SplitterNacht - Roland Reitmair - E-Book

SplitterNacht E-Book

Roland Reitmair

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Beschreibung

Marcel, der Protagonist der Geschichte, ist bei seinem Onkel aufgewachsen und erlebt die eigene Jugend und Entwicklung als Spannungsfeld zwischen Onkels toleranzlosen Ansichten und der heimlichen Liebe zu dessen Frau - Marcels Tante. Als diese nach einem Streit mit ihrem tyrannischen Ehemann tragisch ums Leben kommt, ist Marcel völlig entwurzelt. Er hätte es wenige Monate vorher in der Hand gehabt: Der Onkel war bewusstlos im Schnee gelegen - Marcel rettete ihn vor dem Erfrieren. Die Tante könnte noch leben... Ein Leser schreibt über die Geschichte: "Es ist wirklich ein gelungener Roman, 'leichtfüßig' in der Sprache, spannend im Aufbau, lehrreich im Inhalt. Es verschmelzen philosophische Denkmuster mit theologischen, es verbinden sich psychologische Theorien mit realem Geschehen."

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Roland Reitmair

SplitterNacht

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel I / 1

I / 2

I / 3

Kapitel II / 1

II / 2

II / 3

II / 4

Kapitel III

Impressum neobooks

Kapitel I / 1

In den letzten Wochen war es schon sehr kalt.

Einmal hat das herbstliche Regenwetter sogar mit Schneeflocken aufgewartet.

Heute aber, mit dem lauen Südwind, ist es fast frühlingshaft mild.

Dunkelheit verbeißt sich noch zwischen den Häuserreihen.

Morgendliche Wolkenschleier am Himmel färben von Rot bis Rosa, die Flecken Himmel dazwischen leuchten fast Türkis.

Es tut gut, nach der schlaflosen Nacht die frische Luft zu atmen. Am Balkon lehnen, heißen Kaffee trinken, während in aller Ruhe der Tag anbricht.

Die Sonne scheint wie ein Feuerball kurz im diffusen Morgenlicht über den Dächern fest zu hängen, bevor es richtig hell wird.

Es muss irgendwas mit dem Föhnwind zu tun haben… angeblich wären, wenn viel Staub in der Luft ist, die Sonnenauf- und untergänge schöner.

Der Zeitungsausträger ist spät dran und schlägt die Autotür übertrieben laut zu, bevor er zum Hauseingang eilt.

Er hat es immer eilig und lässt den Motor laufen, während er seine Zeitungen in den Postfächern deponiert.

Jeden Morgen biegt er in diese Straße ein, blinkt gleich rechts, hält mitten auf der Fahrbahn. Gang heraus, Handbremse. Er springt aus dem Auto, schlägt die Türe zu, verschwindet für eine Minute unter dem kleinen Vordach des Hauseinganges, dann Laufschritt zurück, erster Gang, zu viel Gas.

Das Ritual wiederholt sich noch zweimal, bevor er dann – vielleicht hundert Meter weiter – direkt unter meinem Balkon hält.

Mich stören seine hektischen Bewegungen. Sie passen nicht zu den weichen Konturen des Morgens.

Einmal hab ich Kaffee verschüttet.

Unwillkürlich wich ich zurück, als er ärgerlich heraufschaute.

Es hätte ja auch sein können, dass ich den letzten Rest ohne es zu merken aus der Tasse leerte. Oder den kalten Kaffee absichtlich ausschüttete, jedoch nicht im Traum daran dachte, jemand könnte sich darunter befinden.

Seit ich hier wohne und das sind jetzt schon über vier Jahre, stört mich seine Hektik.

Der Kaffee verfehlte ihn und sein Bündel Zeitungen knapp, verteilte sich aber in dicken, braunen Tropfen über Windschutzscheibe und Motorhaube.

Wahrscheinlich um keine Zeit zu verlieren, betätigte er die Scheibenwischer erst nachdem er die Zeitungen zugestellt hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann Sinn für Kunst hat.

Er kam zurück, die Wischblätter bewegten sich und die Sache war, wie ich glaube, aus der Welt.

Manchmal überlege ich, ob ich es nicht wieder tun soll.

Ich brauche die Ruhe morgens, wenn die Stadt noch schläft oder gerade erst erwacht… die Straße menschenleer, kaum ein Auto.

Am Giebel putzen sich Tauben die Federn.

Krähen am Sims des Rauchfangs werfen erste, lange Schatten in die Dachrinne.

Es gab eine Zeit, da brauchte ich nach dem Frühstückskaffee unbedingt eine Zigarette. Seltsam. Gewohnheiten ändern sich.

Gierig inhalierte ich immer einige Züge, schnippte dann die halbfertig gerauchte Zigarette über den Balkon, wartete bis sie am Asphalt landete, um dann ins Büro zu eilen.

Fünf Stockwerke, kein Lift.

Manchmal zertrat ich auf der Straße die Kippe. Manchmal überlegte ich, dass dies der Platz wäre, wo man aufschlägt, wenn man über meinen Balkon stürzt.

Polizisten würden kommen und würden mit weißer Kreide die Stelle markieren.

Vielleicht würde der Zeitungsausträger trotzdem hier halten, der Kreide zum Trotz oder einfach nur wie jeden Tag.

Hier hat sich der Kaffee auf seinem Auto verteilt. Hier würde sich das Blut auf dem Asphalt verlaufen.

Ich habe mit den Kindern meiner Schwester einmal verschiedene Dinge vom Balkon geworfen, nur um zu sehen was passiert.

Manche Gegenstände springen hoch auf, faules Obst jedoch verteilt sich beim Aufschlag sternförmig.

Das war vor fast vier Jahren, damals habe ich noch geraucht und als ich die Zigarette vom Balkon schnippte, warfen die Kinder kleine Tonkugeln aus der Hydrokultur nach. Man konnte noch so gut aufpassen, es war kaum zu sehen wo die Kugeln landeten und - ich gebe zu - es war keine sehr gute Idee von mir, dass man etwa einen Apfel sicher besser sehen könnte.

Der Hausmeister erstattete Anzeige und beinahe hatte ich gleich wieder auszuziehen.

*

Als ich das erste Mal auf diesem Balkon stand und rundum die identen Wohneinheiten betrachtete, die gleichen Balkone Reihe um Reihe bis hinunter zum Gehsteig, das immer gleiche Küchenfenster daneben, fühlte ich mich alleine und beobachtet. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass diese Anonymität auch einen gewissen Schutz bietet.

Schutz. Nicht nur, weil sich Fremde in den gleichen Gängen der verschiedenen Stockwerke, auf den gleichen hässlich blauen Teppichen und dem gleichen Geruch nach Reinigungsmittel und Kunststoffboden, meist hoffnungslos verirren.

Hinter jeder dieser Balkontüren steckt eine Geschichte.

Ich denke oft daran, wenn ich nachts draußen stehe und in die Dunkelheit starre, wenn da und dort plötzlich Licht durch die Vorhänge schimmert.

Andere können auch nicht schlafen. Beruhigend.

Doch andere sind vielleicht Schichtarbeiter oder einfach nur Frühaufsteher. Oder die Kinder sind krank und besorgte Mütter sitzen im dünnen Nachthemd auf der Bettkante und streicheln fieberheiße Wangen.

Von außen, objektiv gesehen, ist da nur Licht, das durch den Vorhang schimmert.

Manchmal dringen diese Geschichten nach draußen und helfen die eine oder andere Unzufriedenheit zu dämpfen. Zu sehen, wie anderer Leute Fassade bröckelt, scheint eine Befriedigung zu sein.

Geteiltes Leid.

Wenn man selbst betroffen ist, schmerzt es dafür doppelt.

So war’s zumindest für mich, wie das damals mit Tante Sabine war.

Die Leute am Land sind anders, da weiß jeder alles vom Nachbarn.

Da wird mehr geredet, weil man natürlich weiß, wer der Vater war und der Großvater und man kennt die Geschichten vom angeblichen Halbbruder.

Aber der Onkel. Er würde sich hier wohlfühlen.

Hier könnte er in Gleichgültigkeit versinken, am Land war das nicht so einfach.

Vielleicht hätte ihm dieser Uniformismus überhaupt besser entsprochen, auch früher schon, davor.

Vielleicht wäre vieles anders gekommen.

Das letzte Mal sah ich den Onkel unten bei der Bahnbrücke. Er lehnte gegen den Betonpfeiler und starrte in den Hochwasser führenden Fluss.

Er hat mich nicht gesehen, oder zumindest so getan, als sähe er mich nicht. Auch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als ich ihn erkannte. Drehte mich wie zufällig in die andere Richtung. Bemühte mich unbeschwert zu wirken.

Sieben Jahre mochten einen Menschen schon verändern, ich erkannte ihn trotzdem sofort.

Er hatte diesen gleichen seltsam mitleidigen Blick wie früher, der nicht zu ihm passte und nur seine arrogante Überheblichkeit verriet.

Er schaute hinüber zu einer dicken, weißhaarigen Frau, die sackweise altes Brot für die Enten, Schwäne und sonstigen Vögel anschleppte.

Ganz aufgeregt kamen die Tiere heran und es waren viele.

Sie flatterten und schienen übers Wasser zu laufen, während sie schnatterten und lärmten und sich gegenseitig die Augen aushackten.

Etwas Väterliches lag in diesem Blick, und doch auch wieder nicht.

Verständnis und Abscheu gleichzeitig spiegelten sich dann in Onkels Augen, Verächtlichkeit.

So hatte er immer Tante Sabine angeschaut, so schaute er sicher auch an jenem Sonntagabend...

Ich hatte nicht gewusst, dass er vorzeitig aus der Justizanstalt entlassen worden war.

Er lehnte am Pfeiler, wie früher draußen am Balken des Vordachs. Die Zeitung in der Jackentasche, eine Pfeife in der Hand, immer schien er ein wenig beleidigt.

Er lachte nie, er war ruhig und schweigsam.

Nur manchmal am Sonntag, wenn er erst abends vom Frühschoppen heim kam, war er wie ausgewechselt.

Da spielte er manchmal mit uns, mit meinen Freunden und seinem Neffen, oder zeigte uns alte Fotos, während er undeutlich und mit traurigen Augen lange Geschichten erzählte.

Manchmal kam er aber auch heim, da passte ihm rein gar nichts. Das Essen war kalt oder die Suppe versalzen, irgendwas hat er bestimmt gefunden.

Anreden durfte man ihn dann besser nicht, sonst konnte er ganz gut aufbrausen. Und als ob er nur darauf gewartet hätte, teilte er dann Gehässigkeiten aus. Mokierte sich über meine zerschlissenen Jeans, die ich zum Statussymbol erheben würde, wie mein Vater.

Oder lästerte über die lässige Bluse seiner Frau. Sabine gäbe sich, als wäre sie fünfzehn … lieber einen Knopf mehr zumachen, anstatt so offenherzig durch die Gegend zu flanieren.

Aber, was quäle ich mich schon wieder mit den alten Geschichten.

Katharina hatte in diesem Punkt völlig recht – und wenn man von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang am Balkon steht und grübelt – es gibt einfach Dinge, die wird man nie verstehen.

Ich vermisse Katharina. Mein Leben ist leer geworden ohne sie. Wenn ich wieder einmal schlecht geschlafen hatte und halb durchgefroren über die Dächer schaute… sie konnte mich vieles vergessen machen.

Sie brachte heißen Kaffee, zog sich den alten Bademantel enger, fragte nicht lange. Sie legte ihre Hände um meinen Nacken und war einfach nur da.

Katharina hat mich verstanden, auch wenn ihr letzten Endes diese meine alten Geschichten zu viel wurden.

Auch wenn sie sich bei unserer Trennung schäbig verhalten hat. „…mach’s gut...“, sagte sie mit glasigen, übermüdeten Augen, ihre Finger berührten noch flüchtig meinen Rücken. Kein letzter Kuss, keine Erklärungen. Stille, viel zu lange Sekunden. Dann war sie weg.

Ich denke oft an sie. Sie ist Teil meiner alten Geschichten geworden und es ist gut, dass sie das nicht weiß.

*

Der Hausmeister. Der Herr Hausmeister.

Sein Name ist mir wieder entfallen.

Zuerst sieht man immer nur den Bauch. Jeden Tag um die selbe Zeit, steht er gut zehn Minuten lang unter dem kleinen Vordach beim Eingang und schaut die Straße entlang, manchmal taucht auch sein Kopf kurz auf, wenn er irgendwelchen Bekannten im vorbeifahrenden Auto zunickt.

Er hat eine nette Frau.

Kurz nachdem die Polizei geläutet hatte, stand sie plötzlich vor meiner Tür.

Es sei zwar nicht in Ordnung Gegenstände vom Balkon auf die Straße zu befördern, schließlich würden auch Kinder den Gehsteig benützen, so weit sollte man also denken, ihr Mann würde jedoch oft überreagieren...

Im Sinne einer guten Nachbarschaft würde sie hoffen, dass solche Dinge nicht mehr vorkommen und sie wünschte mir noch einen guten Tag.

Ich sehe sie gelegentlich im Treppenhaus und frage mich jedesmal, was diese Frau an ihrem schwitzenden, rasenmähenden Teddybären findet.

Sie ist so etwas wie der Prototyp der Barmherzigkeit wahrscheinlich. Hat ihn aus Mitleid geheiratet. Prototypen haben immer Fehler.

Außerdem ist sie ein fürchterliches Tratschweib.

*

Über die Straße, gegenüber lebt eine alte Frau. Sie wohnt im gleichen Stockwerk wie ich und winkt mir manchmal zu.

Ich denke sie ist einsam. Zumindest habe ich noch nie jemanden anderen als sie in der Wohnung gesehen. Nur einmal kamen Möbelpacker und brachten ein Spinett.