanen Ursprungs führen an der unreifen Grenzfläche mindestens zu Irritationen der Verdauung, wenn nicht zu erheblich weitreichenderen Folgen, auf die später genauer eingegangen wird. Gerade das Stillen ist hier eine entscheidende Größe für den Aufbau der mukosalen/oralen Toleranz. Nur so kann sich das Zusammenspiel der Regulationssysteme entwickeln und können damit optimale Bedingungen für das „Training“ des Immunsystems geschaffen werden: die Entwicklung der sog. mukosalen (synonym gebraucht: oralen) Toleranz, des lebenswichtigen Unterscheidens von „fremd“ und „eigen“, von „gefährlich“ und „harmlos, somit tolerabel“.

Nicht gestillte Kinder haben damit ein erstes „Handicap“. Nicht nur, dass ihnen das in der Muttermilch enthaltene sekretorische Immunglobulin A (sIgA) vorenthalten bleibt, sie müssen sich auch mit artfremder Nahrung auseinandersetzen, die auch nach bester Aufbereitung ungleich schlechter verdaut wird als Muttermilch oder/und zu einer frühzeitigen Sensibilisierung, also Initiierung einer Abwehrreaktion auf artfremde Proteinstrukturen, führt (Kap. ▶ 7.2).

Durchschnittlich „normale“, reale Situationen am und um den Lebensanfang herum können wir nach diesen Überlegungen nun differenzierter betrachten. Das betrifft u.a.

Krankheit der Mutter während der Schwangerschaft

Einnahme von Medikamenten oder Genussgiften (Nikotin, Alkohol, Drogen)

perinatale Medikationen, z.B. Antibiotika, Wehenhemmer u.a.

Kaiserschnittentbindung

Infektionen von Mutter und Kind

ausbleibendes Stillen und damit zu frühe Gabe von Fremdnahrung

Wenn sich also während der Perinatalperiode eine gravierende oder mehrere solcher Störungen ergeben, wird das für die nachfolgende Zeit Auswirkungen auf den Säugling haben müssen. Der Verlauf der Immunogenese ist damit von vornherein mit einem „Handicap“ versehen. Die im weiteren Heranwachsen folgende selbstständige Auseinandersetzung des kindlichen Organismus mit den verschiedensten Störpotenzialen (wie z.B. pathogene Mikroorganismen, Fremdnahrung, potenziell schädigende Luft- und Wasserbestandteile, Medikamente, „passives Rauchen“, Arzneimittel etc.) wird dann entsprechend unterschiedlich verlaufen.

Fazit

Die beschriebenen prinzipiellen Überlegungen zur Unversehrtheit körperlicher Grenzflächen und der Entwicklung unterschiedlicher Resilienzfaktoren auf der Grundlage der Salutogenese nach A. Antonowski unterstreichen, dass „Krankheit“ nicht unbedingt auf das subjektive Krankheitsempfinden reduziert werden darf, das die Lebensqualität des jeweiligen Menschen beeinflusst. Bereits längere Zeit vor dem Auftreten wahrnehmbarer Beschwerden kommen, je nach genetischer Prädisposition und epigenetischen Einflüssen, als Reaktion auf nicht physiologische Umwelt- und Lebenseinflüsse, eine Reihe regulatorischer Vorgänge in Gang. Diese können wiederum, je nach genetischer Prädisposition, für eine Zeitspanne kompensiert werden. Bei Weiterbestehen dieser nicht physiologischen Einflüsse (individuelle Fehlernährung, Lifestyle, Disstress, Toxine, Störungen des Milieus etc.) wird es später unweigerlich zu Manifestationen von Krankheit kommen. In den folgenden beiden Kapiteln (Kap. ▶ 3, Kap. ▶ 4) wird genau auf die anatomischen und physiologischen Grundlagen eingegangen. Damit wird ein Verständnis des komplexen Ineinandergreifens grundsätzlicher Faktoren und verschiedener Effekte möglich, die schließlich zu einer Dekompensation der Regulation und Entwicklung von Krankheit führen können. Diese sind Themen der Kap. ▶ 5, Kap. ▶ 6, Kap. ▶ 7, Kap. ▶ 8, Kap. ▶ 9 und Kap. ▶ 10.

Teil II Die allergische Reaktion – systemische Sichtweise

2 Einführende Gedanken

3 Ein Ganzes – das Schleimhautorgan

4 Grundzüge immunologischer Reaktionsprinzipien

5 Der Mensch – eine symbiontische Lebensgemeinschaft

6 Der biologische Limes: intakte Grenzflächen als Voraussetzung für das Leben

7 Aus dem Gleichgewicht gebracht – Einfluss verschiedener Faktoren auf Grenzfläche, Mikrobiota und immunologische Balance

8 Inflammation (Entzündungsreaktion): ein Rettungsversuch

9 Endstation: die allergische Reaktion aus systemischer Sicht

10 Resümee

2 Einführende Gedanken

Die intensive Beschäftigung mit den Begriffen „Krankheit“ und „Gesundheit“ sowie „Salutogenese“ und „Resilienz“ ändern den Blickwinkel: Anders als mit dem konventionellen, organzentrierten Krankheitsbegriff ermöglichen sie uns, den Menschen als regulatives Ganzes zu erfassen. Das bedeutet jedoch weit mehr, als allgemein angenommen wird.

Die bisherigen, ständig wachsenden Erkenntnisse über das Zusammenleben des Menschen mit der individuell geprägten Mikrobiota werden noch lange Zeit viele Rätsel aufgeben. Immense Wechselwirkungen mit Hilfe wichtiger mikrobieller Signale beeinflussen zunächst unsere Entwicklung und später unser ganzes Sein. Es wird immer wahrscheinlicher, dass die Mikrobiota den alles dominierenden Einfluss auch auf die Funktionen des menschlichen Immunsystems darstellt. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine neue, systemische Sichtweise auf den Organismus Mensch: auf seine Integrität und seine Regulationsfähigkeit, die damit ein neues Verständnis von Entzündung und allergischer Reaktion ermöglicht: Der Mensch ist ein biologisches System, eine symbiontische Lebensgemeinschaft mit Billionen von Mikroorganismen, die maßgeblich direkt oder indirekt wohl an jeder Reaktion seines Organismus beteiligt sind. Wir haben es mit einem diffizilen Zusammenspiel komplex regulierender Faktoren zu tun, die seinen beiden Teilbereichen entstammen. Der Gesamtorganismus, der Holobiont, reagiert stets als Ganzes.

Trotz aller empirischen Erfahrungen, die seit Langem in diese Richtung weisen, wurde diese enorm wichtige Tatsache bisher in keinem der Modelle zur Pathophysiologie entzündlicher und allergischer Reaktionen berücksichtigt.

Dazu werden zunächst einige der bisher bekannten, vielfältigen, komplex regulierten anatomischen und immunologischen Besonderheiten betrachtet, die Entzündungsreaktionen nach dem gängigen Verständnis steuern. Bereits diese lassen schon erahnen, welche Komplexität wohl wirklich dahinterstecken mag, bevor man im Weiteren einen Einblick in die bisherigen Erkenntnisse zur Bedeutung der humanen physiologischen Mikrobiota nimmt.

Von größter Bedeutung für das holobiontische System ist die Funktionalität der menschlichen Oberfläche, der Haut und insbesondere der weitaus größeren inneren Schleimhautgrenzfläche. Für den Grenzraum unseres Organismus mit all seinen darin vorkommenden histologischen Strukturen, Mikroben und verschiedensten Substanzen stellt sie die maßgebliche trennende und damit schützende, aber auf der anderen Seite auch verbindende kommunikative Größe dar.

Das Zusammenspiel dieser bedeutsamen Größen ist fragil und reagiert sensibel auf vielerlei Störfaktoren. Auch wenn die Erforschung der unzählbaren Einflussfaktoren und ihrer wechselseitigen Effekte auf die Interaktionen im Grenzraum und bezüglich des Immunsystems erst in ihren Anfängen steckt, beginnen wir zu begreifen, welche enorme Tragweite sie für die Regulations- und Kompensationsfähigkeit des gesamten Organismus haben. Das Hauptaugenmerk soll hier nun nicht auf die Vielzahl von Toxinen und Schadstoffen gelegt werden, die bereits anderorts vielfach diskutiert sind, sondern eher auf viel grundsätzlichere Problematiken, nämlich diejenigen, die unserer Ernährung und Lebensweise entstammen.

Das universitär akzeptierte Erklärungsmodell zur Pathophysiologie und Klinik der entzündlich-allergischen Reaktion wird bereits durch diese Erkenntnisse schlüssig erweitert, sodass sich daraus auch kausale Therapieoptionen ableiten lassen. Es ist mittlerweile auch Inhalt der aktuellen universitären Forschung, die Grundlagen unserer Regulationsfähigkeit und Resilienz als holobiontisches biologisches System besser verstehen zu lernen.

3 Ein Ganzes – das Schleimhautorgan

3.1 Blastogenese – Embryogenese – Ontogenese

Der Hauptschauplatz einer allergischen Reaktion ist in den allermeisten Fällen die Schleimhaut. Ungleich seltener ist die Haut primär betroffen, beispielsweise bei kontaktallergischen Reaktionen. Die schleimhautassoziierten allergischen Reaktionen betreffen zumeist mehrere Schleimhautabschnitte (z.B. atopische Rhinitis, Konjunktivitis, obstruktive Bronchitis). Die traditionelle, organzentrierte Herangehensweise der konventionellen Therapieansätze zur Behandlung von allergischen oder chronisch-entzündlichen Reaktionen wendet sich stets an die immunologischen Reaktionen an diesen einzelnen Schleimhautbereichen, die durch ihre jeweilige Symptomatik auffallen. Dieses Vorgehen kann niemals einen grundsätzlichen Lösungsansatz darstellen: Wir müssen also umdenken!

Es ist anatomische Tradition, die einzelnen Schleimhautabschnitte bei ihren zugehörigen Organen „abzuhandeln“. Im Lehrbuch oder Atlas der Anatomie stehen so die Schleimhautabschnitte der Nasennebenhöhlen eben an einer ganz anderen Stelle oder gar in einem anderen Band als die enterale Schleimhaut, diese wieder woanders als die Bronchialschleimhaut oder wiederum die urogenitalen Bereiche. Dies ist aus einer systemischen funktionellen Sicht jedoch fatal!

Sämtliche Schleimhautabschnitte des Körpers sind als ein gesamtes Organ zu betrachten. Ihre Herkunft, ihr Aufbau, ist grundsätzlich gleich, sie sind via Lymphsystem, Blutversorgung sowie über die Elemente des Immunsystems und die Innervation eng miteinander verknüpft. Betrachtet man diese Gemeinsamkeiten genau, wird schnell deutlich, dass es sehr viel Verbindendes und nur wenig Trennendes gibt.

Die Entwicklung des Menschen während der Schwangerschaft wird in drei Phasen unterteilt. Die ersten zwei Wochen nach der Befruchtung werden als Phase der Blastogenese bezeichnet. In dieser ersten Periode der menschlichen Frühentwicklung erfolgt der Transport der menschlichen Keimanlage durch den Eileiter und seine Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut. Es folgen viele Zellteilungen, die in das Stadium der kugelähnlichen Blastozyste führen. An einem Pol entsteht eine Zellverdichtung, aus der u.a. das Fruchtwasserbläschen (Amnionhöhle), die embryonale Plazenta und die Keimscheibe hervorgehen. Die Keimscheibe repräsentiert die erste Anlage des embryonalen Körpers des Menschen.

Abb. 3.1 Der Embryo – die kleinste funktionelle Einheit (6. Woche, ca. 8 mm groß).

Die nachfolgende Embryonalperiode dauert von der dritten bis zur achten Schwangerschaftswoche. Das ist die Phase der Organogenese. Der Mensch wird jetzt Embryo genannt ( ▶ Abb. 3.1). In dieser Zeitspanne entwickelt sich auch die Plazenta, die für die weitere Entwicklung lebensnotwendige Funktionen wie Ernährung, Atmung, Hormonbildung usw. sicherstellt. Es folgt von der neunten bis zur 40. Schwangerschaftswoche die Fetalperiode. Sie ist durch Ausdifferenzierung, Wachstum und funktionelle Reifung der einzelnen Organanlagen und Körperteile des Fötus gekennzeichnet und wird mit der Geburt abgeschlossen. Dieser sehr komplexe Vorgang ist nur dann möglich, wenn die Wechselbeziehungen zwischen genetischen und epigenetischen Prägungen einerseits und den zeitlich und örtlich aufeinander abgestimmten Entwicklungsschritten auf der zellulären, geweblichen und organischen Ebene andererseits gewährleistet werden. Sog. Multiprotein Complexes steuern vielfältige Zellaktivitäten, wie den Stoffwechsel, die Kontrolle der Transkription, intrazelluläre Signalwirkungen und das Zusammenwirken der Elemente des Zytoskeletts ( ▶ Abb. 3.5). Sie können auch unterschiedlichste Signale mechanischer oder biochemischer Natur des Kindes oder der Mutter speichern, aufnehmen oder abgeben. Die zeitliche Abfolge sämtlicher Regulationsprozesse und der daraus resultierenden einzelnen Entwicklungsschritte während der Ontogenese sind exakt aufeinander abgestimmt. Bei der Beobachtung dieser Entwicklungsstadien wird auch besonders deutlich, dass die einzelnen Schleimhautabschnitte nicht isoliert voneinander entstehen und reifen, sondern dass diese als „Gewebeschlauch“ ein anatomisches Kontinuum darstellen. Jeder einzelne Schritt im ontogenetischen Entwicklungsprozess ist zugleich Resultat vorangegangener Prozesse und dann wiederum Grundlage nachfolgender Entwicklungen. Insbesondere ist die Bildung der morphologisch dreidimensionalen, funktionell ausgereiften Lebensform eine elementare Grundvoraussetzung, Leben zu gewährleisten. Bereits hier wird deutlich, wie wichtig es ist, gerade im Krankheitsfall die übliche organzentrierte, monokausale Sichtweise zugunsten einer umfassenden Betrachtung möglicher Zusammenhänge aufzugeben.

3.2 Gemeinsamkeiten der einzelnen Schleimhautabschnitte