Springsteen - Nicolas Pethes - E-Book
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Springsteen E-Book

Nicolas Pethes

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Beschreibung

Bruce Springsteen ist ein Star, zu dem Fans eine besondere und persönlich geprägte Beziehung empfinden. Wie gelingt es ihm, sein Publikum so unmittelbar anzusprechen? Bruce Springsteen ist seit 50 Jahren ein Rockstar, zu dem Fans eine im hohen Maße persönlich geprägte Beziehung empfinden. Das liegt nicht nur an seinen genau konzipierten und musikalisch vielseitigen Alben, die in ihrer Abfolge die Bedeutung unterschiedlicher Lebensphasen reflektieren und deren mitreißende Songs sämtliche Genres amerikanischer Popmusik umfassen. Springsteen gründet seine Musik und die mit ihr verbundenen Botschaften darüber hinaus auf einen unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum: Diese besondere Bindung gelingt ihm durch seine von äußerster physischer Intensität geprägten Konzerte, sein Verständnis von Rock'n'Roll als musikalische Tradition, zu der neben emphatischen Hymnen auch das Erzählen persönlicher Geschichten gehört, seine engagierten Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Debatten und durch seine Auseinandersetzung mit Alter und Vergänglichkeit. Letztere waren auch das zentrale Thema der Tour im Jahr 2023, deren Stationen Nicolas Pethes als Leitfaden wählt. Auf diese Weise verfolgt er Springsteens »lifetime conversation with my audience« und zeigt anhand zahlreicher Zeugnisse von Fans, dass die Vorstellung einer solchen Kommunikation zwischen Künstler und Publikum keine bloße Illusion ist. Sie beruht auf ernstzunehmenden Emotionen und Praktiken, die Nicolas Pethes kenntnisreich und unterhaltsam aufzeigt.

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Popgeschichte

Herausgegeben von Gerhard Kaiser

Redaktion: Rahel Simon

Nicolas Pethes

Springsteen

A Lifetime Conversation

Wallstein Verlag

Nicolas Pethes, geb. 1970, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln und Mitherausgeber der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik«.

Bibliographische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2024

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Eva Mutter (evamutter.com)

ISBN (Print) 978-3-8353-5752-5

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8744-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8745-4

Inhalt

1  »A means of communication«Verbindungen suchen

2  »Those who’ve come before« Traditionen verknüpfen

3  »They’re in the show« Zuschauer adressieren

4  »A tale begins« Geschichten erzählen

5  »Who are we and where is home?« Gemeinschaften formen

6  »It’s going to matter to somebody« Biographien prägen

7  »They’re here« Geister beschwören

Dank

Literatur

Abbildungen

Musik

Zur Reihe »Popgeschichte«

You talkin’ to me?

Robert de Niro, Taxi Driver, 1976

1 »A means of communication«

Verbindungen suchen

An einem wolkenverhangenen Vormittag kurz vor Frühlingsanfang gehe ich über den Boardwalk am Atlantikstrand von Asbury Park, New Jersey. Im Sand steht ein Schild, das Gäste mit der Aufschrift »Greetings from Asbury Park« begrüßt. Ein paar Schritte links davon ist auf der Bude einer Wahrsagerin »Madam Marie’s« zu lesen und dahinter auf Ocean Avenue das flache, weiße Backsteingebäude mit der Aufschrift »The Stone Pony« zu sehen, in dem ich am Abend ein paar lokale Nachwuchsbands hören werde. Ich bin am Tag zuvor nach dem Konzert von Bruce Springsteen und der E Street Band in Philadelphia über Freehold und Colts Neck hierhergefahren und wohne im Empress-Hotel, dessen Schriftzug man spiegelverkehrt auf dem Cover von Springsteens erster Top Ten-Single, »Hungry Heart« von 1980, erkennen kann. Zum ersten Mal bewege ich mich also zwischen den Erinnerungsorten, an denen Springsteens Karriere vor über einem halben Jahrhundert begonnen und die er immer wieder besungen hat. »Seaside Bar Song«. »Born to Run«. »My Hometown«. »Tunnel of Love« (ein Songtitel, dessen Schriftzug eine weitere Bar auf Ocean Avenue ziert). »My City of Ruins« …

Während mir trotz der menschenleeren Spielarkaden an der Uferpromenade leise die Zeile »a carnival life forever« aus dem Song »4th of July, Asbury Park (Sandy)« durch den Kopf geht, schließt sich ein Kreis zu der Zeit, in der ich Springsteens Musik das erste Mal gehört habe – in einer südwestdeutschen Kleinstadt Mitte der 1980er Jahre vor dem Kassettenrekorder kauernd, um bei der Hitparade auf SWF 3 rechtzeitig auf »play« und »record« zu drücken, wenn das Intro eines Stücks vielversprechend klang. Bis meine druckbereiten Finger einmal erstarrten, als über einem gedämpften Gitarrenpicking eine Stimme ertönte, deren physische Präsenz im Raum sich direkt an mich zu richten schien. Was diese Stimme sang, verstand ich seinerzeit noch gar nicht so richtig, aber dass da jemand »on fire« war, vermittelte sich auch so – und galt von diesem Augenblick an auch für mich.

Die Wirkung dieser zündenden Begegnung hat sich als nachhaltig erwiesen. Auf der wenig später angefertigten Kassettenkopie von Bruce Springsteens Album Born in the U. S. A. folgte auf »I’m on Fire« der Schlagzeugwirbel, der »No Surrender« eröffnet, eine Hymne auf den Jugendtraum von Freiheit und Musik. »We learned more from a three minute record, baby / Than we ever learned in school«, lautete hier die Botschaft, deren Wahrheit ich gerade am eigenen Leib erfuhr, und auch der Glaube »we could cut someplace of our own with these drums and these guitars« schien kein bloßer Wunschtraum, sondern hier tatsächlich verwirklicht worden zu sein.

Fast vierzig Jahre nach dieser Begegnung eröffnet »No Surrender« auch das erste Konzert, das ich auf Springsteens Tour 2023 in Philadelphia besuche, und wenige Tage darauf höre ich in State College, Pennsylvania auch »I’m on Fire«. Das ist nicht unbedingt ein Lieblingslied, aber eines, dessen ungezähltes Erklingen zwischen Konstanz am Bodensee und dem Hinterland östlich des Susquehanna für die Beständigkeit eines Gefühls steht, das mein Erwachsen- und Älterwerden begleitet hat: von dieser Musik und dieser Stimme angesprochen zu werden.

Dieses Gefühl hat offensichtlich keine reale Grundlage. Popmusikerinnen und Popmusiker singen in Studiomikrophone bzw. sehen bei Live-Auftritten ihr Publikum im Gegenlicht der Scheinwerfer kaum – geschweige denn, dass sie einzelne Fans adressieren können. Und dennoch ist es als Gefühl real und wird, im Fall von Springsteen, zudem von Millionen Menschen weltweit geteilt. Man muss nur einen Blick in Fanforen wie Backstreets BTX werfen, eine Folge des Podcasts That One Lyric hören oder den Dokumentarfilm Springsteen and I ansehen, um einen Eindruck davon zu erhalten, wie viele Menschen Springsteens Musik nicht nur schätzen, sondern empfinden, dass sie ihr Leben berührt und geprägt hat. Trotz seines seit Jahrzehnten etablierten Status als Superstar und obwohl ihm all diese Fans im Regelfall nie begegnet sind, nehmen Fans Bruce Springsteen als authentisch greifbare Person wahr, deren Songtexte, Bühnenansprachen und Interviewaussagen Botschaften vermitteln, die als energetisierende Inspiration, sinnstiftende Stütze und mitunter sogar als rettender Ausweg aus Lebenskrisen beschrieben werden.

Diesen Empfindungen wollte ich nach meinen Eindrücken aus Asbury Park und den vielen Begegnungen mit anderen Springsteen-Anhängerinnen und -Anhängern in Philadelphia, State College sowie einer Reihe weiterer Orte auf der Europatour im Frühjahr und Sommer 2023 nachgehen: Wie ist es möglich, dass sich Fans immer wieder aufs Neue gemeint und verstanden fühlen, wenn sie Songs wie »Thunder Road«, »Badlands« oder »The River« hören? Um eine solche Beziehung zwischen einem Künstler und seinem Publikum nachvollziehen zu können, müsste man Popmusik selbst als eine bestimmte Form von Kommunikation begreifen – und genau das möchte ich in diesem Buch versuchen.

Bruce Springsteen ist in der langen Geschichte der Pop- und Rockmusik nur ein Beispiel für einen solchen kommunikativen Austausch – schon für den Beginn der Erfolgsgeschichte des Rock’n’Roll war es dem Produzenten Sam Phillips zufolge der »factor of communication«, den Elvis Presley anderen Künstlerinnen und Künstlern voraushatte (Guralnick 1994, 141). In den 1960er und 70er Jahren waren es die Grateful Dead, die für ihre Anhänger (die »Deadheads«) zum lebensbegleitenden Soundtrack wurden. Jüngeren Jahrgängen werden Pink, Taylor Swift oder Harry Styles näherstehen – auch deren Erfolg beruht darauf, sich als nahbare und warme Persönlichkeiten zu geben, die Kontakt zu ihrem Publikum suchen. Und doch scheint die Verbindung, die Fans über Jahrzehnte hinweg mit Springsteens Musik und Person empfinden, in der Popgeschichte von besonderer Intensität zu sein – zumal vor dem Hintergrund, dass andere Stars wie Bob Dylan, Mick Jagger oder Madonna ihren Erfolg auf das entgegengesetzte Modell gründen und auf eine Aura des Geheimnisses, der Coolness oder der Unnahbarkeit setzen. »[H]e’s real«, hat Foo Fighters-Sänger Dave Grohl nach einer Begegnung mit Springsteen einmal als Grund angegeben, warum »millions of people identify with him« (Dore 2022, 267). Und der Singer-Songwriter Steve Earl hat in einem jüngeren Interview bündig befunden: »Bruce Springsteen is the best communicator I ever saw in rock’n’roll.« (Ebd., 148)

Der besondere Stellenwert dieser Vorstellung einer Kommunikation zwischen Künstler und Publikum gründet auch darauf, dass Springsteen sie selbst zum Kern seiner Karriere erklärt hat. So sagte er 2012 in einem Gespräch mit dem Comedian Jon Stewart im Rolling Stone:

The only thing I do keep in mind is that I’m in the midst of a lifetime conversation with my audience, and I’m trying to keep track of this conversation […], while giving myself the musical freedom I need. […] I’m proud of our band in that we’ve maintained an audience who want to listen to us, in the sense that they’re interested in not just what you were saying in ’85 or ’80, but interested in what we’re saying right now – what’s the next step we’re going to take together, what are we going to argue about, what are we going to debate the meaning of? (Stewart 2012, 43)

Den Grundstein für diese Fancommunity hat der 1949 geborene Springsteen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre mit verschiedenen Bar-Bands in dem Küstenstädtchen Asbury Park eine Autostunde südlich von New York gelegt. Sein erstes Album – dessen Titel eine Postkarte der Stadt zitierte und im Gegenzug heute auf dem eingangs beschriebenen Schild am Strand zitiert wird – brachte ihm 1973 den Ruf eines »New Dylan« ein. Im Jahr 1975 gelang ihm mit dem Album Born to Run der Durchbruch als »rock and roll future«, und seit der Tour zu Darkness on the Edge of Town von 1978 gelten Bruce Springsteen und die E Street Band als einer der besten Live Acts der Rockgeschichte. Ihren Höhepunkt erreichte diese Karriere mit dem Album Born in the U. S. A. und der anschließenden Welttournee 1984 /85 (vgl. Marsh 1987). Zu ihren Besonderheiten gehört aber, dass Springsteen die Konversation mit seinem Publikum nicht nur aufrechterhalten, sondern in späten Alben wie The Rising (2002) oder Wrecking Ball (2012) weiter vertieft hat, so dass seine Tourneen auch nach einem halben Jahrhundert immer noch in Minutenschnelle ausverkauft sind und Konzerte des mittlerweile weit über siebzigjährigen Musikers generationenübergreifenden Massenpartys gleichen.

Und obwohl man Teil eines solchen Massenpublikums ist, kann man sich persönlich angesprochen und als Teil einer »lifetime conversation« fühlen. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, anhand einiger Besonderheiten von Springsteens Arbeit aber durchaus erklärbar: Seine Liedtexte handeln von persönlichen Erfahrungen, Hoffnungen und Verletzungen und vermitteln diese in Bildern und Szenen, die zwar individuell und persönlich, zugleich aber offen und verallgemeinerbar sind. Hinzu kommt, dass sie in der Abfolge von Springsteens Alben sämtliche Lebensphasen von der Adoleszenz bis zum Alter abdecken und damit gewissermaßen ein lebenslanges Identifikationsangebot machen. Springsteens Musik ist damit ein Gegenentwurf zum Programm des »I hope I die before I get old«, wie es The Who 1965 verkündet hatten: Während die beiden ersten Alben Autoritätskonflikte, Teenagerromanzen und Strandpartys besingen, entwirft Born to Run romantische Bilder vom Ausbrechen aus den Fesseln der Gesellschaft, zeichnet Darkness on the Edge of Town deren düstere Kehrseite im Zuge des Erwachsenwerdens und kreist The River von 1980 um die Konsequenzen, die das Eingehen von Beziehungen und Verpflichtungen im dritten Lebensjahrzehnt mit sich bringt.

Die ursprünglich lediglich als Demokassette solo und akustisch aufgenommenen Lieder auf Nebraska entstehen dann 1982 im Zusammenhang mit Springsteens erster schwerer Depression, die er erst 2016 in seiner ebenfalls mit Born to Run betitelten Autobiographie öffentlich machte. Einige dieser kargen Aufnahmen werden dann 1984 in einem poppigen Synthesizerarrangement Teil des Megahits Born in the U. S. A. Dessen Nachfolger Tunnel of Love wählt 1987 im Vorfeld des Scheiterns von Springsteens erster Ehe, aber auch angesichts der bevorstehenden Auflösung der E Street Band, wieder eine bedächtigere Tonlage, während die 1992 veröffentlichten Alben Human Touch und Lucky Town die Überwindung derartiger Midlife-Krisen in Gestalt der Gründung einer Familie bzw. neuen Band reflektieren.

Ab Mitte der 1990er Jahre macht Springsteen dann aus der Wiedervereinigung der E Street Band das emotionale Statement der Gemeinschaft und positioniert sich mit The Ghost of Tom Joad (1995), The Rising (2002) und Magic (2007) zugleich als politischer Songwriter, der in der Tradition von Robert Johnson, Woody Guthrie, Hank Williams oder dem frühen Bob Dylan ein Bild der amerikanischen Gesellschaft entwirft (vgl. Marcus 1975, Klein 1980, Masciotra 2010, Wilentz 2010): Mit seinem Engagement für Vietnamkriegsveteranen und Food Banks in den 1980er Jahren, der Auseinandersetzung mit den Folgen des 11. September 2001 sowie Anklagen gegen rassistische Gewalt erwirbt sich Springsteen den Status eines »social« und »public artist«, dessen Stimme Gewicht hat (Cohen / Swayers 2019, 55 und 129).

Gleichzeitig beginnt er angesichts des Todes der Bandmitglieder Danny Federici und Clarence Clemons in den Jahren 2008 bzw. 2011 auf seinen Alben Working on a Dream (2009) und Wrecking Ball (2012) Vergänglichkeit und Tod zu adressieren – Themen einer späten Lebensphase, die das Album Letter to You von 2020 sowie die Tour 2023 dann vollends prägen. Springsteens zu Beginn noch so jugendliche und zukunftsoffene Musik wird auf diese Weise auch zum Soundtrack des Älterwerdens und Sterbens (vgl. Cohen / Sawyers 2019, 189-205) – und dass er sein letztes Album mit der E Street Band einen »Brief« nennt, unterstreicht, dass es, und mit ihm womöglich auch schon jedes frühere Album, als Kommunikationsangebot und Botschaft an seine Fans zu verstehen ist (vgl. Zoladz 2020).

Das identifikatorische Potential dieser unterschiedlichen Schwerpunkte von Springsteens Musik verdankt sich also dem Umstand, dass sein Publikum mit ihr aufwachsen und altern konnte – und dabei den eigenen Blick auf Fragen der Zeitgeschichte in dieser Musik gespiegelt fand. Wesentliche Voraussetzung für einen so langen gemeinsamen Weg ist aber auch die Mischung, die Springsteen in dem oben zitierten Gespräch mit Jon Stewart erwähnt: sowohl wiedererkennbar zu bleiben (»keep track«) als auch Neues zu erproben (»musical freedom«). An Letzteres zu erinnern, ist auch deshalb wichtig, weil in Deutschland oft das einseitige Springsteen-Bild eines muskelbepackten Stadion-Rockers vorherrscht. Tatsächlich hat Springsteen aber bis in sein achtes Lebensjahrzehnt hinein Musik veröffentlicht, die verschiedene Einflüsse von Jazz über Folk und Country bis zu Soul und Hip Hop aufgreift. Und er ist nicht nur ein charismatischer Bandleader, sondern hat auf den Tourneen zu seinen Alben The Ghost of Tom Joad (1995-1997) und Devils and Dust (2005) sowie in der Show Springsteen on Broadway (2017 /18 und 2021) auch als Solokünstler beeindruckt.

Neben der stilistischen Wandelbarkeit seiner Musik und deren Themen, die existentielle Fragen aller Lebensphasen berühren, ist es diese besondere Bühnenpräsenz, die dafür verantwortlich ist, dass Fans Springsteens Wort von der »lifetime conversation« aufgegriffen haben: Die physische Intensität und Länge seiner Konzerte sind legendär, und noch auf der Tour 2023 /24 beschreiben Erstbesucherinnen und -besucher die Shows in den sozialen Medien als »life-changing experience«. Das reicht mitunter bis hin zum Eindruck eines quasi-religiösen Rituals, bei dem der Popstar zur Projektionsfläche von Heilserwartungen seines Publikums wird (vgl. Cavicchi 1998, Symynkywicz 2008) – und diese Erwartungen durch entsprechende Gesten und Ansprachen, wie zu sehen sein wird, durchaus auch befördert. Es gibt daneben aber auch ganz handfeste Gründe für einen derartig tiefschürfenden Eindruck von Live-Konzerten: Springsteens Körpersprache auf der Bühne vermittelt eine unmittelbare Betroffenheit von derjenigen Musik, die sein Publikum zur selben Zeit hört und am eigenen Leibe erfährt – und aus dieser Gemeinsamkeit und Gleichzeitigkeit kann das Gefühl erwachsen, von dem Dargebotenen gemeint, verstanden oder energetisiert zu werden.

Dieser intensive Austausch ist Programm. In seiner Autobiographie schreibt Springsteen: »I would address you, excite you and play guitar like a demon, demanding that you respond« (Springsteen 2016, 107). Das heißt aber auch, dass Popmusik erst dann kommunikativ wirkt, wenn sie sich an ein Publikum richtet, dessen Reaktion auch wieder auf den Künstler zurückwirkt. Schon 1981 begründete Springsteen in einem Gespräch mit Dave Marsh, dem Autor der ersten und emphatischen Springsteen-Biographie Born to Run aus demselben Jahr, die frappierende Vertrautheit zwischen ihm und seinen Fans auf ebendiese Weise:

People go to that show, they know me. They know a lotta me, as much as I know that part of myself. That’s why when I meet’em on the street, they know you already. And you can know them, too. Because of their response. (Phillips / Masur 2013, 127)

In den Gesellschaftswissenschaften wird das Gefühl, mit einer öffentlichen Person in Verbindung zu stehen, obwohl man sie faktisch nicht kennt, als parasoziale Beziehung bezeichnet (Horton / Wolf 1956), die allerdings immer auf Einseitigkeit beruht. Folgt man dagegen Springsteens Beschreibung, dann handelt es sich durchaus um ein wechselseitiges Gefühl, also auch dasjenige einer Vertrautheit des Künstlers mit seinem Publikum. So bekannte er in einem Interview mit James Henke von 1992:

I didn’t want to be one of those guys who can write music and tell stories and have an effect on people’s lives, and maybe on society in some fashion, but not be able to get into his own self. But that was pretty much my story. I tend to be an isolationist by nature. […] Then music came along, and I latched onto it as a way to combat that part of myself. It was a way that I could talk to people. It provided me with a means of communication, a means of placing me into a social context […]. (Phillips / Masur 2013, 157 f.)

Und gegenüber David Remnick, der ihn 2012 auf der Wrecking Ball-Tour begleitete, sagte er über die geteilte Konzerterfahrung von Künstler und Publikum: »You empower them a little bit, they empower you. […] That’s what we do for one another. (Remnick 2012, 57)

Dass solche Aussagen immer auch Teil der öffentlichen Rolle sind, die Springsteen für sich geschaffen hat, versteht sich. Nimmt man das dieser Rolle zugrunde liegende Programm aber als Programm ernst, dann besteht die »lifetime conversation« in einem wechselseitigen Austausch, nicht in einer einseitigen Projektion. Es handelt sich dabei weniger um tatsächliche Gespräche oder Botschaften, sondern darum, dass eine – sprachliche, körperliche oder musikalische – Artikulation als ein kommunikatives Angebot wahr- und ernst genommen wird. Und wenn diese Wahrnehmung beiderseitig ist, wenn sich also nicht nur das Publikum angesprochen fühlt, sondern der Künstler seinerseits das Gefühl hat, von den Reaktionen seines Publikums angesprochen zu werden, dann findet tatsächlich Kommunikation statt.

Wie aber kann man diese beschreiben, ohne auf religiöse oder sozialwissenschaftliche Modelle zurückgreifen zu müssen? Eine Orientierung bietet Diedrich Diederichsens Buch Über Pop-Musik, das davon ausgeht, dass Fans nicht allein von der künstlerischen Qualität von Plattenaufnahmen und Konzertauftritten fasziniert sind, sondern von der Person, die sie darin zu erkennen glauben. Die Popularität von Musik entsteht demnach nicht nur wegen ihrer raffinierten Produktion, sondern durch die Praktiken ihrer Rezeption – z. B. das wiederholte Anhören ein und desselben Lieds, durch das es sowohl zum Alltag als auch zur Erinnerung an besondere Momente wird, das Sammeln von Alben, Bildern, Zeitschriftenartikeln oder Konzerttickets, die Bereitschaft, stundenlang vor Konzertarenen für Plätze in Bühnennähe anzustehen, oder die Projektion von Wunschvorstellungen auf die Person des Stars. Solche Praktiken vermitteln den Unterschied von Fremdheit und Vertrautheit und sorgen für das Gemeinschaftsgefühl von Fans untereinander – mit dem Ergebnis, dass das Bild des Stars Teil des Alltags und der Realität der Fans wird und die Identifikation mit dem Star in einem existentiellen Sinn ernst zu nehmen ist, weil aus ihr Selbstbild, Lebensentwürfe und finanzielle oder andere weitreichende Entscheidungen abgeleitet werden (vgl. Diederichsen 2014, xxxiv).

So wie auf Seiten des Fans auf diese Weise eine fremde Person zu einer vertrauten wird, liefert umgekehrt der Star mit seinen Veröffentlichungen, Auftritten und Äußerungen das Material für diese Transformation. Zwar ist dieses Material zwangsläufig Bestandteil einer öffentlichen Inszenierung. Da der Star aber um die Erwartungshaltung seines Publikums weiß, kann er den Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit zum Gegenstand dieser Inszenierung wählen. Die Produktion von Popmusik beruht also auf einer Paradoxie: Aussagen und Auftreten eines Popstars sind unweigerlich kalkuliert und inszeniert, aber Ziel dieser Inszenierung ist die Vermittlung des Eindrucks, es werde etwas Persönliches zum Ausdruck gebracht. Damit ist popmusikalische Kommunikation vergleichbar mit der Kommunikation von Liebe, wie sie der Soziologe Niklas Luhmann 1982 beschrieben hat: Intime Vertrautheit kann zwar nur in bereits vorhandenen sprachlichen Mustern zum Ausdruck gebracht werden, die Liebenden müssen diesen Ausdruck aber dennoch als aufrichtige Artikulation einer individuellen Gefühlsregung (und nicht als stereotype Wiederholung) wahrnehmen.

Diederichsens Vorschlag besteht nun darin, auch für das Verhältnis von Star und Fan eine solche Doppelperspektive zu wählen: Popmusik ist sowohl performativ und inszeniert als auch expressiv und persönlich. Betrachtet man beides zugleich, so wird man weder dem naiven Glauben an einen »Authentizismus« des auf der Bühne Verkörperten verfallen noch die Expressivität dieser Darbietung als bloße Konstruktion und Täuschung abtun: »Es ist konstitutiv für alle Pop-Musik, dass in keinem performativen Moment klar sein darf, ob eine Rolle oder eine reale Person spricht«, schreibt Diederichsen (2014, xxxiv), und weiter:

Ich bringe mich als Pop-Musiker mitsamt meiner Geschichte und meinem Image erst in meinen Auftritten hervor […], gleichzeitig bringe ich damit aber durchaus ein Geheimnis zum Ausdruck, das ich daheim in meiner Intimität und sozusagen nicht-performativ kultiviert und gezüchtet habe und das gegenüber den Variablen der Performance von Konstanz und größtem schicksalhaftem Ernst ist. (Ebd., 135)

Diese Doppelperspektive ist für das Verständnis des Phänomens Springsteen sehr hilfreich: Für die Schauseite, die Produktion eines »Image«, ist Springsteens öffentlichkeitswirksames Bild mit Muskelshirt und Bandana aus der Zeit um Born in the U. S. A. ein passendes Beispiel; für deren Kehrseite, den intimen Ausdruck »daheim«, hingegen die erwähnte Entstehung der Demobänder für das Soloalbum Nebraska in Springsteens Schlafzimmer zwei Jahre zuvor.

Auf diese Weise kann man auf der einen Seite feststellen, dass Bruce Springsteen für sich zwangsläufig dasjenige erschaffen musste, was man eine persona nennt – eine öffentliche Rolle also, die er durch seine Musik, seine Interviews und seine Konzerte regelmäßig aufführt und die dadurch in sich stimmig und wiedererkennbar ist. Diese persona ist nicht mit seiner tatsächlichen Person zu verwechseln, sondern lediglich »Bruce Springsteen« in Anführungszeichen. Und doch kann man auf der anderen Seite Anteile dieser öffentlichen persona auf Emotionen, Wahrnehmungen und Ansichten der Person Bruce Springsteen ohne Anführungszeichen beziehen und die Vermittlung solcher Anteile als Grundlage und Bestandteil seiner performativen Rolleninszenierung betrachten und ernst nehmen.

Und tatsächlich kommt man dem Phänomen ›Bruce Springsteen‹ (in einfachen Anführungszeichen) am ehesten nahe, wenn man beide Aspekte gleichzeitig im Blick behält: Denn auf der einen Seite beruht das Gefühl eines kommunikativen Austauschs zwischen Springsteen und seinem Publikum auf dem Eindruck der Nahbarkeit, Greifbarkeit, Wärme und ›Normalität‹ seiner Person, die ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen nicht vergessen hat und an einem beliebigen Abend unverhofft mit Baseballkappe auf die Bühne einer Bar springen und mit der Lokalband zu jammen beginnen kann: »I heard Bruce might show up tonight«, flüstern sich Gäste des erwähnten Stone Pony – einem der Clubs in Asbury Park, in denen Springsteen musikalisch großgeworden ist – bis heute verschwörerisch zu. Und es gibt zahlreiche Anekdoten und Legenden, die die Möglichkeit einer solchen unverhofften Begegnung realistisch erscheinen lassen. So ist auf YouTube zu sehen, wie Springsteen 1988 in Kopenhagen einen Straßenmusiker um dessen Gitarre bittet, um einige seiner Lieder vorzutragen, und Springsteen selbst gibt gern zum Besten, wie er 1980 bei einem Tourstop in Denver in einem Kino von einem Fan erkannt wurde, der ihn fragte, ob er sich neben ihn setzen wolle, und ihn nach der Vorstellung zu sich nach Hause einlud, um ihn seiner Mutter vorzustellen (Phillips / Masur 2013, 126). Bei dem Kinofilm handelte es sich ironischerweise um Woody Allens Stardust Memories von 1980, in dem ein Star-Regisseur die Begegnung mit seinen Fans als so bedrängend empfindet, dass er einen Nervenzusammenbruch erleidet.

Von derartigen Berührungsängsten scheint Springsteen zumindest zu Beginn seiner Karriere gänzlich frei zu sein. Der erheblichen Berührungsfläche, die er als Person bietet und zu der auch Sprünge ins Publikum auf frühen und Crowdsurfen auf den späteren Tourneen gehören, steht allerdings entgegen, dass auch ein solches ›natürliches‹ Auftreten auf einer Inszenierung, Konstruktion oder Projektion beruhen kann (wofür z. B. spricht, dass die Kino-Geschichte in späteren Versionen nicht mehr in Denver, sondern in St. Louis verortet wurde). Das Wissen um diesen Aspekt brachte Springsteen bei einem Solokonzert zur Unterstützung des Christic Institute 1990 in Los Angeles auf den Punkt, als er auf den Zuruf eines Fans »We love you, Bruce!« entgegnete: »But you don’t really know me.« (Rolling Stone 1996, 304)

Die Christic-Shows standen am Anfang von Springsteens Versuch, sich von dem Image des Megastars zu lösen, das er in den 1980er Jahren geformt hatte. Zwar stammt sein Spitzname »The Boss« aus der Frühphase der E Street Band, als Springsteen die Gagen der Band verwaltete und verteilte. Indem er sich für die Born in the U. S. A.-Tour durch Bodybuilding in Form gebracht hatte, schien Springsteen sich aber auch durch ein dominant maskulines Auftreten mit diesem Spitznamen identifizieren zu wollen. Seine Replik fünf Jahre nach dem Ende dieser Tour hingegen zielt auf den Unterschied zwischen dieser persona und der Person, die tatsächlich auf der Bühne steht. Natürlich ist auch Springsteens schlagfertige Antwort wiederum eine auf einer Bühne getätigte Aussage und der Verweis auf seine tatsächliche Person unweigerlich eine neuerliche Inszenierung. Dass Springsteen diese Zusammenhänge beim Namen nennt, spricht aber dennoch dafür, dass er zumindest daran interessiert war, den Unterschied zu markieren und einen direkteren Austausch mit seinem Publikum zu erproben. Denn sein vormalig betont maskulines Auftreten hatte zu Missverständnissen geführt – so z. B. dazu, dass ein Song wie »Born in the U. S. A.«, der ein Aufschrei gegen den Umgang der amerikanischen Gesellschaft mit den Veteranen des Vietnamkriegs ist, als patriotische Hymne gehört wurde (vgl. Hyden 2024, 145 f.). Springsteen distanzierte sich deshalb in den 1990er Jahren auch insgesamt von dem Bild, das er in den 1980ern von sich selbst in Umlauf gebracht hatte:

You end up creating that sort of icon, and eventually it oppresses you […]. [T]he macho thing, that was just never me. It might be a little more of me than I think, but when I was a kid, I was a real gentle child, and I was more in touch with those sorts of things. (Phillips / Masur 2013, 155 f.)

Und in seiner Autobiographie kann man über den damaligen Look sogar lesen: »I probably would have fit right in down on Christopher Street in any one of the leather bars« (Springsteen 2016, 326) – eine Lesart, die der Interpretation der Kulturwissenschaftlerin Natalie Adler entspricht, derzufolge die Zuspitzung stereotyper Männlichkeitsbilder die Konstruiertheit und also auch Revidierbarkeit solcher Geschlechterrollen nur besonders deutlich herausstelle (Adler 2018).

Ein solcher Rollenwechsel ist aber nicht das Ende des Rollenspiels. Sowohl zu Beginn seiner Autobiographie als auch eingangs der Broadway-Show von 2017 /18, die auf dieser Autobiographie basiert, hat sich Springsteen ausdrücklich dazu bekannt, dass sein Erfolg nicht auf einem tatsächlich unmittelbaren Ausdruck beruhe, sondern auf demjenigen »magic trick«, mittels dessen er den Eindruck dieser Unmittelbarkeit erzeuge. Er sei daher auch weniger ein Künstler als ein Schausteller – einer derjenigen »artists, with a small ›a‹« aus den Jahrmarktsattraktionen entlang des Boardwalk von Asbury Park »where almost everything is tinged with a bit of fraud« (Springsteen 2016, xi). Vor dem Hintergrund dieses Eingeständnisses handelt womöglich auch ein Song wie »Brilliant Disguise« von 1987 nicht nur vom Maskenspiel eines Liebespaars, sondern auch von demjenigen des Künstlers gegenüber seinem Publikum:

Now look at me, baby

Struggling to do everything right

And then it all falls apart

When out go the lights

I’m just a lonely pilgrim

I walk this world in wealth

I want to know if it’s you I don’t trust

’Cause I damn sure don’t trust myself […]

So when you look at me

You better look hard and look twice

Is that me baby

Or just a brilliant disguise

Der zitierte Ausschnitt aus dem Liedtext legt aber auch nahe, dass es sich um ein überaus ernstes Spiel handelt, und dieser ernste Kern besteht in dem Versuch, sich der faktisch unmöglichen Erfüllung des Bedürfnisses nach einer Verbindung von Fan und Musiker auf der Ebene dieses Maskenspiels so weit wie möglich anzunähern (vgl. Bird 1994, Elliott 2019). Dass dieser Versuch immer wieder vom Scheitern bedroht ist, weil persona und Person zwangsläufig auseinanderklaffen, hat Springsteen 2005 in einer Folge der Sendung VH1 Storytellers, in der er die Entstehenshintergründe seiner Songs offenlegen sollte, mit einer weiteren Anekdote illustriert. Zu dem eben zitierten Song »Brilliant Disguise« erzählt er in dieser Sendung, wie das moralisch integre Bild, das sich die Öffentlichkeit aufgrund der Botschaften in seinen Liedern und Bühnenansprachen von seiner Person entworfen habe, einmal in Konflikt mit seiner angeblichen Neigung geraten sei, Strip Clubs zu besuchen:

A woman and a man spied me and said, »Bruce, you aren’t supposed to be here.« I could see where they were going with this so I said, I’m not. I am simply an errant figment of one of Bruce’s many selves. I drift in the ether over the highways and byways of the Garden State, often touching down in image-incongruous but fun places. Bruce does not even know I am missing. He is at home right now doing good deeds. (Phillips / Masur 2013, 303)

Was hier noch ein humoristischer Hinweis auf das Auseinanderfallen zwischen öffentlicher persona und tatsächlicher Person war, ist allerdings in den letzten Jahren zu einer schmerzhaft erfahrenen Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit geworden: 2021 hatte Springsteen für die Werbepause der Übertragung des Super Bowl der NFL zum ersten Mal in seiner Karriere überhaupt einen Werbespot aufgenommen – 1985 hatte er ein zwölf Millionen Dollar schweres Angebot der Firma Chrysler für seinen (einmal mehr missverstandenen) Song »Born in the U. S. A.« noch ausgeschlagen. Nun warb er aber unter dem Titel »The Middle« für den Autohersteller Jeep – mit dem Bild einer Kirche im Bundestaat Kansas, die die geographische Mitte der Vereinigten Staaten markieren und damit auch für eine Überwindung der ideologischen Gräben und der Versöhnung der politischen Parteien stehen sollte: »We just have to remember the very soil we stand on is common ground«, hieß es da, was Springsteen vehementen Widerspruch einbrachte: Er sei dem Ruf des Geldes gefolgt, habe mit dem Verweis auf den gemeinsamen »soil« die Kolonialgeschichte Nordamerikas ignoriert sowie mit dem Aufruf zur Versöhnung die unverzeihlichen Verbrechen der Trump-Ära relativiert (vgl. Hyden 2024, 221 f.)

So kurz der Clip mit seinen zwei Minuten auch war, so sehr zog er Springsteens über zwei, wenn nicht vier Jahrzehnte erworbene Autorität als Stimme für ein gerechteres Amerika in Zweifel. Als er zudem Ende des Jahres seine Songrechte für 550 Millionen Dollar an Sony verkaufte, machte das Wort vom Ausverkauf die Runde. Vollends bestätigt schien es zu werden, als der Vorverkauf für die US-Tour 2023 im Sommer 2022 zum Fiasko geriet, weil der Online-Vermarkter Ticketmaster nur vorab durch ein Lotterieverfahren registrierte »verified fans« zuließ und einen Algorithmus einsetzte, der »dynamic pricing« erlaubte. In der Folge wurden die Ticketpreise in Echtzeit von Angebot und Nachfrage beeinflusst und stiegen aufgrund des immensen Ansturms innerhalb weniger Minuten in vierstellige Bereiche an.

Springsteens langjähriger Manager Jon Landau versuchte, all dies als Abwehr der üblichen Schwarzmarktmechanismen zu rechtfertigen, und auch die wenig empathische Reaktion des Künstlers selbst in einem Interview mit Jim Rotolo am 23. November 2022 auf E Street Radio (»But if there’s any complaints on the way out, you can have your money back«, vgl. Greene 2022, Hyden 2024, 229) führte zu einem spürbaren Bruch. Sogar das seit 1980 zunächst als Fanzine und dann als Internetseite betriebene, eigentlich unersetzliche, Fanforum Backstreets verkündete am Tag nach Tourbeginn in einem offenen Brief demonstrativ, seine Dienste einzustellen (was allerdings bislang nur die Zeitschrift und nicht die Webseite betrifft). Manche fühlten sich an Springsteens seinerzeit unveröffentlichten Song »The Promise« von 1976 erinnert, in dem er auf erste desillusionierende Erfahrungen mit dem Musikbetrieb nach dem Durchbruch mit Born to Run und dem Wechsel zu einem neuen Manager reagiert hatte:

When the promise is broken you go on living

But it steals something from down in your soul

Like when the truth is spoken and it don’t make no difference

Somethin’ in your heart goes cold