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Der Fußball ist ein faszinierender Mikrokosmos, in vielerlei Hinsicht aber auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Ausgehend von seinen persönlichen Erfahrungen im Profifußball schlägt Oliver Bierhoff Brücken zu Themen wie Hierarchien, Solidarität, Konkurrenz, Erfolgsdruck und Kommerzialisierung, aber auch Migration und Verantwortung. In diesem Buch geht es Oliver Bierhoff um Perspektivwechsel, Toleranz und Offenheit für verschiedene Wege und Sichtweisen, um ein Ziel zu erreichen.
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Oliver Bierhoff
Spielunterbrechung
Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen
Econ
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Econ ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN: 978-3-8437-0333-8
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012Alle Rechte vorbehaltenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinRedaktion: Gerd König, Peter Rettig
Danke dem Fußball, meiner Familie und Freunden, die mich auf meinem Weg und den Spielunterbrechungen begleitet haben.
Fußball – Mikrokosmos und Spiegelbild der Gesellschaft
Erwartungshaltungen – nicht nur Schneller, Weiter, Höher
Der Umgang mit Druck – die Suche nach der Balance
Teamgeist – keiner ist wichtiger als der Rest zusammen
Hierarchie und Führung – mehr Mut zur Individualität
Motivationsfaktor Geld – hinter die Kulissen zu blicken lohnt sich
Rampenlicht – was es bedeutet, öffentlich zu sein
Integration und Bildung – Potentiale erkennen und nutzen
Ziele und Erfolge – eigene Wege entdecken
Neue Zeiten – Globalisierung und Solidarität schließen sich nicht aus
Spielregeln – das Miteinander verantwortlich gestalten
Spielunterbrechung: Das ist kein Wort, das Fußballfans gern hören. In meinen Jahren als Spieler und Manager jedoch habe ich festgestellt: Der Sinn oder Unsinn einer Spielunterbrechung hängt davon ab, aus welcher Perspektive man sie betrachtet und was man daraus macht. Wenn wir die Rolle des Zuschauers verlassen und zum Akteur werden, ist eine Spielunterbrechung eine äußerst produktive Angelegenheit.
Als früherer Spieler und heutiger Manager der deutschen Fußballnationalmannschaft habe ich Spielunterbrechungen über die Jahre immer mehr zu schätzen gelernt – nicht nur auf dem Fußballfeld. Während des Spiels gibt eine Unterbrechung Spielern und Trainer die Möglichkeit, durchzuschnaufen, sich vom hohen Tempo des Spiels zu erholen. Man hat Zeit, sich untereinander auszutauschen, Gedanken zu sammeln, zu analysieren und taktische Korrekturen vorzunehmen. Meist ist eine durch Foulspiel begründete Spielunterbrechung auf dem Platz zu kurz. Mehr als ein schnelles Zurufen ist da selten möglich.
Fußballspieler kennen aber auch noch andere Formen der Spielunterbrechung, die dem Denken mehr Raum geben. Das sind zum Beispiel die Ruhephasen bei internationalen Turnieren, wenn innerhalb kürzester Zeit Spiel auf Spiel folgt. Die Ruhe nach dem Spiel, allein auf dem Zimmer oder mit den Kollegen am Tisch. Aber auch die Phasen nach einer Sperre oder Verletzung, durch die man kurzfristig aus dem Alltag mit der Mannschaft herausgerissen wird. Diese Pausen außerhalb des Spielfelds geben den Spielern und allen anderen Beteiligten Zeit zum Nachdenken und Reflektieren.
Manchmal sind diese Unterbrechungen sehr einschneidend, etwa wenn es darum geht, dass der Verein gewechselt wird oder die Karriere aufgrund von Alter oder einer massiven physischen Verletzung beendet werden muss. Auch diese Spielunterbrechungen ermöglichen es den Spielern, sich aus dem hohen Tempo und der Alltagsroutine auszuklinken.
Das Leben eines Profifußballers ist von der Notwendigkeit ständiger Präsenz und schneller Leistungssteigerung geprägt. Das bringen die hohen Anforderungen und Ansprüche der Vereine, Medien, Sponsoren, der Öffentlichkeit und – nicht zu vergessen – des Freundes- und Familienkreises mit sich. Allein die Folgen dieses Drucks können freiwillige und unfreiwillige Auszeiten herbeiführen. Leider werden freiwillige Pausen meist noch als Schwächen in diesem »harten Männergeschäft« betrachtet.
Es gibt also verschiedene Spielunterbrechungen: Auf manche würden wir lieber verzichten, andere sehnen wir regelrecht herbei. Eins aber gilt für jede Spielunterbrechung: Sie wird wertvoll, wenn wir sie zu nutzen wissen. Wenn wir uns die richtigen Fragen stellen und herausfinden, was wir aus ihr lernen können.
Ich habe in meiner Zeit als Spieler selbst Spielunterbrechungen erlebt. Und ich habe gelernt, sie zu nutzen. Durch sie habe ich Zeit gehabt zu verstehen, wie ich und meine Umwelt funktionieren, wie ich mich verhalte und was ich in bestimmten Situationen selbst verbessern oder zumindest verändern kann. Wäre ich nicht hin und wieder stehen geblieben oder zum Stehenbleiben gezwungen worden – ich hätte mich nicht umschauen können. Und ich hätte nicht erkennen können, was um mich herum passierte. Dabei habe ich interessante Beobachtungen gemacht und gelernt, Zusammenhänge besser zu verstehen. Ich konnte meine persönlichen Erfahrungen leichter einordnen und habe daraus wichtige Schlüsse gezogen. In Bezug auf manche Themen habe ich durch Spielunterbrechungen sogar meine Einstellung geändert. Das ist wie beim Training. Die Trainingslehre sagt uns, dass der Körper nach einer intensiven Belastung Pausen zur Regeneration und Entwicklung auf eine nächste Stufe braucht. Das Gleiche gilt für den Geist. In unserer heutigen schnelllebigen Zeit mit ständigen Eindrücken, Herausforderungen und Aktivitäten kommen wir geistig selten zur Ruhe. Wann kann sich der Kopf erholen?
Viele Menschen fragen mich, was ich damals, 1996, beim Golden Goal gefühlt habe. Die enttäuschende Antwort ist: gar nichts. Ich war voll auf mein Spiel konzentriert, und hinterher waren die Gefühle so intensiv, dass ich sie erst einige Tage später verarbeiten konnte. In der Spielunterbrechung des Urlaubs, fern von intensiven Eindrücken, die mich davon abgehalten hätten. Alles braucht seine Zeit.
Heute bin ich davon überzeugt, dass es wichtig ist, sich Zeit zu nehmen und diese Auszeiten gezielt zu nutzen. Sie geben unseren Ideen Raum zu reifen. Sie verleihen unseren Entscheidungen die nötige Klarheit.
Spielunterbrechungen können Ausgangspunkt für neue Perspektiven sein. Und diese neuen Sichtweisen und Überlegungen bedürfen einer offenen, toleranten und vorurteilsfreien Geisteshaltung, was ich mit dem Untertitel »Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen« ausdrücken will.
»Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen« – das ist ein Satz, den ich gegenüber Mehmet Scholl geäußert habe. Mehmet hatte mich in der Kabine nach dem Europameisterschaftsfinale in London 1996 mal wieder auf den Arm genommen und mich bei meinen Spitznamen »Speedy« gerufen. Eine halbe Stunde zuvor hatten wir mit einem 2:1-Sieg gegen die Tschechische Republik den EM-Pokal gewonnen, nach 1972 und 1980 zum dritten Mal. Beide Tore erzielte ich, darunter das erste Golden Goal in der Fußballgeschichte.
»Speedy« nannte mich Mehmet, der für seine witzigen, oft ironischen Sprüche bekannt ist, zum ersten Mal beim Training. Eine Anspielung auf meine nicht allzu große Schnelligkeit. Wahrscheinlich hatte ich mal wieder einen Pass von ihm nicht erreicht. Und dann, nach dem Führungstreffer der Tschechen im EM-Finale 1996, war ich in der 69. Minute für – ja, Mehmet Scholl eingewechselt worden. Nach Erzählungen soll er über diese Auswechslung auf dem Weg zur Bank geschimpft haben wie ein Rohrspatz. Der Rest ist Geschichte. Und als wir uns am Ende in der Kabine freudig in den Armen lagen und er mich mal wieder spaßhaft »Speedy« nannte, gab ich ihm diese Antwort: »Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen.«
Trotz offensichtlicher Schwächen kann man also Erfolg haben. Denn es ist möglich, diese Schwächen mit anderen Fähigkeiten zu kompensieren. Etwa genau dort zu stehen, wo andere vielleicht erst noch schnell hinlaufen müssen. Das ist das Schöne am Fußball: Es haben bei ihm große und kleine, langsame und schnelle Spieler Erfolg, technisch versierte und solche, die vor Energie sprühen und am liebsten immer vorpreschen. Im Leben außerhalb des grünen Rasens ist es meiner Meinung nach nicht anders. Es gibt erfolgreiche Menschen, die eine Bilderbuchausbildung genossen haben und deren Weg vorgezeichnet war. Wenn man die Biographie von John F. Kennedy liest, entsteht der Eindruck, dass er einfach Präsident der USA werden musste. Andere wiederum erzielen größte Erfolge gegen alle Widerstände mit Autodidaktik, Visionen und unkonventionellen Methoden. Steve Jobs ist dafür ein gutes Beispiel. Mit seiner Leidenschaft für Technologie, Innovation und Design ist er ohne Studienabschluss zum Pop-Star des Silicon Valley aufgestiegen, spektakulär gescheitert, nur um bei Pixar mit »Toy Story« ein neues Zeitalter der Animationsfilme einzuleiten und nach seiner Rückkehr zu Apple unser aller Leben endgültig zu revolutionieren.
Bei einer Spielunterbrechung gilt es aber nicht nur darum innezuhalten und nachzudenken, sondern dies auch mit Toleranz und Offenheit für die verschiedenen Wege und Seiten des Lebens zu tun. Häufig urteilen wir schon im Voraus, ohne weitere Kenntnisse, bewerten, wie oder was jemand ist, wie er etwas macht oder erreicht. Nicht selten denken wir in Kategorien von Schwarz und Weiß, anstatt die vielen Schattierungen dazwischen zu sehen, die uns möglicherweise ganz anders urteilen lassen würden. Während der EM-Zeit 1996 erfuhr ich durch Mehmet und durch andere, dass die Grauzonen zwischen »Speedy« und dem Golden Goal wahrgenommen wurden. Ich hatte das Glück, dass ich durch meinen Erfolg Vorverurteilungen widerlegen konnte. Zumindest wurden sie hinterfragt.
So ist es oft, im Fußball wie im Leben: Unsere wichtigsten Lektionen müssen wir uns selbst erarbeiten. Mit unserer ganzen Persönlichkeit müssen wir uns dahinterklemmen, wenn wir Vorurteile überwinden und Veränderungen erreichen wollen. Doch ohne persönliche Beispiele, ohne die Impulse von anderen würde uns vieles verschlossen bleiben. Immer wieder habe ich festgestellt, dass sich meine Begegnungen und Erkenntnisse in der Welt des Fußballs auch auf mein Privatleben auswirkten. Insofern kann ich sagen: Der Fußball mit all seinen Facetten gilt für mich als Schule des Lebens.
Viele meiner Beobachtungen, Erfahrungen und Schlussfolgerungen habe ich aufgeschrieben. Diese Sammlung von Eindrücken und Gedankenspielen habe ich über die Jahre durch Zeitungsartikel und Zitate aus Büchern ergänzt, die meine Ansichten spiegelten oder auch erweiterten. Im Laufe der Zeit ist eine stattliche Anzahl von Notizen zusammen gekommen. Daraus ist dieses Buch entstanden, mit dem Anspruch, Impulse zu setzen – und zwar über den Fußball hinaus. Auch wenn ich in einigen Punkten deutlich Stellung beziehe und eine klare Meinung habe, bedeutet das nicht, dass es nicht auch eine andere Seite gäbe. Platon, der griechische Philosoph, schrieb in der Apologie des Sokrates: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Im Fußball können wir erleben, was alles möglich ist.
Keineswegs will ich endgültige Ansichten formulieren, denn so etwas gibt es nicht. Meine Überlegungen sollen Ausgangspunkte sein, Spielunterbrechungen für eigene Gedanken und Schlussfolgerungen.
Da der Profifußball seit nunmehr über 26 Jahre meine berufliche Heimat ist, spielt er naturgemäß eine wesentliche Rolle in diesem Buch. Oft als die wichtigste Nebensache der Welt tituliert, ist Fußball für mich und viele andere mehr als nur ein Spiel. Millionen von Menschen in Deutschland fiebern mit ihren Lieblingsvereinen und mit der Nationalmannschaft.
In diesem Buch möchte ich Sie dazu einladen, mehr über den Fußball zu erfahren, als normalerweise in den Medien publiziert wird. Denn hinter allem Glanz, Professionalismus und Leistungsstreben wird der Fußball von Menschen gelebt, die genauso funktionieren wie die meisten Menschen in diesem Land. Wenn ein Mario Gomez während der Europameisterschaft 2012 unter der Gürtellinie kritisiert und fertiggemacht wird, fühlt er sich genauso ungerecht behandelt wie ein Angestellter, der von seinem Chef gemobbt wird oder jemand, der vor der Belegschaft bloßgestellt wird. Da helfen ihm kein Starkult und auch kein hochdotierter Vertrag.
Vor allem wünsche ich mir, dass Sie sich bei der Lektüre dieses Buches auf die Sportart Fußball einmal aus einer ganz anderen Perspektive einlassen: auf den Fußball als Mikrokosmos, in dem sich viele Themen unserer Gesellschaft bündeln.
Doch taugt der Fußball tatsächlich als Spiegelbild der Gesellschaft? Ist er wirklich ein Mikrokosmos, der für Analogien zum »normalen« Leben herhalten kann? Ich glaube ja, wenn wir ihn sachlich betrachten und uns von den oberflächlichen Schlagzeilen und Stammtischparolen weg bewegen. Denn letztendlich kommt im Fußball eine Gruppe von Menschen zusammen, die ein gemeinsames Ziel verfolgt und trotz all der unterschiedlichen Persönlichkeiten und Charakteren funktionieren muss. So wie eine Familie im Kleinen, eine Abteilung, ein Unternehmen oder, im Großen, unsere Gesellschaft. Im Fußball spielen Teamgeist, Werte, Leistungsdenken, Regeln, Toleranz, Bildung und Integration genauso eine Rolle wie im Leben aller Menschen. Sie werden nur öffentlich und unter emotionalen Gesichtspunkten bewertet und damit von den Beteiligten intensiver erlebt.
Der Sport und sein in Deutschland prominentestes Spiel sind nicht besser und nicht schlechter als die Gesellschaft, in der es fest verwurzelt ist – auch wenn es sich seine eigenen Regeln gegeben hat. In ihm finden wir viele Aspekte und Probleme des täglichen Lebens. Es hat aber, vor allem durch seine mediale Aufbereitung, eine neue Dimension erreicht. Es ist zu einer mächtigen Einflussgröße geworden, zu einem Milliardenspiel, einem gesellschaftlichen Faktor und Multiplikator in vielerlei Hinsicht. Fußball ist längst hinausgewachsen über die ihm einst zugedachte Rolle eines einfachen Spiels. Er ist nicht mehr nur die »schönste Nebensache der Welt«. Fußball ist Kampf und Kommerz, Wirtschaft und Wissenschaft, Gewalt und Fairplay, Treue und Trotz, Unterhaltung und Emotion, Ursache und Wirkung. Er kennt Helden und Versager, Gewinner und Verlierer, Arme und Reiche, Schein und Sein, Egoismus und Teamgeist. Für manche ist Fußball die Welt. Diese Intensität, mit der der Fußball erlebt wird, macht ihn so besonders – für die Protagonisten und auch die vielen Fans und Freunde des Fußballs.
Der Sport, gerade der Leistungssport, ist eine ganz besondere Schule. Wo sonst scheint so viel auf dem Spiel zu stehen, haben Millionen Einblick in die Welt von wenigen und nehmen Anteil an Schritt und Tritt einzelner Akteure? Jeder möchte sein Stück vom Kuchen haben: Medien, Wirtschaft, Politik – die gesamte Gesellschaft. Die Welt des Sports ist ein Konzentrat. Es werden Leistungen erwartet und abgerufen mit einem Startschuss, einem Sprung, einem Pfiff. Die Arbeit von Tagen, Monaten oder Jahren wird reduziert auf diesen einen Augenblick. Diese Fokussierung ist spannend, herausfordernd und belastend für alle Beteiligten, egal ob aktiv oder passiv. Denn hier schlägt Hoffnung und Erwartung so schnell um in Entsetzen, Enttäuschung, Jubel, Freude, Trauer wie in kaum einem anderen Lebensbereich.
Besondere Fähigkeiten mögen in jungen Jahren bei den Spielern erkannt, gefördert, gelernt, trainiert und automatisiert werden. Doch gerade der Fußball zeigt, dass es darauf für den Erfolg erst in zweiter Linie ankommt. Vor allem gilt es Teamgeist, Hingabe, Leidenschaft zu leben, ein Teil zu sein des großen Ganzen, seine Talente und Stärken einzusetzen. Die Begabungen in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Das verlangt Bescheidenheit, manchmal sogar Demut. Es verlangt Charakter. Es ist manchmal schwerer, ein zufriedener, verlässlicher Teil des Orchesters zu sein, als die erste Geige zu spielen.
Fußball ist ein hoch komplexes System, das doch stets nachvollziehbar und fühlbar ist – mit einem Wort: greifbar. Fußball ist eine Plattform, auf der sich Millionen treffen, um über ihn zu diskutieren. Jeder hat eine Meinung, jeder ein Urteil, sehr viele spielen selbst Fußball oder haben einmal gespielt. Es ist ein Gemeinschaftserlebnis, das zugleich jeder für sich verarbeitet. Es ist eine eigene Welt, die unerreichbar scheint und dennoch verwurzelt ist in dieser Gesellschaft.
Nicht nur in der Wirtschaft werden immer wieder Metaphern, Vergleiche oder Bilder aus dem Sport bemüht, um scheinbar Abstraktes verständlich zu machen. Egal wie komplex die Zusammenhänge sind, wie undurchdringlich die Strukturen – es scheint immer ein Äquivalent aus der Welt des Sports zu geben.
Im Gegensatz zu vielen anderen Theorien und Metaphern bietet uns Fußball einen direkten, verständlichen Zugang zu vielen Themen. Fußball hat eine ungeheure Anziehungskraft. Über Fußball kommt man leicht ins Gespräch – das stelle ich immer wieder fest, wenn ich mich mit Menschen über ganz andere Themen unterhalte. Viele Zusammenhänge lassen sich leichter erschließen, wenn man Fußball als Erklärungshilfe einsetzt. Bei Vorträgen sehe ich oft augenblicklich Kopfnicken, wenn ich entsprechende Vergleiche heranziehe. Jeder weiß sofort, worüber ich spreche, kann meine Gedankengänge offensichtlich besser nachvollziehen. Egal ob ich mit Managern, Politikern, Angestellten, Arbeitern oder meinen Nachbarn spreche, der Fußball schlägt Brücken.
Vor allem jedoch ist Fußball ein leidenschaftliches Thema. Mit Bildern und Vergleichen aus dem Fußball können wir Emotionen anzapfen. Dadurch werden nicht nur Sachverhalte besser verständlich – wir können auch ihre Bedeutung besser einordnen und uns für sie begeistern. Diese Begeisterung für eine gemeinsame Leidenschaft kann Menschen verbinden. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland hat es eindrucksvoll bewiesen: Der Mikrokosmos Fußball kann die Gesellschaft näher zusammenrücken lassen, ihr sogar eine neue Identität geben. Seit der WM 2006 werden Deutschland und vor allem »der Deutsche« in der Welt anders wahrgenommen.
Solidarität und soziale Verantwortung sind Teile des Profifußballs, auch wenn der teilweise gnadenlose Wettbewerb und der Erfolgsdruck eines kommerziellen Geschäfts offensichtlicher sind. Das ist eine Realität, die sehr viele aus dem Berufsleben kennen. Diese beiden grundverschiedenen Seiten ein und derselben Sache im Blick zu behalten, gewährleistet erst das Ganze, gewährleistet einen Zusammenhalt – als Fußballteam, als funktionierende Gesellschaft. Ähnliche Parallelen sind zu entdecken, setzt man sich mit Hierarchien und Führungsstilen auseinander, mit dem Verhältnis von Individualität und Mannschaftsgeist, mit Regeln, im weitesten Sinne mit Spielregeln. Auch darum geht es in diesem Buch.
Unbestritten ist die Relevanz des Fußballs in der deutschen Bevölkerung. Fußball ist bei uns omnipräsent. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) zählte 2012 6,8 Millionen Mitglieder. In Deutschland gibt es mehr als 26000 Fußballvereine mit ca. 170000 Mannschaften. An jedem Wochenende finden zwischen 70000 und 80000 Fußballspiele statt, geplant, organisiert und durchgeführt von etwa einer Million ehrenamtlicher Mitarbeiter.
35 Millionen Menschen in Deutschland verfolgen regelmäßig das Bundesliga-Geschehen. Bei internationalen Turnieren steigt diese Zahl im Durchschnitt auf sagenhafte 60 Millionen; das entspricht etwa drei Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung. Der Stadionbesuch wird mehr und mehr zu einem Event und interessant für alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen, der Fußball ist repräsentativ geworden.
Längst sind auch die Zeiten vorbei, als Fußball eine reine Männersache war, fast die Hälfte der Frauen in Deutschland ist fußballinteressiert, als Zuschauerinnen oder Aktive: Nicht zuletzt die Erfolge der deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft haben auch unter weiblichen Fans eine breite Basis geschaffen und immer mehr Mädchen finden den Weg in den Fußball. Damit prägt der Fußball nicht mehr nur die Kindheit und Jugend vieler Jungen, sondern ist auch für immer mehr Mädchen die Freizeitbeschäftigung ihrer Wahl.
Neben seiner gesellschaftlichen Dimension ist Fußball heute auch ein ernstzunehmender und lukrativer Wirtschaftszweig. Die Unternehmensberatung McKinsey hat in einer Studie herausgefunden, dass der Profifußball in Deutschland eine Wertschöpfung von 5 Milliarden Euro erzielt, 110000 Menschen beschäftigt und dem Staat jährliche Steuereinnahmen von 1,5 Milliarden Euro beschert. Nicht nur die Vereine und Ligen sind prosperierende Unternehmen. Mannschaften sind heute durchorganisiert wie moderne Firmen. Der Fußballprofi ist seit einigen Jahren weit mehr als nur ein Leistungssportler. Hinter dem Erfolg stecken auch konsequente Karriereplanung, beinharte Disziplin, zeitliche und finanzielle Investitionen in die eigene spielerische Qualität, ein Leben in der Öffentlichkeit und das permanente Ausreizen der eigenen Leistungsgrenzen – nicht nur auf dem Platz, sondern auch hinter den Kulissen.
Ob Sport, Gesellschaft oder Wirtschaft: Fußball ist ein Mikrokosmos unserer Gesellschaft, aus dem wir viel lernen können. Weil ich mich in jungen Jahren für den Fußball entschieden habe, ist er zu meinem Hauptzugang für viele Lebensthemen geworden. Und diesen Zugang möchte ich mit diesem Buch auch Ihnen öffnen.
Für mich persönlich war die Arbeit an diesem Buch immer wieder genau das, was auf dem Titel steht: eine Spielunterbrechung. Es ist immer gut innezuhalten und Fragen zu stellen, zu reflektieren und nach Antworten zu suchen. Luft holen, seine Positionen immer wieder justieren, Neues aufnehmen, Bewährtes etablieren: Das hat für mich sehr viel mit Bodenständigkeit zu tun. Es ist ein stetes Bewusstwerden darüber, woher man kommt. Es ist die Suche nach einer Mitte, nach sich selbst, nach Authentizität. Es ist die Suche nach der eigenen Position auf dem Platz und im Leben, ohne dafür hektisch herumlaufen zu müssen. Es ist ein Wechsel der Perspektive. Aber klar ist auch, dass es danach weitergehen muss. Manchmal in noch höherem Tempo. Durch eine Spielunterbrechung und eine erweiterte Sichtweise ist man allerdings besser für das hohe Tempo gewappnet. Man hat sozusagen einen zusätzlichen Gang eingebaut.
Mit seiner gesteigerten Bedeutung hat der Fußball der Gesellschaft neue Werte gegeben und alte neu aufleben lassen. Der Fußball mit seiner Kraft tritt ein für Minderheiten, für Schwache, er macht sich stark gegen Ausgrenzung und Vergessen. Er vermochte der Gesellschaft in jüngerer Vergangenheit sogar ein anderes Selbstverständnis zu vermitteln. Manchmal gar taugt er als Vorbild für eine gesellschaftliche Entwicklung. Bisweilen aber auch als abschreckendes Beispiel. Dann bringt der moderne Fußball Auswüchse hervor, die man vorher in dieser Form nicht kannte und die wir, wo es nur geht, unterbinden müssen.
Für mich persönlich ist Fußball mehr als mein Beruf, mehr als meine Karriere, mehr als meine Leidenschaft: Er hat mein Leben geprägt, mir einmalige Erlebnisse und Gefühle beschert, und dafür bin ich unglaublich dankbar. Ohne Fußball wäre ich zweifellos ein anderer Oliver Bierhoff geworden. Und dennoch: Zu ändern vermag der Fußball die Gesellschaft immer nur in Ansätzen. Handeln müssen wir auch jenseits des Platzes. Impulse umzusetzen, Vorlagen zu verwandeln, das bleibt unsere Aufgabe, ja unsere Pflicht. Der Fußball ist und bleibt, was auch seine Bedeutung in diesem Buch ausmacht: ein Mikrokosmos.
Der Mensch strebt seit jeher danach, Rekorde aufzustellen oder zu brechen. Es liegt uns im Blut, uns mit anderen zu messen – wir wollen Meisterleistungen präsentieren und besser sein als andere vor uns. Dieser Antrieb hat uns dahin gebracht, wo wir heute sind: Die Entwicklung zu einer leistungsorientierten Gesellschaft in ständigem Wachstum hat uns Wohlstand und relative Sicherheit beschert. Der Homo sapiens will nicht stehen bleiben, nicht still stehen – seit der Antike liefert uns die Philosophie mit der Kategorie des Guten immer neue gedankliche Rechtfertigungen des Besseren.
Aktuell hat man jedoch den Eindruck, dass der Wunsch nach einem Schneller, Weiter und Höher nicht mehr selbst gewählt, sondern zu einem gesellschaftlichen Zwang geworden ist. Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, Ziele erreichen, die meist fremdbestimmt sind. Gesellschaftliche Erwartungen und wirtschaftliche Anforderungen diktieren unser Leben in vielen Bereichen. Unser Selbstwertgefühl hängt davon ab, ob wir unsere Ziele erreichen, und auch andere bewerten uns nach unseren Ergebnissen.
Im Sport werden immer wieder Höchstleistungen erzielt. Er lebt davon. Nichts wird mehr diskutiert als die Sensation, dass jemand einen Weltrekord gebrochen hat, besonders wenn der neue Champion aus dem eigenen Land stammt. Es gilt, auf dem Treppchen zu stehen, unter den Gewinnern zu sein. Alle Leistungssportler stehen deshalb unter einem ständigen inneren Druck. Teils ist er hausgemacht, durch die eigenen Ansprüche und Zielsetzungen oder einen übertriebenen Ehrgeiz. Man kommt erst an die Spitze, wenn man über Jahre mit großem Ehrgeiz, Entschlossenheit und Disziplin seine Ziele verfolgt hat. Auf der anderen Seite stehen die Erwartungen der Fans, der Trainer, der Sponsoren und der Medienvertreter.
Weil er in Deutschland und vielen anderen Ländern die Sportart Nummer 1 ist, ist der Druck auf die Protagonisten im Fußball besonders hoch. Das öffentliche Interesse an ihren Leistungen ist deshalb so stark ausgeprägt, weil die wöchentlichen Spiele in der Bundesliga und die Länderspiele ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden sind. So sehr, dass die Spiele vom Gesetzgeber als »öffentliches Gut« bewertet werden und im Free TV für jeden Deutschen zu sehen sind. Erschwerend kommt beim Profifußball hinzu: Die Sportler müssen sich im Gegensatz zu vielen anderen Disziplinen elf Monate im Jahr einem wöchentlichen Wettbewerb stellen. Möglichkeiten für Pausen, für ein Durchschnaufen und Sammeln neuer Kräfte gibt es kaum. Die Spannung und Anspannung bleibt das ganze Jahr über auf einem hohen Niveau.
Mittlerweile ist der Profisportler so »gläsern« geworden, dass es für ihn so gut wie keine Schlupflöcher mehr gibt. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die ständige Kontrolle und Bewertung durch »Außenstehende« zu akzeptieren und mit diesem Druck zu leben. Ist also die Fähigkeit, mit Druck umzugehen, eine unabdingbare Eignungsvoraussetzung für einen Profifußballer? Oder zumindest ein Qualitätsmerkmal?
Gerhard Mayer-Vorfelder, einstiger Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und heutiger Ehrenpräsident, sagte einmal zum Thema Erwartungshaltungen: »Wer die Hitze nicht vertragen kann, darf nicht Koch werden.« Er hatte mit seiner Bemerkung im doppelten Sinne recht: Der Leistungsdruck und spezifische Anforderungen sind nicht auf den Leistungssport begrenzt. Man sollte nicht Verkäuferin werden, wenn man den permanenten Umgang mit anderen Menschen als Störfaktor erlebt. Wenn man sich scheut, Entscheidungen zu treffen oder Risiken einzugehen, dann ist man als Führungskraft fehl am Platz, auch als Unternehmer wird man über kurz oder lang scheitern. Es wäre sicherlich fatal, wenn ein nervöser Mensch mit zittrigen Händen ausgerechnet Chirurg wird.
Der Faktor Zeit – Maximalleistung auf Abruf in kürzester Zeit – ist eine Dimension von Leistung. Eine andere ist Qualität, also der inhaltliche Anspruch an unsere Leistungen. Wer nur schnell läuft, aber keine Tore schießt, entspricht sicherlich nicht den Leistungsanforderungen eines Fußballstürmers. In Italien spielte ich mit Florin Răducioiu. Ein pfeilschneller Spieler, leider mit geringem Killerinstinkt. Einige erinnern sich vielleicht noch an seine kurze Stuttgarter Zeit. In Italien wurde er Chancentod genannt, und man machte sich im Fernsehen einen Spaß daraus vorzuführen, wie er reihenweise die Chancen vergab. Seine Geschwindigkeit konnte eines leider nicht verbessern: sein Ergebnis.
Es geht heute mehr als früher für immer mehr Menschen nicht mehr nur um Konstanz, sondern um ein Vorankommen im Ergebnis: Eine ständige Selbstoptimierung ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Schneller, Weiter, Höher. Von der zweiten Mannschaft in die erste Mannschaft. Von der Ersatzbank in die Stammelf. Vom Co-Trainer zum Cheftrainer, von der 2. Bundesliga in die 1. Bundesliga. Vom Profifußballer zum Nationalspieler. Was für den Fußball gilt, gilt auch für das Arbeitsleben allgemein: Wer ein Taxi hat, möchte ein zweites für sein Unternehmen, wer ein Geschäft betreibt, möchte es vergrößern oder strebt die Eröffnung einer zweiten Filiale an. Wer angestellter Friseur ist, möchte sich selbständig machen. Viele Mitarbeiter wollen Führungskräfte werden. Der Abteilungsleiter schielt auf den Posten des Hauptabteilungsleiters. Selbst an der Spitze scheint es immer noch weiter nach oben zu gehen: Was ist man als Vorstandsvorsitzender wert ohne das ein oder andere Aufsichtsratsmandat?
Der Managementberater Reinhard K. Sprenger hat das Aufstiegsdilemma sinngemäß so beschrieben: Wer den besten Schraubendreher zum Chef der Schraubendreher macht, hat potentiell zwei Probleme: einen fähigen Schraubendreher weniger und eine schlechte Führungskraft mehr. Es scheint häufig so, dass viele Menschen solange schneller, weiter und höher wollen, bis sie scheitern und – oft zu spät – ihre Grenzen erkennen. Es muss den fähigen Schraubendreher geben, den Angestellten beim Friseur, den Taxifahrer, die Kassiererin im Supermarkt, den Zweitliga-Trainer, den Co-Piloten und den Co-Trainer. Brauchen wir die etwa nicht genauso?
Der Leistungsgedanke hat sich über Jahrhunderte hinweg, ganz besonders aber seit der Phase des Turbo-Kapitalismus, intensiviert. Er ist ins Zentrum unserer Bemühungen gerückt und für viele zur Richtschnur ihres Lebens geworden. Wir stehen ständig im Wettbewerb mit anderen Menschen, mit anderen Unternehmen und durch die Globalisierung sogar mit der ganzen Welt.
Es hat sich aber nicht nur die geographische Ausdehnung und der Umfang des Wettbewerbs im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert, sondern vor allem seine Geschwindigkeit, seine Intensität und die damit verbundenen Anforderungen. Nicht nur die Anzahl der täglich zu verrichtenden einzelnen Tätigkeiten ist seit der Industrialisierung ständig gestiegen; auch die Komplexität unseres Handelns nimmt ständig zu.
Zu spüren ist diese Entwicklung auch bei uns in der Nationalmannschaft. Wir verfügen heute über die Möglichkeit, mit Hilfe mehrerer Kameras in den Stadien wichtige statistische Werte zu ermitteln, die den Trainern früher nicht zur Verfügung standen. Diese Daten sind messbare Rückmeldungen für uns. Wie viel und wie schnell läuft ein Spieler? Wie lange braucht er, um den Ball zu verarbeiten? Welche Werte hat etwa ein Iniesta oder Ronaldo im Vergleich zu unseren Spielern? Im Laufe unserer Arbeit seit 2004 haben wir es zum Beispiel geschafft, bei unseren Spielern die Ballkontaktzeit am Fuß, also die Zeit vom Ballgewinn bis zum Torabschluss, stark zu senken. Gleichzeitig wurden Anzahl und Distanzen der Sprints gesteigert und das Spiel ohne Ball optimiert. Unsere Trainer legen großes Augenmerk auf die Arbeit in diesem Bereich, denn nur auf diese Weise können wir Spielkultur, Ausdauer und Geschwindigkeit immer weiter steigern und im internationalen Vergleich bestehen. Der Aspekt der Handlungsschnelligkeit spielt also eine große Rolle.
Angesichts dieser unablässigen Steigerung der Anforderungen stellt sich natürlich die Frage: Wann ist es genug? Und wie kann man dagegen angehen, dass es immer noch schneller, weiter und höher sein muss? Dass die ständig wachsenden Erwartungen die alleinigen Kriterien für Qualität und Leistung bleiben? Wir dürfen, wir sollen uns fragen: Darf der Wert des Einzelnen oder eines Teams in unserer Gesellschaft nur an einem Höher, Schneller und Weiter festgemacht werden? Die Antwort muss ein entschiedenes Nein sein.
Unsere Gesellschaft prämiert die Besten, die Größten, die Intelligentesten; diejenigen also, die maximale Leistungen erbringen. Oft werden dabei nur quantitativ messbare Leistungen berücksichtigt. Es wäre notwendig, die Vorstellungen von dem, was wir unter Leistung verstehen wollen, generell zu überdenken. Es ärgert mich jedes Mal, wenn in Talkshows immer nur Führungskräfte als Leistungsträger genannt werden. Auch eine Krankenschwester, ein Handwerker, also der Großteil der in unserer Gesellschaft arbeitenden Menschen sind Leistungsträger. Nicht anders verhält es sich bei dem sogenannten »Wasserträger« für den Spielmacher in einer Fußballmannschaft. Nicht jeder muss oder kann immer Ergebnisse erzielen, die eine Schlagzeile wert sind. Und es gibt zahllose Menschen, die diese Höchstleistungen nicht aufbringen können oder auch nicht aufbringen wollen und die dennoch täglich einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten.
Ich nehme mich von der gesellschaftlichen Entwicklung nicht aus: Als wettbewerbsorientierter Mensch, der ich bin, aber auch als Leistungssportler, der ich lange Jahre war, bin ich daran gewöhnt, die erzielten Ergebnisse immer wieder zu toppen. Ich gehe ganz selbstverständlich davon aus, dass das Tempo ständig steigt. Entschleunigung im sportlichen Wettbewerb zu fordern, in dem es per Definition um ein Schneller, Weiter und Höher geht, erscheint fast schon absurd. Und doch lohnt es sich, diesen Gedanken aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten – sogar in Bezug auf den Leistungssport.
Der britische Coach Robert Holden hat dazu in einem Buch mit dem Titel »Success Intelligence« interessante Ansätze formuliert. Was sich anfangs wie ein Erfolgsratgeber darstellt, offenbart sich im Laufe der Lektüre als eine Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft. Holden charakterisiert sie als »manisch«, denn sie zeichne sich weniger durch Intelligenz aus als durch eine extreme Aktivität, hohe Impulsivität sowie eine schnelle Sprache und ebenso schnelle Gedanken. Und da wir immer vorn mitspielen wollen, haben wir dieses exzessive Tempo angenommen, darüber aber vergessen, was die eigentlich wichtigen Dinge im Leben sind. Holden zieht daraus seine Schlussfolgerungen und fordert ein Ende von Rationalisierungswahn und Aktionismus: Wir sollten damit aufhören, überall danach Ausschau zu halten, wo wir Zeit sparen können. Stattdessen sollten wir damit beginnen, die Zeit besser zu nutzen.
Dass unsere Gesellschaft beim Thema Schnelligkeit und Aktionismus geradezu manisch ist, muss ich hin und wieder auch an mir selbst feststellen. Im Durchschnitt fliege ich zwei- bis dreimal die Woche durch Deutschland, meistens zwischen München und Frankfurt. Eine absolute Businessfliegerstrecke – die Maschinen sind voll mit ernsten, auf ihre Aufgaben fokussierten Menschen in blauen oder grauen Anzügen oder Kostümen. Von meiner Assistentin Heike Dahl, Meisterin der Zeiteffizienz und des Organisierens, habe ich meine Bordkarte im Blackberry. Die Abläufe sind eingeübt: Ich versuche, auf dem Flughafen erst kurz vor dem Boarding anzukommen, um Zeit einzusparen: am besten direkt von der Sicherheitskontrolle in den Flieger. Es ist eine Frage der beruflichen Ehre für Heike Dahl, mich in einer der vordersten Reihen zu platzieren, damit ich die Maschine nach Erreichen der Parkposition möglichst schnell verlassen kann. Wenn ich nicht gerade Geschäftsfreunde oder Bekannte treffe und mich mit ihnen austausche, bin ich darauf konzentriert, noch die letzten E-Mails in meinem Blackberry zu lesen. Der muss dann für den Start ausgeschaltet werden, dafür kann ich aber nach dem Abheben meinen Laptop anmachen, um noch eine Präsentation zu bearbeiten. Nach der Landung wird das Handy noch während des Anrollens zur Parkposition eingeschaltet, um die neuen E-Mails zu checken. Ein kurzes »Auf Wiedersehen« zur netten Flugcrew, und noch auf dem Weg zum Ausgang telefoniere ich schon wieder und kündige irgendwo meine Ankunft an.
Zugegeben, diese Beschreibung ist ein bisschen zugespitzt – zum Glück verlaufen nicht alle meine Flüge so. Aber immer wieder muss ich rationalisiertes Verhalten in dieser Ausprägung auch an mir feststellen. Wenn ich mich dabei ertappe, heißt es, das Spiel zu unterbrechen und innezuhalten. Was ist jetzt eigentlich wichtig und was muss ich tun, um meine Aufgaben gut und effektiv zu erfüllen? Was bringt mich weiter? Dabei finde ich gar nicht die Dichte der Beschäftigungen an sich schlecht, sondern eher den Eindruck des Gehetztseins. Dieser permanente Impuls, dass wir selbst in unserer freien Zeit schnell noch etwas erledigen müssen, ist inzwischen tief in uns verankert. Er lässt sich, wie mir scheint, von unserem Denken nicht mehr zu jeder Zeit steuern.
Der Soziologe Hartmut Rosa, der an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena lehrt, hat sich mit den veränderten Zeitstrukturen auseinandergesetzt und die These formuliert, dass die Geschichte der Moderne eine Geschichte der Beschleunigung ist. Entsprechend zweifelt er daran, dass wir zu einem echten Innehalten überhaupt noch in der Lage sind. Er ist der Meinung, dass »wir Menschen nicht nur immer mehr wollen und brauchen, sondern schon zum Erhalt des Status quo auf Wachstum angewiesen sind«. Rosa nennt das »dynamische Stabilisierung«.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er recht hat. Wie sehr wir in unserer beschleunigt-manischen Welt Zeit sparen wollen, spüren wir auch daran, wie sich unsere Kommunikation verändert hat – zum Beispiel am Telefon. Früher rief man an und fragte einleitend: »Hallo, wie geht es dir?« Heute heißt es nur knapp: »Wann bist du hier?« Oder: »Kannst du noch schnell …«
Und gab es einst nicht auch Tageszeiten, zu denen man nicht anrufen sollte oder durfte? Ich weiß noch, dass meine Mutter mich ermahnte, morgens nicht vor 10 Uhr oder in der Mittagszeit bei jemandem anzuläuten. Heute wundert sich jeder, wenn man um 13 Uhr mal nicht an sein Handy geht. Mittagspause, was war das noch mal? Ich habe diese Entwicklung oft mit meiner Frau Klara diskutiert, und irgendwann trafen wir den Entschluss, während des Essens keine Anrufe mehr anzunehmen, um in Ruhe das Essen und die gemeinsamen Gespräche zu genießen. Elvira Netzer, die charmante Ehefrau von Günter Netzer, berichtete mir einmal von ihrem Trick, damit ihr Mann während des Essens zu Hause nicht ans Telefon ging. Günter Netzer mag nach außen mit einer gewissen Trägheit kokettieren, doch in Wahrheit ist er ein sehr fleißiger Mensch – sonst wäre er auch nicht da, wo er heute ist. Von ihrem Mann unbemerkt zog Elvira Netzer zur Essenszeit einfach den Telefonstecker aus der Wand. War die Mahlzeit beendet, durfte es wieder klingeln. Auch das ist eine Methode, um zwischendurch mal für Ruhe zu sorgen – in Zeiten des Mobilfunks nur leider weniger praktikabel.
Denken wir an Schnelligkeit im Zusammenhang mit Fußball, zielt das erst einmal auf die Physis ab. Ohne auf dem höchsten Tempo agieren zu können, kann man in der Weltspitze nicht mehr bestehen. Daher müssen sich Fußballer heute viel früher als in der Vergangenheit fragen: Bis zu welchem Punkt kann ich noch mithalten, wozu ist mein Körper noch in der Lage? Immer früher rücken junge, talentierte und physisch starke Spieler nach. Konnten früher ein Klinsmann, Völler oder Matthäus bis Mitte 30 in der Nationalmannschaft spielen, spürten ein Michael Ballack oder Torsten Frings bereits mit 30 die Konkurrenz von einem Schweinsteiger. Heute machen Spieler wie Sami Khedira oder Toni Kroos mit Anfang 20 dem End-20er Schweinsteiger den Platz streitig. Es ist davon auszugehen, dass sich die Erfolgsphase der Spieler noch weiter nach vorn verschieben wird. Diesen Trend erkennt man auch in der Politik oder Wirtschaft. Saßen früher eher erfahrene Damen und Herren älteren Jahrgangs an den Schaltstellen der Macht, agieren dort heute immer mehr Menschen Anfang 40.
Noch vor einem Jahrzehnt wurde behauptet, ein Fußballer würde zwischen 25 und 30 sein Leistungshoch erreichen und könne es bis 34 halten beziehungsweise ausklingen lassen. Heute sind Spieler mit 17 oder 18 top – Cristiano Ronaldo, Lionel Messi, Philipp Lahm, Mesut Özil oder Mario Götze sind Beispiele dafür. Schon in diesem frühen Alter standen sie täglich über das ganze Jahr im Mittelpunkt des Fußballgeschehens und absolvierten ein hohes Tempo. Neben der rein sportlichen Leistung werden sie intensiv mit ihren Erfolgen vermarktet, müssen sich medial gut verkaufen und als Vorbilder dienen. Wie lange sie diesen Anforderungen gerecht werden können, über wie viele Jahre, ist schwer abzuschätzen. Aber ihr Niveau über 32 beziehungsweise 34 hinaus zu halten, bei den vielen Spielen auf höchstem Level und all den Verpflichtungen außerhalb des Platzes, das ist zur Herkulesaufgabe geworden. Da ich selbst eine Zeit lang diese hohe Geschwindigkeit mitgemacht habe, weiß ich, wie groß die Belastung sein kann. Derartige Höchstleistungen beanspruchen nicht nur körperlich, sondern auch psychisch.
Als ich zum AC Mailand wechselte, führte ich Buch über meine ersten 120 Tage. Ich wollte genau wissen, wie ich meine Zeit verbracht hatte. Von den 120 Tagen war ich drei Monate mit meinem Verein, der Nationalmannschaft oder für Sponsoren unterwegs gewesen, also nicht zu Hause, ständig fremdbestimmt und unter Beobachtung – auf dem Platz genauso wie in der Hotellobby oder am Flughafen. Freie Tage hatte ich kaum. Private Freizeit war knapp bemessen, und wenn ich unterwegs war, war das Hotelzimmer der einzige Ort, wo ich für mich allein war. Allein, aber trotz des ganzen Trubels um mich herum auch einsam.
Besonders nach den Spielen, bei denen ich vor 80 000 Zuschauern meiner Leidenschaft nachgegangen war und den vollen Adrenalinschub erhalten hatte, machte sich das bemerkbar. Als Spieler stand ich im Fokus, erlebte im Spiel emotionale und körperliche Hoch- und Tiefpunkte, freute und ärgerte mich, wurde gefeiert und beschimpft, holte alles aus meinem Körper heraus. Es schien, die Welt drehte sich um mich, alle wollten und erwarteten etwas von mir. Trainer, Mannschaftskollegen, Fans und Journalisten. Und dann kam ich nach all der Aufregung in mein Zimmer, und plötzlich war es unendlich still. Ich war allein. Da kann man sich verloren fühlen.
So manches Mal dachte ich: Wärst du nicht bodenständig und Sportler, sondern Musiker oder Schauspieler, die genauso emotional ihre Arbeit verrichten und direktes Feedback von den Fans erhalten, was würdest du jetzt anstellen, um Dampf abzulassen? Die Drogenprobleme und Exzesse von Stars wundern mich seit dieser Zeit weniger.
Ein Leben auf der Überholspur bringt eine permanente Geräuschkulisse mit sich – und ein sich ständig veränderndes Blickfeld. Ich weiß noch, wie ich oft nach einem Spiel oder einem Meeting in mein Hotelzimmer zurückkehrte. Sofort stellte ich den Fernseher an, und durch die wechselnden Bilder und die vielen unterschiedlichen Stimmen erhielt ich den Eindruck aufrecht, weiterhin von Leben umgeben zu sein. Ich spürte aber, dass mir diese »Unruhe« nicht gut tat, meiner Regeneration hinderlich war. Seit damals haben sich meine Gewohnheiten verändert: Heute empfinde ich Lärm und ständige Unterhaltung als störend. In Umgebungen, in denen Stille herrscht, kann ich kreatives Innehalten praktizieren. Ich glaube, um wirklich tief in sich zu gehen, muss man neben anderen Aspekten wie Ernährung oder Physis vor allem Ruhe und Stille haben. Fernsehen schaue ich nur noch selten, außer Fußball oder Nachrichten, und selbst beim Autofahren höre ich kaum noch Radio, weil ich die Hektik der eingespielten Jingles unerträglich finde. Ich finde, wir sollten darauf achten, welcher Geräuschkulisse wir ständig ausgesetzt ist: Die ständige Reizüberflutung geht nicht spurlos an unserem Bewusstsein vorbei.
Irgendwann ist der Punkt erreicht, wenn der Kopf sich instinktiv verweigert und nicht mehr zu Höchstleistungen bereit ist. Dann wird es schwer, diese körperlich umzusetzen. Aus diesem Grund passieren mittlerweile auch vielen jungen Spielern bereits schwerere Verletzungen als früher. Die Belastung neben der Schule mit täglichen Trainingseinheiten und den Fahrten dorthin ist enorm. Der heutige Bayern-Profi und Nationalspieler Holger Badstuber fuhr ab seinem 13ten Lebensjahr viermal die Woche nach der Schule mehr als 250 Kilometer zu seinen Trainingseinheiten. Die Spiele am Wochenende kamen dazu. Kann es sein, dass wir im Fußball, auch wenn es gut gemeint ist, unsere jungen Spieler schon im Stadium des Heranwachsens überfordern? Spiegelt sich hier nicht die Sorge vieler Eltern, die bemängeln, sie wüssten nicht mehr, wann ihre Kinder noch Kinder sein und spielen könnten? Im Blick auf steigende Wettbewerbsanforderungen im Erwachsenenleben werden die Tagesabläufe von Jungen und Mädchen schon von Kindesbeinen an durchgeplant. Man soll, man muss für die Zukunft gerüstet sein, so lautet die Devise – später nimmt schließlich auch niemand Rücksicht auf ihre Bedürfnisse.
Schnelligkeit beziehungsweise Schnelllebigkeit im Fußball wird auch daran deutlich, dass Spitzenspieler verstärkt in Vierjahreszyklen beurteilt werden, von Weltmeisterschaft zu Weltmeisterschaft. Ist zu erkennen, dass die Leistungskurve eines Profis kontinuierlich nach unten geht, wird augenblicklich analysiert, wen man als Nächstes als Weltfußballer des Jahres vermarkten kann. Ich denke da an die Brasilianer Ronaldinho oder Ronaldo – ersterer war sogar noch kürzer präsent als letzterer. Man wird beobachten, wie lange der Portugiese Cristiano Ronaldo seine Spitzenposition verteidigen kann. Der Held von heute kann morgen schon der große »Loser« sein. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Das sind Menschen, die über Jahre in den besten Ligen der Welt auf Spitzenniveau agiert haben und im Fokus der Öffentlichkeit standen. Gerade noch haben sie mit ihrer Mannschaft einen wichtigen Titel geholt, fünf Monate später können sie schon aus dem Team fliegen. Tiefphasen einfach abzuwarten und durchzustehen, etwas in Ruhe wachsen zu lassen – das ist im Fußball kaum noch möglich, genauso wenig im Berufsleben. In der Folge wird auch weniger verziehen, schneller geurteilt, schneller verurteilt. Die neuen Online-Plattformen haben zu dieser Entwicklung rasch urteilender Meinungen auch im Fußball beigetragen: Mit den öffentlichen Meinungen kippen auch die Karrieren schneller.
Das haben wir als Mannschaft bei der EM 2012 erleben müssen. Uns war bewusst, dass unsere Fallhöhe aufgrund der hohen Erwartungshaltung enorm war. Nach einer überragenden Qualifikation und erfolgreichen Freundschaftsspielen mit berauschendem Fußball gegen Brasilien und Holland wurde von der Nationalmannschaft der Gewinn des EM-Titels erwartet, wir selbst haben dieses Ziel formuliert. Bis zum Spiel gegen Italien lief alles nach Plan, zum ersten Mal gelang es der Mannschaft, ohne Punktverlust die Vorrunde abzuschließen, die Lobeshymnen über diese junge, talentierte und sympathische Mannschaft gingen weiter. Der Titel schien greifbar nahe, auch wenn jeder weiß, wie sehr Spiele auf diesem Niveau von Kleinigkeiten und der Tagesform abhängen. Dann kam das Ausscheiden gegen Italien, und damit die große Enttäuschung. Heftige Kritik entlud sich über uns. Aus den Helden wurden in den Medien Loser, Memmen sogar. Im Nachhinein kann ich aus dieser starken emotionalen Reaktion der Medien und unserer Fans etwas Positives ziehen, spiegelt sie doch nur die starke Bindung und Identifikation mit unserem Team und den Glauben an sie wider. Dennoch war die abrupte Kehrtwende der Stimmungslage schon extrem.
Noch vor kurzem konnten sich Spieler an ihre Spitzenleistungen herantasten, konnten sich entwickeln, durften Fehler machen. Heute muss ein Spieler sofort funktionieren, wenn er neu in einen Verein oder in die Nationalmannschaft kommt. Er muss seinem Team unmittelbar helfen zu gewinnen. Spieler wie Ferenc Puskcás, Pelé, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus oder Diego Maradona haben ein ganzes Jahrzehnt lang mitgemischt und den Fußball geprägt, ihre Namen klingen uns noch immer in den Ohren. Heute gibt es nur wenige Spieler, die das über einen so langen Zeitraum noch schaffen beziehungsweise schaffen könnten. Die Taktzahl hat sich massiv erhöht. Das gilt nicht nur auf dem Platz, sondern auch außerhalb, in der Wahrnehmung der Medien und Fans. Profifußballer sollen immer schneller rennen, immer mehr Tore schießen, am besten Netzer, Beckenbauer und Beckham in einer Person sein. Dass aber auch diese Fußballgrößen ihre Auszeiten, Formschwächen und Schwierigkeiten hatten, wird oft vergessen.
Als Stürmer erzielte ich mehr als 100 Tore in der italienischen Liga, was nichts daran änderte, dass ich in der deutschen Nationalmannschaft von Mehmet Scholl mit dem Spitznamen »Speedy« geneckt wurde – wie ich zu Beginn dieses Buches bereits berichtet habe.
Der Spitzname »Speedy« hat mich damals über das ganze Turnier begleitet. Ein Turnier, in das ich mit großer persönlicher Hoffnung ging: einen Durchbruch in der Nationalmannschaft, obwohl ich erst im Februar 1996, kurz vor der endgültigen Nominierung, mein erstes Länderspiel bestreiten durfte. Ich hatte eine erfolgreiche Saison in Italien hinter mir, meine Fähigkeiten auf dem Platz wurden von allen sehr geschätzt und gelobt. Selbstvertrauen hatte ich, auch wenn ich mich in der Nationalmannschaft als ein kleines Licht gegenüber den anderen Spielern wie Klinsmann, Kohler oder Häßler betrachtete, die schon internationale Titel gewonnen hatten. Im Sturm war lediglich Klinsmann als Kapitän gesetzt. Meine direkten Konkurrenten um den zweiten festen Platz im Sturm waren Fredi Bobic und Stefan Kuntz. Leider verlief dann die Vorbereitung auf das Turnier aufgrund einer eigenen Initiative schlecht für mich. Im Vorfeld hatte ich mit meinem Fitnesstrainer in Italien, dem ich sehr großes Vertrauen entgegenbrachte, ein eigenes Fitnessprogramm erstellt und bereits in Italien eine Minivorbereitung abgespult. Diese war darauf ausgelegt, beim Turnier die Topform zu erreichen. Allerdings bedeutete es auch, dass ich »schwere Beine« hatte und mir die Frische in der wichtigen Vorbereitungsphase fehlte, um den Coach Berti Vogts zu überzeugen. Damit verlor ich an Boden im Kampf um einen Stammplatz.
Während des Turniers wurde die Situation nicht besser, auch wenn ich zumindest ein Spiel gegen die russische Nationalmannschaft von Anfang an spielen durfte. Als jedoch Berti Vogts, dem ich sehr viel in meiner Karriere zu verdanken habe – er holte mich in die U18, in die U21 und machte mich später zum Kapitän der A-Nationalmannschaft –, im Halbfinale nur noch mit einem Stürmer aufwartete und danach angesichts der vielen verletzten und gesperrten Spieler jammerte, dass er keine Spieler mehr zur Verfügung habe, war mir klar, dass das Vertrauen des Trainers in mich nicht mehr allzu groß war. Eine Meinung, die er sicherlich auch mit den meisten meiner Mannschaftskollegen und vielen Journalisten teilte. Und ich konnte es ihnen nicht einmal verübeln, hatte ich doch zu wenig von meinem Können gezeigt und zu wenig davon vermittelt, wie ich der Mannschaft helfen könnte. Die Zeitungen urteilten bereits, ich hätte keine internationale Klasse und das Turnier wäre für mich gelaufen. In einem Artikel wurde beschrieben, wie sich Berti Vogts gemeinsam mit einigen Mannschaftskollegen auf dem Platz wegen meiner Unbeweglichkeit über mich lustig gemacht hätte.